Nesthocker, Traumtänzer, Fetischisten

II. Anamnese unseres Schulsystems: Nesthocker, Traumtänzer, Fetischisten
II. Anamnese unseres Schulsystems:
Nesthocker, Traumtänzer, Fetischisten
Es mag sein, dass wir durch das
Wissen anderer gelehrter werden.
Weiser werden wir nur durch uns selbst.
Michel de Montaigne
Der Bus hatte Verspätung ...
Es klopft an der Tür. Sie ist von außen nicht zu öffnen, also muss einer der
Insassen aufstehen, um den Anklopfenden hereinzulassen. Insassen? Ja, die
Schule ist ein Gefängnis. Eine Klapsmühle, so weit würde ich nicht gehen.
Aber ein Gefängnis. Ziemlich starrer Tagesablauf, du kannst dich kaum frei
bewegen, selbst der Gang zur Toilette ist Regeln unterworfen. Ständig wird
die Anwesenheit kontrolliert. Alles vollzählig? Jemand abgehauen? Eigentlich
nicht so sexy für einen Teenager.
Alle schauen zur Tür. Alle, das sind fünfundzwanzig Schülerinnen
und Schüler einer Berufsfachschulklasse. Schon das Wort ist falsch.
Berufsfachschule. Ein Euphemismus, eine Beleidigung für jeden gleichaltrigen Berufsschüler, der sich nur einen Vormittag pro Woche im selben
Gebäude aufhält und an den anderen vier Tagen von morgens bis abends
in seinem Ausbildungsbetrieb arbeitet. Der sich mit seinem Chef, mit
Kollegen und Kunden herumschlagen und die Spur halten muss, der schon
ein kleines Gehalt bekommt, von dem jeden Monat Steuern und Beiträge
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Zu viel Schule, zu dumm fürs Leben
für Kranken- und Sozialversicherung einbehalten werden. Carl von Linné
hätte heute leichtes Spiel mit einer Taxonomie unserer Teenager. Bei der
Spezies der Sechzehn- bis Achtzehnjährigen gibt es nur zwei Subspezies:
Berufsschüler und die, die von Beruf Schüler sind. Letztere sind längst in
der Überzahl. Berufsfachschule, das hat mit Beruf ungefähr so viel zu tun
wie ein Zitronenfalter mit dem Falten von Zitronen. Hier sitzen jeden Tag,
nicht nur einmal pro Woche, die, die es nicht geschafft haben – weder die
Qualifikation fürs Gymnasium noch den Einstieg in eine Berufsausbildung.
Letzteres wurde ohnehin von kaum einem dieser Sechzehnjährigen ernsthaft angestrebt. Schule ist blöd, aber immer noch schöner als Maloche in
einem Betrieb. Schön blöd.
Wer mag das sein, der da gerade angeklopft hat? Katharina, Maike oder
vielleicht Visar? Spannende Frage. Spannender als lineare Algebra.
Es ist Visar. »Der Bus hatte Verspätung«, murmelt er, ohne mich anzuschauen, während er sich im Energiesparmodus zu seinem Platz begibt.
Visar hat Übergewicht, aber er ist nicht der einzige. Er ist auch nicht der
einzige, der heute zu spät kommt. Es ist Standard. Einige kommen tagelang
gar nicht. Oder sie gehen früher, nach der vierten Stunde zum Beispiel. »Mir
ist nicht gut, können Sie mich austragen im Klassenbuch?« Also doch kein
Gefängnis?
Ja und nein. Die Klassenraumtüren, die von innen leicht zu öffnen
sind, von außen jedoch nur durch das ›Wachpersonal‹, mit einem speziellen Schlüssel, sind der Beweis: Dies ist ein besonderes Gefängnis, ein
Berufsfachgefängnis. Anders als bei üblichen Haftanstalten ist das Problem
nicht: Wie komme ich möglichst schnell wieder heraus? Sondern: Wie
schaffe ich es, möglichst lange drin zu bleiben? Und wie komme ich hinein? Als Sechzehnjähriger hast du es da gar nicht so einfach, du musst um
Einlass ins Berufsfachgefängnis bitten. Oder genauer, deine Eltern haben es
für dich getan. Sie meinten, du seist noch zu jung und zart für eine Werkstatt
oder ein Büro. Deshalb haben sie dir nach dem Flop mit dem Gymnasium
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auch keinen Tritt ins Hinterteil gegeben – als kleine Motivationshilfe in
Richtung Bewerbung um einen Ausbildungsplatz.
Genau deshalb bist du hier in der Berufsfachschule. Du bist sechzehn Jahre alt oder auch schon neunzehn, nach der einen oder anderen
Extraschleife. Das heißt, du könntest jetzt frei herumlaufen in der Welt.
Aber deine Mami sagt, das ist nicht gut für dich. In Wahrheit denkt sie, das
wäre nicht gut für sie, wenn sie beim Kaffeekränzchen sagen müsste, ihr
Marcel mache jetzt eine Ausbildung zum Bäcker. Oder Elektriker. Nein,
sie möchte, dass ihr Bübchen, lichte Höhe eins sechsundachtzig, circa fünfundneunzig Kilo schwer, noch eine Weile weiter zur Schule geht, je länger je
lieber, und etwas ganz Besonderes wird. Sie möchte ihrer Nachbarin, deren
Tochter gerade ihr Abi an einem Gymnasium macht, sagen können: »Mein
Sohn ist an einer Höheren Berufsfachschule, er macht einen Abschluss als
Fremdsprachenassistent, und sein Fachabitur hat er dann auch.«
Macht er, hat er? Ja, wenn er nicht vorher von der Schule fliegt, weil er
ständig unentschuldigt gefehlt hat, und wenn er irgendwann – mit einundzwanzig vielleicht – das Rechnen mit Brüchen und Potenzen draufhat.
Die Chancen stehen gar nicht so schlecht; mit Potenz beschäftigt er sich ja
bereits seit seinem zwölften Lebensjahr.
***
Es ist verrückt, da klopfen Mütter an die verschlossene Tür eines ›Knasts‹,
um ihre dem Gesetz nach fast erwachsenen Sprösslinge abzuliefern. Noch
verrückter ist: Die Tür kann von innen jederzeit geöffnet werden, aber
die wenigsten Häftlinge machen das. Kaum jemand verlässt freiwillig die
Anstalt vor Ablauf der selbst gewählten Haftzeit, ungefähr einer unter
tausend.
»Der Bus hatte Verspätung«, sagt Visar. Er sagt diesen Satz nicht das
erste Mal in dieser Woche. Und er ist nicht der einzige, der ihn sagt.
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