Eine implantologische Autobiografie

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22.10.2012
13:31 Uhr
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Editorial
Eine implantologische
Autobiografie
W
ie in jeder historischen Disziplin ist es auch für Medizinhistoriker kein leichtes Geschäft, interessante Fakten und Daten zu einem Gesamtbild zu formen. Es gehört
zum Fach, dass dafür staubtrockene Archive und vielleicht
auch staubige Ausgrabungsstätten durchforstet werden
müssen. Da erscheinen Überlieferungen von Zeitzeugen wie
Geschenke des Himmels, weil erst mit ihnen aus nüchternen
Fakten ein lebendiges Bild wird. Wer sich aber mit der jüngeren Medizingeschichte befasst, stößt auf ein „modernes“
Phänomen: Seit etwa 20 Jahren produzieren wir kaum noch
Akten, aus denen künftige Historiker schöpfen könnten. Das
typische Ersatzmedium Festplatte wird am Ende eines Berufslebens gelöscht, anstatt in ein Archiv zu wandern. Umso
mehr wäre man auf Zeitzeugenberichte angewiesen. Aber
wer macht sich heutzutage noch diese Mühe, wer hat ausreichend Muße, das nötige Gedächtnis und findet sogar einen Verlag, um diese Zeugenschaft zu veröffentlichen?
Philippe D. Ledermann hatte diese Voraussetzungen und war
bzw. ist darüber hinaus nicht nur Zeitzeuge eines ganzen
zahnmedizinhistorischen Kapitels, der enossären Implantologie, sondern auch einer seiner Protagonisten. Und Ledermann hatte sein Leben lang so viele Antagonisten zu ertragen, dass seine Erinnerungen bisher drei Bände des autobiografischen Romans „Die Papiereltern“ füllten [1]. Darin findet man ein wunderbares Sittenbild der Schweiz in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ihres Bildungssystems, der
Burschenschaften und sogar des Banken(un)wesens, in welchem die wirtschaftliche Naivität junger Akademiker gnadenlos ausgenutzt wurde.
Natürlich interessieren uns besonders die zahnmedizinischen
Kapitel des zweiten und mehr noch des dritten Bandes, denn
darin findet sich auch ein Sittenbild der damaligen schweizerischen Zahnärzteschaft. Ledermann beschreibt die Anfänge
der Implantologie mit all ihren Irrungen und auch stark persönlich gefärbten Anfeindungen. Ledermann hatte damals
viel einzustecken und teilt in seiner Autobiografie nun auch
ordentlich aus. Um scharfe Worte war der selbst beschriebene Hitzkopf weder im Leben noch im Buch je verlegen. Weil
es damals wirklich hart zur Sache ging und wohl auch, um
sich in seiner schriftstellerischen Freiheit nicht einschränken
zu müssen, bedient sich Ledermann bei der Beschreibung
fast aller damals handelnden Personen eines Pseudonyms. Insider werden natürlich viele davon wieder erkennen, z.B. im
Kollegen „Adalbert Schleckeler“ den späteren Prof. Krekeler,
in „Schilfried Willi“ den Prof. Wilfried Schilli und im ursprünglichen Förderer und dann schlagartigen Gegner Ledermanns
„Prof. Roeder“ den Berner Prof. Schroeder. Dessen weniger
berühmtes als berüchtigtes Hohlzylinder-Implantat mit seiner
unglaublich hohen Misserfolgsrate gab dem jungen Zahnarzt Ledermann den Anstoß zur Entwicklung seiner inzwi-
schen jahrzehntelang bewährten Titanschraube. Sie ist sozusagen die Mutter aller folgenden Schrauben mit rauer Oberfläche zum Knochen und glattem Design zum Weichgewebe. Davon weiß auch Wikipedia zu berichten. Was dort jedoch fehlt und nur Eingeweihte wissen, ist das Spannende
an den zahnmedizinischen Kapiteln dieser Trilogie: die nach
seiner kritischen Abrechnung mit dem Hohlzylinder einsetzende, schier unglaubliche Hetzjagd auf den Erfinder des Gegenmodells, dem sogar Menschenversuche und Verstümmelung seiner Patienten durch pure Gewinnsucht (und Sofortbelastung) vorgeworfen wurden. Wer sich für Belletristik wenig interessiert, findet spätestens in diesen Kapiteln eine
spannende Story, die das Zeug für eine Folge von ZDF History hätte. Ledermann schrammte damals sogar am Approbationsentzug nur knapp vorbei. Er hatte das ITI mitbegründet,
war damals einziger Praktiker im Team und verließ es nach
dieser Affäre wieder. Heute ist sein Name auf der Homepage
des ITI übrigens nicht zu finden ...
Was aber bringt uns das Buch neben dem absoluten Lesevergnügen mit vielen Aha-Effekten als grundsätzliche Botschaft? Es ist ein klares Plädoyer für eine respektvolle Zusammenarbeit zwischen Universitätsinstituten und Praktikern! Was sich in der Pionierzeit der Implantologie in diesem Verhältnis abspielte, war hoffentlich der letzte große
Rückfall in längst überwunden geglaubte Zeiten. Es sollte
heutzutage Usus sein, dass die Wissenschaftler die interne
Evidenz der erfolgreichen Praktiker höher schätzen, die
Praktiker im Gegenzug die von den Universitäten geschaffene externe Evidenz akzeptieren. Nun hört man sofort den
Protest, es fehle eben an diesen guten Studien, an Leitlinien und Protokollen. Richtig – da müssten wohl endlich alle
an einem Strang ziehen. Wir brauchen, scheint es mir, weniger miteinander konkurrierende implantologische Gesellschaften, weniger miteinander inkompatible Masterstudiengänge und vielleicht auch etwas weniger Implantattypen.
Stattdessen bräuchte es eine konzertierte Auswertung der
vielen – und in Wahrheit auch vielen erfolgreich gesetzten –
Implantate in den vielen Praxen und an den vergleichsweise
wenigen Universitätskliniken.
Mein Fazit nach diesen drei Bänden „Papiereltern“: sowohl
für regnerische Herbsttage als auch für laue Sommerabende
geeignet. Ab Kapitel 127 des 2. Bandes aber Pflichtlektüre
für Implantologen!
Dr. Felix Blankenstein, Chefredakteur
[1] Ledermann PD: Die Papiereltern. Autobiografischer Roman. Bisher erschienen: Band 1: „Frühling“, Band 2: „Sommer“, Band 3: „Herbst“. Landverlag Langnau (CH) 2011,
ISBN: 978-3-905980-03-5 (Bd. 1), -04-2 (Bd. 2) sowie - 05-9 (Bd. 3). In Vorbereitung ist Band 4 „Winter“.
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