3_SA_ZP_06_edi 22.10.2012 13:31 Uhr Seite 3 Editorial Eine implantologische Autobiografie W ie in jeder historischen Disziplin ist es auch für Medizinhistoriker kein leichtes Geschäft, interessante Fakten und Daten zu einem Gesamtbild zu formen. Es gehört zum Fach, dass dafür staubtrockene Archive und vielleicht auch staubige Ausgrabungsstätten durchforstet werden müssen. Da erscheinen Überlieferungen von Zeitzeugen wie Geschenke des Himmels, weil erst mit ihnen aus nüchternen Fakten ein lebendiges Bild wird. Wer sich aber mit der jüngeren Medizingeschichte befasst, stößt auf ein „modernes“ Phänomen: Seit etwa 20 Jahren produzieren wir kaum noch Akten, aus denen künftige Historiker schöpfen könnten. Das typische Ersatzmedium Festplatte wird am Ende eines Berufslebens gelöscht, anstatt in ein Archiv zu wandern. Umso mehr wäre man auf Zeitzeugenberichte angewiesen. Aber wer macht sich heutzutage noch diese Mühe, wer hat ausreichend Muße, das nötige Gedächtnis und findet sogar einen Verlag, um diese Zeugenschaft zu veröffentlichen? Philippe D. Ledermann hatte diese Voraussetzungen und war bzw. ist darüber hinaus nicht nur Zeitzeuge eines ganzen zahnmedizinhistorischen Kapitels, der enossären Implantologie, sondern auch einer seiner Protagonisten. Und Ledermann hatte sein Leben lang so viele Antagonisten zu ertragen, dass seine Erinnerungen bisher drei Bände des autobiografischen Romans „Die Papiereltern“ füllten [1]. Darin findet man ein wunderbares Sittenbild der Schweiz in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ihres Bildungssystems, der Burschenschaften und sogar des Banken(un)wesens, in welchem die wirtschaftliche Naivität junger Akademiker gnadenlos ausgenutzt wurde. Natürlich interessieren uns besonders die zahnmedizinischen Kapitel des zweiten und mehr noch des dritten Bandes, denn darin findet sich auch ein Sittenbild der damaligen schweizerischen Zahnärzteschaft. Ledermann beschreibt die Anfänge der Implantologie mit all ihren Irrungen und auch stark persönlich gefärbten Anfeindungen. Ledermann hatte damals viel einzustecken und teilt in seiner Autobiografie nun auch ordentlich aus. Um scharfe Worte war der selbst beschriebene Hitzkopf weder im Leben noch im Buch je verlegen. Weil es damals wirklich hart zur Sache ging und wohl auch, um sich in seiner schriftstellerischen Freiheit nicht einschränken zu müssen, bedient sich Ledermann bei der Beschreibung fast aller damals handelnden Personen eines Pseudonyms. Insider werden natürlich viele davon wieder erkennen, z.B. im Kollegen „Adalbert Schleckeler“ den späteren Prof. Krekeler, in „Schilfried Willi“ den Prof. Wilfried Schilli und im ursprünglichen Förderer und dann schlagartigen Gegner Ledermanns „Prof. Roeder“ den Berner Prof. Schroeder. Dessen weniger berühmtes als berüchtigtes Hohlzylinder-Implantat mit seiner unglaublich hohen Misserfolgsrate gab dem jungen Zahnarzt Ledermann den Anstoß zur Entwicklung seiner inzwi- schen jahrzehntelang bewährten Titanschraube. Sie ist sozusagen die Mutter aller folgenden Schrauben mit rauer Oberfläche zum Knochen und glattem Design zum Weichgewebe. Davon weiß auch Wikipedia zu berichten. Was dort jedoch fehlt und nur Eingeweihte wissen, ist das Spannende an den zahnmedizinischen Kapiteln dieser Trilogie: die nach seiner kritischen Abrechnung mit dem Hohlzylinder einsetzende, schier unglaubliche Hetzjagd auf den Erfinder des Gegenmodells, dem sogar Menschenversuche und Verstümmelung seiner Patienten durch pure Gewinnsucht (und Sofortbelastung) vorgeworfen wurden. Wer sich für Belletristik wenig interessiert, findet spätestens in diesen Kapiteln eine spannende Story, die das Zeug für eine Folge von ZDF History hätte. Ledermann schrammte damals sogar am Approbationsentzug nur knapp vorbei. Er hatte das ITI mitbegründet, war damals einziger Praktiker im Team und verließ es nach dieser Affäre wieder. Heute ist sein Name auf der Homepage des ITI übrigens nicht zu finden ... Was aber bringt uns das Buch neben dem absoluten Lesevergnügen mit vielen Aha-Effekten als grundsätzliche Botschaft? Es ist ein klares Plädoyer für eine respektvolle Zusammenarbeit zwischen Universitätsinstituten und Praktikern! Was sich in der Pionierzeit der Implantologie in diesem Verhältnis abspielte, war hoffentlich der letzte große Rückfall in längst überwunden geglaubte Zeiten. Es sollte heutzutage Usus sein, dass die Wissenschaftler die interne Evidenz der erfolgreichen Praktiker höher schätzen, die Praktiker im Gegenzug die von den Universitäten geschaffene externe Evidenz akzeptieren. Nun hört man sofort den Protest, es fehle eben an diesen guten Studien, an Leitlinien und Protokollen. Richtig – da müssten wohl endlich alle an einem Strang ziehen. Wir brauchen, scheint es mir, weniger miteinander konkurrierende implantologische Gesellschaften, weniger miteinander inkompatible Masterstudiengänge und vielleicht auch etwas weniger Implantattypen. Stattdessen bräuchte es eine konzertierte Auswertung der vielen – und in Wahrheit auch vielen erfolgreich gesetzten – Implantate in den vielen Praxen und an den vergleichsweise wenigen Universitätskliniken. Mein Fazit nach diesen drei Bänden „Papiereltern“: sowohl für regnerische Herbsttage als auch für laue Sommerabende geeignet. Ab Kapitel 127 des 2. Bandes aber Pflichtlektüre für Implantologen! Dr. Felix Blankenstein, Chefredakteur [1] Ledermann PD: Die Papiereltern. Autobiografischer Roman. Bisher erschienen: Band 1: „Frühling“, Band 2: „Sommer“, Band 3: „Herbst“. Landverlag Langnau (CH) 2011, ISBN: 978-3-905980-03-5 (Bd. 1), -04-2 (Bd. 2) sowie - 05-9 (Bd. 3). In Vorbereitung ist Band 4 „Winter“. 3
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