SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 MusikGlobal Hip-Hop in Ägypten Zwischen Revolutionspathos und politischer Anpassung Von Arian Fariborz Sendung: Dienstag, 10.05.2016 Redaktion: Anette Sidhu-Ingenhoff Produktion: SWR 2016 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: Mitschnitte aller Sendungen der Redaktion SWR2 MusikGlobal sind auf CD erhältlich beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden zum Preis von 12,50 Euro. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Bestellungen per E-Mail: [email protected] Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de Musik 1 Mohammed El Deeb: „4th December“, Track 7 CD „Cold Peace“ (keine LC-Nummer), Länge: 4:10, bei 1:10 runterfaden und nach Sprecher 1 voll ausspielen, am Ende unter O-Ton 1 legen Autor: Heute: „Hip-Hop in Ägypten – zwischen Revolutionspathos und politischer Anpassung“. Am Mikrophon begrüßt Sie Arian Fariborz. O-Ton 1: Mohammed El Deeb (engl.) „Hi, ich heiße Mohammed El Deeb und komme aus Kairo, Ägypten. Ich bin kein politischer Rapper. Ich hasse diesen Ausdruck. Ich bin ein Rapper, der viele Dinge in seinen Songs thematisiert. Auch Politik, weil wir damit hier jeden Tag konfrontiert werden und ich meine, dass Musik immer auch die Realität widerspiegeln sollte. In meinen Songs geht es aber genauso um Soziales, um sexuelle Belästigung in Ägypten, aber auch um persönliche Dinge. So zum Beispiel um die Herausforderungen des Alltags, um Beziehungsprobleme oder darum, dass man jemanden braucht, wenn man fertig und am Ende ist.“ Autor: Ägypten fünf Jahre nach der Revolution. Vorbei die Zeit, als Musiker wie Mohammed El Deeb, Straßenkünstler und jugendliche Aktivisten in Scharen zum zentralen Tahrir-Platz in Kairo zogen, um dort auf improvisierten Bühnen ihren Frust über die politischen Missstände einem Millionenpublikum zu bekunden. Vorbei die Zeit des revolutionären Aufbruchs, der Euphorie und der Genugtuung über den Sturz des einstigen Autokraten Hosni Mubarak. Vorbei auch die Zeit des politischen Aktivismus und des „Frühlings der Freiheit“ für viele unangepasste Kulturschaffende am Nil. Nach fünf Jahren Arabellion, erbitterter Machtkämpfe und Gewalt ist die Zuversicht, dass sich Ägypten doch noch in Richtung Demokratie entwickeln könnte, längst in Resignation umgeschlagen. Der Traum ist aus, die Revolution frisst ihre Kinder. Das glauben heute viele Künstler, vor allem nach dem die Generalität ihre Macht erneut gefestigt hat und deren Chef Abdelfattah al-Sisi heute das Land als Präsident mit eiserner Hand regiert. Viele junge Musiker, Schauspieler, Schriftsteller und Blogger, die an vorderster Front gegen den einstigen Pharao, Hosni Mubarak, und für ein freies und sozial gerechtes Ägypten auf die Straßen gegangen waren, haben die Hoffnung auf einen demokratischen Wandel aufgegeben. Umso mehr blicken viele Rapper, wie der 29-jährige Mohammed El Deeb, an die glorreichen Tage der Rebellion vom 25. Januar 2011 auf dem Tahrir-Platz zurück. O-Ton 2: Mohammed El Deeb (engl.) „Dort gab es eine Bühne, wo jeder Künstler auftreten konnte. Ich war auch dabei und habe zwei Songs gespielt. Das war schon eine echte Herausforderung, einen Auftritt vor so einem großen Publikum zu haben. Anschließend habe ich dann in die Menge gerufen: Wollt Ihr noch einen weiteren Song hören? Und wie aus einem Munde riefen mir wohl Tausende auf dem Tahrir zu: Ja, mach weiter! Noch nie zuvor hatte ich eine Performance vor so vielen Menschen. Die Reaktion des Publikums war für mich wirklich faszinierend. Und die meisten von ihnen hatten wohl noch nie in ihrem Leben Hip-Hop gehört. Ich glaube daher, dass die Revolution vielen Ägyptern eine Musik 1 erschlossen hat, die ihnen gänzlich unbekannt war und viele nicht mal ahnten, dass so etwas wie Hip-Hop überhaupt existierte.“ Musik 2 Mohammed El Deeb: „Bilady“, Track 1 CD „Cairofornia“ (keine LC-Nummer), Gesamtlänge: 3:23, bei 0:27 unter O-Ton legen und ausblenden (nach O-Ton-Ende ab 0:37 bis zum Ende ausspielen). O-Ton 3: Mohammed El Deeb (engl.) „Nach der Performance kam ein Typ auf mich zu und sagte mir: Hey, deine Musik ist zwar gut, aber du machst uns jede Menge Probleme. Erstaunt fragte ich ihn, weshalb. Und er antwortete: Weil hier einige Salafisten ankamen und auf die Bühne wollten, um deine Performance zu stoppen. Sie meinten, diese Art von Musik sei völlig unangemessen, „haram“ (verboten). Aber die Leute im Publikum haben sie daran gehindert. Und dann kam noch ein anderer Mann zu mir, als ich gerade meinen Song „Biladi”, („Mein Land”) beendet hatte – ein Song der von den verschiedenen Regionen Ägyptens handelt, die ich sehr schätze. Darüber schien er überglücklich zu sein und rief mir zu: ‚Vielen Dank, dass Du in deinem Lied auch meine Heimatstadt Assuan erwähnt hast!„ Daran sieht man: Die Menschen schätzen es wirklich sehr, wenn man sich für ihre Belange interessiert, sich ihrer Probleme und Gedanken annimmt und das zum Thema macht. Ich glaube, dass es beim Hip-Hop genau darauf ankommt.“ Musik 2 Mohammed El Deeb: „Bilady“, Track 1 CD „Cairofornia“ (keine LC-Nummer), Gesamtlänge: 3:23, ab 0:37 bis zum Ende ausspielen. Autor: Im Revolutionsjahr zählte Mohammed El Deeb zweifellos zu einem der populärsten Hip-Hop-Künstler Ägyptens. Mit dem Mikrofon in der Hand und sarkastisch-bissigen Wortspielen gegen das Regime zog der junge Shooting-Star der ägyptischen RapSzene all jene Jugendliche auf dem Tahrir-Platz in den Bann, die bereits seit langem die Nase voll hatten von den gesellschaftlichen Zwängen und der autoritären Gängelung in der Mubarak-Ära. Bereits seit dem ersten Tag der Protestveranstaltungen auf dem Tahrir-Platz war Deeb mit von der Partie und verlieh mit seiner Stimme der revoltierenden Jugend Wort und Klang. In seinem Song „Übergangsphase“ lässt der Poet und Rapper die damalige Stimmung der ägyptischen Arabellion bildhaft Revue passieren: Sprecher: (Textzitat) Wir haben den verhassten Diktator, den verdammten Pharao vertrieben/Dank Twitter und Facebook haben junge Revolutionäre in Ägypten die Sprache der Wahrheit gefunden/Sie sagen uns: Nein, kein Stein wird sich bewegen, Inshallah, bis die Erde untergeht/Unsere Revolution kommt aus dem Volk, friedlich und patriotisch!/Wir wollen Freiheit, Würde und Gerechtigkeit/Das Volk steckte in der Umklammerung einer eisernen Faust/Benutzt und ausgenommen von persönlichen Interessen/Sie 2 haben uns mit aller Gewalt misshandelt/Aber am 11. Februar 2011 haben wir ein Fest mit Millionen gefeiert/Hoch sollst du leben, tapferes Ägypten, wir haben die Freiheit erkämpft!/Übergangszeit, Werbepause, Tee und Cleopatra-Zigaretten!/Gelbe Gesichter schwärmen von diesen Nachrichten!/Strafstoß – und das Publikum wartet auf den Treffer/Jeden Tag lesen wir in der Zeitung über einen neuen Typen, der das Land beraubt hat/Schau in den Spiegel, gib das Gold zurück, bist du nicht auch verantwortlich für die Lage im Land?/Muss man sich über all die falschen Versprechen etwa wundern?/Von Problemen infiziert wurde Geschichte geschrieben/Und denkt bloß nicht, das Volk sei müde!/Das Volk jubelt, 50 Jahre war es unterdrückt/Der wahre ägyptische Revolutionär hat schon vor seiner Befreiung über den Mann hinter Omar Suleiman gelacht/Der wahre ägyptische Revolutionär hat nach der Befreiung, nach dem Feiern die Straßen und Plätze sauber gemacht. Atmo: Sample „Irhal, Irhal Hosni Mubarak!“ (Hau ab, hau ab Hosni Mubarak) ca. 20 sec. Autor: Seit dem Sturz des autoritären Regimes fiel die bleierne Last der vergangenen Jahrzehnte schlagartig vor allem jungen Musikern und Bands von den Schultern – Gruppen, die sich durch das politische Erdbeben ermutigt fühlten, zum ersten Mal offen ihren Protest gegen das Regime in ihren Songs zu formulieren. O-Ton 4: Mohammed El Deeb (engl.) „Durch die Revolution haben die Ägypter ihre Angst überwunden, sich politisch auszusprechen. Ich kann mich noch erinnern, als wir vor der Revolution über Mubarak und die ägyptische Regierung geredet haben und ich meinen Freunden dazu Songs von mir vorstellte. Daraufhin erntete ich ungläubiges Kopfschütteln und nachdenkliche Kommentare, wie: ‚Mann, bist Du verrückt?! Wenn Du das öffentlich aufführst, landest Du im Knast!„ Das war in einer Zeit, in der niemand sich niemand traute, sich politisch zu artikulieren. Aber mit der Revolution begannen die Leute sich zu öffnen und den Mund aufzumachen – vor allem die Jugend. Das bringen solche Umbrüche mit sich: Man kann plötzlich frei sein und sagen was man will. Also, die Angst war schlagartig verschwunden, was eine Menge Leute dazu ermutigte, Teil der Szene zu werden. Und in dieser Zeit gründeten sich auch viele neue Bands.” Autor: Neben Mohammed El Deeb thematisierten in dieser Zeit auch andere Hip-HopBands wie die Arabian Knightz aus Kairo den Aufstand gegen das Mubarak-Regime. In ihrem englisch-arabischen Song „Prisoner!“ geht es um die Brutalität der ägyptischen Polizeikräfte bei der versuchten Niederschlagung des ägyptischen Volksaufstandes. Musik 4 Arabian Knightz ft. Shadia Mansour: „Prisoner“, Track 14 CD „Uknighted States of Arabia”, Arab League Records (kein Label), Länge 4:30, ganz ausspielen Autor: Auch andere Rapper wie The Narcicyst (feat. Amir Sulaiman, Ayah, Freeway, Omar Offendum) ließen in ihrem Musikvideo „25. Januar", dem Beginn des Aufstandes 3 gegen Mubarak, im Stil US-amerikanischer Vorbilder den blutigen Verlauf der Revolution Revue passieren. Schon kurz nach dem Sturz des langjährigen Diktators waren Soundtracks zur Revolution eine geradezu inflationäre Erscheinung am Nil geworden, wobei diese neu entstandene Musikindustrie vor allem die Bedürfnisse westlicher Medien und Kulturinteressierter bediente, meint Mahmoud Refaat, Musikproduzent und Betreiber des unabhängigen Musik-Labels „100copies“ in Kairo. O-Ton 5: Mahmoud Refaat (engl.) „Es gab damals eine Menge Bullshit! Und es war eine unmittelbare Reaktion nach der Revolution, alles was die Leute sagten in einen bestimmten Beat zu packen. Unglücklicherweise kamen dann noch einige internationale Medienvertreter, die sagten: Wow! Das ist der Sound der Revolution! Sie nahmen dann Musiker wie Ramy Essam in den Fokus. Es war so, dass irgendwo etwas passierte und schon war ein neuer Sound der Revolution geboren. Aber was ist heute daraus geworden? Sorry, aber man hört nichts mehr davon. Der Effekt war mehr negativ als positiv, was von den internationalen Medien losgetreten wurde. Vor allem nach 2011 war es so, dass nur noch jeder beobachtete und hörte, was geschah. Natürlich gab es auch einige etwas reflektiertere Journalisten, die keine vorgefertigte Meinung hatten und ein umfassenderes Verständnis für die damalige Situation hatten. Leute, die also nicht daher kamen und sagten: ‚Okay, reich mir doch mal schnell den Sound der Revolution rüber!„. Aber es waren leider nicht viele. Diese hektische RevolutionsSong-Produktion lag also nicht nur an der Naivität der ägyptischen Musiker, sondern an den Medien, die einen regelrechten Hype darum machten.“ Musik 5 Mohammed El Deeb: „Intro“ (Soundcollage), Track 1 CD „Cold Peace“ (keine LC-Nummer), Länge: 2:42 O-Ton 6: Mahmoud Refaat (engl.) „Die ägyptische Hip-Hop-Szene war bereits seit 2007 aktiv, allerdings lebten die Rapper sehr zurückgezogen. Erst 2011 setzte dieser Boom ein und viele Musiker und Künstler verfolgten sehr aufmerksam, was in diesem Umbruchjahr geschah. Dann versuchten sie ihre Produktionen in irgendeiner Weise mit der Revolution in Verbindung zu bringen. Vor allem für Musikschaffende war die Revolution geradezu ein gefundenes Fressen, auf das sie sich stürzten, um es zu ihrem Thema zu machen. Doch die Hip-Hop-Szene befand sich in dieser Hinsicht anfangs in einer sehr merkwürdigen Situation. Denn sie hatte bereits vor der Revolution all diese politischen und gesellschaftlichen Missstände schon immer angeprangert. Ich hatte mich vor einiger Zeit mit dem bekannten ägyptischen Rapper MC Amin sowie ein paar anderen MCs getroffen. Und sie sagten: „Okay, wir haben das alles schon die ganze Zeit in unseren Songs gehabt, dann lasst uns jetzt etwas anderes sagen!“ Und das hat sich dann dahin entwickelt, dass sie den Fortgang der Ereignisse sehr genau verfolgten, und sich Gedanken machten, was sie über die Revolution zu sagen hatten. Sie waren daher vielreflektierter und auch kritischer als andere kommerziell versierte Musiker, die sehr naiv und direkt den politischen Umbruch in ihren Songs behandelten.“ 4 Autor: Spätestens nach der Wahl Mohammed Mursis zum neuen ägyptischen Präsidenten im Juni 2012 und der Herrschaft der Muslimbrüder verebbte das Revolutionspathos in der Hip-Hop-Community und schlug um in politischen Widerstand gegen die Islamisten. An vorderster Front: der für seinen brachialen Sound bekannte MC Amin, der mit seinen bissigen Wortspielen und Persiflagen Mursi und die Islamisten auf den Arm nimmt. So auch in seinem Song „Morsi in the Club“ aus dem Jahr 2013. Musik 6 MC Amin: „Morsi in the Club“, Track 4 CD „Retune #1 (HipHop/Shaabi)”, keine LC-Nummer, Label: „100copies”, Länge: 3:15 Autor: Auch Mohammed El Deeb geht in seinen Songs mit den Islamisten der Muslimbruderschaft hart ins Gericht. Sie seien zwar demokratisch gewählt worden, würden Ägypten jedoch undemokratisch regieren. In seinem Song „Versprechen“ aus dem Jahr 2012 spricht er das aus, was viele junge Künstler über die damals regierenden Muslimbrüder denken: dass sie in Wirklichkeit nur ihre eigenen Machtinteressen auf Kosten der Allgemeinheit verfolgten, ihre Unfähigkeit, das Land aus der schweren Wirtschaftskrise zu holen und die schleichende Islamisierung von Staat und Gesellschaft vorantrieben. Gleichzeitig wirft der Song „Versprechen“ ein Schlaglicht auf die beginnende Desillusionierung innerhalb der Hip-Hop-Community, dass sich das Blatt noch einmal in Richtung Demokratie und Freiheit, wenden könnte. Musik 7 Cellador: „Blind Part II“ (Instrumental), Track 5, CD „Retune #1 (HipHop/Shaabi)”, keine LCNummer, Label: „100copies”, Länge: 4:49 – unter nachfolgendes Sprecherzitat als Musikbett legen, nach Zitat-Ende ausblenden Sprecher 1: (Textzitat) Ein Aufruf an alle Liberalen, Islamisten, Schürzenjäger oder Richter/Ich will mich aussprechen und nicht mehr in die Vergangenheit zurückschauen/Die Vergangenheit ist vorbei mit all ihrer Traurigkeit und ihren Verletzungen/In der Übergangsperiode wurden wir von den Politikern mit ausgeklügelten Begriffen wie „Technokratische Regierung” bombardiert/Dabei sind sie daran gescheitert, die wirklichen Probleme Ägyptens zu lösen/ In unserem Land herrschte Korruption, die bis zum Himmel stank/Und die Bullen wurden kommandiert, sich wie Robocops aufzuführen/Vor der Revolution wurdest Du ausgepeitscht und in den Knast geworfen, wenn Du das Maul aufgemacht hast/Die Leute, die das taten, nennen wir heute „Felool”, Konterrevolutionäre/Die gegenwärtige Regierung ist selbstgefällig und kümmert sich nicht um ihre eigentlichen Aufgaben/Wir exportieren immer noch unser Gas/Gaza wird nach wie vor belagert/Sexuelle Belästigung ist immer noch an der Tagesordnung, fragt unsere Schwestern/Es sieht so aus, als wenn wir in der Mehrheit sind, wir, das Volk/ und Ihr, 5 Muslimbrüder, seid in der Minderheit/Deshalb schreit es hinaus: Nein zur Herrschaft der Affen, die Zeit der Löwen ist gekommen/ Musik 8 Mohammed El Deeb: „Versprechen“ („Ma‟ud”), Track 2 CD „Cold Peace“ (keine LC-Nummer), Länge: 2:38 Autor: Doch auch die Zeit der Löwen, die Mohammed El Deeb für gekommen sieht entpuppt sich als bloße Illusion. Auf die Herrschaft der Muslimbrüder folgt die Absetzung Mursis durch das Militär im Sommer 2013. Die gesellschaftliche Polarisierung spitzt sich erneut zu, die Gewalt zwischen Anhängern und Gegnern Mursis eskaliert. Ägypten scheint erneut politisch und ökonomisch am Abgrund zu stehen – ein Albtraum, wie es das junge Hip-Hop-Trio „Kaboos Nation“ aus Kairo in seinen Songs zum Ausdruck bringt. Ahmed Farghaly ist „Master of Ceremonies“, kurz MC, des Bandprojekts. O-Ton 7: Ahmed Farghaly (engl.) „„Kaboos Nation„ bedeutet Albtraum-Nation. Die politischen Verhältnisse in Ägypten sind mittlerweile so kompliziert, weil die Armee heute nicht mehr mit den Ikhwan, der Muslimbruderschaft reden will. Heute traut niemand mehr dem anderen und alle machen dicht. Wir nicht! Denn das ist unsere Aufgabe. Ich habe eine Meinung und darf sie auch äußern, selbst wenn sie vielleicht verkehrt ist. Aber ich muss frei sagen können, was ich denke. Erst dann kann man darüber urteilen und vielleicht geteilter Meinung sein. Doch befiehl mir nicht, den Mund zu halten. Das ist unfair!“ Musik 9 Kaboos Nation: „Name on the Paper“, Track 6 CD „Retune #1 (HipHop/Shaabi)”, keine LC-Nummer, Label: „100copies”, Länge: 3:49 Autor: Das verschärfte politische Klima wirkte sich auch negativ auf die alternative Kulturszene in allen ägyptischen Metropolen aus. Im September 2013 wurde zeitweilig sogar eine nächtliche Ausgangssperre in Kairo verhängt. 2015 folgte die Schließung unabhängiger Kultureinrichtungen wie die „Townhouse Gallery“ und das „Rawabet Theatre“ – ein herber Schlag für die junge Hip-Hop-Community, die erst seit der Revolution diese neuen alternativen Spielräume für sich entdecken konnte. Vor allem in Downtown Kairo waren vor einigen Jahren zahllose neue informelle Clubs, Bars und Aufnahmestudios entstanden. Konzerte und Proben fanden in maroden Jugendstilvillen und seit Jahrzehnten geschlossenen, baufälligen Theatern aus der Kolonialzeit statt. O-Ton 8: Mahmoud Refaat (engl.) „Die Innenstadt von Kairo war schon immer das Zentrum für Künstler und Musiker – mit ihren alten Kinos, Theatern, Bars und Cabarets. Das hat sich über Jahrzehnte hinweg fortentwickelt. Doch seit Ende der 1990er Jahre zog es eine neue Generation von alternativen Musikern, Tänzern, Filmemachern, Schauspielern und Künstlern 6 nach Downtown. Es entstanden neue Gallerien, Studios, Konzerträume und Kulturzentren. Die Innenstadt wurde zum Magneten dieser alternativen Kulturszene. 2006 haben auch wir in Downtown unser Produktionsstudio und Label für elektronische Musik, ‚100copies„, gegründet. Wir organisieren seitdem auch Konzerte, suchen nach Auftrittsorten für unabhängige Musiker. Manche von ihnen schauen hier auch einfach nur vorbei, um sich und ihre Musik vorzustellen. Wir haben anfänglich sehr eng mit einer Immobilienfirma zusammengearbeitet, die in der Innenstadt von Kairo sehr aktiv war und die uns Zugang zu so vielen leerstehenden Gebäuden verschafft hat – zu alten Theatern, Cabarets etc. Wir waren von Anfang an nicht an großen, modernen locations interessiert. Und wir versuchen diese neue Dynamik, die alternative Kultur in Downtown weiter voranzubringen und diesen alten Kinos, Theatern usw. wieder Leben einzuhauchen.” Musik 10 Neobyrd: „Kambutar Test“, (ägypt. Elektronika), Soundcloud (kein Label), Länge: 3:07 Autor: Von dieser subkulturellen Dynamik profitierte auch Ägyptens unabhängige Hip-HopCommunity, die seit 2007 aufblühte und neue Konzert- und Proberäume sowie Aufnahmestudios entdeckte. Die Mieten und Kosten für Musikproduktionen hielten sich in Grenzen. Zudem fand man jede Menge andere junge experimentierfreudige Musiker aus alternativen Kulturzirkeln und tauschte sich aus. Angesichts der widrigen politischen Umstände – der Zensur, Unterdrückung der Meinungsfreiheit oder anderer Restriktionen, ob unter Mubarak oder den Militärs – ist dies beachtlich. Dennoch blieb die Resonanz bei der Bevölkerung verhalten. Der große Wurf blieb aus, man blieb unter sich. Symptomatisch dafür sind Mohammed El Deebs Erfahrungen mit dem Musikgeschäft in Ägypten. O-Ton 9: Mohammed El Deeb (engl.) „Es ist schon erstaunlich, dass uns Hip-Hop-Musiker bis heute niemand wirklich unterstützt. Ich meine, wir machen alles selbst: Wir nehmen unsere Songs auf, stellen unsere CDs selbst her, zahlen für die Studio-Zeit…Ich dachte, dass die Plattenfirmen in jedem Fall nach der Revolution die Türen bei uns einrennen und uns Angebote machen würden, aber das war ein Trugschluss. Sie bleiben lieber bei ihrer Bullshit-Pop-Linie: Tamer Hosny und andere Typen... Das ist wirklich eine Schande, weil eine gewaltige Kluft existiert zwischen der Wirklichkeit und der kommerziellen Art von Musik, die sie repräsentieren. Leute wie Amr Diab oder Tamer Hosny haben bisher nicht einen Song geschrieben, der von den sozialen Problemen Ägyptens handelt. Selbst nach der Revolution nicht! Vielleicht war die Denkweise vor der Revolution eine andere, meinetwegen. Aber nach einer Revolution muss man doch den Leuten geben, was sie wirklich wollen. Aber diese Musikbusiness-Typen haben sich leider nie geändert.“ Musik 11 Mohammed El Deeb: „Qaum ya Masri! „, Track 4 CD „Cold Peace“ (keine LC-Nummer), Länge: 4:08 7 Autor: Wie an vielen Orten weltweit bietet Hip-Hop in Ägypten den Beleg für ein Phänomen, das die Cultural Studies mit dem Begriff „Glokalisierung“ beschreiben – globale und lokale Erscheinungen sind hier nicht einander gegenübergestellt, sondern werden kombiniert, beeinflussen sich gegenseitig und bilden Synthesen. Scheint die HipHop-Kultur vor allem in den Ländern des Westens nur noch für hemmungslosen Hedonismus, für Illusionen von Sex und Gewalt zu stehen, wird in Ländern wie Ägypten, Algerien, Libyen, Tunesien und Palästina – ein schon beinahe vergessenes Potenzial des Hip-Hops hörbar: Rap heißt hier: Sprechen über die Realität, über den oftmals deprimierenden Alltag, über politisches Unrecht, Terror und Krieg. O-Ton 10: Mohammed El Deeb (engl.) „Als es mit dem arabischen Hip-Hop losging, wussten wir natürlich, dass es bereits Rap in Palästina, Tunesien und Marokko gab. Aber wir haben hier in Ägypten mit unseren ganz eigenen Schwierigkeiten zu kämpfen und deshalb konzentrieren wir uns darauf auch in unseren Songs. Unter Mubarak gab es jede Menge soziale Probleme und Korruption war weit verbreitet. Die Menschen hatten allmählich die Nase voll von seiner Herrschaft.“ Musik 12 Cairokee: „Akher Oghniya“, Länge 4:25, bereits 10 sec. unter vorangegangenen Sprecher legen, dann bis Ende spielen (Privataufnahme) Autor: Soweit die Band Cairokee mit ihrem neuen Song „Akher Oghniya“. Typisch für den Sound vieler anspruchsvoller ägyptischer Hip-Hop-Produktionen sind nicht etwa bloße Adaptionen US-amerikanischer Vorbilder. Vielmehr gehen Rapper wie MC Amin oder Mohammed El Deeb eigene Wege. Sie experimentieren mit lokalen Musiktraditionen, klassischen arabischen Instrumenten, wie der arabischen Laute (Oud) oder Darbuka-Percussions. Und sie verwenden elektronische Klangcollagen und Samples aus den Straßen Kairos in ihrer Musik, Hörfunkausschnitte von Reden bekannter ägyptischer Politiker und integrieren Elemente des sogenannten „Mahragan“, einer digitalen Variante des volkstümlichen „Sha„abi“-Straßen-Pops. Musik 13 MC Amin & Saddat & Felo & 50: „Mahragan illRap ElMasry”, Länge: 2:57, Intro bereits als Musikbett unter Sprecher 2 legen, dann hochziehen und voll ausspielen. O-Ton 11: Mohammed El Deeb (engl.) „Hier in Ägypten werden viele Rapper immer noch vom US-amerikanischen Hip-Hop beeinflusst, Rapper wie Tupac Shakur und andere. Natürlich liebe ich auch Tupac, aber er ist mittlerweile etwas altbacken, etwas aus der Mode gekommen. Die Zeit ist seit 1996 schließlich nicht stehen geblieben, der Hip-Hop hat sich weiterentwickelt – nicht nur in den USA, sondern auch in Ägypten.“ 8 Autor: Zwar nehmen heute arabische Rapper neue globale Musiktrends in ihren Songs auf. An den lokalen Traditionen und intellektuellen Vorbildern für ihre lyrics halten sie dennoch unbeirrt fest: Es sind vor allem die palästinensischen Schriftsteller Mahmoud Darwish und Edward Said, es sind Musiker wie der libanesische Sänger Marcel Kahlifé oder der blinde ägyptische Oud-Spieler Sheikh Imam – eine Ikone des antiimperialistischen und sozialen Protests am Nil in den 1960er und 70er Jahren. O-Ton 12: Mohammed El Deeb (engl.) „Sheikh Imam war ein wahrer musikalischer Revolutionär – ein Rebell, der in seinen Songs viele politische Missstände anprangerte: wie sich die Amerikaner zur Supermacht aufschwangen und andere Länder zu dominieren und kontrollieren begannen. Er hat dazu einen Song gesungen, der hieß ‚Ich kenne dich, Papa Nixon – Mister Watergate„.“ Musik 14 Sheikh Imam: „Nixon Baba”, LP „Le Cheikh Imam“, Le Chant du Monde, Länge: 4:58, Label: LDX 74543 kurz einblenden, bereits unter vorangegangenen O-Ton legen, bei 1:10 wieder runterfaden und unter nachfolgendem O-Ton ausblenden. O-Ton 15: Mohammed El Deeb (engl.) „Er sang über Nixon und den Watergate-Skandal. Sheikh Imam spielte Oud und der berühmte Dichter Ahmad Fuad Negm, der vor einem Jahr gestorben ist, begleitete ihn. Beide landeten mehrfach im Knast, weil sie in ihren Songs auch den früheren ägyptischen Präsidenten Anwar El-Sadat kritisiert hatten. Ihre Musik wurde auch während des Volksaufstands gegen Mubarak auf vielen Plätzen in Kairo gespielt. Imams und Negms Songs sind vielen jungen Hip-Hop-Musikern natürlich ein Begriff. Und viele von ihnen spielen oder covern ihre Lieder bis heute.“ Autor: Zwar ist der revolutionäre Enthusiasmus fünf Jahre nach dem Sturz Mubaraks längst verblasst und der zunehmenden Apathie, Furcht und politischen Anpassung unter Ägyptens autoritärem Machthaber Al-Sisi gewichen. Dennoch begreifen sich Ägyptens Rapper auch heute als Sprachrohr für Protest gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung. Die Arabellion ist für sie noch lange nicht abgeschlossen. Musik 16 MC Amin & Lana: „Domoaa Al Madina“, CD „Uknighted States of Arabia”, Arab League Records (kein Label), Länge: 4:28 (ganz ausspielen) 9
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