O. Trede: Zwischen Misstrauen, Regulation und Integration - H-Net

Oliver Trede. Zwischen Misstrauen, Regulation und Integration: Gewerkschaften und Arbeitsmigration in der Bundesrepublik und in Großbritannien in den 1960er und 70er Jahren. Paderborn: Schöningh, 2015. 424 S. (gebunden), ISBN
978-3-506-77667-9.
Reviewed by Arne Hordt
Published on H-Soz-u-Kult (May, 2016)
O. Trede: Zwischen Misstrauen, Regulation und Integration
Migration und Integration sind die prägenden Themen unserer Zeit. Seit den 1990er-Jahren diskutiert die
deutsche Öffentlichkeit, ob wir‘ ein Einwanderungsland
’
seien und was genau das bedeutet. Vgl. den aktuellen Beitrag von Dirk Hoerder, Arbeitsmigration und Flucht vom
19. bis ins 20. Jahrhundert, in: Mittelweg 36, 25 (2016),
Heft 1, S. 3–32. Ungefähr im gleichen Zeitraum hat
sich die historische Migrationsforschung im deutschen
Sprachraum als eigenständiges Feld etabliert. Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland.
Saisonarbeiter, Fremdarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge,
München 2001; Jochen Oltmer / Axel Kreienbrink / Carlos Sanz Díaz (Hrsg.), Das Gastarbeiter“-System. Ar”
beitsmigration und ihre Folgen in der Bundesrepublik
Deutschland und Westeuropa, München 2012. In Oliver
Tredes Studie geht es nun um den Umgang der Ge”
werkschaften“ mit Arbeitsmigration in den 1960er- und
1970er-Jahren in Westdeutschland und Großbritannien.
konkreten Debatten im DGB und im TUC geführt wurden und welchen praktischen Herausforderungen sich
die gewerkschaftliche Ausländerarbeit“ stellen musste.
”
Mit der Schlussbetrachtung gelingt Trede schließlich ein
exzellenter Vergleich zum Thema Gewerkschaften und
Migrationspolitik in Westdeutschland und Großbritannien.
Trede zeigt, dass die Gewerkschaften und ihre Dachverbände on the ground“ weder eindeutig für, noch ein”
deutig gegen die Integration von Arbeitsmigranten gewesen sind. Gleichwohl geriet die gewerkschaftliche Interessenvertretung der un- und angelernten Industriearbeiter durch die Masseneinwanderung unter Druck. Am
unteren Ende der Lohnskala herrschte wegen der Einwanderer schlicht ein größeres Angebot an Arbeitskräften als zuvor. Und dieses Angebot konnte nur teilweise
durch Unterschichtung, also den Aufstieg einheimischer
Arbeitskräfte, aufgefangen werden.
Die Forschungsleistung ist immer solide, in vielen
Abschnitten exzellent – es dauert aber zu lange, bis der
Autor zum Punkt kommt. Das liegt am Zuschnitt der
Untersuchung. Trede kann sich im ersten Teil des Buches nicht von einem abstrakten Ziel (und einer sperrigen Sprache) lösen: Stets geht es um die Gewerkschaf”
ten“ und Arbeitsmigration“ als solche, wo die zitierten
”
Quellen eher begrenzte Aussagen nahe legen würden.
Schließlich hat Trede zwei gewerkschaftliche Dachverbände, DGB und Trades Union Congress (TUC), sowie
zwei Einzelgewerkschaften, IG Metall und Transport and
General Workers Union (TGWU), untersucht und nicht
die Gewerkschaften“. Folgerichtig korrigiert der Verfas”
ser den abstrakten Einschlag im Laufe des Buches: Die
empirischen Kapitel vollziehen anschaulich nach, welche
Die Dachverbände der Gewerkschaften und die zwei
Einzelgewerkschaften IG Metall und TGWU begegneten
dem Zuzug von Arbeitskräften daher zuerst mit Misstrauen. Von einer eigenständigen Politik für Arbeitsmigranten konnte Mitte der 1960er-Jahre keine Rede sein.
Die Stärke der Arbeiterschaft war oberstes Ziel. Verhandlungspositionen der einheimischen Arbeitnehmer sollten
nicht geschwächt werden – das und nicht prinzipieller
Antirassismus stand hinter den ersten Forderungen nach
Integration: People cannot live in this country for the
”
rest of their lives being regarded as immigrants. […] If coloured immigrants are unwilling to integrate or unable to
secure acceptance as they are, we shall have, […], permanent and weakening division among workpeople.“ (Victor Feather, TUC-Vorsitzender, 1968, S. 149)
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Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre setzte
ein Wandel ein. Früher als andere Organisationen erkannten die Gewerkschaften, dass sie konstruktiv mit
den Zuwanderern umgehen müssten, die schon da waren. Aber Arbeitsmigranten blieben weiterhin die An”
deren“. So warnte der Abteilungsleiter beim IG MetallHauptvorstand, Max Diamant, der – nebenbei – selbst
aus Polen stammte, bereits vor dem Ford-Streik in Köln
mit drastischen Worten vor einer Welle von Gastarbei”
terstreiks“ (S. 218 ff.). Trotz der ersten Anfänge einer Integrationspolitik bestand also ein Konsens darüber, dass
– auch angesichts der abkühlenden Konjunktur Ende
der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre – nicht noch mehr
ausländische“ Arbeiter kommen sollten.
”
In den 1970er-Jahren begann auf der Führungsebene der Dachverbände ein zaghaftes Umdenken. Die Integration von Migranten wurde erstmals als eigenständiges Ziel gewerkschaftlicher Politik aufgefasst, obwohl
in den Einzelgewerkschaften immer noch starke Beharrungskräfte wirkten. In Großbritannien war es vor allem eine parlamentarische Untersuchung, die 1973/74 offenlegte, wie die Gewerkschaften selbst im closed-shopSystem der britischen Industrie rassisch‘ (racially) dis’
kriminierten. In der Bundesrepublik und in Großbritannien trat die Frage nach dem Status der Ausländer“ bzw.
”
immigrants“ in den Vordergrund. Nach dem westdeut”
schen Anwerbestopp und dem Ende des freien Zuzugs
von Commonwealth-Immigranten musste der Nachzug
von Familienangehörigen neu geregelt werden. Die Frage war: Wie sollte das geschehen? Wer durfte seine Angehörigen nachholen? Und was bedeutete die dauerhafte
Ansiedlung von Ausländern für die eigene Gesellschaft?
Jahren eine besondere Entwicklung zu beobachten. Dort
kippte die gesellschaftliche Stimmung gegenüber den Gewerkschaften. Fast alle Arbeitskämpfe wurden nun als
Grundsatzkonflikte um politische und gesellschaftliche
Macht gedeutet. Das führte teils dazu, dass die spezifische Diskriminierung von Migranten in der öffentlichen
Diskussion keine Rolle mehr spielte. Trede kann das am
Beispiel des Grunwick-Dispute“, eines Streiks in einer
”
Filmentwicklungsfirma, zeigen. Hier traten die Belange
von Migranten hinter eine allgemeine Solidaritäts- und
Empörungsrhetorik zurück.
Für die frühen 1980er-Jahre bietet Tredes Studie ein
offenes Ende an: Das Misstrauen begann zu schwinden,
die Regulation von Arbeitsmigranten veränderte sich
und bei der Integration erfolgten die ersten, zaghaften
Schritte – nicht mehr und nicht weniger.
Oder doch? Lässt sich die Integration von Arbeitsmigranten mit der Art von Diskursgeschichte, die Trede
schreibt, wirklich erfassen? Es geht Trede um Wahrnehmungen historischer Akteure. Darunter versteht er im
Wesentlichen Gewerkschaftsfunktionäre. Dieses Vorgehen ist zwar legitim, aber müsste beim Thema Integration nicht doch mehr über die Subjekte gewerkschaftlicher
Politik zu erfahren sein? Etwa, wie die (einheimischen
und zugewanderten) Arbeiterinnen und Arbeiter Misstrauen erlebten, Regulation erduldeten und schließlich –
gegen alle Hindernisse – die Integration selbst gestalteten? Viele Studien haben in den letzten Jahren gezeigt,
dass es genügend Material gibt, um arbeitende Subjekte‘
’
zum Sprechen zu bringen – und dass sich das fast immer
lohnt Vgl. Lutz Raphael, Flexible Anpassungen und prekäre Sicherheiten. Industriearbeit(er) nach dem Boom,
in: Morten Reitmayer / Thomas Schlemmer (Hrsg.), Die
Anfänge der Gegenwart. Umbrüche in Westeuropa nach
dem Boom, München 2014, S. 51–64; Camilla Schofield,
Enoch Powell and the Making of Postcolonial Britain,
Cambridge 2013. . Oft lag das Erleben der Arbeiter quer
zu dem, was ihre gewählten Fürsprecher wollten. Trede
erwähnt diesen Gegensatz zwischen Basis und Organisation mehrfach, bezieht die Basisebene dann aber kaum in
seine Analyse ein.
Integration war damals noch eine Lösung, die nur von
ganz wenigen propagiert wurde und die sich nur langsam
durchsetzen konnte. Erst Ende der 1970er-, Anfang der
1980er-Jahre traten regelmäßig Migranten als gewählte
Delegierte bei Gewerkschaftskongressen auf. 1980 etwa
war Salih Güldiken, türkischer Betriebsrat während des
Ford-Streiks, unter den Delegierten. In der Bundesrepublik entzündete sich die Debatte um Integration – welch
Wunder – am Ausbildungssystem. Statistiken offenbarten, dass die Kinder von Gastarbeitern fast nie eine Berufsausbildung machten, ja einige nicht einmal die Schule besuchten. Für die Gewerkschaften war dieser Befund
ein Schock. Die Entstehung einer geringqualifizierten Reserve ausländischer Arbeiter drohte ihren Einsatz für ein
besseres Ausbildungs-, Qualifikations- und Lohnniveau
für alle Arbeitnehmer zu entwerten.
Wie ist das Buch also einzuordnen? Trede hat eine
gute Arbeit veröffentlicht. An manchen Stellen bleibt allerdings unklar, ob der Autor einer historischen Fragestellung gefolgt ist oder ob er nicht vielmehr Integrationsdefizite in der Gegenwart anmahnen möchte. Beides
muss sich nicht ausschließen. Denn aus der Arbeit geht
ja eines ganz klar hervor: Integration oder deren AusFür Großbritannien ist in den 1970er- und 1980er- bleiben kann man nur als Resultat von ökonomischen
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Konflikten und politischen Machtverhältnissen verstehen. Und die historischen Akteure können die Verhältnisse zwar beeinflussen, sie stehen ihnen aber nicht frei
zur Verfügung: Die Menschen machen ihre eigene Ge”
schichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken
[…].“ Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Napoleon, 2. Aufl. Hamburg 1869 (Original 1851), S. 1. Schon
gar nicht die Menschen, die auf der Suche nach Arbeit
und einem besseren Leben in ein anderes Land aufbrechen.
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Citation: Arne Hordt. Review of Trede, Oliver, Zwischen Misstrauen, Regulation und Integration: Gewerkschaften und
Arbeitsmigration in der Bundesrepublik und in Großbritannien in den 1960er und 70er Jahren. H-Soz-u-Kult, H-Net
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