SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Glauben WER WEISS, WAS DIE STUNDE GESCHLAGEN HAT RELIGION UND ZEITGEIST VON ANDREAS MALESSA SENDUNG 05.05.2016 / 12.05 UHR Redaktion Religion, Kirche und Gesellschaft Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR SWR2 Glauben können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/glauben.xml Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. 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Vor allem, was die Zukunft betrifft. 9. Autor AM Sagte augenzwinkernd Mark Twain, der amerikanische Schriftsteller und Satiriker. Er meinte damit nicht nur jene Veränderungen unseres Lebens, die von der Erfindung neuer technischer Geräte herbeigeführt werden, sondern auch kulturelle Transformationen, die scheinbar ohne konkreten Anlass „irgendwie in der Luft liegen“. Gesellschaftliche Veränderungen, deren Ursache und Antrieb kaum präzise feststellbar sind. Kollektive Stimmungen, Mehrheitsmeinungen, Trends und Moden, die wir mit dem Sammelbegriff „Zeitgeist“ beschreiben. 10. O-Ton I Zeitgeist, das ist ein Geist, der die herrschenden Trends einer bestimmten Epoche ausmacht. Das, was in der Gesellschaft der Gegenwart den Mainstream repräsentiert. Wenn ich von „Geist“ spreche, dann meine ich jetzt nicht Geister im spiritistischen Sinne, wir kennen das ja, dass man etwa spricht vom „Geist eines Hauses“, von einer Atmosphäre, einem bestimmten Klima, das in einer Gemeinschaft, einer Gruppe, einer Gesellschaft, herrscht. 2 11. Autor AM Sagt Professor Ulrich Körtner vom Institut für Systematische Theologie und Religionswissenschaft an der Universität Wien. Diesen „ Zeitgeist“ zu beeinflussen oder kritisch zu kommentieren hat unter Kirchenoberen, Theologen und christliche Aktivisten eine zweitausendjährige Tradition. Die Kirchen wären für die Politik, die Kultur und die Gesellschaft immer schon gerne das gewesen, was Analysten für die Wirtschaft sind: Beratende Beobachter, verlässliche Prognostiker. Meist jedoch waren fromme Leute überzeugt, „dem Zeitgeist widerstehen“ zu müssen, beklagt Johanna Rahner. Sie ist Professorin für katholische Dogmatik und Dogmengeschichte an der Universität Tübingen: 12. O-Ton II Das ist diese negative Konnotation, die der Zeitgeist hat: Wo man merkt, man würde gerne Dinge behalten, die sich ändern. Man sehnt sich nach Dingen zurück, die angeblich früher besser waren und es heute nicht mehr sind. Alles geht sozusagen den Bach runter. 13. Autor AM Für diese Haltung gibt es aber handfeste biblische Gründe, erinnert Professor Ulrich Körtner: 14. O-Ton III Paulus sagt, man solle sich nicht einfach der Welt und ihren herrschenden Meinungen gemein machen, sondern der christliche Glaube und die Nachfolger stehen bisweilen quer zur Welt. 15. Autor AM Was oder wen diese Nachfolger von Jesus genau meinten, wenn sie abfällig vom „Geist der Welt“ sprachen, müsste für beinah jedes Zitat einzeln untersucht werden, meint Isolde Karle, Professorin für praktische Theologie an der evangelischen Fakultät der Universität Bochum, denn in der Bibel kommen Worte wie „gesellschaftliches Klima“ oder „Zeitgeist“ gar nicht vor: 16. O-Ton IV Den Begriff „Zeitgeist“ gibt es nicht, der ist ja erst im 18.Jahrhundert entstanden und da, glaub ich, zuerst bei Herder aufgetaucht, aber natürlich: Der Sache nach beschäftigt sich das Neue Testament und die ersten Christen immer wieder mit der Frage, inwieweit passen wir uns den sozialen Gegebenheiten, der sozialen Umwelt an – und wo distanzieren wir uns bzw. versuchen wir, die Umwelt auch zu transformieren und zu verändern. Wir haben im Neuen Testament die Aufforderung „Stellet Euch nicht dieser Welt gleich“, also Distanznahme von der Welt. Auf der anderen Seite kann Paulus auch sagen, er wird den Juden ein Jude, 3 den Griechen ein Grieche, den Sklaven ein Sklave usw., also die Anpassung an ganz unterschiedliche Milieus, Lebensformen und Herkünfte um des Evangeliums willen. 1`05“ 17. Autor AM Dass die frühe Christenheit rund 300 Jahre lang zwischen Abgrenzung und Anpassung zum Zeitgeist lavierte, lag an einer Prognose, die von der Geschichte widerlegt wurde: 18.Sprecher Wahrlich, ich sage Euch : Unter denen, die hier stehen, sind einige, die den Tod nicht schmecken werden, bis sie den Menschensohn mit seiner Königsherrschaft haben kommen sehen. (Matthäus 16, 28) 19. Autor AM Sagte Jesus von Nazareth seinen Jüngern. Das weckte logischerweise ihre Erwartung, noch zu Lebzeiten den Beginn eines messianischen Friedensreiches auf Erden mitzuerleben. Aber statt des wiederkommenden Erlösers kamen jahrhundertelang grausame Christenverfolgungen durch die römischen Gottkaiser. Dass einer von ihnen, Kaiser Konstantin, im Jahre 313 den christlichen Glauben zur Staatsreligion erheben würde – das hatte niemand prognostiziert. 20. Musik 2 Sanctus Hilliard Ensemble Text u. Mel: trad., public domain Arr.: Jan Garbarek, ECM Records, LC-Nr 2516 darüber 21. Autor AM Wenn plötzlich der Mainstream christlich ist und 100 % der Einwohner einer Stadt getaufte Kirchenmitglieder sind – und das war ja bis zur Epoche der Aufklärung rund 1500 Jahre lang der Fall - wer ist denn dann „die Welt“, der man widerstehen sollte? 22. O-Ton V Gibt es keine. Das Christentum ist allumfassend. 23. Autor AM Sagt so kurz wie klar die Fachfrau für katholische Kirchengeschichte, Johanna Rahner. Und die evangelische Isolde Karle fügt hinzu: 24. O-Ton VI Gute Frage. Aber es ging natürlich mit erheblichen Glaubwürdigkeitsverlusten einher. Es war dann wirklich eine Massenkirche mit Massentaufen, wo nicht so sehr entscheidend war, was jemand glaubt oder nicht glaubt und wie jemand lebt oder nicht lebt. 25. Autor AM Solche Indifferenz den Ansprüchen des Evangeliums gegenüber rief Protest hervor. Zu allen Jahrhunderten. Die 4 Zeichen der Zeit richtig deuten; den Zeitgeist treffend erkennen und kommentieren – Menschen mit dieser Begabung bezeichnet die jüdisch-christliche Tradition als „Profeten“. Womit nicht Wahrsager und Hellseher gemeint sind, wohl aber hellsichtige Beobachter und scharfsinnige Analysten ihrer Gesellschaft und somit Kritiker ihrer Kirche. Das lobt ausgerechnet die Professorin für katholische Dogmatik, Johanna Rahner: 26. O-Ton VII Ich glaub´, es ist ganz gute Tradition, dass die Profeten immer kämpferische Gestalten sind. Die sich auch durch Widerspruch nicht irritieren lassen, sondern die ganz konkret den Finger auf die Wunde konkreter Situationen legen, die – nach ihrer Interpretation – nicht mit dem Sinn des Christentums oder der Kirche übereinstimmen. Und es hat der Kirche eigentlich ganz gut getan, immer wieder solche Persönlichkeiten zu haben. 27. Autor AM Wenn sie denn nicht exkommuniziert, verbannt oder gar verbrannt wurden. Wie Johann Hus in Konstanz 1415 zum Beispiel. Vorbilder im Glauben wurden die allermeisten profetisch Wegweisenden erst posthum. Dadurch nämlich, dass die Nachwelt sie als „Kinder ihrer Zeit“ ernstnahm, gleichzeitig aber das zeitlos Gültige ihrer Worte und Taten erkannte und anerkannte: Martin Luther im 16.Jahrhundert hatte nichts dagegen, dass Hexen, Juden und Wiedertäufer verbrannt werden. Seiner Lehre von der Rechtfertigung des Menschen durch Gott allein aus Gnade und Glaube aber tut das keinen Abbruch. Ulrich Körtner: 28. O-Ton VIII Die Geschichte lehrt uns : Ohne solche profetische Gestalten, die als Querdenker, als unbequeme Kritiker aufgetreten sind, wäre es um die Kirche in ihrer Geschichte, aber auch um die Gesellschaft oftmals schlecht bestellt gewesen. 29. Autor AM Machen wir die Probe aufs Exempel und springen in die jüngere Zeitgeschichte : Zwei SPD-Politiker und populäre Referenten evangelischer Kirchentage sind skeptisch bis heftig ablehnend gegenüber der Atomenergie und der Atomlobby. Sie heißen Johannes Rau und Erhard Eppler, es sind die späten 70er Jahre. FDP und CDU, aber auch etliche Bischöfe beider Volkskirchen, belächeln ihre Bedenken als wollsockig, wenn nicht gar „energiepolitisch steinzeitlich.“ 1986 aber explodiert Tschernobyl und verstrahlt halb Ost5 und Nordeuropa. 2011 beginnt die bis heute nicht gestoppte Kernschmelze im japanischen Fukushima. Und was das marode Kernkraftwerk Fessenheim der badischelsässischen Region noch alles beschert, steht dahin. Waren Rau und Eppler profetisch im Sinne der ZeitgeistKritik ? Professorin Isolde Karle ist vorsichtig: 30. O-Ton IX Die Genannten haben damals in sehr vorausschauender Weise gesehen, was wegweisend und richtig wäre für diese Gesellschaft, das will ich gar nicht einschränken: Ich sage nur: Es ist riskant. Es kann halt im Nachhinein auch anders aussehen. Es kann sein, dass man sagt: Mensch, damals hab´ ich das so gesehen, heute würde ich es anders sagen. „Profetisch“ heißt ja, dass etwas ausgesprochen wird, was noch nicht klar zutage liegt, was noch nicht für alle sichtbar ist. 31. Autor AM Für alle sichtbar aber war der Fall der Mauer 1989, das Ende des atomaren Rüstungswettlaufs der zwei Weltmächte des Kalten Krieges. Ein katholischer Schriftsteller und eine evangelische Theologin blockieren mit tausenden von Demonstranten das Depot der US-amerikanischen PershingII-Atomraketen in Mutlangen bei Schwäbisch Gmünd. Sie heißen Heinrich Böll und Dorothee Sölle, es ist der Herbst 1983. Für den amtierenden Bundespräsidenten Karl Carstens, aber auch für etliche Bischöfe beider Volkskirchen, sind sie nichts weiter als Sympathisanten der RAF-Terroristen. Heute stellen die Friedensbewegten von damals Landes-Regierungen. Isolde Karle, Professorin für praktische Theologie an der Uni Bochum, bleibt auch hier skeptisch: 32. O-Ton X Man könnte auch Margot Käßmanns „Nichts ist gut in Afghanistan“ so verstehen: Da hat jemand zum ersten Mal ausgesprochen: Tatsächlich gibt es Krieg in Afghanistan, es ist nicht nur eine Friedensmission. Deshalb hat sie ja auch so ne Riesendebatte ausgelöst, weil es ja in einem öffentlichen Zusammenhang ausgesprochen wurde. Nelson Mandela war ne prophetische Figur. Auch Martin Luther King mit seinem Kampf hatte ein klares Ziel, wo er das Evangelium ganz sicher auf seiner Seite wusste, da ist der Fall ganz eindeutig. Aber weniger eindeutig ist er bei Bundeswehreinsätzen im Ausland. Das sind komplizierte Themen, wo man vielleicht so oder auch anders optieren kann. 33. Autor AM Friedenspolitik, Energiewende, man könnte hinzufügen Medizin-Ethik bei der Gen-Forschung und Sterbe6 Begleitung, Wirtschaftsethik im globalen Markt – die Komplexität der Sachverhalte macht es schwierig, prophetische Zeitgeist-Kritik im Namen des Evangeliums zu üben. 34. Musik 3 darüber 35. Sprecher Rex virginum amator Sarband Text u.Mel.: trad., public domain Jaro Records, LC-Nr 8648 Über die zu verwerfenden Zeit-Irrtümer. Wer sagt, der Bischof von Rom habe nur einen Anteil, nicht jedoch die ganze Fülle höchster Gewalt über alle Gläubigen, der sei ausgeschlossen. 36. Auto AM Das verkündete Papst Pius IX 1869 auf dem ersten Vatikanischen Konzil in Rom. Wem er da mit Rauswurf drohte, war klar: Allen demokratischen Bewegungen auf der Welt, die der Kirche ihre Vorherrschaft über den Staat und die Gesellschaft streitig machen wollten. 1874 verbot Papst Pius IX den Italienern sogar, zur Wahl zu gehen. Die Religionsfreiheit und eine Republik entscheidungsmündiger Bürger mit unveräußerlichen Menschenrechten – das hielt der letzte Theokrat Europas für „Irrtümer des Zeitgeistes“. Ist einer katholischen Professorin wie Johanna Rahner sowas heute peinlich? 37. O-Ton XII Eigentlich nein. Weil es zeitgeistig ist, es hat seinen Ort wirklich im 19.Jahrhundert, wo die böse Welt da draußen dem Untergang geweiht und der heilige Hort der Kirche der einzige Hort der Wahrheit gewesen ist – daran merken Sie, dass das I.Vatikanum und Pius IX zeitgeistig im negativen Sinne sind: Weil sie dem Zeitgeist eines absolutistischen Gebarens, einem Zentralismus, unterlegen sind. Dass die Dynamiken der drei großen Worte der französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit – sich ausprägten, dass sie diese Dynamik nicht ernstgenommen, nicht wahrgenommen hat. Da ist man mit den restaurativen Kräften des 19.Jahrhunderts zeitgeistig verbunden und setzt auf das falsche Pferd. 38. Autor AM Dieses falsche Pferd – der autoritäre päpstliche Zentralismus gegen säkulare Bürgerbewegungen – habe aber 60 Jahre später verhindert, dass die katholische Kirche dem braunen Ungeist des Nationalsozialismus anheimgefallen sei, meint Johann Rahner. 39. O-Ton XIII Das ist, was die Wirkungsgeschichte dieses Konzils so zweideutig macht. Ob die katholische Kirche tatsächlich 7 durch ihren starken Zentralismus manchmal davon abgehalten wird, sich dem Zeitgeist hinzugeben? Ich denke schon. Ich glaube, die Situation des Nationalsozialismus in Deutschland ist eins dieser Beispiele. Es hätte noch viel deutlicher und stärker sein müssen, wissen wir heute im Nachhinein wieder besser, aber es hat vor manchen Exzessen tatsächlich die katholische Kirche und ihre Pfarrer vor Ort bewahrt. 40. Autor AM Folgt man diesem Gedanken, ergibt sich eine Kuriosität der Geschichte : Weil Papst Pius IX zu sehr dem monarchistischen Zeitgeist erlegen war, bewahrte er die Nachwelt davor, dem faschistischen Zeitgeist zu erliegen. 41. Musik 4 Voices of my home Melodie : Misha Alperin Jaro Records, LC-Nr 8648 42. Sprecher Geliebte ! Glaubt nicht jedem Geist, sondern prüfet die Geister, ob sie von Gott kommen. Denn viele falsche Profeten sind in die Welt hinausgegangen. ( 1.Joh 4,1) 43. Autor AM So steht´s im Neuen Testament. Religionswissenschaftler Professor Ulrich Körtner meint, gerade die Jahrzehnte des preußischen Militarismus und die Zeit des Nationalsozialismus zeigten, wie unverzichtbar eine Begabung ist, die selbst unter bibelfesten Kirchgängern weitgehend in Vergessenheit geraten ist: Das Gespür für den Geist, das Klima, für Atmosphäre und Anliegen einer Person oder Bewegung, kurz : Das Charisma der Unterscheidung. 44. O-Ton XIV Bezogen auf den Zeitgeist heißt das erstmal, dass der Glaube die Fähigkeit entwickeln muss, die Geister zu unterscheiden. So steht das schon bei Paulus in der Bibel. Und zu schauen, was wohl auf den Geist Gottes zurück zu führen ist und was auf andere Geister zurück zu führen ist. Also man könnte sagen: der Geist der ungeteilten Liebe – das ist der Geist Gottes. 45. Autor AM Sucht man im mörderischen 20. Jahrhundert nach profetischen Figuren, die in diesem „Geist ungeteilter Liebe“ gegen den herrschenden Mainstream Zeichen setzten, dann fällt auf, dass sie in Persönlichkeitsstruktur und Habitus eher konservativ gestrickt waren. Der Arzt Albert Schweitzer, die gegen Hitler taktierenden Pfarrer der „Bekennenden Kirche“, darunter Eugen Gerstenmaier, einer der Väter des bundesdeutschen Grundgesetzes; der Moscow Art 8 UNO-Generalsekretär Dag Hammarskjöld oder der spätere Bundespräsident Gustav Heinemann – ihr herausragendes Merkmal war nicht der revolutionäre Gestus, sondern der analytische Blick, die visionäre Weitsichtigkeit, meint Isolde Karle : 46. O-Ton XV Es gibt dann doch Einzelpersönlichkeiten, die da herausragen und dann eben weiter denken und mehr gesehen haben. Also das Beispiel Karl Barth natürlich, sehr eindrucksvoll seine „Barmer theologische Erklärung“, die Ablehnung des Führerprinzips für die Kirche usw, aber zu gleicher Zeit und viel früher hat Dietrich Bonhoeffer klar gesehen, dass das eigentliche Problem nicht so sehr die Kirche ist und der Arier-Paragraf in der Kirche, sondern die Verfolgung der Juden und politisch Andersdenkenden. Und er hat sich da schon klar geäußert mit diesem berühmten Satz „nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen“ und hat das am Ende ja auch mit seinem Leben bezahlt. Es wäre fatal, wenn die Kirche, das Christentum, nur noch Transformationen und Revolutionen vor Augen hätte, deshalb: Tradition bewahren Ja, aber sie muss halt re-formuliert werden, je neu für eine neue Zeit und da müssen dann manchmal Vorstellungen grundlegend revidiert werden. 47. Autor AM Welche Vorstellungen heutzutage zeitgemäß revidiert werden sollten – darüber geben die berühmtesten Lehrer des Protestantismus wie Karl Barth, Rudolf Bultmann, Karl Heim, Reinhold Niebuhr oder Paul Tillich wenig verwertbare Auskünfte fürs 21.Jahrhndert, meint Professor Ulrich Körtner aus Wien: 48. O-Ton XVI Ich glaube, dass diejenigen, die in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts den Ton angegeben haben, sich nicht vorstellen konnten, dass Frauen ordiniert werden oder Schwule auf der Kanzel stehen. Oder gleichgeschlechtliche Paare gesegnet, vielleicht sogar getraut werden. Weil sie bei aller Kritik gegenüber ihrer jeweiligen Zeit natürlich Kinder ihrer Zeit gewesen sind. Ich möchte aber die Frage, wie Kirche mit Homosexualität umgeht, nicht einfach nur darauf reduzieren, dass man sagt: Wir sind Kinder der Zeit und die Zeit hat sich gewandelt und nun ist richtig, was vorher für falsch gehalten wurde. Sondern es ist ja immer wieder neu nach gut fundierten theologischen Gründen dafür zu fragen, warum man solche Veränderungen gut heißt! 9 49.Autor AM Gut geheißen mit fundierten theologischen Gründen haben es fromme, bibellesende Kirchgänger im britischen Weltreich und in den USA, dass sie Sklaven besaßen. 200 Jahre lang. Jahrtausendelang und bis heute benennen die katholische Kirche und manche evangelikale Freikirche theologische Gründe, warum sie Frauen vom Pfarrdienst und Priesteramt ausschließen. Für den Mainstream, den Zeitgeist, hat sich das genauso überlebt wie die kirchliche Ächtung unverheiratet schwangerer Frauen und geschiedener Paare, oder nicht? 50. O-Ton XVII Ich hoffe, dass es so ist. Dass sich auch die Homosexuellendiskriminierung überlebt und da spricht ja im Moment auch einiges dafür. Aber es ist sozusagen genauso wie bei der Mann/Frau-Geschichte, genauso wie bei der RassismusGeschichte: Wir sind da noch lange nicht durch. 51. Autor AM Isolde Karle, Professorin für praktische Theologie an der Uni Bochum, verweist darauf, dass es einen linear verlaufenden Wandel in alltagsethischen Fragen nie gegeben hat und nicht geben kann. Weil für Christen wie Nichtchristen, politisch Konservative wie Progressive stets strittig bleibt, was „Fortschritt“ bedeutet. Zur Zeit behaupten z.B. die demokratisch gewählten Gegner der Demokratie, sie seien fortschrittlich und ihre kulturelle Rückwärtsgewandtheit wäre zukunftsweisend. Putin in Russland, Orban in Ungarn, Kaczynski in Polen, Le Pen in Frankreich, Petry in Deutschland – der politische, kulturelle und soziale Rechtsruck ist offenkundig, bestimmt aber keineswegs den Zeitgeist, meint Isolde Karle. 52. O-Ton XVIII Das ist ja klar beobachtbar, diesen Rechtsruck gibt es in vielen europäischen Gesellschaften. Aber auf der anderen Seite würde ich es auch nicht überbewerten. Wir haben eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Wir haben ganz viele Menschen, denen es ganz wichtig ist, Flüchtlingen zu helfen. Wir haben eine Diskussion über Deutschland als Einwanderungsland, die noch vor 20 Jahren undenkbar war. Wir haben eine Kanzlerin, die einer christlich-konservativen Partei vorsteht, aber mit einer Politik, die wiederum vor 20 Jahren in dieser Partei völlig undenkbar gewesen wäre. Der Öffnung sowohl für gleichgeschlechtliche Paare, Frauen, Flüchtlinge usw. – also insofern glaube ich, ist es eine Gemenge-Lage, es gibt viel Unterschiedliches gleichzeitig. 53. Autor AM Hinkt die katholische Kirche bei diesem Tempo hinterher? Nein, sagt Johanna Rahner. 10 54. O-Ton XIX Ist die katholische Kirche 50 Jahre hinter der aktuellen Entwicklung hinterher ? Ich glaube nicht. Wenn ich gerade die höchst aktuelle Entwicklung nehme, nämlich die Flüchtlingskrise, den Zustrom der Migranten, dann setzen eigentlich evangelische und katholische Kirche auf etwas grundlegend traditionell Christliches, das aber höchst modern ist und höchst angemessen: Dass Du nämlich dem Fremden, der vor Not und Krieg flieht, Herberge zu bieten hast! Da habe ich´s als katholische Theologin im Augenblick sehr einfach, ich kann sozusagen Papst Franziskus schön als Ikone vor mir hertragen, weil er sagt: Da soll die Kirche sein, da ist ihr Ort, woanders kann sie gar nicht Kirche sein, deswegen soll sie aus sich herausgehen, sich dort hinbewegen, um dann tatsächlich, wie er sagt, „wie in einem Feldlazarett heilend tätig zu sein.“ 55. Autor AM Die Kirche als Feldlazarett der Kriege und Wirtschaftskriege unserer Welt – Papst Franziskus hat für seine Vision einer barmherzigen und deshalb zeitgemäßen Kirche viel Applaus bekommen. Was aber ist mit all jenen Millionen, die nicht geheilt und getröstet, sondern gleich berechtigt werden wollen? Die respektiert und geachtet, die nicht länger als moralisch oder religiös defizitär gelten wollen? Johanna Rahner verweist auf das II Vatikanische Konzil von 1962 bis 1965. Seit dem versteht sich die katholische Kirche nämlich nicht mehr als Hort und Trutzburg einer allein seligmachenden Wahrheit, die per se den Zeitläuften und dem Zeitgeist enthoben wäre. Vielmehr sei der Geist und der Wille Gottes auch in Menschen außerhalb des Christentums heilsam wirkmächtig. 56. O-Ton XX Die Idee des Konzils ist, gemeinsam, mit allen Kräften der Welt, die Welt zu einer besseren zu machen. Das Konzil geht davon aus, da dieser universale Heilswille Gottes jeden Menschen betrifft und dass jeder Mensch – egal, ob er sich selber als gläubig oder nicht gläubig definieren würde – so etwas wie eine grundlegende Gotteskompetenz, eine Intuition für das Religiöse und die damit verbundenen Werte , wie z. B. die Würde des Menschen, schon in sich trägt. 57. Autor AM Die intuitive Gotteskompetenz des säkularisierten Menschen zu wecken - für den evangelischen Theologen Professor Ulrich Körtner ist das eine zeitgeistig wichtigere Aufgabe der Kirche, als bloß die allfällige Kapitalismuskritik anderer Gruppierungen zu wiederholen : 11 58. O-Ton XXI Es geht nicht darum, z.B. eine Sozialkritik zu üben, die man auch sonstwie in Bewegungen findet, nur noch in leicht erhöhtem religiösen Ton vorzutragen. Die entscheidende Frage ist für mich: Haben die etwas zu sagen, was andere nicht so sagen oder ist es einfach nur „more of the same“ ? 59. Autor AM Wer Aussagen über den Zeitgeist macht oder gar zu wissen meint, was die Stunde geschlagen hat, geht das Risiko ein, von der Geschichte widerlegt zu werden. Wie Kaiser Wilhelm in seiner Einschätzung des Automobils oder Papst Pius IX in seiner Ablehnung moderner Republiken. Wer den Zeitgeist gar nicht zur Kenntnis nehmen will, weil die christliche Botschaft zeitlos und unveränderbar sei, geht das Risiko ein, irrelevant zu werden. 60. Musik 5 Die güld´ne Sonne s.o. 12
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