SWR2 Glauben WER WEISS, WAS DIE STUNDE GESCHLAGEN HAT

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Glauben
WER WEISS, WAS DIE STUNDE
GESCHLAGEN HAT
RELIGION UND ZEITGEIST
VON ANDREAS MALESSA
SENDUNG 05.05.2016 / 12.05 UHR
Redaktion Religion, Kirche und Gesellschaft
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten
Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung
bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR
SWR2 Glauben können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter
www.swr2.de oder als Podcast nachhören:
http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/glauben.xml
Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2?
Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen
Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen.
Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen
Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert.
Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de
1.Musik 1
darüber
2. Sprecher
Die güld´ne Sonne
Klavierinstrumental 0`45“
Text u. Mel.: Paul Gerhardt, trad. Public domain
Arr. : Dieter Falk, Gerth Medien, LC – Nr 13 743
Das Automobil ist eine vorübergehende Erscheinung.
Ich setze auf das Pferd!
3. Autor AM
Sagte Kaiser Wilhelm II im Jahre 1903.
4. Sprecher
Es gibt nicht das geringste Anzeichen dafür, dass wir
jemals Atomenergie entwickeln und nutzen könnten.
5. Autor AM
Sagte Physiker Albert Einstein 1932
6. Sprecher
Es gibt keinen Grund, warum Privatleute einen Computer
benutzen sollten.
7. Autor AM
Sagte der IT-Spezialist Ken Olsen 1977.
Musik hoch bis Abblende
Sie alle täuschten sich. Weil sie in dem, was sie sich
vorstellen konnten, „ganz Kinder ihrer Zeit“ waren, wie wir
entschuldigend sagen. Sie wurden von der Geschichte
wider-legt und ihre Zitate dürfen im Rückblick getrost
belächelt werden.
8. Sprecher
Prognosen zu erstellen ist eine heikle Angelegenheit.
Vor allem, was die Zukunft betrifft.
9. Autor AM
Sagte augenzwinkernd Mark Twain, der amerikanische
Schriftsteller und Satiriker. Er meinte damit nicht nur
jene Veränderungen unseres Lebens, die von der Erfindung
neuer technischer Geräte herbeigeführt werden, sondern
auch kulturelle Transformationen, die scheinbar ohne
konkreten Anlass „irgendwie in der Luft liegen“. Gesellschaftliche Veränderungen, deren Ursache und Antrieb
kaum präzise feststellbar sind. Kollektive Stimmungen,
Mehrheitsmeinungen, Trends und Moden, die wir mit dem
Sammelbegriff „Zeitgeist“ beschreiben.
10. O-Ton I
Zeitgeist, das ist ein Geist, der die herrschenden Trends
einer bestimmten Epoche ausmacht. Das, was in der
Gesellschaft der Gegenwart den Mainstream repräsentiert.
Wenn ich von „Geist“ spreche, dann meine ich jetzt nicht
Geister im spiritistischen Sinne, wir kennen das ja, dass man
etwa spricht vom „Geist eines Hauses“, von einer
Atmosphäre, einem bestimmten Klima, das in einer
Gemeinschaft, einer Gruppe, einer Gesellschaft, herrscht.
2
11. Autor AM
Sagt Professor Ulrich Körtner vom Institut für
Systematische Theologie und Religionswissenschaft an der
Universität Wien. Diesen „ Zeitgeist“ zu beeinflussen oder
kritisch zu kommentieren hat unter Kirchenoberen,
Theologen und christliche Aktivisten eine
zweitausendjährige Tradition. Die Kirchen wären für die
Politik, die Kultur und die Gesellschaft immer schon gerne
das gewesen, was Analysten für die Wirtschaft sind:
Beratende Beobachter, verlässliche Prognostiker. Meist
jedoch waren fromme Leute überzeugt, „dem Zeitgeist
widerstehen“ zu müssen, beklagt Johanna Rahner. Sie ist
Professorin für katholische Dogmatik und
Dogmengeschichte an der Universität Tübingen:
12. O-Ton II
Das ist diese negative Konnotation, die der Zeitgeist
hat: Wo man merkt, man würde gerne Dinge behalten, die
sich ändern. Man sehnt sich nach Dingen zurück, die
angeblich früher besser waren und es heute nicht mehr
sind. Alles geht sozusagen den Bach runter.
13. Autor AM
Für diese Haltung gibt es aber handfeste biblische Gründe,
erinnert Professor Ulrich Körtner:
14. O-Ton III
Paulus sagt, man solle sich nicht einfach
der Welt und ihren herrschenden Meinungen gemein
machen, sondern der christliche Glaube und die
Nachfolger stehen bisweilen quer zur Welt.
15. Autor AM
Was oder wen diese Nachfolger von Jesus genau meinten,
wenn sie abfällig vom „Geist der Welt“ sprachen, müsste für
beinah jedes Zitat einzeln untersucht werden, meint Isolde
Karle, Professorin für praktische Theologie an der
evangelischen Fakultät der Universität Bochum, denn in der
Bibel kommen Worte wie „gesellschaftliches Klima“ oder
„Zeitgeist“ gar nicht vor:
16. O-Ton IV
Den Begriff „Zeitgeist“ gibt es nicht, der ist ja erst im
18.Jahrhundert entstanden und da, glaub ich, zuerst bei
Herder aufgetaucht, aber natürlich: Der Sache nach
beschäftigt sich das Neue Testament und die ersten
Christen
immer wieder mit der Frage, inwieweit passen wir uns den
sozialen Gegebenheiten, der sozialen Umwelt an – und wo
distanzieren wir uns bzw. versuchen wir, die Umwelt auch zu
transformieren und zu verändern. Wir haben im Neuen
Testament die Aufforderung „Stellet Euch nicht dieser Welt
gleich“, also Distanznahme von der Welt. Auf der anderen
Seite kann Paulus auch sagen, er wird den Juden ein Jude,
3
den Griechen ein Grieche, den Sklaven ein Sklave usw.,
also die Anpassung an ganz unterschiedliche Milieus,
Lebensformen und Herkünfte um des Evangeliums willen.
1`05“
17. Autor AM
Dass die frühe Christenheit rund 300 Jahre lang zwischen
Abgrenzung und Anpassung zum Zeitgeist lavierte, lag an
einer Prognose, die von der Geschichte widerlegt wurde:
18.Sprecher
Wahrlich, ich sage Euch : Unter denen, die hier stehen,
sind einige, die den Tod nicht schmecken werden, bis sie
den Menschensohn mit seiner Königsherrschaft haben
kommen sehen.
(Matthäus 16, 28)
19. Autor AM
Sagte Jesus von Nazareth seinen Jüngern. Das weckte
logischerweise ihre Erwartung, noch zu Lebzeiten den
Beginn eines messianischen Friedensreiches auf Erden
mitzuerleben. Aber statt des wiederkommenden Erlösers
kamen jahrhundertelang grausame Christenverfolgungen
durch die römischen Gottkaiser. Dass einer von ihnen,
Kaiser Konstantin, im Jahre 313 den christlichen Glauben zur
Staatsreligion erheben würde – das hatte niemand
prognostiziert.
20. Musik 2
Sanctus
Hilliard Ensemble
Text u. Mel: trad., public domain
Arr.: Jan Garbarek, ECM Records, LC-Nr 2516
darüber
21. Autor AM
Wenn plötzlich der Mainstream christlich ist und 100 % der
Einwohner einer Stadt getaufte Kirchenmitglieder sind – und
das war ja bis zur Epoche der Aufklärung rund 1500 Jahre
lang der Fall - wer ist denn dann „die Welt“, der man
widerstehen sollte?
22. O-Ton V
Gibt es keine. Das Christentum ist allumfassend.
23. Autor AM
Sagt so kurz wie klar die Fachfrau für katholische
Kirchengeschichte, Johanna Rahner. Und die evangelische
Isolde Karle fügt hinzu:
24. O-Ton VI
Gute Frage. Aber es ging natürlich mit erheblichen
Glaubwürdigkeitsverlusten einher. Es war dann wirklich
eine Massenkirche mit Massentaufen, wo nicht so sehr
entscheidend war, was jemand glaubt oder nicht glaubt
und wie jemand lebt oder nicht lebt.
25. Autor AM
Solche Indifferenz den Ansprüchen des Evangeliums
gegenüber rief Protest hervor. Zu allen Jahrhunderten. Die
4
Zeichen der Zeit richtig deuten; den Zeitgeist treffend
erkennen und kommentieren – Menschen mit dieser
Begabung bezeichnet die jüdisch-christliche Tradition als
„Profeten“. Womit nicht Wahrsager und Hellseher gemeint
sind, wohl aber hellsichtige Beobachter und scharfsinnige
Analysten ihrer Gesellschaft und somit Kritiker ihrer Kirche.
Das lobt ausgerechnet die Professorin für katholische
Dogmatik, Johanna Rahner:
26. O-Ton VII
Ich glaub´, es ist ganz gute Tradition, dass die Profeten
immer kämpferische Gestalten sind. Die sich auch durch
Widerspruch nicht irritieren lassen, sondern die ganz
konkret den Finger auf die Wunde konkreter Situationen
legen, die – nach ihrer Interpretation – nicht mit dem
Sinn des Christentums oder der Kirche übereinstimmen.
Und es hat der Kirche eigentlich ganz gut getan, immer
wieder solche Persönlichkeiten zu haben.
27. Autor AM
Wenn sie denn nicht exkommuniziert, verbannt
oder gar verbrannt wurden. Wie Johann Hus in Konstanz
1415 zum Beispiel. Vorbilder im Glauben wurden die
allermeisten profetisch Wegweisenden erst posthum.
Dadurch nämlich, dass die Nachwelt sie als „Kinder ihrer
Zeit“ ernstnahm, gleichzeitig aber das zeitlos Gültige ihrer
Worte und Taten erkannte und anerkannte: Martin Luther
im 16.Jahrhundert hatte nichts dagegen, dass Hexen,
Juden und Wiedertäufer verbrannt werden. Seiner Lehre
von der Rechtfertigung des Menschen durch Gott allein
aus Gnade und Glaube aber tut das keinen Abbruch.
Ulrich Körtner:
28. O-Ton VIII
Die Geschichte lehrt uns : Ohne solche profetische
Gestalten, die als Querdenker, als unbequeme Kritiker
aufgetreten sind, wäre es um die Kirche in ihrer Geschichte,
aber auch um die Gesellschaft oftmals schlecht bestellt
gewesen.
29. Autor AM
Machen wir die Probe aufs Exempel und springen in die
jüngere Zeitgeschichte : Zwei SPD-Politiker und populäre
Referenten evangelischer Kirchentage sind skeptisch
bis heftig ablehnend gegenüber der Atomenergie und der
Atomlobby. Sie heißen Johannes Rau und Erhard Eppler, es
sind die späten 70er Jahre. FDP und CDU, aber auch
etliche Bischöfe beider Volkskirchen, belächeln ihre
Bedenken als wollsockig, wenn nicht gar „energiepolitisch
steinzeitlich.“ 1986 aber explodiert Tschernobyl und
verstrahlt halb Ost5
und Nordeuropa. 2011 beginnt die bis heute nicht
gestoppte Kernschmelze im japanischen Fukushima. Und
was das marode Kernkraftwerk Fessenheim der badischelsässischen Region noch alles beschert, steht dahin.
Waren Rau und Eppler profetisch im Sinne der ZeitgeistKritik ? Professorin Isolde Karle ist vorsichtig:
30. O-Ton IX
Die Genannten haben damals in sehr vorausschauender
Weise gesehen, was wegweisend und richtig wäre für diese
Gesellschaft, das will ich gar nicht einschränken: Ich sage
nur: Es ist riskant. Es kann halt im Nachhinein auch anders
aussehen. Es kann sein, dass man sagt: Mensch, damals
hab´ ich das so gesehen, heute würde ich es anders sagen.
„Profetisch“ heißt ja, dass etwas ausgesprochen wird, was
noch nicht klar zutage liegt, was noch nicht für alle sichtbar
ist.
31. Autor AM
Für alle sichtbar aber war der Fall der Mauer 1989, das Ende
des atomaren Rüstungswettlaufs der zwei Weltmächte des
Kalten Krieges. Ein katholischer Schriftsteller und eine
evangelische Theologin blockieren mit tausenden von
Demonstranten das Depot der US-amerikanischen PershingII-Atomraketen in Mutlangen bei Schwäbisch Gmünd. Sie
heißen Heinrich Böll und Dorothee Sölle, es ist der Herbst
1983. Für den amtierenden Bundespräsidenten Karl
Carstens, aber auch für etliche Bischöfe beider
Volkskirchen, sind sie nichts weiter als Sympathisanten der
RAF-Terroristen. Heute stellen die Friedensbewegten von
damals Landes-Regierungen. Isolde Karle, Professorin für
praktische Theologie an der Uni Bochum, bleibt auch hier
skeptisch:
32. O-Ton X
Man könnte auch Margot Käßmanns „Nichts ist gut in
Afghanistan“ so verstehen: Da hat jemand zum ersten Mal
ausgesprochen: Tatsächlich gibt es Krieg in Afghanistan,
es ist nicht nur eine Friedensmission. Deshalb hat sie ja auch
so ne Riesendebatte ausgelöst, weil es ja in einem
öffentlichen Zusammenhang ausgesprochen wurde.
Nelson Mandela war ne prophetische Figur. Auch Martin
Luther King mit seinem Kampf hatte ein klares Ziel, wo
er das Evangelium ganz sicher auf seiner Seite wusste, da
ist der Fall ganz eindeutig. Aber weniger eindeutig ist er
bei Bundeswehreinsätzen im Ausland. Das sind komplizierte
Themen, wo man vielleicht so oder auch anders optieren
kann.
33. Autor AM
Friedenspolitik, Energiewende, man könnte hinzufügen
Medizin-Ethik bei der Gen-Forschung und Sterbe6
Begleitung, Wirtschaftsethik im globalen Markt – die
Komplexität der Sachverhalte macht es schwierig,
prophetische Zeitgeist-Kritik im Namen des Evangeliums zu
üben.
34. Musik 3
darüber
35. Sprecher
Rex virginum amator
Sarband
Text u.Mel.: trad., public domain
Jaro Records, LC-Nr 8648
Über die zu verwerfenden Zeit-Irrtümer.
Wer sagt, der Bischof von Rom habe nur einen Anteil, nicht
jedoch die ganze Fülle höchster Gewalt über alle
Gläubigen, der sei ausgeschlossen.
36. Auto AM
Das verkündete Papst Pius IX 1869 auf dem ersten
Vatikanischen Konzil in Rom. Wem er da mit Rauswurf
drohte, war klar: Allen demokratischen Bewegungen auf
der Welt, die der Kirche ihre Vorherrschaft über den Staat
und die Gesellschaft streitig machen wollten. 1874 verbot
Papst Pius IX den Italienern sogar, zur Wahl zu gehen. Die
Religionsfreiheit und eine Republik entscheidungsmündiger
Bürger mit unveräußerlichen Menschenrechten – das hielt
der letzte Theokrat Europas für „Irrtümer des Zeitgeistes“. Ist
einer katholischen Professorin wie Johanna Rahner sowas
heute peinlich?
37. O-Ton XII
Eigentlich nein. Weil es zeitgeistig ist, es hat seinen Ort
wirklich im 19.Jahrhundert, wo die böse Welt da draußen
dem Untergang geweiht und der heilige Hort der Kirche der
einzige Hort der Wahrheit gewesen ist – daran merken Sie,
dass das I.Vatikanum und Pius IX zeitgeistig im negativen
Sinne sind: Weil sie dem Zeitgeist eines absolutistischen
Gebarens, einem Zentralismus, unterlegen sind. Dass die
Dynamiken der drei großen Worte der französischen
Revolution – Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit – sich
ausprägten, dass sie diese Dynamik nicht ernstgenommen,
nicht wahrgenommen hat. Da ist man mit den
restaurativen Kräften des 19.Jahrhunderts zeitgeistig
verbunden und setzt auf das falsche Pferd.
38. Autor AM
Dieses falsche Pferd – der autoritäre päpstliche Zentralismus
gegen säkulare Bürgerbewegungen – habe aber 60 Jahre
später verhindert, dass die katholische Kirche dem braunen
Ungeist des Nationalsozialismus anheimgefallen sei, meint
Johann Rahner.
39. O-Ton XIII
Das ist, was die Wirkungsgeschichte dieses Konzils so
zweideutig macht. Ob die katholische Kirche tatsächlich
7
durch ihren starken Zentralismus manchmal davon
abgehalten wird, sich dem Zeitgeist hinzugeben?
Ich denke schon. Ich glaube, die Situation des
Nationalsozialismus in Deutschland ist eins dieser
Beispiele. Es hätte noch viel deutlicher und stärker sein
müssen, wissen wir heute im Nachhinein wieder besser,
aber es hat vor manchen Exzessen tatsächlich die
katholische Kirche und ihre Pfarrer vor Ort bewahrt.
40. Autor AM
Folgt man diesem Gedanken, ergibt sich eine
Kuriosität der Geschichte : Weil Papst Pius IX zu sehr
dem monarchistischen Zeitgeist erlegen war, bewahrte
er die Nachwelt davor, dem faschistischen Zeitgeist zu
erliegen.
41. Musik 4
Voices of my home
Melodie : Misha Alperin
Jaro Records, LC-Nr 8648
42. Sprecher
Geliebte ! Glaubt nicht jedem Geist, sondern prüfet
die Geister, ob sie von Gott kommen. Denn viele falsche
Profeten sind in die Welt hinausgegangen. ( 1.Joh 4,1)
43. Autor AM
So steht´s im Neuen Testament. Religionswissenschaftler
Professor Ulrich Körtner meint, gerade die Jahrzehnte des
preußischen Militarismus und die Zeit des Nationalsozialismus zeigten, wie unverzichtbar eine Begabung ist,
die selbst unter bibelfesten Kirchgängern weitgehend in
Vergessenheit geraten ist: Das Gespür für den Geist, das
Klima, für Atmosphäre und Anliegen einer Person oder
Bewegung, kurz : Das Charisma der Unterscheidung.
44. O-Ton XIV
Bezogen auf den Zeitgeist heißt das erstmal, dass der
Glaube die Fähigkeit entwickeln muss, die Geister zu
unterscheiden. So steht das schon bei Paulus in der Bibel.
Und zu schauen, was wohl auf den Geist Gottes zurück zu
führen ist und was auf andere Geister zurück zu führen ist.
Also man könnte sagen: der Geist der ungeteilten Liebe –
das ist der Geist Gottes.
45. Autor AM
Sucht man im mörderischen 20. Jahrhundert nach
profetischen Figuren, die in diesem „Geist ungeteilter
Liebe“ gegen den herrschenden Mainstream Zeichen
setzten, dann fällt auf, dass sie in Persönlichkeitsstruktur und
Habitus eher konservativ gestrickt waren. Der Arzt Albert
Schweitzer, die gegen Hitler taktierenden Pfarrer der
„Bekennenden Kirche“, darunter Eugen Gerstenmaier,
einer der Väter des bundesdeutschen Grundgesetzes; der
Moscow Art
8
UNO-Generalsekretär Dag Hammarskjöld oder der spätere
Bundespräsident Gustav Heinemann – ihr herausragendes
Merkmal war nicht der revolutionäre Gestus, sondern der
analytische Blick, die visionäre Weitsichtigkeit, meint Isolde
Karle :
46. O-Ton XV
Es gibt dann doch Einzelpersönlichkeiten, die da
herausragen und dann eben weiter denken und mehr
gesehen haben. Also das Beispiel Karl Barth natürlich, sehr
eindrucksvoll seine „Barmer theologische Erklärung“, die
Ablehnung des Führerprinzips für die Kirche usw, aber zu
gleicher Zeit und viel früher hat Dietrich Bonhoeffer klar
gesehen, dass das eigentliche Problem nicht so sehr die
Kirche ist und der Arier-Paragraf in der Kirche, sondern die
Verfolgung der Juden und politisch Andersdenkenden. Und
er hat sich da schon klar geäußert mit diesem berühmten
Satz „nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch
singen“ und hat das am Ende ja auch mit seinem Leben
bezahlt. Es wäre fatal, wenn die Kirche, das Christentum,
nur noch Transformationen und Revolutionen vor Augen
hätte, deshalb: Tradition bewahren Ja, aber sie muss halt
re-formuliert werden, je neu für eine neue Zeit und da
müssen dann manchmal Vorstellungen grundlegend
revidiert werden.
47. Autor AM
Welche Vorstellungen heutzutage zeitgemäß revidiert
werden sollten – darüber geben die berühmtesten Lehrer
des Protestantismus wie Karl Barth, Rudolf Bultmann, Karl
Heim, Reinhold Niebuhr oder Paul Tillich wenig
verwertbare Auskünfte fürs 21.Jahrhndert, meint Professor
Ulrich Körtner aus Wien:
48. O-Ton XVI
Ich glaube, dass diejenigen, die in der ersten Hälfte
des 20.Jahrhunderts den Ton angegeben haben, sich nicht
vorstellen konnten, dass Frauen ordiniert werden oder
Schwule auf der Kanzel stehen. Oder gleichgeschlechtliche
Paare gesegnet, vielleicht sogar getraut werden. Weil sie
bei aller Kritik gegenüber ihrer jeweiligen Zeit natürlich
Kinder ihrer Zeit gewesen sind. Ich möchte aber die Frage,
wie Kirche mit Homosexualität umgeht, nicht einfach nur
darauf reduzieren, dass man sagt: Wir sind Kinder der Zeit
und die Zeit hat sich gewandelt und nun ist richtig, was
vorher für falsch gehalten wurde. Sondern es ist ja immer
wieder neu nach gut fundierten theologischen Gründen
dafür zu fragen, warum man solche Veränderungen gut
heißt!
9
49.Autor AM
Gut geheißen mit fundierten theologischen Gründen
haben es fromme, bibellesende Kirchgänger im britischen
Weltreich und in den USA, dass sie Sklaven besaßen. 200
Jahre lang. Jahrtausendelang und bis heute benennen die
katholische Kirche und manche evangelikale Freikirche
theologische Gründe, warum sie Frauen vom Pfarrdienst
und Priesteramt ausschließen. Für den Mainstream, den
Zeitgeist, hat sich das genauso überlebt wie die kirchliche
Ächtung unverheiratet schwangerer Frauen und
geschiedener Paare, oder nicht?
50. O-Ton XVII
Ich hoffe, dass es so ist. Dass sich auch die Homosexuellendiskriminierung überlebt und da spricht ja im Moment auch
einiges dafür. Aber es ist sozusagen genauso wie bei der
Mann/Frau-Geschichte, genauso wie bei der RassismusGeschichte: Wir sind da noch lange nicht durch.
51. Autor AM
Isolde Karle, Professorin für praktische Theologie an der
Uni Bochum, verweist darauf, dass es einen linear
verlaufenden Wandel in alltagsethischen Fragen nie
gegeben hat und nicht geben kann. Weil für Christen wie
Nichtchristen, politisch Konservative wie Progressive stets
strittig bleibt, was „Fortschritt“ bedeutet. Zur Zeit behaupten
z.B. die demokratisch gewählten Gegner der Demokratie,
sie seien fortschrittlich und ihre kulturelle
Rückwärtsgewandtheit wäre zukunftsweisend. Putin in
Russland, Orban in Ungarn, Kaczynski in Polen, Le Pen in
Frankreich, Petry in Deutschland – der politische, kulturelle
und soziale Rechtsruck ist offenkundig, bestimmt aber
keineswegs den Zeitgeist, meint Isolde Karle.
52. O-Ton XVIII
Das ist ja klar beobachtbar, diesen Rechtsruck gibt es
in vielen europäischen Gesellschaften. Aber auf der
anderen Seite würde ich es auch nicht überbewerten. Wir
haben eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Wir
haben ganz viele Menschen, denen es ganz wichtig ist,
Flüchtlingen zu helfen. Wir haben eine Diskussion über
Deutschland als Einwanderungsland, die noch vor 20
Jahren undenkbar war. Wir haben eine Kanzlerin, die einer
christlich-konservativen Partei vorsteht, aber mit einer Politik,
die wiederum vor 20 Jahren in dieser Partei völlig
undenkbar gewesen wäre. Der Öffnung sowohl für
gleichgeschlechtliche Paare, Frauen, Flüchtlinge
usw. – also insofern glaube ich, ist es eine Gemenge-Lage,
es gibt viel Unterschiedliches gleichzeitig.
53. Autor AM
Hinkt die katholische Kirche bei diesem Tempo hinterher?
Nein, sagt Johanna Rahner.
10
54. O-Ton XIX
Ist die katholische Kirche 50 Jahre hinter der aktuellen
Entwicklung hinterher ? Ich glaube nicht. Wenn ich gerade
die höchst aktuelle Entwicklung nehme, nämlich die
Flüchtlingskrise, den Zustrom der Migranten, dann setzen
eigentlich evangelische und katholische Kirche auf etwas
grundlegend traditionell Christliches, das aber höchst
modern ist und höchst angemessen: Dass Du nämlich dem
Fremden, der vor Not und Krieg flieht, Herberge zu bieten
hast! Da habe ich´s als katholische Theologin im Augenblick
sehr einfach, ich kann sozusagen Papst Franziskus schön als
Ikone vor mir hertragen, weil er sagt: Da soll die Kirche sein,
da ist ihr Ort, woanders kann sie gar nicht Kirche sein,
deswegen soll sie aus sich herausgehen, sich dort
hinbewegen, um dann tatsächlich, wie er sagt, „wie in
einem Feldlazarett heilend tätig zu sein.“
55. Autor AM
Die Kirche als Feldlazarett der Kriege und Wirtschaftskriege
unserer Welt – Papst Franziskus hat für seine Vision einer
barmherzigen und deshalb zeitgemäßen Kirche viel
Applaus bekommen. Was aber ist mit all jenen Millionen,
die nicht geheilt und getröstet, sondern gleich berechtigt
werden wollen? Die respektiert und geachtet, die nicht
länger als moralisch oder religiös defizitär gelten wollen?
Johanna Rahner verweist auf das II Vatikanische Konzil von
1962 bis 1965. Seit dem versteht sich die katholische Kirche
nämlich nicht mehr als Hort und Trutzburg einer allein
seligmachenden Wahrheit, die per se den Zeitläuften
und dem Zeitgeist enthoben wäre. Vielmehr sei der Geist
und der Wille Gottes auch in Menschen außerhalb des
Christentums heilsam wirkmächtig.
56. O-Ton XX
Die Idee des Konzils ist, gemeinsam, mit allen Kräften der
Welt, die Welt zu einer besseren zu machen. Das Konzil
geht davon aus, da dieser universale Heilswille Gottes
jeden Menschen betrifft und dass jeder Mensch – egal, ob
er sich selber als gläubig oder nicht gläubig definieren
würde – so etwas wie eine grundlegende
Gotteskompetenz, eine Intuition für das Religiöse und die
damit verbundenen Werte , wie z. B. die Würde des
Menschen, schon in sich trägt.
57. Autor AM
Die intuitive Gotteskompetenz des säkularisierten Menschen
zu wecken - für den evangelischen Theologen Professor
Ulrich Körtner ist das eine zeitgeistig wichtigere Aufgabe der
Kirche, als bloß die allfällige Kapitalismuskritik anderer
Gruppierungen zu wiederholen :
11
58. O-Ton XXI
Es geht nicht darum, z.B. eine Sozialkritik zu üben, die
man auch sonstwie in Bewegungen findet, nur noch
in leicht erhöhtem religiösen Ton vorzutragen. Die
entscheidende Frage ist für mich: Haben die etwas zu
sagen, was andere nicht so sagen oder ist es einfach
nur „more of the same“ ?
59. Autor AM
Wer Aussagen über den Zeitgeist macht oder gar zu
wissen meint, was die Stunde geschlagen hat, geht das
Risiko ein, von der Geschichte widerlegt zu werden.
Wie Kaiser Wilhelm in seiner Einschätzung des Automobils oder Papst Pius IX in seiner Ablehnung moderner
Republiken. Wer den Zeitgeist gar nicht zur Kenntnis
nehmen will, weil die christliche Botschaft zeitlos und
unveränderbar sei, geht das Risiko ein, irrelevant zu werden.
60. Musik 5
Die güld´ne Sonne s.o.
12