Lebenszeichen

‚Bevor Sie sich umbringen: Rufen Sie uns an!‘
60 Jahre Telefonseelsorge in Deutschland
Von Matthias Bertsch
Lebenszeichen
05.05.2016
Sprecher:
„Vielleicht kennst Du ja jemanden, dem es schon mal richtig schlecht ging. So richtig. So
schlecht, dass er sich umbringen wollte. Was sagt man dann? Wie kann man ihm helfen?“
Mit diesen Fragen schreibt die TelefonSeelsorge Berlin e.V. jährlich einen SchülerWettbewerb aus. Im Bereich Musik hat ihn im letzten Jahr der Song des 17-jährigen Darko
Sagarra Medina gewonnen.
O-Ton Lied 1 (Darko Sagarra Medina):
Selbstmordgedanken ignorieren, um nicht das Leben zu verlieren, jeder Mensch sollte
schätzen, dass er leben und existieren darf. Es hat keinen Sinn sich umzubringen,
glaubst du, irgendjemand will das, nein, Leben hat einen Sinn und deshalb bin ich wie
ich bin, ich bin im Leben drin und appelliere an die vielen, die suizidgefährdet sind …
Sprecher:
Der Wettbewerb unter dem Motto „Suizid ist nicht die Lösung“ soll Schülern motivieren, sich
mit dem Thema Jugend und Suizid auseinanderzusetzen. Das Berliner Krisentelefon will
damit nicht nur an die rund 600 Jugendlichen, die sich in der Bundesrepublik jedes Jahr das
Leben nehmen, erinnern, sondern auch an den Ursprung der Telefonseelsorge Anfang der
50er Jahre in London. Als Begründer gilt der britisch-anglikanische Geistliche Edward Chad
Varah), der ein 14-jähriges Mädchen beerdigen musste, das sich das Leben genommen hatte. Bei der Beerdigung hatte er erfahren, dass der Grund dafür Scham über ihre erste Periode war. Sie hatte sie für eine Krankheit gehalten.
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016
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‚Bevor Sie sich umbringen: Rufen Sie uns an!‘
60 Jahre Telefonseelsorge in Deutschland
Lebenszeichen
Von Matthias Bertsch
05.05.2016
O-Ton Blömeke:
Suizide in London waren der Auslöser, dass Chad Varah gesagt hat, es kann nicht
sein, dass Menschen in einer solchen Situation nicht wissen, an wen sie sich wenden
können. Er hat dann eine Zeitungsanzeige in der Times geschaltet: „Bevor du dich
umbringst, ruf an!“ und hat seine Telefonnummer angegeben, hat seine Telefonnummer auch ins Fenster, er war ja anglikanischer Pfarrer, in seinem Pfarrhaus ins Fenster gesetzt und so ist die 1. TelefonSeelsorge entstanden.
Sprecher:
Die Idee des Hilfetelefons wurde auch in der Bundesrepublik aufmerksam verfolgt, so der
Geschäftsführer der Evangelischen Konferenz für TelefonSeelsorge, Bernd Blömeke.
O-Ton Blömeke:
Wenn man auf die Gründungen der ersten TelefonSeelsorge-Stellen in Deutschland
seit 1956 zurückschaut, merkt man, dass fast in jeder Gründung suizidale Erfahrungen im Hintergrund standen, ob in Berlin, in Kassel, in Frankfurt, in Düsseldorf haben
Menschen mitbekommen, hier in unserer Stadt nimmt sich jemand das Leben, weiß
nicht, an wen er sich wenden soll in so ´ner bedrängenden Situation und haben das
zum Anlass genommen, eine TelefonSeelsorge zu gründen.
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‚Bevor Sie sich umbringen: Rufen Sie uns an!‘
60 Jahre Telefonseelsorge in Deutschland
Lebenszeichen
Von Matthias Bertsch
05.05.2016
Sprecher:
Das erste Beratungsangebot nannte sich deswegen auch Lebensmüdenbetreuung, und
dass sie in Berlin entstand, war kein Zufall: Berlin galt als Hauptstadt der Selbstmörder, wie
sie damals noch genannt wurden. Am 6. Oktober 1956 gründeten ein Pastor, ein Arzt und
einige Theologiestudenten in einer Charlottenburger Privatwohnung einen telefonischen
Notdienst nach dem Vorbild von Chad Varah. Die Telefonnummer, damals noch ein Privatnummer, war rund um die Uhr erreichbar, bis Ende des Jahres wurden gut 600 Anrufe gezählt.
Dass sich die TelefonSeelsorge in der Bundesrepublik so schnell ausbreitete, hing nicht nur
mit dem Bedarf zusammen sondern auch mit den technischen Voraussetzungen: In den
50er und 60er Jahren erhielten immer mehr Privathaushalte einen Telefonanschluss, das
Telefon begann, sich als Kommunikationsmedium durchzusetzen. Und schon bald wurde die
Nummer nicht nur von „Lebensmüden“ gewählt sondern von Verzweifelten aller Art. Ein häufiger Grund für Anrufe waren in den 60er Jahren beispielsweise die so genannten Mischehen
zwischen Protestanten und Katholiken.
O-Ton Aus Servicezeit, WDR 1967:
Frau: „Ich bin evangelisch und mein Mann ist katholisch.“
Telefonseelsorgerin: „Das spielt alles keine Rolle.“
Frau: „Meinen Sie nicht?“
Telefonseelsorgerin: „Nein, das spielt für unseren Fall hier …“
Frau: „Ich habe sogar, ihm zuliebe, wegen seiner Mutti, habe ich meine Kinder katholisch taufen lassen, alle. Hätte ich mich direkt auch durchgesetzt und hätt mein Kinder
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‚Bevor Sie sich umbringen: Rufen Sie uns an!‘
60 Jahre Telefonseelsorge in Deutschland
Lebenszeichen
Von Matthias Bertsch
05.05.2016
evangelisch taufen lassen, nämlich zu erziehen hat nur ´ne Mami die Kinder oder
(schluchzt) … Merken Sie nicht, dass ich restlos verzweifelt bin!“
Telefonseelsorgerin: „Ja, das merke ich. Weinen Sie sich ruhig mal aus.“
Sprecher:
Der Mitschnitt aus dem WDR-Fernsehen ist eine Ausnahme, verstößt er doch gegen ein
heutiges Grundprinzip der TelefonSeelsorge: Gespräche dürfen nicht aufgezeichnet werden,
um die Anonymität der Anrufer nicht zu gefährden. Gerade für Menschen in einer schweren
Krise ist es wichtig, dass sie wissen: Hier wird nichts gegen ihren Willen getan.
O-Ton Blömeke:
Der Ansatz von TelefonSeelsorge ist, wenn ein Mensch anruft, soll er die Kontrolle
behalten über das, was hier passiert, d.h. es soll nicht über ihn verfügt werden im
Sinne von „jetzt drohe ich damit, die Polizei zu benachrichtigen oder den Rettungsdienst zu benachrichtigen“, sondern es geht darum, hier jetzt diese Gesprächsmöglichkeit mit einem Menschen wahrzunehmen, ihm zu helfen, ihn zu entlasten, mit ihm
gemeinsam zu überlegen, welche hilfreichen Schritte können jetzt als nächstes anstehen.
Sprecher:
Die Anonymität ist aber nicht nur für Suizid-Gefährdete wichtig. Diese machen schon lange
nur noch einen Bruchteil der Anrufe bei der TelefonSeelsorge aus. Auch andere wollen lieber anonym darüber reden, warum sie die Nummer gewählt haben.
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‚Bevor Sie sich umbringen: Rufen Sie uns an!‘
60 Jahre Telefonseelsorge in Deutschland
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Von Matthias Bertsch
05.05.2016
O-Ton Anruferin TelefonSeelsorge:
Ich habe das nicht gerade an die große Glocke gehängt, ich finde, da macht man
nicht gerade Werbung damit, dass man sozusagen von sich preisgibt, dass man so
verzweifelt ist, dass man die Seelsorge anruft, ich glaube, normalerweise wird diese
auch von Leuten angerufen, die schlimmere Sorgen haben als meine.
Sprecher:
Gut ein Jahr lang hat die Anruferin regelmäßig die Telefonseelsorge kontaktiert, um den Tod
ihrer Mutter zu verarbeiten. Am anderen Ende der Leitung waren immer unterschiedliche
Menschen, doch eines haben Sie alle getan: zugehört - und manchmal auch von sich gesprochen.
O-Ton Anruferin TelefonSeelsorge:
Also eine der TelefonSeelsorgerinnen hat mir erzählt, dass ihre Schwester gestorben
ist oder auch ein Vater, eine Mutter, also sie haben von ihrer eigenen Betroffenheit
erzählt und das lindert ja auch gewissermaßen das Leid ein bisschen, wenn man
eben realisiert, dass das jetzt, ja, ich würde nicht sagen, normal ist, aber dass das
eben häufiger ist als man so denkt.
Sprecher:
Aber warum bespricht man solche Krisen nicht mit Freunden oder in der Familie?
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60 Jahre Telefonseelsorge in Deutschland
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Von Matthias Bertsch
05.05.2016
O-Ton Anruferin TelefonSeelsorge:
Ich habe eigentlich schon viele Freunde und auch noch ein bisschen Familie, aber ich
hatte einfach das Gefühl, wenn ich so häufig über meine Traurigkeit und den Verlust
spreche, dass das die anderen belastet, und aus dem Grund war das für mich sozusagen eine Entlastung, dort anrufen zu können und mit jemand zu sprechen, der mich
eben gar nicht kennt.
Sprecher:
Mit jemand zu sprechen, der einen gar nicht kennt. Dieses Bedürfnis ist inzwischen ziemlich
groß. Im vergangenen Jahr haben die bundesweit 105 TelefonSeelsorgestellen fast zwei
Millionen Anrufe entgegengenommen. Die Telefonate sind dank der Telekom kostenlos, die
Nummer ist überall in Deutschland die gleiche, wer aus dem Festnetz anruft, wird mit der
regional nächstgelegenen Stelle verbunden. Dort werden nach jedem Anruf ein paar statistische Daten erfasst: das Geschlecht des Anrufers, sein vermutetes Alter, die Dauer des Gesprächs, und die Themen um die es ging. Über die Gründe für die vielen Anrufe lässt sich
letztlich nur spekulieren, doch für die Psychologin Heidrun Wiese ist ziemlich klar, was die
Menschen suchen: Ein Gespräch auf Augenhöhe.
O-Ton Wiese:
Die allermeisten die hier anrufen, wollen schlichtweg verstanden werden mit ihrer Lebensrealität so wie sie sind, und das können Laien, Ehrenamtliche, die sind ja ausgebildet und bringen sowieso was mit, sonst kämen sie gar nicht hier in die Ausbildung,
das können die ganz wunderbar, und die wollen extra nicht zum Arzt gehen und mit
ihrem Psychiater oder Therapeut sprechen.
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60 Jahre Telefonseelsorge in Deutschland
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Von Matthias Bertsch
05.05.2016
Sprecher:
Wiese bildet seit 30 Jahren bei der Berliner Telefonseelsorge Ehrenamtliche aus und betreut
sie als Supervisorin. Zwei davon sind Maike und Melanie – auch sie wollen aus Gründen der
Anonymität nur mit Vornamen genannt werden. Im Rahmen der gut einjährigen Ausbildung
haben sich die beiden Frauen intensiv mit den eigenen Lebenskrisen auseinandergesetzt
und viele praktische Übungen zum Thema Gesprächsführung gemacht. Seitdem sitzen sie
jede Woche vier Stunden – so lange dauert eine Schicht - am Telefon, und hören sich die
Probleme der Menschen an: Einsamkeit, Krankheit, Trennung oder einfach nur: Angst vor
dem Leben. Natürlich wollen wir irgendwie auch helfen, sagt Maike, aber wir sind keine
Therapeuten.
O-Ton Maike
Ich hab das schon gehabt, hab gesagt: Ich fühl mich so hilflos, dass ich Ihnen nicht
helfen kann, dann kam der Satz: Das brauchen Sie überhaupt nicht, Sie hören mir zu,
das reicht. Wo ich gemerkt hab: okay, das ist dann die Last, die ich mir selbst auferlegt hab, es reicht völlig zuzuhören, da zu sein.
O-Ton Melanie:
Das unterschätzt man immer, dass so wenig eigentlich notwendig ist, die sind schon
so vorzeitig zufrieden, und wir denken immer: volles Programm, ich muss doch irgendwas anbieten, aber das gehört für mich auch zu den Fallen, das ist nicht meine
Aufgabe, das ist die Aufgabe des Anrufers. Hab ich immer wieder neu zu lernen.“
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60 Jahre Telefonseelsorge in Deutschland
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Von Matthias Bertsch
05.05.2016
Sprecher:
Immer wieder etwas Neues lernen, das hört man oft, wenn man mit den Ehrenamtlichen
spricht. Sie mögen es nicht, wenn man sie als selbstlose Altruisten darstellt.
O-Ton Maike:
Ich empfinde das wirklich als ein unglaubliches Vertrauenszeichen, dass Menschen
hier anrufen und mir Dinge anvertrauen, die sie sonst vielleicht mit niemand bereden,
das finde ich, ist ein Riesengeschenk, allein darüber freu ich mich, dass ich Menschen
kennenlerne für einen kurzen Moment, finde ich, ist ein riesiger Gewinn.
O- Ton Melanie:
Für mich ist es sinnvolles Tun, was ich hier mache, es bereichert mein Leben, und es
ist nicht nur, dass ich gebe, sondern ich bekomm ganz viel, sonst würde ich das nie
machen.
Sprecher:
Maike und Melanie sind zwei von rund 8.000 Ehrenamtlichen, die die TelefonSeelsorge mit
Leben füllen, zwei typische, könnte man sagen: weiblich, über 40 und mit einem hohen Bildungsniveau. Auch unter den Anrufern sind Frauen und Männer ab 40 in der Mehrheit, aber
im Unterschied zu den Ehrenamtlichen, von denen mehr als 60% verheiratet sind, sind zwei
Drittel der Anrufenden alleinstehend.
Und noch eine Zahl fällt immer wieder, wenn man fragt, wer das Angebot nutzt. Fast jeder
dritte erzählt im Laufe des Gesprächs, dass er oder sie psychisch krank ist. Das hat mit der
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‚Bevor Sie sich umbringen: Rufen Sie uns an!‘
60 Jahre Telefonseelsorge in Deutschland
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Von Matthias Bertsch
05.05.2016
Psychiatriereform der 70er Jahre zu tun, sagt Bernd Blömeke, seitdem werden viele psychisch Kranke nicht mehr in Kliniken untergebracht sondern leben in privaten Wohnungen.
O-Ton Blömeke:
Das heißt dann natürlich auch, dass vielfach die Nachtschwester, wenn ich eine Unruhe spüre, wenn ich mich schlecht fühle, nicht durch ein Klingeln erreichbar ist, herbeirufbar ist, sondern ich brauch eine andere Form von Hilfe und dann wende ich
mich an die TelefonSeelsorge. D.h. mittelbar ist dieses hohe Aufkommen von Anrufen
psychisch kranker Menschen bei der TelefonSeelsorge auch eine Veränderung in der
Psychiatrielandschaft, in der Herangehensweise, mit psychisch kranken Menschen zu
arbeiten.
Sprecher:
Der Umgang mit diesen Menschen ist oft nicht leicht, gibt Stefan Schumacher, der Leiter der
TelefonSeelsorge Hagen im Ruhrgebiet, zu:
O-Ton Schumacher:
Die sind oft allein, die wohnen irgendwo, vielleicht werden sie betreut, haben ´ne
Wohngruppe, wenn sie betreut werden sind das nur wenige Stunden, da wird halt das
Nötigste zur Verfügung gestellt, die Freunde, die sie hatten, sind oft weg, weil man sie
nicht mehr aushält, weil die sehr anstrengend sind in der Art, wie sie kommunizieren,
und es gibt eigentlich nichts, wo die integriert werden und dann ist TelefonSeelsorge
ein Ort, wo ich immer wieder Kontakt aufnehmen kann.
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60 Jahre Telefonseelsorge in Deutschland
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Von Matthias Bertsch
05.05.2016
Sprecher:
Kontakt aufnehmen, um nicht ins Bodenlose zu fallen.
O-Ton Schumacher:
Da geht es nicht darum, dass die ihr Leben noch mal umkrempeln können, sondern
da geht es darum, dass die ihr Leben aushalten können oder Leben zu verkraften,
oder Leben zu balancieren und das ist dann unsere Aufgabe, und wenn wir am Ende
eines solchen Gesprächs das Gefühl haben, die Person kommt jetzt gut durch den
Tag, sind wir vollauf zufrieden.
O-Ton Lied 2 (Darko Sagarra Medina):
Ich kann‘s nicht verstehen, warum wollen Menschen gehen, sich das Leben nehmen
ohne es zu erzählen oder es zu gestehen, man kann doch drüber reden …
Sprecher:
Warum wollen Menschen sich das Leben nehmen, singt Darko Sagarra Medina, man kann
doch drüber reden
O-Ton Knatz:
Es ist leichter, wenn ich alleine bin, etwas aufzuschreiben, als zu zweit am Telefon
etwas auszusprechen. Und ich bin seit 20 Jahren da, begleite die Telefonarbeit, die
Mailarbeit und die Chat-Arbeit, beim Mailen und auch beim Chatten sind schon mehr
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60 Jahre Telefonseelsorge in Deutschland
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05.05.2016
tabuisierte Themen dran als am Telefon, von der Prozentzahl. Natürlich gibt es auch
am Telefon Menschen, die sich umbringen wollen, aber da sind es 3 % der Anrufenden, beim Mailen sind es 15-20 %.
Sprecher:
Auch Birgit Knatz ist schon lange bei der TelefonSeelsorge in Hagen. Gemeinsam mit zwei
Kollegen hat sie bereits in den 90er Jahren dafür gesorgt, dass sich die Organisation dem
neuen Medium Internet öffnet und eine eigenständige Mail- und Chat-Beratung anbietet. Anfangs, erinnert sie sich, waren es vor allem junge Männer, die den Chatroom nutzten.
O-Ton Knatz:
Und dort trafen sich dann Menschen, die geschrieben haben, wie man sich am besten
umbringen kann. Welches das beste Mittel ist, was das sicherste Mittel ist, was am
wenigsten schmerzhaft ist, und, und, und. Und vor 20 Jahren wollten wir nicht, dass
unter unserem Dach, sich Tipps gegeben werden, wie man sich am besten umbringt.
Wir sind ja die Anlaufstelle, die sagt: Wir wollen Ihnen helfen, und nicht: wir wollen
Ihnen helfen, wie Sie es am besten machen können.
Sprecher:
Inzwischen ist die Onlineberatung längst ein fester Bestandteil der TelefonSeelsorge, in Hagen werden die Ehrenamtlichen deswegen auch in allen drei Bereichen ausgebildet: Telefon,
Mail und Chat. Während das Telefon eher von Älteren genutzt, bevorzugen Jünger Chatten
und Mailen.
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60 Jahre Telefonseelsorge in Deutschland
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05.05.2016
O-Ton Email Klientin U 25:
Hallo, ich weiß gar nicht genau, wie ich anfangen soll. Ich weiß auch gar nicht genau,
ob es richtig ist, mir so zu versuchen, Hilfe zu holen. Ich habe auch echt viele Anläufe
gebraucht, mich hier anzumelden. Also ich fang einfach mal an: Ich fühl mich schon
seit ein paar Monaten echt schlecht. Ich glaub, dass ich an Depression leide, weiß
aber einfach nicht, wie ich mir helfen kann. Ich denke fast jeden Tag an Selbstmord
und weiß nicht, wie lang ich das noch aushalten kann.
Sprecher:
Der Text, den Feline liest, ist ein wenig verändert, aber so ähnliche Mails erhält die 21Jährige öfter:
O-Ton Email Klientin U 25:
Ich hab einfach Angst, dass ich meine Gedanken an Selbstmord irgendwann wahr
mache, weil ich keine andere Möglichkeit sehe. Deshalb schreibe ich das alles. Ich
hoffe, das klingt nicht total blöd und verrückt und hoffe, dass du mir weiterhelfen
kannst. Viele Grüße, Antonia.
Sprecher:
Feline ist eine von 200 jungen Erwachsenen, die bei U 25 arbeiten. Das Projekt ist vor 15
Jahren in Freiburg gegründet worden, aus einem ähnlichen Grund wie die TelefonSeelsorge:
als Anlaufstelle für Jugendliche, die überlegen sich umzubringen.
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60 Jahre Telefonseelsorge in Deutschland
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05.05.2016
O-Ton Gleiniger:
Der Großteil hat vage Suizid-Gedanken, wenn die sich bei uns melden, die Hälfte hat
ungefähr konkrete Suizid-Gedanken und dann gibt es natürlich ganz viele andere
Themen, also Gefühl von Überforderung, Probleme mit Angehörigen, selbstverletzendes Verhalten, Mobbing, das sind die Themen, die häufig auftreten, Schule, Studium,
Ausbildung, wo will ich eigentlich hin im Leben, das sind Themen, die ganz groß sind.
Sprecher:
Anja Gleiniger leitet U 25 in Berlin, eine der sieben Zweigstellen, die das Projekt inzwischen
hat. Die Prinzipien sind die gleichen wie bei der TelefonSeelsorge: das Angebot ist kostenlos, niedrigschwellig und anonym. Der zentrale Unterschied besteht darin, dass bei U 25
junge Menschen beraten, so genannte Peers. Sie kennen nicht nur die Sprache der Jugendlichen sondern auch ihre Probleme.
O-Ton Gleiniger:
Jeder hat in seiner Jugend große Krisen durchlebt und das ist auch so der Knackpunkt: was habe ich für damals für Krisen durchlebt und was hat mir damals geholfen,
und das können die Jugendlichen, unsere Peer-Berater, sehr gut weitergeben, weil
sie eben in der Ausbildung lernen zu schauen, was hat mir damals geholfen, was hat
mir vielleicht auch nicht geholfen, die haben alle auch Krisen durchgemacht. Ich
glaub, das bringt unglaublich viel Potenzial, um dann wirklich eine gute Beratung
durchführen zu können.
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60 Jahre Telefonseelsorge in Deutschland
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05.05.2016
O-Ton Feline:
Ich schreib momentan mit 2 Klientinnen, und eine Klientin davon erlebt gerade in der
Schule viel Ablehnung und stellt Fragen, mit denen ich mich irgendwie gut identifizieren kann oder mich auch wiedererkenne, ob sie irgendwas falsch macht, warum sie
von den anderen nicht angenommen wird und ob die sie komisch finden, weil sie anders ist, oder so.
Sprecher:
Feline kennt dieses Gefühl gut. Sie selbst hat als Schülerin irgendwann gemerkt, dass sie
Mädchen interessanter findet als Jungs.
O-Ton Feline:
Ich war auf ´ner katholischen Privatschule, war das nicht denkbar, und hab eben einfach die Erfahrung machen müssen, dass ich irgendwie anders bin und all diese Dinge, in denen ich mich von anderen unterschieden hab, fand ich eben damals nicht
wertvoll oder liebenswert sondern das hat sich eher dazu verändert, dass ich es hassenswert fast fand und versucht hab, mich anzupassen und mich gar nicht zu unterscheiden.
O-Ton Anrufbeantworter MUTES:
Herzlich Willkommen und Salem Aleikum beim Muslimischen Seelsorge-Telefon. Zur
Zeit sind unsere Seelsorger im Gespräch, daher bitten wir Sie, etwas später anzurufen. Alles Gute und Salem Aleikum…
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60 Jahre Telefonseelsorge in Deutschland
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05.05.2016
O-Ton Müller:
Dann sind wir vollständig in dem Falle, die Technik wird aufgebaut, wunderbar, in der
Zeit können wir noch ´ne kurze Runde machen. Wir haben nur noch dieses eine Ausbildungswochenende, dann geht es ja schon in den Abschluss, ich würde gern noch
mal horchen, beim Thema Hospitation, wie ihr da auf dem Laufenden seid, ob es
noch irgendwo hakt …
Sprecher:
In einer Hinterhauswohnung im Prenzlauer Berg in Berlin haben sich ein Dutzend junger
Muslime versammelt. Auf den Tischen des Besprechungsraumes stehen Tee und Kekse.
Man kennt sich, die Stimmung ist gelöst, das Feedback zum Thema von Pfarrer Uwe Müller
fast immer positiv.
O-Ton Ehrenamtlicher MUTES:
Die Gespräche liefen super, hab mich immer sicher und wohl gefühlt, bin immer mit
´nem guten Gefühl nach Hause gegangen, ich mein, ob jetzt KTS oder MuTeS, ob der
Anrufer jetzt Franz oder Ali heißt.
Sprecher:
KTS oder MuTeS: KTS, das ist die Kirchliche TelefonSeelsorge Berlin, die 1988 von Uwe
Müller im Osten der damals noch geteilten Stadt mitgegründet wurde, und heute in ganz
Berlin tätig ist. MuTeS ist die Muslimische TelefonSeelsorge, gegründet vor sieben Jahren,
als erstes muslimisches Seelsorgetelefon weltweit. Anfangs, erinnert sich Müller, waren
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05.05.2016
manche in der muslimischen Community gar nicht begeistert von dem Projekt: Wozu brauchen wir eine anonyme muslimische Seelsorge am Telefon?
O-Ton Müller:
Die Kolleginnen und Kollegen vom muslimischen Seelsorgetelefon sind natürlich mit
den Erfahrungen, die sie am Telefon gemacht haben in die muslimische Community
gegangen und haben in ihren Moschee-Gemeinden gesagt: passt mal auf, wir erleben
am Telefon Gewalt in Familien, wir erleben ganz viel sexuelle Gewalt bei den Anrufenden, Thema Alkoholsucht, Thema Drogensucht, Spielsucht, und dann sind die
Gemeinden salopp gesagt reihenweise in Ohnmacht gefallen und haben gesagt, das
kann doch gar nicht sein das ist doch nicht islamisch, und dann haben die gesagt: Ne,
aber es ist menschlich.
Sprecher:
Träger von MUTES ist die Nichtregierungsorganisation Islamic Relief Deutschland, doch die
christlichen Kirchen haben das Projekt mit angeschoben, und so arbeiten KTS und MuTes in
der Aus- und Weiterbildung nach wie vor eng zusammen. Die Themen der Gespräche sind
oft ähnlich, aber es gibt auch Probleme, mit denen sich Anrufer gezielt an MuTeS wenden,
unterstreicht eine der muslimischen TelefonSeelsorgerinnen.
O-Ton Ehrenamtliche MUTES:
Z.B. wenn einer verliebt ist, und im Islam ist eine Beziehung so nicht erlaubt, man
muss heiraten, um eine richtige Beziehung zu führen, und das ist dann ein Problem,
weil für ihn, er sagt, ich kann mich nicht von ihr trennen, aber ich bin noch nicht bereit
zu heiraten, z.B. dann ist das sein Problem und das hat ja mit der Religion direkt zu
tun, und das hab ich ganz oft erlebt, dass Dinge, die in der Religion anders vorge© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016
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05.05.2016
schrieben sind, und man ein Problem hat, diese so durchzusetzen, ebenso zu leben,
dann entstehen da Probleme und das belastet dann auch die Seele.
Sprecher:
Und noch etwas lässt manchen Muslim lieber die Nummer von MuTeS wählen.
O-Ton Ehrenamtlicher MUTES:
Man kriegt auf jeden Fall einmal am Tag als medienkonsumierender Mensch mit,
dass man hier nicht ganz erwünscht ist, und dann kann ich mir halt schon vorstellen,
dass sich jemand, der Probleme hat und sich vielleicht öffnen will und der Hilfe sucht,
dass er sich lieber an einen Moslem wendet, von dem er halt nicht so viel Ablehnung
erwartet, und halt: es sind Kleinigkeiten, es geht auch um Slang, um kleine Begriffe,
den Terminus Technicus, und wenn man halt selber Muslim ist, dann versteht man
manche Sachen auf Anhieb besser.
Sprecher:
Sich verstanden zu fühlen ist immer auch eine Frage der Sprache. Jeden Dienstag bietet
MuTeS auch Gespräche auf Türkisch an und mit ein bisschen Glück können die Anrufer
auch auf Arabisch ihr Herz ausschütten. Das ist enorm wichtig, sagt Uwe Müller, und zwar
nicht nur bei muslimischen Migranten.
O-Ton Müller:
Wir haben es oft gehabt, dass Leute anrufen, die 30 Jahre in Berlin gewohnt haben
und wenn sie in einer heftigen Krise stecken, sprechen sie plötzlich auf einmal bay© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016
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Von Matthias Bertsch
05.05.2016
risch oder schwäbisch, also da, wo sie als Kind groß geworden sind, wenn sie über ihre Gefühle sprechen sollen, sprechen die plötzlich entweder in ihrem Dialekt oder in
ihrer Muttersprache, also da muss schon wirklich gut beheimatet sein, wenn man sich
gefühlsmäßig über das, was ich gerade innerlich fühle, worüber ich Sorgen und Ängste haben, das in einer Fremdsprache auszudrücken ist ausgesprochen schwer.
Sprecher:
Wie wichtig die Muttersprache ist, erlebt Maria Gus jeden Tag. Gus ist Herz und Motor des
russischsprachigen Vertrauenstelefons in der jüdischen Gemeinde Düsseldorf. Die aus Estland stammende Psychologin hatte bereits in Tallinn ein Vertrauenstelefon gegründet, und
als sie vor zwei Jahrzehnten nach Deutschland kam, wurde schnell deutlich, dass durch die
Einwanderung der vielen russischsprachigen Juden auch hier ein großer Bedarf bestand.
Vor 16 Jahren ging die jüdische Hotline an den Start. Das Motto gilt bis heute: „Nicht versuchen ein Psychotherapeut zu sein! Das Vertrauenstelefon ist ein Mittel, um die Seele zu öffnen und den Schmerz herauslassen.“
O-Ton Gus:
Unsere Aufgabe ist zu hören, hören und zuhören, hören und verstehen und sogar
schweigen, besondere Schweigeschaft, um unsere Abonnent verstehen können: Er
ist gehört, wir verstehen seine Probleme, seine Schmerzen und das ist wichtig, clever
schweigen, mit Gefühl schweigen und wir haben kein Recht, einen Rat zu geben, wir
nehmen nur Teil um Entscheidung zu treffen, das ist Prinzip für TelefonSeelsorge und
für Vertrauenstelefon auch.
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016
Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des
Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch
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‚Bevor Sie sich umbringen: Rufen Sie uns an!‘
60 Jahre Telefonseelsorge in Deutschland
Lebenszeichen
Von Matthias Bertsch
05.05.2016
Sprecher:
Am Anfang riefen viele Ärzte und Ingenieure an, die sich in Deutschland plötzlich an den
Rand der Gesellschaft gedrängt sahen. Später, so die Leiterin der Sozialabteilung in der Jüdischen Gemeinde, Olga Rosow, kam ein Generationskonflikt dazu: Die Eltern mussten miterleben, dass ihre Kinder schneller deutsch lernten und damit besser integriert waren.
O-Ton Rosow:
Die Eltern sind dann aus der Autoritätsrolle, fallen dann raus, und die Kinder bevormunden quasi die Eltern, weil sie die Sprache können, und da war so dieser Rollenwechsel für viele auch sehr schmerzhaft und nicht verständlich, weil in Russland oder
ehemaligen GUS-Staaten war sehr autoritärer Erziehungsstil.
Sprecher:
Dass die Erziehungsmethoden in Russland andere waren und sind als in Deutschland, kann
Uwe Müller von der Kirchlichen Telefonseelsorge Berlin nur bestätigen. Unter dem Dach der
KTS gibt es ebenfalls eine russischsprachige TelefonSeelsorge: „Telefon Doveria“, zu
Deutsch „Telefon des Vertrauens“. Es richtet sich an alle russischsprachigen Migranten,
denn egal ob jüdisch oder nicht, die Probleme sind oft ähnlich. Während die Jüngeren auf
der Suche nach Arbeit in andere Länder weiter ziehen, bleiben die Alten hier und vereinsamen.
O-Ton Müller:
Es gibt viele alte russischsprachige Leute, die in ihren Wohnungen hängen, in ihren
Neubauwohnungen, und die Familienverbände auseinandergerissen sind.
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‚Bevor Sie sich umbringen: Rufen Sie uns an!‘
60 Jahre Telefonseelsorge in Deutschland
Lebenszeichen
Von Matthias Bertsch
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Sprecher:
Der Umgang mit Einsamkeit und Verzweiflung wird im Juli auch in Aachen im Mittelpunkt
stehen – beim Welt-Kongress von IFOTES, dem Internationalen Verband der TelefonSeelsorge. Rund 1.400 Menschen aus über 25 Ländern, die meisten Ehrenamtliche, werden sich
mit der Frage beschäftigen: „Warum hilft es zu sprechen und zuzuhören“ - und das, obwohl
man das Gegenüber weder kennt noch sieht?
Im Hintergrund steht dabei immer noch die Gruppe, wegen der das Krisentelefon vor sechs
Jahrzehnten ins Leben gerufen wurde, auch wenn sie längst nur noch einen kleinen Teil der
Anrufer ausmachen: die suizidgefährdeten Menschen. Der Grundgedanke im Umgang mit
ihnen ist bis heute richtungsweisend für die Arbeit. Die Berlinerin Heidrun Wiese nennt es:
im Gespräch einen Fuß in die Tür zu kriegen.
O-Ton Wiese:
Wenn jemand darüber sprechen kann, dass er sich das Leben nehmen will, wie er
das machen will, wie es ihm geht, so lange besteht noch immer die Möglichkeit, dass
er die Tür nach innen nicht schließt, also nicht wirklich verschließt, sondern dass er da
noch einen Spalt offen macht und dass dann noch ein Stück Licht rein kann, das ist
eigentlich so das Wesen der Suizidprävention, über eine gute Beziehung noch ein
bisschen Licht ins Leben zu lassen. Das ist nie eine Garantie, aber das ist etwas ganz
ganz Wesentliches.
Sprecher:
Oder, wie es das Logo des jüdischen Vertrauenstelefons ausdrückt: Zwei Telefonhörer sind
einander zugewandt und zwischen Ihnen befindet sich der Hebräische Buchstabe „Hai“.
„Hai“ bedeutet: Leben.
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‚Bevor Sie sich umbringen: Rufen Sie uns an!‘
60 Jahre Telefonseelsorge in Deutschland
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Von Matthias Bertsch
05.05.2016
HINWEISE:
Die TelefonSeelsorge ist bundesweit kostenfrei unter folgenden Nummern zu erreichen:
0800/111 0 111 · 0800/111 0 222
http://www.telefonseelsorge.de
Chat-Seelsorge im Internet: http://chat.telefonseelsorge.org
Mail-Beratung im Internet: https://ts-im-internet.de
Muslimisches SeelsorgeTelefon:
030/443 509 821 www.mutes.de
Jüdische Telefonseelsorge (auf Russisch, Mittwochs auch auf Deutsch):
Vertrauenstelefon Köln: 0221/26 18 50
Vertrauenstelefon Düsseldorf: 0211/946 85 20, -21 (Mo-Fr. 10-18h, Sonntag 13-16h)
Telefon Doweria. Die russischsprachige TelefonSeelsorge,
030/440 308 - 454,
www.russische-telefonseelsorge.de, Mail: [email protected]
U 25 Online-Suizidprävention: http://www.u25-deutschland.de/
Literatur über TelefonSeelsorge: http://www.telefonseelsorge.de/?q=node/25
Auf Draht, Zeitschrift der TelefonSeelsorge Deutschland: http://www.auf-draht.org/
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