Die digitale Herausforderung packen

Leitartikel: Trumps Anhänger inspiriert die Sehnsucht nach dem radikalen Bruch Seite 17
Neuö Zürcör Zäitung
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Samstag/Sonntag, 23./24. April 2016 V Nr. 94 V 237. Jg.
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Die digitale Herausforderung packen
Von der Taxi-App bis zur Medizin: Die Digitalisierung verändert unser Leben. Das gilt es zu nutzen. Vom Staat braucht es
nicht gezielte Fördermittel, sondern technologieneutrale, innovationsfreundliche Rahmenbedingungen. Von Peter A. Fischer
Wer hätte vor dreissig Jahren gedacht, dass wir heutzutage kleine Geräte mit Hochleistungsrechnern
auf uns tragen würden, mit denen wir nicht nur telefonieren, sondern die uns auch den schnellsten Weg
zu einem beliebigen Ziel weisen, über fast alles Erdenkliche Auskunft geben und uns Videos aufnehmen lassen, die wir umgehend mit entfernten Freunden teilen? Die Veränderungen, die das mobile
Internet und die Digitalisierung des Lebens ermöglichen, sind derart fundamental, dass heute kaum jemand zu sagen vermag, was wir in dreissig Jahren für
selbstverständlich erachten werden. Erkennbar ist
aber bereits, dass die Digitalisierung unser Leben
und viele Geschäftsmodelle transformiert und dabei
auch für angenehme Erleichterungen sorgen wird.
Schneller und effizienter
So können immer grössere Mengen von Daten dezentral erfasst und in Echtzeit zusammengeführt
werden. Zuerst nutzten das die grossen Suchmaschinen, jetzt sind es die Vermittlungsplattformen der «sharing economy», morgen werden es
vielleicht selbstfahrende Fahrzeuge oder lernfähige
Roboter sein. Für den Erfolg der Vermittlungsplattformen spielen Geschwindigkeit, Grösse und Netzwerkeffekte eine wichtige Rolle. Wer einen substanziellen Marktanteil erobert, ist oft schwer wieder zu
verdrängen. Erfolgreiche müssen aber nicht immer
Google oder Uber heissen. So haben in Moskau die
beiden konkurrierenden Taxi-Apps Yandex.Taxi
und GeTTaxi die früher weitverbreiteten «wilden
Taxis» in kürzester Zeit verdrängt. Fast alle Fahrer
arbeiten inzwischen lieber mit den Apps. Eine Fahrt
von A nach B erhält man damit schneller zu einem
vorbestimmten, marktgerechten Preis, der online
beglichen werden kann. Wo Kunden die Qualität
bewerten können, wird zudem der Service freundlicher. Der Fahrer ist besser ausgelastet und kann
seine Arbeitszeiten in Kenntnis der Marktlage flexibler wählen. Ob beim Taxifahren, beim Mieten
eines Mobility-Autos oder bei der Wahl einer Übernachtungsgelegenheit: Die Digitalisierung ermöglicht eine effektivere Nutzung von Ressourcen und
Infrastrukturen. Sie erhöht die Transparenz und
Vielfalt. Lokale Monopole geraten unter Druck; die
Konkurrenz ist oft nur einen Klick entfernt.
Die Beispiele zeigen aber auch, wie wichtig es
wäre, Branchen regelmässig von überholten Regulierungen zu befreien und Vorschriften anzupassen.
Die private Wohnung und der Uber-Fahrer sind oft
auch günstiger, weil sie nicht mit übertriebenen
Bauauflagen für Hotels und Restriktionen für Taxifahrer zu kämpfen haben. Warum soll jemand alle
Strassennamen auswendig lernen müssen, wenn
das Navigationsgerät sicher ans Ziel führt? Wofür
braucht es noch exklusive Standplätze?
Auch in den traditionellen Branchen eröffnet die
Verknüpfung und automatische Auswertung grosser Datenmengen ganz neue Möglichkeiten. Das
alte Tag-Nacht-Heizungsregime kann durch eine
energiesparende Feinsteuerung von Wärme und
Beleuchtung ersetzt werden, die sich danach richtet,
wer sich wo aufhält. Ein Algorithmus beurteilt einfache Schadenfälle schneller und kostengünstiger
als der Versicherungsangestellte. Ob beim Streaming von Musik, beim Kundenbesuch oder bei der
Partnersuche: Die Analyse digital gesammelter
Daten generiert auf die (vermuteten) individuellen
Bedürfnisse und Präferenzen zugeschnittene Angebote. Selbst in der Medizin gibt das dem Arzt ganz
neue Diagnoseinstrumente in die Hand.
Natürlich bringt all das Veränderungen mit sich
und produziert Gewinner und Verlierer. Die Arbeit
wird neu verteilt, wird aber kaum ausgehen. Offset-
drucker haben es schwer, während Datenanalytiker
hoch im Kurs stehen. Die Digitalisierung mischt die
Medien und das klassische Finanzwesen disruptiv
auf. Die neue Blockchain-Technologie zur elektronischen Festlegung von Guthaben könnte gar die
Geldpolitik verändern. Doch der Mehrwert von
verlässlicher Information, kompetenter Vermögensverwaltung und sicherem Geld bleibt. Zunehmend komplex zu beantworten sein wird allerdings
die Frage, wer zu welchen Daten Zugang haben soll
und diese wie nutzen darf. Auch deshalb wird der
Schutz vor kriminellen Hacker-Angriffen zu einem
immer wichtigeren Thema werden.
Erfolg nicht verordnen
Die Digitalisierung hat enormes Wertschöpfungspotenzial und bietet damit die Aussicht auf hohe
Renditen und Löhne. Da wäre es wünschenswert,
dass die Schweiz an der Spitze mithält. Die Chancen
stehen nicht schlecht: Ihre Innovationskraft ist
hoch, die Infrastruktur gut und die Rechtssicherheit
gross. Das Land ist politisch neutral, was beispielsweise für die Ansiedlung von Daten-Clouds von
Vorteil sein könnte. Auch an Geldern zur Finanzierung von guten Geschäftsideen fehlt es nicht.
So gesehen, mag irritieren, dass die Googles,
Apples und Alibabas in den USA und in Asien lanciert wurden. Das dürfte mit dem grösseren Markt
und günstigeren Rahmenbedingungen zusammenhängen. Der Schweizer Bundesrat hat diese Woche
eine neue «digitale Strategie» lanciert. Doch wie
schon in der «alten» lässt sich auch in der digitalen
Wirtschaft Erfolg nicht staatlich verordnen. Vor
zehn Jahren wollte die EU unter französischer Leitung mit 250 Millionen Euro eine europäische Konkurrenz zu Google aufpäppeln; doch von Quaero
spricht heute niemand mehr. Staatlich finanzierte
Grundlagenforschung hat hingegen in den USA
und auch in der Schweiz Pionierleistungen erbracht.
Damit diese zu kommerzieller Verwendung finden,
ist eine gute Vernetzung mit der Wirtschaft wichtig,
welche die Bildung innovativer Cluster (wie beispielsweise in der Biotechnologie) unterstützt. Dabei spielen nicht nur Hinterhof-Startups, sondern
auch grosse Konzerne eine zentrale Rolle.
Verbesserungspotenzial gäbe es im Schweizer
Schulwesen. Zwar nutzen Jugendliche früh Social
Media, doch bekommen viele kaum mit, was an IT
und Technik dahintersteckt. Die digitalen Chancen
müssen in den Köpfen ankommen. Prompt fehlt es
an naturwissenschaftlichen Fachkräften. Umso
wichtiger wäre es, die besten Talente einfach anstellen zu können. Die rigide Bewilligungspraxis für
den Beizug von Fachkräften aus Drittstaaten sägt
an dem Ast, aus dem unser Wohlstand spriesst.
ChanCen der
digitalisierung
Gerade weil wir nicht wissen, was in dreissig Jahren unser Leben bereichern wird, sollten Steuergelder nicht dazu verschwendet werden, Einzelnes
gezielt zu fördern. Die Politik sollte innovationsfreundliche, aber technologieneutrale Rahmenbedingungen samt einfachem Zugang zu den grossen Märkten schaffen und Unternehmertum ermutigen. Die faszinierenden Chancen des technologischen Wandels müssen Wirtschaft und Gesellschaft selber identifizieren und packen. Während
der nächsten neun Wochen wird die NZZ dazu in
einer ressortübergreifenden Serie jeweils dienstags
und freitags Chancen der Digitalisierung vorstellen.
Die EZB hält sich alle Optionen offen
Mario Draghi verteidigt die EU-Geldpolitik gegen deutsche Angriffe und äussert sich zum umstrittenen Helikopter-Geld
ra. Frankfurt V Die Europäische Zentral-
bank (EZB) hat am Donnerstag die Leitzinsen bei null Prozent belassen. Nach
dem im März angekündigten grossen
Aktionsplan lancierte die Währungsbehörde um Präsident Mario Draghi
keine weiteren Massnahmen. Draghi betonte aber, dass die Zinsen noch lange
Zeit auf dem derzeit sehr tiefen oder
einem sogar noch tieferen Niveau bleiben würden. Die EZB hat inzwischen damit begonnen, die im März angekündigte
Ausweitung des Wertpapierkaufprogramms von 60 auf 80 Milliarden Euro
pro Monat umzusetzen. Ab Juni wird die
Notenbank dann auch noch Unternehmensanleihen erwerben. Darüber hinaus
hält sich Draghi alle Optionen offen, zumindest solange sie noch innerhalb des
rechtlichen Auftrags der EZB liegen.
Ob das Helikopter-Geld, also direkte
Geldgeschenke der Zentralbank an
jeden Bürger der Euro-Zone, zu den
Optionen gehört, liess Draghi offen. In
der März-Sitzung hatte er HelikopterGeld als «sehr interessantes Konzept»
bezeichnet und damit heftige Reaktionen ausgelöst. Dies habe ihn überrascht.
Draghi kühlte die Diskussion über diese
womöglich allerletzte Massnahme einer
Notenbank zur Steigerung der Inflation
herunter, indem er konstatierte, im
EZB-Rat sei über die Idee nie diskutiert
worden. Das Thema sei zudem sehr komplex, und derlei Geschenke seien rechtlich und praktisch schwierig umsetzbar.
Der wiederholten Frage, ob HelikopterGeld denn im Rahmen des Mandats der
EZB liegen würde, wich Draghi aus.
In der Fragerunde mit Journalisten
ging der EZB-Präsident auch auf die zum
Teil harsche Kritik an seiner Politik in
Deutschland ein. Die EZB müsse für
Preisstabilität in der gesamten EuroZone sorgen und nicht nur in Deutsch-
land. Sie sei dem europäischen Recht und
dem EZB-Vertrag verpflichtet. Ferner
betonte Draghi die Unabhängigkeit der
Notenbank, die gegenüber allen Ländern
und allen Politikern gelte. Die niedrigen
Zinsen seien ein Symptom des niedrigen
Wirtschaftswachstums und der geringen
Inflation. Zu seiner Verteidigung erinnerte er daran, dass Notenbanken weltweit eine ähnliche Politik betrieben. Zudem habe sein Vorgänger Jean-Claude
Trichet gesagt, er würde dieselbe Geldpolitik machen, wäre er noch im Amt.
Finanzen, Seite 15
Meinung & Debatte, Seite 19
GELD MIT ABLAUFDATUM
SEVERIN PFLÜGER
Grosse Trauer
um Prince
cla./(dpa) V Der überraschende Tod des
Pop-Musikers Prince am Donnerstag
hat bei Freunden, Kollegen und Fans
Schock, Trauer und Bestürzung ausgelöst. Überall auf der Welt wurden zu
Ehren des «Purple Rain»-Sängers spontane Gedenkfeiern abgehalten und Gebäude lilafarben angestrahlt. Auch das
Empire State Building in New York
leuchtete in der Nacht zum Freitag lila.
«Heute haben wir eine kreative Ikone
verloren», hiess es in einer Mitteilung
von US-Präsident Barack Obama und
seiner Frau Michelle am Donnerstag.
Woran er starb, ist weiterhin unklar.
Feuilleton, Seite 22
cartier.ch
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Die Schweizer Praxis,
Noten zu entwerten,
ist heikel SEITE 9, 19
GEGEN DIE RADIKALISIERUNG
Ballon Bleu de Cartier
33 mm, Automatikwerk
Moscheen-Finanzierung
muss beobachtet
werden SEITE 19, 30
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Ein Aussenposten von
Europas künstlerischer
Avantgarde SEITE 21
Kämpferische Töne
des Präsidenten der
Stadtzürcher FDP SEITE 34
ÜBERSPRAYT
Die Stadt Zürich hat
Probleme mit der
Graffiti-Prävention SEITE 36
SCHMERZ IM SPORT
Spitzensportler suchen
den Schmerz, um sich
selbst zu erfahren SEITE 37
7°/15°
WETTER
Im Flachland veränderlich
bewölkt mit sonnigen
Abschnitten. Am Alpennordhang und im Süden
vor allem am Nachmittag
einige Schauer. SEITE 39
Diverse Anzeigen 4, 8, Traueranzeigen 16
Sport 37, 38, Rätsel/Spiele 40
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