Schattenblick Druckausgabe

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MA-Verlag
Elektronische Zeitung Schattenblick
Samstag, 23. April 2016
POLITIK / REPORT
Die Zwischentürkei - Sippenhaft und Bürgerkrieg ...
Die Zwischentürkei - taktische
Spiele, strategische Ziele ...
Martin Link im Gespräch
Repression an allen Fronten ­
Erdogans Lösung der "Kurdenfrage"
Administrativ weggucken
Veranstaltung "Sicherer Drittstaat
Türkei?" am 11. April 2016 in Kiel
Veranstaltung "Sicherer Drittstaat Türkei?"
am 11. April 2016 in Kiel
(SB) ­ Martin Link ist Geschäftsfüh-
rer des Flüchtlingsrates SchleswigHolstein e.V. [1], ein unabhängiger
Verein verschiedener Initiativen,
Gruppen und Organisationen der solidarischen Flüchtlingshilfe im nördlichsten Bundesland. Am Rande der
Vortrags- und Diskussionsveranstaltung zur Frage "Sicherer Drittstaat
Türkei?" [2] im Kieler Landeshaus
beantwortete er dem Schattenblick
einige Fragen zur Arbeit des Flüchtlingsrates und zu seiner Einschätzung der deutschen Flüchtlingspolitik ... (S. 4)
UMWELT / REPORT
Profit aus Zerstörungskraft gebrochene Rechte ...
Kerstin Rudek im Gespräch
5 Jahre Leben mit Fukushima ­
30 Jahre Leben mit Tschernobyl
Internationaler IPPNW­Kongreß
vom 26. bis 28. Februar 2016 in der
Urania, Berlin
Kerstin Rudek über die niederschmetternde Fukushima-Katastrophe, die gute Zusammenarbeit
der BI Umweltschutz Lüchow-Dannenberg mit der japanischen AntiAtom-Bewegung und darüber, daß
der Spruch, "wir können noch viel
von euch lernen", kulturspezifisch
gedeutet werden muß ... (S. 8)
(SB) ­
Hinblick auf die Rechte von Flüchtlingen im Kontext des Rücknahmeabkommens zwischen der EU und
(SB) ­ Im Rahmen der Veranstaltung der türkischen Regierung vor.
"Sicherer Drittstaat Türkei?" im Kieler Landeshaus hielt der Rechtsan- Cihan Ipek ist Stellvertretender Vorwalt Cihan Ipek aus Diyarbakir einen sitzender der Anwaltskammer von
Vortrag zum Thema "Die Türkei als Diyarbakir, wo er seit 1988 als
Zufluchtsort und als Ursache für Rechtsanwalt tätig ist. Wie er berichFluchtbewegungen". Darin ging er tet, habe er als junger Anwalt politiauf die Eskalation in den kurdischen sche Straftäter vertreten. Damals
Gebieten der Südosttürkei seit Juli waren sogenannte polizeiliche Fest2015, die Rolle der Türkei im Syri- nahmezeiten von 30 Tagen üblich,
enkrieg und deren Auswirkungen auf während denen die Beschuldigten
die Flüchtlingsbewegungen im Land keinen einzigen Menschen von drauein. Zudem nahm er eine Bewertung ßen zu Gesicht bekamen und kein
der jüngsten Gesetzesänderungen in Richter oder Staatsanwalt einge-
Cihan Ipek
Foto: © 2016 by Schattenblick
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schaltet wurde. Teilweise wurden angehörigen Türken, die Kurden exiMenschen in den Gefängnissen stieren demnach nicht. Deshalb wird
schwer gefoltert.
in den Schulen kein Kurdisch unterrichtet und die kurdische Geschichte
Als Anwalt in der Türkei zu arbeiten, weder in der Schule noch an der Unisei noch immer mit Schwierigkeiten versität thematisiert.
verbunden. So bekomme man nicht
immer Zugang zu staatlichen Akten Diese Situation führte zwangsläufig
und habe oft Mühe, nach Festnah- dazu, daß die Kurden für ihre Rechmen auf der Polizeistation seine te kämpften, um ihre Identität in der
Rechte in Anspruch zu nehmen. Türkei durchzusetzen. Dieser Kampf
Durch Reformen und Gesetzesände- wurde teils mit juristischen, parlarungen seien seit 2005 die Vorausset- mentarischen und anderen zivilen
zungen der anwaltlichen Tätigkeit Mitteln, teils bewaffnet geführt. Die
erheblich demokratischer und libera- 1970 gegründete und bald darauf
ler geworden. Sei der Anwalt in sei- verbotene kurdische Arbeiterpartei
nem Bereich kompetent, könne er in- PKK griff 1987 zu den Waffen und
zwischen einiges erreichen. Dennoch bildete Einheiten, die sich in die Berstünden einer ungehinderten Arbeit ge zurückzogen. Dadurch wurden
nach wie vor politisch bedingte Hin- die Kämpfe der Kurden der Weltöfdernisse im Wege. Beispielsweise sei fentlichkeit bekannt.
es sehr schwierig, jesidische Flüchtlinge aus dem Nordirak, denen in Die 2001 gegründete proislamistiDiyarbakir Schutz seitens der Stadt- sche AKP stand in der Tradition ververwaltung gewährt wird, als Anwalt botener Vorgängerparteien, machte
zu vertreten. Im Prinzip mache es aber eine Trennung von der islamikeinen Unterschied, ob man einen schen Wohlstandspartei geltend. Der
türkischen Staatsbürger oder einen Aufstieg der AKP hängt unmittelbar
Flüchtling vertritt. Würden jedoch mit der anfangs von ihr vorgehaltebestimmte Gruppen von Flüchtlin- nen Perspektive zusammen, eine ligen wie die Jesiden in ihren Rechten berale und demokratische Türkei
beschränkt, seien dem Anwalt mehr samt neuer Verfassung zu schaffen
oder minder die Hände gebunden.
wie auch einen Beitritt zur Europäischen Union anzustreben. Nachdem
die Kurden, viele andere MinderheiChronologie eines
ten und auch die demokratischen
Täuschungsmanövers
Kräfte so lange unter dem Kemalismus und dem Einfluß der Militärs
Um die Eskalation seit den Wahlen gelitten hatten, wuchs der Rückhalt
vom 7. Juni 2015 zu verstehen, sei es der AKP in der Bevölkerung, da sich
notwendig, auf die Vorgeschichte viele Menschen von ihr ein Ende des
einzugehen, so der Referent, der sei- Jochs repressiver Staatlichkeit erne Sicht der Ereignisse im Vortrag hofften.
folgendermaßen zusammenfaßte: In
der Geschichte der türkischen Repu- In ihrer ersten vierjährigen Legislablik wurden die Kurden nie als eige- tur leitete die AKP tatsächlich divernes Volk anerkannt. Ihre kulturellen se Reformen und Schritte der AnnäRechte wurden mißachtet, die kurdi- herung an die EU ein. Dies begünsche Sprache sogar per Gesetz ver- stigte ihre Wiederwahl und setzte
boten. In Folge zweier Militärput- sich auch in den folgenden Jahren
sche in der Türkei wurden die Men- fort. Die Kurden waren damit zufrieschenrechte massiv verletzt, worauf den und hegten die Erwartung, daß
insbesondere in den 80er Jahren sich ihre Situation verbessern werde.
zahlreiche Menschen nach Europa Noch kämpfte die PKK in den Berflüchteten. Nach Artikel 66 der tür- gen, doch wurden seit 2013 Verhandkischen Verfassung sind alle Staats- lungen geführt, wobei Erdogan perSeite 2
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sönlich mit Abdullah Öcalan auf der
Gefängnisinsel zusammentraf. Es
kam zu weiteren geheimen Treffen
in Oslo wie auch teilweise öffentlichen Begegnungen mit der prokurdischen Partei HDP in der Türkei. Als
eine Übereinkunft erzielt worden
war, schickte PKK-Chef Öcalan aus
dem Gefängnis einen Brief, der von
einem Abgeordneten der HDP vor
mehr als 60.000 jubelnden Menschen verlesen wurde. Die PKK rief
einen Waffenstillstand aus, die türkische Regierung erklärte sich bereit,
auf dem Verhandlungsweg eine politische Lösung herbeizuführen.
Mit diesem Abkommen waren große
Hoffnungen verbunden, zumal sich
hochrangige Regierungsmitglieder
vor laufenden Kameras mit Delegationen der HDP trafen und vor der
Weltöffentlichkeit die vereinbarten
Punkte darlegten: Freiheit für PKKKämpfer, die kurdische Sprache wird
in den Schulen unterrichtet. Die PKK
verzichtet auf einen unabhängigen
kurdischen Staat, der sich über Regionen von vier Ländern erstreckt,
und strebt statt dessen Autonomie innerhalb der Türkei an. In dieser Zeit
des Waffenstillstands befand sich die
türkische Wirtschaft noch im Aufschwung, in Diyarbakir eröffnete
erstmals ein deutsches Unternehmen
eine Filiale und eine niederländische
Firma ein riesiges Einkaufszentrum.
Die Menschen waren froh, weil Frieden und Demokratie greifbar nahe
schienen.
Im Wahlkampf des Jahres 2015
schlug jedoch die vermeintliche Annäherung sehr bald in eine feindselige Atmosphäre unter massiver Bezichtigung um. Als sich abzeichnete,
daß die HDP die hohe Zehn-ProzentHürde übertreffen und damit die Dominanz der AKP erheblich schwächen würde, verschärfte sich die
Hetze gegen die Kurden. Erdogan
distanzierte sich von jeglichen Vereinbarungen und erklärte, es gebe
keine Verhandlungen mit Terroristen.
Es gebe nur einen Staat, eine Nation
und eine Fahne. Ungeachtet dieser
Sa, 23. April 2016
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massiven Kampagne zog die HDP
mit 61 Abgeordneten ins Parlament
ein. Die AKP war jedoch nie bereit,
mit ihr eine Koalition zu bilden, und
stellte völlig inakzeptable Forderungen. Auch eine Koalition der AKP
mit der kemalistisch ausgerichteten
sozialdemokratischen Partei war
ausgeschlossen, und dazwischen saßen die Kurden wie so oft als Sündenböcke.
Unterdessen hatte sich die Situation
in der Region dramatisch verändert.
Der IS eroberte einen großen Teil des
Iraks wie auch Teile Syriens und rief
in den von ihm besetzten Gebieten
den Islamischen Staat aus, der aller
Welt den Krieg erklärte. Vor laufender Kamera wurden Menschen geschlachtet, und die jesidischen Kurden, die Jahrtausende ihr authentisches Leben geführt und niemandem
geschadet hatten, waren im ShingalGebirge von einem Massenmord bedroht. Allen voran die PKK kämpfte
einen Korridor frei und rettete so die
geflohenen Menschen aus dem Gebirge.
Die Kurden in Nordsyrien waren
jahrzehntelang staatenlos, weil sie
nach Gründung der syrischen Republik zu osmanischen Staatsbürgern erklärt worden waren. In den
Wirren des Krieges gelang es ihnen, autonome und selbstverwaltete Kantone in Rojava zu gründen,
die jedoch von der türkischen Regierung als große Gefahr betrachtet
wurden. Sie fürchtete offenbar, daß
der Demokratisierungsprozeß auf
die Kurden in der Türkei übergreifen könnte. Als die Stadt Kobane
vom IS angegriffen wurde und kurdische Verbände aus der Türkei zu
Hilfe kommen wollten, wurde die
Grenze von türkischer Seite geschlossen. Als es zu Massendemonstrationen kurdischer Oppositioneller in der Türkei kam, wurden diese unter Einsatz von Tränengas aufgelöst. Schließlich erlaubte man
Kurden, aus Kobane zu fliehen, und
erst sehr spät durfte sich ein kleines
Kontingent der Peschmerga aus
Sa, 23. April 2016
dem Nordirak an der Verteidigung flüchtlingen, die teilweise bei VerKobanes beteiligen.
wandten in der Stadt unterkamen
oder in ihre alten Dörfer zogen. In
Als sich in Suruc junge Leute in ei- den 90er Jahren waren rund 2000
nem Kulturverein versammelten, um kurdische Dörfer zerstört worden,
den Menschen in Kobane zu Hilfe zu worauf die Menschen in die Städte
kommen, wurde ein Selbstmordat- und teilweise auch nach Europa flotentat verübt, bei dem 34 Menschen hen. Heute ist durchaus vorstellbar,
starben und zahlreiche weitere Ver- daß eine neue Fluchtbewegung aus
letzungen davontrugen. Der IS be- den Kurdengebieten in Richtung EU
kannte sich zu diesem Anschlag, wo- einsetzt. Die Menschen müssen eine
bei der zuvor inhaftierte Täter kurz strafrechtliche Verfolgung fürchten,
vorher aus türkischer Haft entlassen weil sie vielleicht einem PKKworden war. Dabei war bekannt, daß Kämpfer ein Stück Brot gegeben hadie türkische Regierung Kämpfer für ben oder ihn in ihrer Wohnung überden IS aus Europa oder Tschetsche- nachten ließen. Die Millionenstadt
nien passieren ließ. Wenig später Diyarbakir ist zwar die größte, aber
wurden in einer nahegelegenen Stadt nur eine unter zahlreichen kurdizwei Polizisten offenbar von Mit- schen Städten, die von der türkischen
gliedern einer Gruppierung getötet, Regierung mit Krieg und Vertreidie sich von der PKK abgespalten bung überzogen werden.
hatte.
Die Türkei hat im Syrienkrieg die isDaraufhin bombardierte die türki- lamistische Opposition unterstützt,
sche Luftwaffe Lager der PKK im um das Assad-Regime zu stürzen.
Nordirak sowie Stützpunkte des IS Die Zeiten der guten Beziehungen zu
in Nordsyrien, worauf mit den An- Assad gehören der Vergangenheit an,
griffen auf die kurdischen Städte im längst setzt man in Ankara auf GrupSüdosten der Türkei eine neue Form pierungen wie Al Nusra, die sich in
der inneren Kriegsführung begann. Teilen dem IS angeschlossen hat. Da
In den von der HDP regierten Städ- die USA und ihre Koalitionspartner
ten hatten zunächst die Jugendorga- auch kurdische Einheiten unterstütnisation der PKK und dann zahlrei- zen, die von der Türkei als Terrororche weitere junge Kurden Barrika- ganisationen bezeichnet werden,
den errichtet, was die Regierung zum kommt es zu gewissen Konflikten
Vorwand für massive Angriffe von dieser Mächte in Syrien. Angesichts
Polizei und Streitkräften nahm. Die- dieser Konstellation ist kein Ende
se beschossen die Städte mit Artille- des Krieges in Sicht, so daß immer
rie und drangen mit gepanzerten mehr Menschen in die Flucht getrieFahrzeugen ein. Es wurden Aus- ben werden und über die Grenze in
gangssperren verhängt und ganze die Türkei gelangen wollen.
Viertel zerstört. Nach den Berichten
der Menschenrechtsorganisationen
wurden in den Monaten der Aus- Flüchtlingsschutz in der Türkei?
gangssperre in diesen Gebieten 310
zivile Einwohner, darunter 230 Kin- Wie Cihan Ipek weiter ausführte,
der, von den Sicherheitskräften er- existierte in der Türkei lange Zeit
mordet. [1]
überhaupt kein Flüchtlingsschutz.
Die Regierung unterzeichnete zwar
In der Altstadt Diyarbakir-Sur, wo 1961 die Genfer Konventionen zum
ursprünglich 27.000 Menschen leb- Schutz der Flüchtlinge, jedoch nur
ten, wurden mehr als die Hälfte der unter diversen Vorbehalten. DemWohnungen und alle historischen nach konnten zwar europäische
Denkmäler zerstört. Die Menschen Flüchtlinge in der Türkei Asyl beanflohen angesichts der Gefahr aus tragen, nicht jedoch Menschen aus
dem Viertel und wurden zu Binnen- Syrien, Afghanistan, Pakistan oder
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dem Iran. Das seit 2010 mit der EU
verhandelte Rücknahmeabkommen
wurde 2011 von beiden Partnern unterzeichnet, aber zunächst vom türkischen Parlament nicht ratifiziert.
Vor der Ratifizierung dieses Abkommens im Jahr 2013 hatte die Türkei
ihr Ausländergesetz geändert und zusätzliche vorübergehende Schutzmöglichkeiten für syrische Flüchtlinge darin festgeschrieben. Das
Schutzgesetz für Flüchtlinge ist allerdings kein Asylgesetz im Sinne eines europäischen Rechtssystems, so
der Referent.
So müssen Flüchtlinge aus Syrien
ein sogenanntes Zolltor an der Grenze passieren, wo sie registriert und
ihre Fingerabdrücke genommen
werden. Unter dieser Voraussetzung
stehen ihnen bestimmte Rechte wie
teilweise Abschiebeverbote oder Anträge, die über ein europäisches
Flüchtlingshilfswerk laufen können,
zu. Verfügen sie über Geld, dürfen
sie sich selbst eine Wohnung suchen.
Andernfalls müssen sie in eines der
Lager gehen, in denen derzeit offiziellen Berichten zufolge 300.000
Flüchtlinge leben - ein Bruchteil der
etwa zwei Millionen Flüchtlinge aus
Syrien in der Türkei.
Aufgrund eines Regierungserlasses
vom Januar 2016 dürfen sie eine Arbeit annehmen, müssen sich dafür jedoch zunächst beim Ministerium eine Erlaubnis holen. Sofern sie eine
Registrierungsnummer haben, können sie sich auch in den Krankenhäusern kostenlos behandeln lassen. Allerdings ist die Lage auf dem Arbeitsmarkt prekär, selbst in Diyarbakir sind einer aktuellen Umfrage zufolge 17 Prozent arbeitslos. Registrierte Flüchtlinge, die hilfsbedürftig sind, können bei einer Stiftung etwas Geld, Essen oder Sachleistungen
wie Kohle in den Wintermonaten bekommen. Was die Gesetzeslage betrifft, sind unter der Voraussetzung
einer Registrierung also gewisse
Rechte für Flüchtlinge vorgesehen.
Ob sie jedoch überhaupt eine Arbeit
bekommen, angemessen bezahlt, offiziell oder schwarz beschäftigt werden, taucht in keiner Statistik auf.
Diyarbakir machen. Ob sich jedoch
alle Behörden an die gesetzlichen
Vorgaben halten würden oder einem
Ausreisewilligen vorhalten, er habe
den Militärdienst nicht absolviert, er
werde strafrechtlich verfolgt oder
ihm irgendwelche anderen Dinge anhängen, wisse er natürlich nicht, so
Cihan Ipek.
(wird fortgesetzt)
Anmerkung:
[1] Siehe dazu:
"Erdogan hetzt zum Bürgerkrieg."
Ein Gespräch mit Diyarbakirs Oberbürgermeisterin Gültan Kisanak
https://www.jungewelt.de/2016/0418/012.php
Veranstaltung "Sicherer Drittstaat
Türkei?" in Kiel im Schattenblick
www.schattenblick.de → INFO­
POOL → POLITIK → REPORT:
Noch ist zwischen EU und türkischer
Regierung nicht endgültig ausgehandelt, ob eine Visafreiheit eingeführt BERICHT/234: Die Zwischentürkei
wird. Sollte ein entsprechendes Ab- - nicht sicher, nicht frei ... (SB)
kommen geschlossen werden, würde
die Türkei zumindest offiziell keinen
http://www.schattenblick.de/
Unterschied zwischen einem Türken
infopool/politik/report/
in Istanbul und einem Kurden in
prbe0235.html
POLITIK / REPORT / INTERVIEW
Die Zwischentürkei - taktische Spiele, strategische Ziele ...
Martin Link im Gespräch
Administrativ weggucken
Veranstaltung "Sicherer Drittstaat Türkei?" am 11. April 2016 in Kiel
(SB) ­ Martin Link ist Geschäftsfüh-
rer des Flüchtlingsrates SchleswigHolstein e.V. [1], ein unabhängiger
Verein verschiedener Initiativen,
Gruppen und Organisationen der solidarischen Flüchtlingshilfe im nördlichsten Bundesland. Am Rande der
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Vortrags- und Diskussionsveranstaltung zur Frage "Sicherer Drittstaat
Türkei?" [2] im Kieler Landeshaus
beantwortete er dem Schattenblick
einige Fragen zur Arbeit des Flüchtlingsrates und zu seiner Einschätzung
der deutschen Flüchtlingspolitik.
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Schattenblick (SB): Herr Link, was
hat Sie dazu gebracht, diese Veranstaltung auszurichten?
Martin Link (ML): Zum einen leiden
wir zur Zeit unter einer introvertierten innenpolitischen Diskussion bei
Sa, 23. April 2016
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den Flüchtlingsthemen. So haben wir
feststellen müssen, daß man sich hier
kaum mit den Hintergründen, die die
Flüchtlinge mitbringen, beschäftigt.
Selbst die zuständige Bundesverwaltung hält es nicht für wert, zeitnah
Asylverfahren umzusetzen. Statt
dessen befinden sich diese Menschen
bis zu zwei Jahre und länger in einem
Wartestand, ohne daß sich jemand
für ihre Fluchtgründe interessiert,
was sie dermaßen zermürbt, daß sie
lieber freiwillig in den Krieg zurückgehen, um dann mit ihrer Familie zu
sterben, als hier auf eine Familienzusammenführung zu warten, die allem
Anschein nach doch nicht zustandekommt.
Das war eines der Szenarien, die uns
umgetrieben und dazu geführt haben,
mehr Aufmerksamkeit für die Situation in den Herkunftsländern der
Flüchtlinge zu schaffen. Zum anderen gibt es noch einen lokalen
Aspekt. Als Organisation feiern wir
in diesem Jahr unser 25jähriges Bestehen. Aus diesem Anlaß wollten
wir eine Veranstaltungsreihe schaffen, die sich von der rein administrativen Debatte weg mit den Flüchtlingen selbst auseinandersetzt. Zu diesem Zweck haben wir die Zusammenarbeit mit den politischen Stiftungen der verschiedenen Parteien
angestrebt. Das war jetzt der Termin
mit der Heinrich Böll Stiftung, aber
auch mit den anderen politischen
Stiftungen sind herkunftsländerorientierte Themenveranstaltungen in
Vorbereitung. Anfang des Jahres haben wir mit Afghanistan angefangen
und setzen die Reihe über das Jahr
verteilt sukzessive fort.
SB: Wie ist die Situation der hier in
Schleswig-Holstein untergebrachten
Flüchtlinge?
ML: Die Flüchtlingssituation in
Schleswig-Holstein ist relativ entspannt, zumal wir ein kleines Bundesland sind und nach dem Königsteiner Schlüssel nur eine geringe Anzahl an Flüchtlingen hierherkommt.
Unsere Aufnahmekapazitäten sind
Sa, 23. April 2016
längst nicht erreicht, das galt auch im
vergangenen Jahr, als hier 55.000
Flüchtlinge registriert worden sind.
Das bedeutet allerdings nicht, daß
die 55.000 auch tatsächlich im Bundesland geblieben sind. Tatsächlich
haben 43.000 einen Asylantrag gestellt und sind hiergeblieben. Auch
daß im letzten Quartal 2015 ungefähr
150.000 Transitflüchtlinge durch
Schleswig-Holstein nach Skandinavien weitergereist sind, hat keine negativen Spuren hinterlassen. Das
heißt nicht, daß sie nur angekommen
und auf die Fähre oder den Zug aufgesprungen sind. Zum Teil haben sie
sich eine ganze Weile hier aufgehalten, und es hat eine rege Kooperation zwischen zivilgesellschaftlichen
Organisationen, kommunalen Verwaltungen und Ordnungsbehörden
gegeben, um den Transit der Flüchtlinge möglichst reibungslos geschehen zu lassen und damit den Freedom of Choice, den wir für Flüchtlinge regelmäßig einfordern, durchzusetzen, also daß die Flüchtlinge
und nicht irgendwelche Behörden
und Administrationen darüber entscheiden, wo sie leben wollen. Auf
diese Weise konnte unsere Forderung im flüchtlingspolitisch sonnigen Herbst 2015 tatsächlich einmal
Platz greifen.
SB: Müssen eigentlich in Skandinavien abgelehnte Flüchtlinge hier
wieder aufgenommen werden?
auch in den Jemen ab, wo es bekanntermaßen genauso brennt wie in Syrien. Kirchenasyle auch in Schleswig-Holstein konnten jenen Flüchtlingen, deren Asylverfahren in Ländern wie Norwegen gescheitert und
die dann von Abschiebung bedroht
waren, vielfach zu einem Bleiberecht
verhelfen.
SB: Gestern kam es in Köln und
Hamburg zu Auseinandersetzungen
zwischen türkischen Nationalisten
und kurdischen sowie türkischen
Linken. Ist der Konflikt in der Türkei auch deshalb für die Bundesrepublik so wichtig, weil wir hier starke migrantische Communities haben,
in denen sich tatsächlich beide Lager
abbilden, und kriegen Sie davon etwas in Kiel mit?
ML: Wir haben es hier relativ ruhig.
Diese Konfliktlinien treten immer
wieder auf, übrigens auch in den
Flüchtlingsunterkünften. Das ist aber
nichts Neues und hat es schon in den
90er Jahren gegeben, als die einzelnen Communities aus dem ehemaligen Jugoslawien auch vor dem Hintergrund ihrer politischen und zum
Teil ethnischen Auseinandersetzungen hier aneinandergeraten sind.
Oder man denke an die zahlreichen
afrikanischen Flüchtlinge jener Jahre, die zum Teil auch verschiedenen
Lagern angehörten und hier mit
Schrecken feststellten, daß sie wieder mit Anhängern der Gegenseite
konfrontiert wurden. Das hat natürlich zu Reibungen geführt. Es gehört
allerdings zur Flüchtlingsaufnahme,
daß man die Konflikte, die die Menschen aus ihrer Heimat treiben, immer ein Stück weit mit aufnimmt und
sich kompetent macht, um solche
Probleme gegebenenfalls auch zu
managen, und zwar weit über das
hinaus, was Ordnungsbehörden ansonsten im Sanktionenkatalog bereithalten, wenn sich Leute an die
Gurgel gehen.
ML: Ja, viele Flüchtlinge, die dort
abgelehnt wurden, können gemäß
der Dublin-Verordnung in das Land
zurückgeschickt werden, aus dem sie
nachweislich in die skandinavischen
Länder eingereist waren. Sich auch
dieser Menschen anzunehmen, ist eine dauernde Aufgabe für den Flüchtlingsrat und die hiesigen Initiativen
und Unterstützungsorganisationen.
Wir haben auch sehr viele Menschen, die zum Beispiel aus Norwegen flüchten, weil man dort Flüchtlinge in den Irak oder nach Afghanistan abschiebt, womit man hier erst Im Zweifel ist das natürlich auch
jetzt anfangen will. Norwegen macht notwendig, aber im Grunde genomdas schon sehr lange und schiebt men ist Flüchtlingsaufnahmepolitik
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im gewissen Sinne auch Moderation.
Wenn es gelingt, daß sich Flüchtlinge hier aufgenommen fühlen und
einen dauerhaften bzw. vorübergehenden mittelfristigen Aufenthalt haben, werden sie auf jeden Fall aus
dieser Zeit des Exils sowohl politisch
als auch individuell gestärkt hervorgehen, falls sie später entweder aus
eigener Überzeugung oder aus anderen Gründen wieder zurückgehen.
Sie sind dann in einer ganz anderen
Situation und können gegebenenfalls
auch als Botschafter des Landes auftreten, in dem sie Exil und Schutz zugesprochen bekamen und möglicherweise auch Bildungspakete genießen
konnten, um dann eine andere Perspektive und Zukunft für sich und ihre Familien zu entwickeln, wenn Bedingungen in ihrer Heimat herrschen, die eine Rückkehr möglich
machen. Dies gilt natürlich immer
nur, wenn das Land wieder befriedet
ist oder die entsprechenden Verfolgungstatbestände dort nicht mehr
grassieren.
Daher ist es notwendig, daß wir die
Diskussion hier anders führen, als
von Flüchtlingen auszugehen, die
auf Dauer bei uns bleiben, und solchen, die keine Bleibeperspektive
haben. Ein Umdenken ist schon deswegen nötig, weil Flüchtlinge nicht
per se dauerhaft hier bleiben, sondern selber entscheiden, wo sie leben
wollen. Das hat sehr viel damit zu
tun, wie sie sich hier aufgenommen
fühlen, und natürlich auch mit der
Situation in ihren Heimatländern.
Mitunter entscheiden sie sich auch
für Communities in Drittländern aufgrund von familiären Verbindungen,
die oft viel wichtiger sind als die politischen Rahmenbedingungen in den
Gastländern. Wir müssen begreifen,
daß Flüchtlingsaufnahme immer so
etwas wie ein Durchlauferhitzer ist,
wo Menschen zur Ruhe kommen und
aufatmen können, um ihre mittelfristige Perspektive entweder über eine
Weiterwanderung oder eine Rückkehr nochmals neu zu formatieren.
Sich für eine solche Grundhaltung
stark zu machen, gehört mit hinein in
Seite 6
eine demokratische Flüchtlingsauf- Flüchtlinge aus solchen Ländern kanahmepolitik und auch solidarische men, hingegen wurden Fluchthelfer
Flüchtlingshilfe.
mit Orden behängt, wenn sie Flüchtlingen über den Eisernen Vorhang
In der augenblicklichen Diskussion, halfen. Diese Doppelmoral war
die massiv unter dem Druck der Stra- schon immer gegeben und existiert
ße steht, wird dies in der politischen auch heute in der flüchtlingspolitiKlasse scheinbar nicht als beden- schen Debatte wieder.
kenswert angesehen. Statt dessen
wird nach Schema F schwarz-weiß Natürlich sind alle heilfroh, daß die
über den Löffel balbiert und aufge- sogenannte Balkanroute geschlossen
teilt in diejenigen, die angeblich ei- wurde, und ebenso dankbar ist man
ne gute Bleibeperspektive besitzen, im Grunde genommen dafür, daß
und solche, denen eine gute Bleibe- das, was bei Dublin 2 und 3 schon
perspektive nicht zugestanden wer- angelegt war, nämlich die Ränder
den soll.
Europas, vor allem Griechenland, für
die Flüchtlingsaufnahme verantSB: Als Bundeskanzlerin Angela wortlich zu machen, jetzt nochmal
Merkel betonte, daß wir das schaf- eskaliert werden konnte. Ich denke,
fen, und sich nicht auf die Nennung das Flüchtlingsabkommen, das mit
von Obergrenzen einlassen wollte, der Türkei durchgesprochen wird,
ging es wohl in einem gewissen Aus- könnte ein Präzedenzfall dafür wermaß auch darum, daß die Bundesre- den, daß nicht mehr nur die Ränder
publik als Führungsmacht der EU Europas, sondern auch die europäipolitische Gestaltungskraft rekla- schen Vorposten auf diesen Zweck
mierte, wenn sie das Flüchtlingspro- verpflichtet werden. Außerdem verblem positiv und nicht restriktiv an- handelt die EU noch mit den Hergeht. Jetzt hat sich das Ganze dahin- kunftsländern über Rücknahmeabgehend verlagert, daß die EU-Au- kommen. Wir werden sehen, daß das
ßengrenzen dichtgemacht werden in Marokko, Algerien und Tunesien
und man sich erleichtert zeigt, daß die gleichen Ergebnisse zeitigen
weniger Leute hier ankommen. Wie wird, nämlich daß auch dort
beurteilen Sie diese Politik auch in Brückenköpfe geschaffen werden,
Hinsicht auf Ihre Arbeit?
die im wesentlichen die Funktion erfüllen, die Flüchtlinge außenvor zu
ML: Nun, das ist eine Alibipolitik, lassen. Diese Art der Politik hat jahdie in der Flüchtlingspolitik immer relang auch in Libyen mit dem Gadschon angelegt war. Selbst die Schaf- dafi-Regime sehr gut funktioniert,
fung des Asylgrundrechts war im nur daß sich Europa gegen die USwesentlichen dadurch motiviert, die amerikanischen Avancen, dort einen
Flüchtlinge aus kommunistischen Regime Change zu erzwingen, nicht
Staaten hier aufzunehmen und damit durchsetzen konnte, und jetzt alle,
im Grunde genommen die antikom- nur die Amerikaner nicht, mit dem
munistische Strategie im Kalten Debakel leben müssen.
Krieg auf eine Verfassungsgrundlage zu stellen. Damit hatte man natür- SB: Es wurde ja angekündigt, daß
lich nicht die Flüchtlinge im Blick, mit Libyen eine Neuauflage dieses
die bald danach zum Beispiel aus den Paktes geschaffen werden soll.
faschistischen europäischen Regimen oder aus Lateinamerika ins Aus- ML: Ganz genau. Deswegen ist das,
land getrieben worden sind. Entspre- was wir mit der Türkei erleben,
chend restriktiv war dann auch die nichts Neues, sondern alter Wein in
Flüchtlingsaufnahmepolitik gegen- neuen Schläuchen, der jetzt noch
über diesen Flüchtlingen. Ebenso weiter verteilt wird. Die flüchtlingswurde eine Kriminalisierung von politische Debatte hier ist selbstverFluchthilfe intensiv betrieben, wenn ständlich ganz scheinheilig. So war
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Sa, 23. April 2016
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die Aufnahme im Herbst 2015 mit
dem Kalkül versehen, daß sich die
nach Deutschland kommenden
Flüchtlinge zu großen Teilen im
Transit bewegen, was ja auch
stimmt. Daß 300.000 bis 400.000
Flüchtlinge, die in jenen Monaten
nach Deutschland eingereist waren,
jetzt nicht mehr auffindbar sind, ist
nicht weiter verwunderlich, weil sie
weitergewandert sind. Die Bundesregierung hatte damals angenommen, daß die Flüchtlingsbewegungen diffundieren und jeder europäische Staat so seinen Teil übernehmen
wird. Zudem sollte eine brenzlige Situation entschärft werden, die möglicherweise in Ungarn dazu geführt
hätte, daß Ordnungskräfte auf
Flüchtlinge schießen. Man fürchtete
in der Tat eine gewalttätige Eskalation und war daher bereit, das kleinere Übel in Kauf zu nehmen und die
Flüchtlinge relativ unsortiert über
Europa zu verteilen. Nur hat man
sich damit verkalkuliert.
SB: Das Flüchtlingsabkommen mit
der Türkei betrifft auch Griechenland. Im Sommer letzten Jahres befand sich die Tsipras-Regierung in
einer wichtigen europapolitischen
Position, und man konnte den Eindruck bekommen, daß man ihr mit
der Flüchtlingsproblematik kein
Druckmittel an die Hand geben wollte. Wie werten Sie es, daß Griechenland nun zu einer Art Außenlager der
EU verkommt?
ML: Griechenland hat sich weder
unter der alten noch unter der neuen
Regierung jemals gut um die Flüchtlinge gekümmert. Die Illegalität von
Flüchtlingen war geradezu ein Massenphänomen in Griechenland und
ging so weit, daß selbst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gefordert hat, daß keine DublinFlüchtlinge mehr dorthin zurückgeschickt werden dürfen, weil sie weder einen Asylzugang, der nach europäischem Recht vorgeschrieben
ist, noch eine soziale Versorgung haben, die zumutbar wäre und humanitären Gesichtspunkten genügt. Daß
Sa, 23. April 2016
Griechenland eine sehr flüchtlingsunfreundliche Politik betreibt, ist
kein Ergebnis der sogenannten griechischen Krise. Wir haben mit Interesse festgestellt, daß auch die Aufnahmepolitik und Flüchtlingshilfe,
die sich auf den Inseln etabliert hat,
in ganz großen Teilen bürgerschaftlich organisiert ist. Dort sind viele internationale und auch einheimische
Leute tätig, die sich entsprechend engagieren - der Staat ist fern.
Daß der griechische Staat jetzt im
Zuge des Türkei-EU-Abkommens,
in dem vorgesehen ist, daß die
Flüchtlinge in Griechenland registriert werden und in geschlossene
Internierungslager kommen, aus denen sie dann wieder in die Türkei zurückgeschickt werden, verstärkt in
die Flüchtlingsregulation eingebunden wird, ist eine Politik des Teilens
und Herrschens, an der sich Griechenland beteiligt. Dem Abkommen
zufolge definiert die Zahl der zurückgeschickten syrischen Flüchtlinge die Zahl jener Syrer, die von den
europäischen Staaten sukzessive
aufgenommen werden sollen. Das
betrifft aber nicht jene Syrer, die vergeblich versucht haben, nach Europa zu kommen.
Wir bedauern schon seit vielen Jahren, daß Griechenland sehr restriktiv
gegenüber Flüchtlingen agiert.
Selbst als von der Schließung der
Balkanroute noch nicht die Rede war
und Flüchtlinge in dieser relativ kurzen Zeit weitgehend ungehindert
über den Balkan wandern konnten,
war es für sie lebensgefährlich gewesen, aus Griechenland weiterzureisen. Mitunter haben sich Flüchtlinge
unter einen LKW geklemmt. Das
Weiterziehen der Flüchtlinge ist zuweilen mit viel Gewalt unterbunden
worden, vor allem, wenn Besuche
von europäischen Staatsgästen in
Athen angekündigt waren. Ansonsten hat man die Leute einfach sich
selbst überlassen und zugesehen, wie
sie ihr Überleben mit karitativer Hilfe und zivilgesellschaftlichen Unterstützungsangeboten fristen.
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SB: Herr Link, vielen Dank für das
Interview.
Anmerkung:
[1] http://www.frsh.de/fluechtlingsrat/ueber-uns/
[2] BERICHT/234: Die Zwischentürkei - nicht sicher, nicht frei ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0234.html
http://www.schattenblick.de/
infopool/politik/report/
prin0312.html
SCHACH - SPHINX
Wider die Konvention
(SB) ­ Wenn das Gebräuchliche den
freien Atem beengt, die Schritte wie
durch Morast sich schleppen, wenn
der Kopf zur Abstellkammer wird
und nicht mehr Schmiede neuer Gedanken ist, wenn das Herz vor Langeweile stöhnt und der Biedersinn
die Schöpferkraft zum Versiegen
bringt, wenn also der Mensch nur
noch an der Welt der Schatten Gefallen findet, dann hilft im Sinne der
höchsten Wut nur noch eine Attacke
auf die Konvention. Die Geschichte
der Menschen verläuft auf zwei Pfaden. Der eine ist kurz und führt rasch
und dornenfrei zum Erfolg der Mittelmäßigkeit. Viele sind es, die ihn
gehen. Der andere kennt nur Unrast
und kämpferische Augenblicke der
Orientierungslosigkeit. Man täusche
sich nicht, das, was dem strebenden
Menschen als Erfolg begegnet, war
nie das Ziel, zu dem er einst aufgebrochen war. So ist der Erfolg die
hinterhältigste Leimrute für das
Streben nach Überwindung der
Grenzen. Man besinne sich auf die
Worte des aus der Oberpfalz stammenden Komponisten und Opernreformers Christoph Willibad Gluck,
Seite 7
Elektronische Zeitung Schattenblick
der vor mehr als 200 Jahren die aufgesetzte Künstlichkeit des vorherrschend italienischen Opernstils
durch eine auf Text und Handlung
hinzielende Musik ersetzte: "Der
Stil, den ich einzuführen versuche,
scheint mir, der Kunst ihre Würde
zurückzugeben." Sein Streit gegen
die "kalten Schönheiten der Konvention" wirkte sich hundert Jahre später revolutionierend auf Wagners
Musikdramen aus. Auch im Schach
hat es solche Umstürzler des guten
und zeitgemäßen Geschmacks gegeben. Der englische Großmeister
Tony Miles ist solch ein Sonderling,
dem nichts so verhaßt ist wie die abgeschmackte Gewöhnlichkeit. Man
erinnere sich an seine Partie gegen
den FIDE- Weltmeister Anatoli Karpow, in der er auf 1.e2-e4 mit 1...a7a6 konterte. Im heutigen Rätsel der
Sphinx fand er auch in bedrückter
Lage mit den weißen Steinen den
schillernden Weg zum Sieg. Zunächst mußte er sich um seine Dame
kümmern und gleichzeitig der Drohung Lf6xc3 begegnen. Also, Wanderer, zwei Aufgaben und ein Mattweg. Wie reimt sich das zusammen?
Miles Pritchett
London
1982
Auflösung letztes Sphinx­Rätsel:
UMWELT / REPORT / INTERVIEW
Profit aus Zerstörungskraft - gebrochene Rechte ...
Kerstin Rudek im Gespräch
5 Jahre Leben mit Fukushima ­
30 Jahre Leben mit Tschernobyl
Internationaler IPPNW­Kongreß
vom 26. bis 28. Februar 2016 in der Urania, Berlin
Kerstin Rudek über die niederschmetternde Fukushima-Katastrophe,
die gute Zusammenarbeit der BI Umweltschutz Lüchow-Dannenberg
mit der japanischen Anti-Atom-Bewegung und darüber, daß der
Spruch, "wir können noch viel von euch lernen", kulturspezifisch
gedeutet werden muß ...
Kerstin Rudek ist bereits seit
vielen Jahren in der Anti-Atom-Bewegung aktiv. Heute ist sie im Beirat der
Bürgerinitiative (BI) Umweltschutz
Lüchow-Dannenberg, ehrenamtlich
wie alle anderen Vorstandsmitglieder
auch. Angefangen hatte sie bei der BI
1998 im Büro, mußte zwei Jahre daraufeine Auszeit nehmen, um sich um
ihre Familie zu kümmern. 2007 ging
sie in den Vorstand der BI und hatte
dort den Vorsitz inne. Um nach fünf
Jahren einen Wechsel an der Spitze zu
ermöglichen und selber etwas Neues
zu machen, hat sie 2012 den Vorstandsvorsitz an jemand anderen abgetreten und sich als parteilose Kandidatin aufder Liste der Linken als umweltpolitische Sprecherin für den Niedersächsischen Landtag aufstellen lassen. Mit nur 3,2 Prozent war die Linke jedoch deutlich an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert. 2014 wurde
die Mutter von sechs Kindern erneut
in den Vorstand der BI gewählt und übt
dort die Funktion einer Sprecherin für
internationale Angelegenheiten aus.
(SB) ­
Der simple Zug 1.Th2-f2 in Zusammenhang mit der Mattdrohung e6e7# brach der schwarzen Stellung
trotz Mehrfigur das Rückgrat. Miles
versuchte noch, mittels 1...Lh5-f3
2.De5-f6 Dc6-c7 3.Tf2xf3 Tc8-d8
seinen Hals aus der Schlinge zu ziehen. Allein, nach 4.e6-e7+ Dc7xe7
5.Df6-h8# war der Traum von einem Am Rande des Internationalen
Entkommen ausgeträumt.
IPPNW-Kongresses, der vom 26. bis
28. Februar 2016 in Berlin stattfand,
http://www.schattenblick.de/
hatte der Schattenblick die Gelegeninfopool/schach/schach/
heit, mit Kerstin Rudek ein Interview
sph05814.html
zu führen.
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www.schattenblick.de
Kerstin Rudek, Demonstration am
14.06.2014 in Hannover für die so­
fortige Stilllegung des AKW Grohnde
Foto: Andreas Conradt / PubliX­
viewinG, freigegeben als CC BY­ND
Schattenblick (SB): Die Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg kämpft seit Jahrzehnten gegen die Atomindustrie. Du bist dort
für internationale Angelegenheiten
zuständig und dadurch mit Fukushima befaßt. Wie kam es dazu?
Kerstin Rudek (KR): Die Reaktorkatastrophe von Fukushima hatte mich
zunächst unheimlich niedergeschmettert, das war eine schlimme
Erfahrung. Ich hatte die letzten 25
Jahre meines Lebens neben meinem
privaten Leben und dem Großziehen
der Kinder alle Zeit, Kraft und auch
sehr viel Geld in die Anti-Atom-Arbeit gesteckt. Als dann das Akw Fukushima explodiert ist und sich der
Sa, 23. April 2016
Elektronische Zeitung Schattenblick
radioaktive Fallout ausgebreitet hat, be ich das abgelehnt. Wir waren
habe ich eine schwere Krise gehabt. nicht vorbereitet und hatten keine
Ahnung, was uns dort erwartet hätte.
Mit Japan hatte ich bis dahin nichts Daraufhin haben die beiden ihren
zu tun. Doch im Mai 2011 war eine Plan fallen gelassen.
japanische Delegation in Deutschland unterwegs, um verschiedene Dennoch hatte ich mir vorgenomSchauplätze von Widerstands- und men, mir Fukushima selber anzuProtestbewegungen zu besuchen. schauen, weniger das Akw FukushiDie Delegation befand sich gerade ma und seine Umgebung, sondern
auf dem Weg von Braunschweig ich wollte dort die Menschen treffen,
nach Berlin, als ihr Termin kurzfri- weil ich festgestellt habe, daß es
stig abgesagt wurde. Daraufhin wur- einen großen Unterschied macht, ob
de unsere BI angerufen und wir wur- man etwas zu einer Sache liest und
den gefragt, ob sie einen Abstecher sich darüber informiert oder ob man
zu uns machen könnten. Wir haben die Menschen direkt trifft und sich
uns spontan Zeit dafür genommen. mit ihnen austauscht.
Aus dieser Begegnung ist dann ein
sehr schöner Kontakt entstanden. Im
Januar 2012 sind wir zu dritt aus der
BI nach Japan gereist und haben an
einer internationalen Konferenz für
eine Zukunft ohne Atomkraft teilgenommen. Das war in der Stadt Yokohama, die liegt 40 Kilometer von Tokio entfernt, und es waren 11.500
Teilnehmerinnen und Teilnehmer gekommen. Die gesamte Reise dauerte zwar nur vier Tage, aber in der Zeit
haben wir eine Reihe von Kontakten
geknüpft, beispielsweise zu den
Müttern von Fukushima, zum Club
demokratischer Frauen, zur Eisenbahnergewerkschaft Doro-Chiba,
zum großen Anti-Atom-Netzwerk
NAZEN (Nationalkonferenz für die
sofortige Abschaltung aller Atomkraftwerke) und einigen weiteren
Akteuren.
Noch im selben Jahr bin ich mit einer anderen Delegation für die BI
nach Japan geflogen und war dann
auch in Fukushima. Dort haben wir
die vom Tsunami zerstörten Gebiete
besucht und waren in Gebieten, die
außerhalb der Evakuierungszone liegen, aber dennoch als verstrahlt galten, wenngleich nicht sehr stark verstrahlt. Dort haben wir mit einem
einfachen Geigerzähler Messungen
durchgeführt, nicht zuletzt zur eigenen Dokumentation. Wir hatten auch
Schutzkleidung und Masken dabei,
haben uns aber nicht lange dort aufgehalten.
ma. Auch besuche ich viele Orte, an
denen protestiert wird und in deren
Nähe sich Strahlenquellen befinden.
Ich versuche durchaus, die Belastung
für mich in Grenzen zu halten. Strahlung macht Krebs, das wissen wir.
SB: Wobei zumindest die nach außen
abgegebene Strahlung von Gorleben
um mehrere Größenordnungen unter
der von Fukushima liegt.
KR: Ja, selbstverständlich, da sprechen wir über eine ganz andere Ebene. In Fukushima ist es tatsächlich
so, daß da eine riesige Katastrophe
stattgefunden hat und die Menschen
fast alle traumatisiert sind. Gerade
Eltern fragen sich sehr häufig, wo die
Grenze ist, ab der sie einfach alles
stehen und liegen lassen und weggehen, um nicht das Krebsrisiko ihrer
Kinder zu erhöhen, auch wenn das
bedeuten würde, daß sie dann verschuldet sind.
Es ist wirklich ein Dilemma, daß die
Menschen in den verstrahlten Gebieten überhaupt nicht annähernd ausreichend Entschädigung von der Betreibergesellschaft Tepco und der
Regierung erhalten haben. Der Unfall wird sogar verharmlost und die
Menschen, die sich kritisch äußern,
werden unter Druck gesetzt, sei es
durch Geheimdienste und Polizei,
die Entlassung vom Arbeitsplatz
oder allgemein durch eine Diskriminierung gesellschaftlicher Art. Da
gibt es viele Möglichkeiten, wie man
leicht den Verstand verlieren kann,
wenn man merkt: Es genügt, daß
man einfach nur mal sagen muß,
worunter man leidet und daß man es
gern anders hätte, und schon löst
man dadurch starke Repressionen
gegen sich aus. Für die psychische
Gesundheit braucht man auch Sozialkontakte, und in Japan fällt man
leicht hinten runter, wenn man sich
eben nicht so benimmt, wie die Gesellschaft es von einem erwartet.
SB: Hier in Deutschland hat man den
Eindruck, daß die japanische Präfektur Fukushima weitgehend verstrahlt
ist. Auch von Tokio wurde schon mal
eine erhöhte Strahlung gemeldet.
Hattest du nicht Sorge, nach Japan zu
reisen?
Das war schon ein komisches Gefühl, geradezu gruselig. Denn wir
hatten natürlich keine Gewißheit, ob
wir nicht doch radioaktive Partikel
inkorporiert hatten oder was eigentlich mit den Schuhen ist, die wir anschließend wieder mit nach Hause
schleppen. Ich habe mir dann nochmal klar gemacht: Die Menschen leben hier jeden Tag. Die müssen es da
die ganze Zeit aushalten und dabei
diese Ängste ertragen. Mein Risiko
ist dagegen vergleichsweise klein.
KR: Bei dieser ersten Reise war ich
gar nicht in der Region Fukushima
gewesen, sondern nur in Tokio und
Umgebung. Die Radioaktivität hat
für mich eine Rolle gespielt. Als die
beiden anderen aus der BI vorschlugen, nach Fukushima zu fahren, ha-
Ich wohne selber in der direkten Umgebung von Gorleben. Das sind nur
ungefähr vier Kilometer Luftlinie bis
zu dem Zwischenlager, in dem 113
Castor-Behälter stehen, die hochgra- SB: Ein persönliches Gespräch ist oft
dig radioaktiv sind. Für mich ist etwas vertraulicher, als wenn die
Strahlung sowieso immer ein The- Menschen mit der Presse oder den
Sa, 23. April 2016
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Elektronische Zeitung Schattenblick
Behörden sprechen. Hattest du die
Gelegenheit, in Japan auch mit
Menschen zu sprechen und zu erfahren, was sie ganz persönlich zu
sagen haben?
KR: Das war für mich sogar am
spannendsten. Also wirklich zu
schauen, wie es den Müttern dort
geht. Worunter leiden die Väter?
Wie ist es für ältere Menschen, die
in einer Notunterkunft leben? Wir
haben wahnsinnig wenig geschlafen
und uns fast permanent mit Menschen getroffen. Einige Gespräche
haben wir auch auf Video aufgezeichnet, um sie zu dokumentieren.
Denn neben der Angst vor Krankheiten in Folge der Strahlung und
der Angst um ihre Familien ist die
Angst, vergessen zu werden, sehr
groß. Das ist die Angst, daß der Rest
der Welt zur Tagesordnung übergeht, überall das Leben weiter seinen Lauf nimmt, nur eben das eigene nicht. Manche Gespräche waren
schwer zu ertragen, denn wir wußten, daß wir uns in einigen Tagen
wieder ins Flugzeug setzen und
nach Hause fliegen würden.
Eine Eigenheit der japanischen
Menschen ist es, zu höflich und zu
freundlich zu sein. Wo hierzulande
jemand auf jeden Fall mit einem
Nein antworten würde, da würde
man dort als Antwort geben: Es wäre eine Möglichkeit. Doch hat die
japanische Gesellschaft in den letzten fünf Jahren eine Entwicklung
hinter sich, bei der zumindest einige Menschen auch sagen, daß für sie
etwas nicht in Ordnung ist und sie
von der Regierung und dem AkwBetreiber in eine schwierige Lage
gebracht worden sind.
Beispielsweise hatten wir Kontakt
zu einer Familie, die ursprünglich
knapp außerhalb der erweiterten
Evakuierungszone lebte. Deren Radius war zeitweilig von 20 auf 30
Kilometer ausgedehnt worden, wurde dann aber wieder auf 20 Kilometer zurückgenommen. Die Radioaktivitätsfahne des Fallouts hat sich
Seite 10
natürlich nicht an den 30-KilometerRadius gehalten, sondern es gab
bzw. gibt innerhalb dieser Zone Gebiete, die überhaupt nicht verstrahlt
sind, und es gibt außerhalb Gebiete,
die sehr verstrahlt sind. An so einem
Ort wohnte die Familie und hat keine angemessene Entschädigung angeboten bekommen. Ihr wurde gesagt, sie solle dort wohnen bleiben.
Obwohl doch nachgewiesen worden
war, wie hoch die Strahlung dort
war!
weggezogen, nach zwei, drei Wochen ist ihr der Mann gefolgt. Auch
das Dorf, in dessen Nähe sie gelebt
haben, war verlassen.
Ich versuche mir immer selber vorzustellen, ob ich ohne Ersparnisse
und Rücklagen Gorleben verlassen
würde, wenn dort zum Beispiel ein
Anschlag begangen würde und anschließend alles verstrahlt wäre. Ich
nehme an, ich würde weggehen.
Aber wenn dann, wie in Japan, die
Regierung sagt, man sei dort sicher,
SB: Würdest du sagen, daß die aus- wo man wohne, stellt sich schon die
gewiesene Schutzzone im wesentli- Frage, wie man sich in so einer Sichen ein politischer Begriff war und tuation verhält.
sich die Behörden damit nicht am
notwendigen Schutz der Gesundheit SB: Was ist aus der Familie geworder Menschen orientiert haben?
den?
KR: Auf jeden Fall. Eine Kategorie
wie, "wir ziehen jetzt mal einen
Kreis um die Unglücksstelle", hat
nichts damit zu tun, wo etwas wirklich verstrahlt ist und wo nicht. Jenes japanische Ehepaar hatte mit
seinen drei jugendlichen bis erwachsenen Kindern in einem wunderschönen Haus gewohnt, das es
selber auf einem Grundstück errichtet hatte, das von ihm erstmal urbar
gemacht werden mußte. Dort haben
die beiden sich eine Kaffeerösterei
mit zwei Anlagen aufgebaut, in denen sie importierten Biokaffee geröstet haben. Sie haben sich also etwas aufgebaut, von dem sie leben
konnten, auch wenn sie nicht wohlhabend waren.
KR: Wir haben sie zu einem Zeitpunkt getroffen, an dem sie sich in
der Nähe von Fukushima-Stadt ein
Haus gemietet, ein kleines Café und
wieder eine Rösterei, doch diesmal
sehr viel kleiner, aufgebaut hatten.
Sie haben sich eine Existenzgrundlage geschaffen und waren froh
über ihre Entscheidung, weggegangen zu sein. Nun verklagen sie sowohl Tepco als auch die Regierung
auf Schadenersatz. Man hatte ihnen
zwar eine kleine Entschädigung angeboten, aber nur in Höhe von umgerechnet einigen tausend Euro.
Das hätte nie und nimmer gereicht,
um sich eine gänzlich neue Existenz
aufzubauen. Sie haben das Geld
nicht angenommen und statt dessen
geklagt. Sie wollen die Summe, die
Durch die Reaktorkatastrophe war ihr Besitz an Wert hatte, als Entalles verstrahlt worden. Aber wie schädigung. Dafür streiten sie vor
gesagt, sie lebten nicht innerhalb der Gericht.
Zone, in denen die Einwohner Unterstützung bekommen haben oder Das war natürlich gesellschaftlich
evakuiert worden wären. Also stan- sehr verpönt. Von vielen Seiten
den sie ganz allein da. Unmittelbar wurde ihnen gesagt, daß doch jetzt
nach Ausbruch der Katastrophe wa- alle die Lasten dieses Unglücks traren sie bei befreundeten Familien gen müßten. Darauf hat die Familie
untergekommen. Doch dann stellte stets den Standpunkt vertreten:
sich irgendwann die Frage, ob sie al- Nein, das Unglück war nicht unsere
les aufgeben sollten - mit der klaren Schuld, wir wollen, daß diejenigen
Aussicht, daß sie keine Entschädi- dafür bezahlen, die das auch verurgung für ihre Verluste erhalten. Zu- sacht haben, und das sind der Benächst ist die Frau mit den Kindern treiber und die Regierung.
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Sa, 23. April 2016
Elektronische Zeitung Schattenblick
SB: Wie sieht die Zusammenarbeit
eurer BI mit den Fukushima-Betroffenen aus?
KR: Zunächst einmal unterhalten wir
nach wie vor enge, gute und kontinuierliche Kontakte zu jenen Gruppen
in Japan, die ich vorhin erwähnt habe. Jeden Montag findet in Dannenberg auf dem Marktplatz eine Mahnwache statt, zu der regelmäßig 20 bis
30 Personen kommen. Da tragen wir
die Infos aus Japan rein und reden,
was im Wendland und in der BRD
allgemein an Anti-Atom-Aktionen
oder Diskussionen läuft. Das tragen
wir dann wieder als Infos nach Japan.
Wir informieren uns gegenseitig, wie
sich die Bewegung weiterentwickelt.
In solchen Notunterkünften lebt noch
heute ein Teil der rund 160.000 Eva­
kuierten aus der Präfektur Fukushima.
Foto: Oeko­Institut e.V, freigegeben
als CC BY­SA 2.0 [https://creative­
commons.org/licenses/by­sa/2.0/] via
Flickr
SB: Wie gehen die alten Leute, die
evakuiert wurden, mit ihrem erzwungenen Umzug um?
KR: Die leben teilweise noch heute
in Notunterkünften. Das sind Holzhäuser einfachster Art, wenig isoliert
und in Reihe gebaut, immer acht nebeneinander. Insgesamt sind es, wo
wir waren, 80 Häuser. Darin leben
jetzt Menschen, die zwischen 60 und
90 Jahre alt sind, teilweise alleine,
ohne Hoffnung. Sie wissen nicht, ob
sie jemals nach Hause kommen. Sie
würden gerne zurückkehren, aber sie
wollen natürlich auch nicht in einem
verlassenen Dorf leben, wo niemand
mehr ist, und ebenfalls wollen sie
sich nicht der Strahlung aussetzen.
Diese Menschen zu treffen war
ziemlich schrecklich, weil wir ihnen
gar nichts geben und ihnen keinen
Mut machen konnten.
SB: Schließen sich die Leute in den
Notunterkünften zusammen oder
handelt es sich um einzelne HolzSa, 23. April 2016
Außerdem haben wir von Anfang an
häuser, in denen die Menschen eben die Fukushima-Kinderklinik unterauch vereinzeln?
stützt. In Japan werden die Kinder
nur alle zwei Jahre auf eine SchildKR: Die wohnen schon alleine, ha- drüsenveränderung hin untersucht.
ben aber ein Gemeinschaftshaus, in Die Eltern sind aber zu Recht sehr
dem sie auch zusammen essen kön- besorgt. Eine Ultraschalluntersunen. Dort gibt es manchmal gemein- chung sollte wenigstens dreimal pro
same Aktivitäten. Einmal fand dort Jahr gemacht werden. Die ist nicht
eine kleine Aufführung statt. Da kam belastend, da gibt es keine Nachteiein Theaterspieler, der auch Musik le, die man befürchten muß. Es fehlt
machte und pantomimisch Ge- zwar auch an Untersuchungskapazischichten erzählt hat. Einige Leute täten, aber vor allem fehlt es am Wilhaben sehr gelacht. Aber man hat len. Die Universitätsklinik in Fukusdoch den Widerspruch gemerkt. hima lehnt es ab, die Untersuchung
Denn nach den fröhlichen zwei Stun- öfter zu machen als alle zwei Jahre.
den waren die Alten wieder allein In der Kinderklinik dagegen können
und wurden ihrem Schicksal überlas- eigene Untersuchungen durchgeführt
sen. Da war eine tiefe Traurigkeit zu werden, deshalb unterstützen wir sie.
merken. Das waren Menschen, die Wir sammeln Spenden und machen
haben vorher selbstbestimmt gelebt, Veranstaltungen, wo wir dann ebenhatten ein Haus mit Garten, vielleicht falls Spenden sammeln.
noch einen Hund oder eine Katze,
und Nachbarn, die sie kannten. Das Ende August kommt wieder eine Dewar eine ganz andere Form von Le- legation aus Japan nach Deutschben. Das alles haben sie verloren.
land. Dann werden wir gemeinsam
andere Gruppen besuchen und die
Zum großen Teil haben die Alten Kontakte intensivieren. Wir arbeiten
auch abgebaut. Nach ein, zwei Mo- gemeinsam daran, den weltweiten
naten in den Notunterkünften haben Atomausstieg zu forcieren und darsie jegliche Hoffnung verloren und an mitzuwirken, daß eben nicht noch
sind teilweise pflegebedürftig ge- eine Reaktorkatastrophe passiert.
worden. Das wurde uns von einem Wir wollen gemeinsam Menschen
Arzt berichtet, der die Alten schon überzeugen, sich dafür einzusetzen,
aus der Zeit von vor der Evakuierung daß es wichtig ist, sofort aus der
kannte.
Atomkraft auszusteigen.
www.schattenblick.de
Seite 11
Elektronische Zeitung Schattenblick
SB: Kann es sein, daß es Japanern
manchmal leichter fällt, sich mit ausländischen Besuchern über einige ihrer Probleme auszutauschen, weil es
untereinander Tabus gibt?
stützen, einfach im Gespräch zu
sein, zu reflektieren, einander Tips
zu geben und eben gemeinsam an
einem weltweiten Atomausstieg zu
stricken. Die Solidarität aus Japan
ist da wirklich ein ganz probates
KR: Das könnte eine Rolle spielen. Mittel.
Jedenfalls haben sie ein reges Interesse, daß man auch in Deutschland SB: Hast du eine Rückmeldung darüber die Probleme durch Fukushi- über erhalten, was die Japaner vielma berichtet. Dort ist es für die An- leicht von euch gelernt haben?
ti-Akw-Bewegung schwierig, in
den Medien Gehör zu finden. Zum KR: (lacht) Da könnte ich lustige
Beispiel gehören viele Fernsehsen- Geschichten erzählen! Es geht dader den Energieriesen. Da gibt es bei konkret um jenen Satz "wir könkeine unabhängige Berichterstat- nen noch viel von euch lernen". Ich
tung. Die Presse ist nicht frei. Viel- bin davon überzeugt, der hat in Jaleicht ist das ein Grund, weswegen pan eine andere Bedeutung als bei
bei ihnen so schnell der Gedanke uns. Bei unserer zweiten Reise haeiner länderübergreifenden Vernet- ben wir passend zum Gedenktag im
zung entstanden ist. Sie wollten August in Hiroshima an den Dewissen, welche Probleme wir ha- monstrationen gegen den Atomben, welche Rolle wir im weltwei- bombenabwurf teilgenommen. Auf
ten Kontext der Atomkraft spielen dem Rückweg von Hiroshima kaund was sie von uns lernen können. men wir an der Insel Iwaishima vorLetzteres ist ein Satz, den wir dort bei, deren Bewohner sich seit über
sehr oft gehört haben. Wir haben dreißig Jahren erfolgreich gegen
darauf immer geantwortet, daß wir den Bau eines Atomkraftwerks auf
gar nicht in ihr Land gekommen
sind, damit sie von uns lernen, sondern damit wir voneinander lernen
können. Sie nähmen eigentlich für
uns eine Vorbildfunktion ein, wie
sie mit der Strahlung umgehen und
würden gerne auch von ihnen etwas
mitnehmen.
te da ein Lautsprecher los, natürlich
auf Japanisch: "Bitte betreten Sie
nicht das Gelände! Verlassen Sie
sofort das Gelände! Sie befinden
sich aufAkw-Gelände!"
Unsere Übersetzer wollten schon
wieder gehen, doch da waren keine
Wachleute, und so haben wir gesagt: "Wißt ihr was, Leute, wir sind
am Rande unserer Kräfte, es ist ja
so furchtbar heiß heute. Wir springen mal kurz ins Meer." Wir haben
dann unsere Sachen bis auf die Unterwäsche ausgezogen und sind im
Meer schwimmen gegangen. Unsere Gastgeber standen ganz brav am
Rand und haben uns bloß zugeschaut. Die wären im Leben nicht
auf die Idee gekommen, mit uns ins
Wasser zu gehen. Dann sagte unser
Übersetzer: "Wir können noch viel
von euch lernen." (lacht) Das war
aber so gemeint wie: "Ihr seid total
verrückt, was macht ihr da!"
SB: Vielen Dank, Kerstin, für das
Gespräch.
SB: Was habt ihr von den Menschen in Japan gelernt?
KR: Daß Solidarität sehr, sehr wichtig ist. Ich kenne das selber auch, ich
bin oft sehr dankbar gewesen, daß
man uns solidarisch begegnet ist.
Wenn Castor-Transporte kamen, daß
dann viele tausend Menschen zu uns
gekommen sind. Ich lebe auch immer
in dem Gefühl, daß wir etwas zurück- der gegenüberliegenden Landseite
zur Wehr setzen.
geben müssen.
Wir müssen unheimlich darum
kämpfen, daß Deutschland schneller aus der Atomkraft aussteigt. Am
liebsten sofort. Aber es ist eben
auch genauso ein Bedürfnis und eine Verpflichtung, andere zu unterSeite 12
Auf der Akw-Baustelle ist noch
nicht viel geschehen. Es handelt
sich um ein nicht-gesichertes Baugelände, das direkt am Meer liegt.
Wir sind dort hingefahren, es waren
45 Grad im Schatten. Plötzlich tönwww.schattenblick.de
Die weitgehend autonom lebenden
Einwohner der Insel Iwaishima ver­
hindern seit über dreißig Jahren, daß
auf der Landseite ein Atomkraftwerk
errichtet wird, durch das das
Ökosystem Meer nachhaltig
gestört würde. April 2009
Foto: BrackWorry,
freigegeben als public domain
Sa, 23. April 2016
Elektronische Zeitung Schattenblick
INTERVIEW/206: Profit aus Zerstörungskraft - auf verlorenem Posten
... Ian Thomas Ash und Rei Horikoshi im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umBERICHT/112: Profit aus Zerstö- welt/report/umri0206.html
rungskraft - Herrschaftsstrategie
Atomwirtschaft ... (SB)
INTERVIEW/207: Profit aus Zerstöhttp://www.schattenblick.de/info- rungskraft - eine ungehörte Stimme
pool/umwelt/report/umrb0112.html ... Prof. Dr. Toshihide Tsuda im Gespräch (SB)
BERICHT/113: Profit aus Zerstö- http://schattenblick.de/infopool/umrungskraft - kein Frieden mit der welt/report/umri0207.html
Atomkraft ... (SB)
http://www.schattenblick.de/info- INTERVIEW/208: Profit aus Zerstöpool/umwelt/report/umrb0113.html rungskraft - Empathie und Trauma ...
Tatjana Semenchuk im Gespräch
INTERVIEW/203: Profit aus Zerstö- (SB)
rungskraft - nach unten unbegrenzt http://schattenblick.de/infopool/um... Dr. Alexander Rosen im Ge- welt/report/umri0208.html
spräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/um- INTERVIEW/209: Profit aus Zerstöwelt/report/umri0203.html
rungskraft - so was wie Diabetes ...
Liudmila Marushkevich im GeINTERVIEW/204: Profit aus Zerstö- spräch (SB)
rungskraft - Spielball der Atom- http://schattenblick.de/infopool/ummächte ... Dr. Helen Caldicott im welt/report/umri0209.html
Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/um- INTERVIEW/210: Profit aus Zerstöwelt/report/umri0204.html
rungskraft - Schlußfolgerungen verfrüht ... Dr. Alfred Körblein im GeINTERVIEW/205: Profit aus Zerstö- spräch, Teil 1 (SB)
rungskraft - systemische Verschleie- http://schattenblick.de/infopool/umrung ... Tomoyuki Takada im Ge- welt/report/umri0210.html
spräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/um- INTERVIEW/211: Profit aus Zerstöwelt/report/umri0205.html
rungskraft - Schlußfolgerungen verDie Berichterstattung des Schatten­
blick zum IPPNW­Kongreß finden
Sie unter INFOPOOL → UMWELT
→ REPORT:
Hinweis: BUCH / SACHBUCH / REZENSION
Aufstieg und Zerfall des deutschen Europa
von Tomasz Konicz
(SB) ­ Der alljährliche Ausblick auf
die Entwicklung der Weltwirtschaft
fiel dieses Mal noch düsterer aus als
in den Vorjahren. Auf der Frühjahrstagung des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank wurden niedriges Wachstum, hohe ArSa, 23. April 2016
früht ... Dr. Alfred Körblein im Gespräch, Teil 2 (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0211.html
INTERVIEW/212: Profit aus Zerstörungskraft - Schlußfolgerungen
verfrüht ... Dr. Alfred Körblein im
Gespräch, Teil 3 (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0212.html
INTERVIEW/213: Profit aus Zerstörungskraft - die Faust des Bösen
... Jonathan Frerichs im Gespräch
(SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0213.html
INTERVIEW/214: Profit aus Zerstörungskraft - den Finger in der
Wunde ... Dr. Ian Fairlie im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0214.html
INTERVIEW/215: Profit aus Zerstörungskraft - Augenwischerei ...
Mycle Schneider im Gespräch (SB)
http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0215.html
http://www.schattenblick.de/
infopool/umwelt/report/
umri0216.html
Tomasz Konicz
Aufstieg und Zerfall des
Deutschen Europa
Unrast Verlag, Münster 2015
192 Seiten, 14,00 Euro
ISBN 978­3­89771­591­2
beitslosigkeit und Verschuldung auf gen Stagnation, des zentralen Merkunabsehbare Zeit prognostiziert. mals der seit 2008 manifesten Krise
Auch außerhalb der die neoliberale des Kapitals, entdecken ...
Globalisierung maßgeblich vorantreibenden Weltfinanzinstitutionen
http://www.schattenblick.de/
können die Ökonomen keinen Silinfopool/buch/sachbuch/
berstreif am Horizont der langfristibusar655.html
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Seite 13
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______I n h a l t____________________________________Ausgabe 1803 / Samstag, den 23. April 2016____
POLITIK - REPORT
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DIENSTE - WETTER
Die Zwischentürkei - Sippenhaft und Bürgerkrieg ...
Die Zwischentürkei - taktische Spiele, strategische Ziele ... Martin Link im Gespräch
Wider die Konvention
Profit aus Zerstörungskraft - gebrochene Rechte ... Kerstin Rudek im Gespräch
Und morgen, den 23. April 2016
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Und morgen, den 23. April 2016
+++ Vorhersage für den 23.04.2016 bis zum 24.04.2016 +++
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Sa, 23. April 2016