Neueste tagesaktuelle Berichte ... Interviews ... Kommentare ... Meinungen .... Textbeiträge ... Dokumente ... MA-Verlag Elektronische Zeitung Schattenblick Samstag, 23. April 2016 POLITIK / REPORT Die Zwischentürkei - Sippenhaft und Bürgerkrieg ... Die Zwischentürkei - taktische Spiele, strategische Ziele ... Martin Link im Gespräch Repression an allen Fronten Erdogans Lösung der "Kurdenfrage" Administrativ weggucken Veranstaltung "Sicherer Drittstaat Türkei?" am 11. April 2016 in Kiel Veranstaltung "Sicherer Drittstaat Türkei?" am 11. April 2016 in Kiel (SB) Martin Link ist Geschäftsfüh- rer des Flüchtlingsrates SchleswigHolstein e.V. [1], ein unabhängiger Verein verschiedener Initiativen, Gruppen und Organisationen der solidarischen Flüchtlingshilfe im nördlichsten Bundesland. Am Rande der Vortrags- und Diskussionsveranstaltung zur Frage "Sicherer Drittstaat Türkei?" [2] im Kieler Landeshaus beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen zur Arbeit des Flüchtlingsrates und zu seiner Einschätzung der deutschen Flüchtlingspolitik ... (S. 4) UMWELT / REPORT Profit aus Zerstörungskraft gebrochene Rechte ... Kerstin Rudek im Gespräch 5 Jahre Leben mit Fukushima 30 Jahre Leben mit Tschernobyl Internationaler IPPNWKongreß vom 26. bis 28. Februar 2016 in der Urania, Berlin Kerstin Rudek über die niederschmetternde Fukushima-Katastrophe, die gute Zusammenarbeit der BI Umweltschutz Lüchow-Dannenberg mit der japanischen AntiAtom-Bewegung und darüber, daß der Spruch, "wir können noch viel von euch lernen", kulturspezifisch gedeutet werden muß ... (S. 8) (SB) Hinblick auf die Rechte von Flüchtlingen im Kontext des Rücknahmeabkommens zwischen der EU und (SB) Im Rahmen der Veranstaltung der türkischen Regierung vor. "Sicherer Drittstaat Türkei?" im Kieler Landeshaus hielt der Rechtsan- Cihan Ipek ist Stellvertretender Vorwalt Cihan Ipek aus Diyarbakir einen sitzender der Anwaltskammer von Vortrag zum Thema "Die Türkei als Diyarbakir, wo er seit 1988 als Zufluchtsort und als Ursache für Rechtsanwalt tätig ist. Wie er berichFluchtbewegungen". Darin ging er tet, habe er als junger Anwalt politiauf die Eskalation in den kurdischen sche Straftäter vertreten. Damals Gebieten der Südosttürkei seit Juli waren sogenannte polizeiliche Fest2015, die Rolle der Türkei im Syri- nahmezeiten von 30 Tagen üblich, enkrieg und deren Auswirkungen auf während denen die Beschuldigten die Flüchtlingsbewegungen im Land keinen einzigen Menschen von drauein. Zudem nahm er eine Bewertung ßen zu Gesicht bekamen und kein der jüngsten Gesetzesänderungen in Richter oder Staatsanwalt einge- Cihan Ipek Foto: © 2016 by Schattenblick Elektronische Zeitung Schattenblick schaltet wurde. Teilweise wurden angehörigen Türken, die Kurden exiMenschen in den Gefängnissen stieren demnach nicht. Deshalb wird schwer gefoltert. in den Schulen kein Kurdisch unterrichtet und die kurdische Geschichte Als Anwalt in der Türkei zu arbeiten, weder in der Schule noch an der Unisei noch immer mit Schwierigkeiten versität thematisiert. verbunden. So bekomme man nicht immer Zugang zu staatlichen Akten Diese Situation führte zwangsläufig und habe oft Mühe, nach Festnah- dazu, daß die Kurden für ihre Rechmen auf der Polizeistation seine te kämpften, um ihre Identität in der Rechte in Anspruch zu nehmen. Türkei durchzusetzen. Dieser Kampf Durch Reformen und Gesetzesände- wurde teils mit juristischen, parlarungen seien seit 2005 die Vorausset- mentarischen und anderen zivilen zungen der anwaltlichen Tätigkeit Mitteln, teils bewaffnet geführt. Die erheblich demokratischer und libera- 1970 gegründete und bald darauf ler geworden. Sei der Anwalt in sei- verbotene kurdische Arbeiterpartei nem Bereich kompetent, könne er in- PKK griff 1987 zu den Waffen und zwischen einiges erreichen. Dennoch bildete Einheiten, die sich in die Berstünden einer ungehinderten Arbeit ge zurückzogen. Dadurch wurden nach wie vor politisch bedingte Hin- die Kämpfe der Kurden der Weltöfdernisse im Wege. Beispielsweise sei fentlichkeit bekannt. es sehr schwierig, jesidische Flüchtlinge aus dem Nordirak, denen in Die 2001 gegründete proislamistiDiyarbakir Schutz seitens der Stadt- sche AKP stand in der Tradition ververwaltung gewährt wird, als Anwalt botener Vorgängerparteien, machte zu vertreten. Im Prinzip mache es aber eine Trennung von der islamikeinen Unterschied, ob man einen schen Wohlstandspartei geltend. Der türkischen Staatsbürger oder einen Aufstieg der AKP hängt unmittelbar Flüchtling vertritt. Würden jedoch mit der anfangs von ihr vorgehaltebestimmte Gruppen von Flüchtlin- nen Perspektive zusammen, eine ligen wie die Jesiden in ihren Rechten berale und demokratische Türkei beschränkt, seien dem Anwalt mehr samt neuer Verfassung zu schaffen oder minder die Hände gebunden. wie auch einen Beitritt zur Europäischen Union anzustreben. Nachdem die Kurden, viele andere MinderheiChronologie eines ten und auch die demokratischen Täuschungsmanövers Kräfte so lange unter dem Kemalismus und dem Einfluß der Militärs Um die Eskalation seit den Wahlen gelitten hatten, wuchs der Rückhalt vom 7. Juni 2015 zu verstehen, sei es der AKP in der Bevölkerung, da sich notwendig, auf die Vorgeschichte viele Menschen von ihr ein Ende des einzugehen, so der Referent, der sei- Jochs repressiver Staatlichkeit erne Sicht der Ereignisse im Vortrag hofften. folgendermaßen zusammenfaßte: In der Geschichte der türkischen Repu- In ihrer ersten vierjährigen Legislablik wurden die Kurden nie als eige- tur leitete die AKP tatsächlich divernes Volk anerkannt. Ihre kulturellen se Reformen und Schritte der AnnäRechte wurden mißachtet, die kurdi- herung an die EU ein. Dies begünsche Sprache sogar per Gesetz ver- stigte ihre Wiederwahl und setzte boten. In Folge zweier Militärput- sich auch in den folgenden Jahren sche in der Türkei wurden die Men- fort. Die Kurden waren damit zufrieschenrechte massiv verletzt, worauf den und hegten die Erwartung, daß insbesondere in den 80er Jahren sich ihre Situation verbessern werde. zahlreiche Menschen nach Europa Noch kämpfte die PKK in den Berflüchteten. Nach Artikel 66 der tür- gen, doch wurden seit 2013 Verhandkischen Verfassung sind alle Staats- lungen geführt, wobei Erdogan perSeite 2 www.schattenblick.de sönlich mit Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel zusammentraf. Es kam zu weiteren geheimen Treffen in Oslo wie auch teilweise öffentlichen Begegnungen mit der prokurdischen Partei HDP in der Türkei. Als eine Übereinkunft erzielt worden war, schickte PKK-Chef Öcalan aus dem Gefängnis einen Brief, der von einem Abgeordneten der HDP vor mehr als 60.000 jubelnden Menschen verlesen wurde. Die PKK rief einen Waffenstillstand aus, die türkische Regierung erklärte sich bereit, auf dem Verhandlungsweg eine politische Lösung herbeizuführen. Mit diesem Abkommen waren große Hoffnungen verbunden, zumal sich hochrangige Regierungsmitglieder vor laufenden Kameras mit Delegationen der HDP trafen und vor der Weltöffentlichkeit die vereinbarten Punkte darlegten: Freiheit für PKKKämpfer, die kurdische Sprache wird in den Schulen unterrichtet. Die PKK verzichtet auf einen unabhängigen kurdischen Staat, der sich über Regionen von vier Ländern erstreckt, und strebt statt dessen Autonomie innerhalb der Türkei an. In dieser Zeit des Waffenstillstands befand sich die türkische Wirtschaft noch im Aufschwung, in Diyarbakir eröffnete erstmals ein deutsches Unternehmen eine Filiale und eine niederländische Firma ein riesiges Einkaufszentrum. Die Menschen waren froh, weil Frieden und Demokratie greifbar nahe schienen. Im Wahlkampf des Jahres 2015 schlug jedoch die vermeintliche Annäherung sehr bald in eine feindselige Atmosphäre unter massiver Bezichtigung um. Als sich abzeichnete, daß die HDP die hohe Zehn-ProzentHürde übertreffen und damit die Dominanz der AKP erheblich schwächen würde, verschärfte sich die Hetze gegen die Kurden. Erdogan distanzierte sich von jeglichen Vereinbarungen und erklärte, es gebe keine Verhandlungen mit Terroristen. Es gebe nur einen Staat, eine Nation und eine Fahne. Ungeachtet dieser Sa, 23. April 2016 Elektronische Zeitung Schattenblick massiven Kampagne zog die HDP mit 61 Abgeordneten ins Parlament ein. Die AKP war jedoch nie bereit, mit ihr eine Koalition zu bilden, und stellte völlig inakzeptable Forderungen. Auch eine Koalition der AKP mit der kemalistisch ausgerichteten sozialdemokratischen Partei war ausgeschlossen, und dazwischen saßen die Kurden wie so oft als Sündenböcke. Unterdessen hatte sich die Situation in der Region dramatisch verändert. Der IS eroberte einen großen Teil des Iraks wie auch Teile Syriens und rief in den von ihm besetzten Gebieten den Islamischen Staat aus, der aller Welt den Krieg erklärte. Vor laufender Kamera wurden Menschen geschlachtet, und die jesidischen Kurden, die Jahrtausende ihr authentisches Leben geführt und niemandem geschadet hatten, waren im ShingalGebirge von einem Massenmord bedroht. Allen voran die PKK kämpfte einen Korridor frei und rettete so die geflohenen Menschen aus dem Gebirge. Die Kurden in Nordsyrien waren jahrzehntelang staatenlos, weil sie nach Gründung der syrischen Republik zu osmanischen Staatsbürgern erklärt worden waren. In den Wirren des Krieges gelang es ihnen, autonome und selbstverwaltete Kantone in Rojava zu gründen, die jedoch von der türkischen Regierung als große Gefahr betrachtet wurden. Sie fürchtete offenbar, daß der Demokratisierungsprozeß auf die Kurden in der Türkei übergreifen könnte. Als die Stadt Kobane vom IS angegriffen wurde und kurdische Verbände aus der Türkei zu Hilfe kommen wollten, wurde die Grenze von türkischer Seite geschlossen. Als es zu Massendemonstrationen kurdischer Oppositioneller in der Türkei kam, wurden diese unter Einsatz von Tränengas aufgelöst. Schließlich erlaubte man Kurden, aus Kobane zu fliehen, und erst sehr spät durfte sich ein kleines Kontingent der Peschmerga aus Sa, 23. April 2016 dem Nordirak an der Verteidigung flüchtlingen, die teilweise bei VerKobanes beteiligen. wandten in der Stadt unterkamen oder in ihre alten Dörfer zogen. In Als sich in Suruc junge Leute in ei- den 90er Jahren waren rund 2000 nem Kulturverein versammelten, um kurdische Dörfer zerstört worden, den Menschen in Kobane zu Hilfe zu worauf die Menschen in die Städte kommen, wurde ein Selbstmordat- und teilweise auch nach Europa flotentat verübt, bei dem 34 Menschen hen. Heute ist durchaus vorstellbar, starben und zahlreiche weitere Ver- daß eine neue Fluchtbewegung aus letzungen davontrugen. Der IS be- den Kurdengebieten in Richtung EU kannte sich zu diesem Anschlag, wo- einsetzt. Die Menschen müssen eine bei der zuvor inhaftierte Täter kurz strafrechtliche Verfolgung fürchten, vorher aus türkischer Haft entlassen weil sie vielleicht einem PKKworden war. Dabei war bekannt, daß Kämpfer ein Stück Brot gegeben hadie türkische Regierung Kämpfer für ben oder ihn in ihrer Wohnung überden IS aus Europa oder Tschetsche- nachten ließen. Die Millionenstadt nien passieren ließ. Wenig später Diyarbakir ist zwar die größte, aber wurden in einer nahegelegenen Stadt nur eine unter zahlreichen kurdizwei Polizisten offenbar von Mit- schen Städten, die von der türkischen gliedern einer Gruppierung getötet, Regierung mit Krieg und Vertreidie sich von der PKK abgespalten bung überzogen werden. hatte. Die Türkei hat im Syrienkrieg die isDaraufhin bombardierte die türki- lamistische Opposition unterstützt, sche Luftwaffe Lager der PKK im um das Assad-Regime zu stürzen. Nordirak sowie Stützpunkte des IS Die Zeiten der guten Beziehungen zu in Nordsyrien, worauf mit den An- Assad gehören der Vergangenheit an, griffen auf die kurdischen Städte im längst setzt man in Ankara auf GrupSüdosten der Türkei eine neue Form pierungen wie Al Nusra, die sich in der inneren Kriegsführung begann. Teilen dem IS angeschlossen hat. Da In den von der HDP regierten Städ- die USA und ihre Koalitionspartner ten hatten zunächst die Jugendorga- auch kurdische Einheiten unterstütnisation der PKK und dann zahlrei- zen, die von der Türkei als Terrororche weitere junge Kurden Barrika- ganisationen bezeichnet werden, den errichtet, was die Regierung zum kommt es zu gewissen Konflikten Vorwand für massive Angriffe von dieser Mächte in Syrien. Angesichts Polizei und Streitkräften nahm. Die- dieser Konstellation ist kein Ende se beschossen die Städte mit Artille- des Krieges in Sicht, so daß immer rie und drangen mit gepanzerten mehr Menschen in die Flucht getrieFahrzeugen ein. Es wurden Aus- ben werden und über die Grenze in gangssperren verhängt und ganze die Türkei gelangen wollen. Viertel zerstört. Nach den Berichten der Menschenrechtsorganisationen wurden in den Monaten der Aus- Flüchtlingsschutz in der Türkei? gangssperre in diesen Gebieten 310 zivile Einwohner, darunter 230 Kin- Wie Cihan Ipek weiter ausführte, der, von den Sicherheitskräften er- existierte in der Türkei lange Zeit mordet. [1] überhaupt kein Flüchtlingsschutz. Die Regierung unterzeichnete zwar In der Altstadt Diyarbakir-Sur, wo 1961 die Genfer Konventionen zum ursprünglich 27.000 Menschen leb- Schutz der Flüchtlinge, jedoch nur ten, wurden mehr als die Hälfte der unter diversen Vorbehalten. DemWohnungen und alle historischen nach konnten zwar europäische Denkmäler zerstört. Die Menschen Flüchtlinge in der Türkei Asyl beanflohen angesichts der Gefahr aus tragen, nicht jedoch Menschen aus dem Viertel und wurden zu Binnen- Syrien, Afghanistan, Pakistan oder www.schattenblick.de Seite 3 Elektronische Zeitung Schattenblick dem Iran. Das seit 2010 mit der EU verhandelte Rücknahmeabkommen wurde 2011 von beiden Partnern unterzeichnet, aber zunächst vom türkischen Parlament nicht ratifiziert. Vor der Ratifizierung dieses Abkommens im Jahr 2013 hatte die Türkei ihr Ausländergesetz geändert und zusätzliche vorübergehende Schutzmöglichkeiten für syrische Flüchtlinge darin festgeschrieben. Das Schutzgesetz für Flüchtlinge ist allerdings kein Asylgesetz im Sinne eines europäischen Rechtssystems, so der Referent. So müssen Flüchtlinge aus Syrien ein sogenanntes Zolltor an der Grenze passieren, wo sie registriert und ihre Fingerabdrücke genommen werden. Unter dieser Voraussetzung stehen ihnen bestimmte Rechte wie teilweise Abschiebeverbote oder Anträge, die über ein europäisches Flüchtlingshilfswerk laufen können, zu. Verfügen sie über Geld, dürfen sie sich selbst eine Wohnung suchen. Andernfalls müssen sie in eines der Lager gehen, in denen derzeit offiziellen Berichten zufolge 300.000 Flüchtlinge leben - ein Bruchteil der etwa zwei Millionen Flüchtlinge aus Syrien in der Türkei. Aufgrund eines Regierungserlasses vom Januar 2016 dürfen sie eine Arbeit annehmen, müssen sich dafür jedoch zunächst beim Ministerium eine Erlaubnis holen. Sofern sie eine Registrierungsnummer haben, können sie sich auch in den Krankenhäusern kostenlos behandeln lassen. Allerdings ist die Lage auf dem Arbeitsmarkt prekär, selbst in Diyarbakir sind einer aktuellen Umfrage zufolge 17 Prozent arbeitslos. Registrierte Flüchtlinge, die hilfsbedürftig sind, können bei einer Stiftung etwas Geld, Essen oder Sachleistungen wie Kohle in den Wintermonaten bekommen. Was die Gesetzeslage betrifft, sind unter der Voraussetzung einer Registrierung also gewisse Rechte für Flüchtlinge vorgesehen. Ob sie jedoch überhaupt eine Arbeit bekommen, angemessen bezahlt, offiziell oder schwarz beschäftigt werden, taucht in keiner Statistik auf. Diyarbakir machen. Ob sich jedoch alle Behörden an die gesetzlichen Vorgaben halten würden oder einem Ausreisewilligen vorhalten, er habe den Militärdienst nicht absolviert, er werde strafrechtlich verfolgt oder ihm irgendwelche anderen Dinge anhängen, wisse er natürlich nicht, so Cihan Ipek. (wird fortgesetzt) Anmerkung: [1] Siehe dazu: "Erdogan hetzt zum Bürgerkrieg." Ein Gespräch mit Diyarbakirs Oberbürgermeisterin Gültan Kisanak https://www.jungewelt.de/2016/0418/012.php Veranstaltung "Sicherer Drittstaat Türkei?" in Kiel im Schattenblick www.schattenblick.de → INFO POOL → POLITIK → REPORT: Noch ist zwischen EU und türkischer Regierung nicht endgültig ausgehandelt, ob eine Visafreiheit eingeführt BERICHT/234: Die Zwischentürkei wird. Sollte ein entsprechendes Ab- - nicht sicher, nicht frei ... (SB) kommen geschlossen werden, würde die Türkei zumindest offiziell keinen http://www.schattenblick.de/ Unterschied zwischen einem Türken infopool/politik/report/ in Istanbul und einem Kurden in prbe0235.html POLITIK / REPORT / INTERVIEW Die Zwischentürkei - taktische Spiele, strategische Ziele ... Martin Link im Gespräch Administrativ weggucken Veranstaltung "Sicherer Drittstaat Türkei?" am 11. April 2016 in Kiel (SB) Martin Link ist Geschäftsfüh- rer des Flüchtlingsrates SchleswigHolstein e.V. [1], ein unabhängiger Verein verschiedener Initiativen, Gruppen und Organisationen der solidarischen Flüchtlingshilfe im nördlichsten Bundesland. Am Rande der Seite 4 Vortrags- und Diskussionsveranstaltung zur Frage "Sicherer Drittstaat Türkei?" [2] im Kieler Landeshaus beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen zur Arbeit des Flüchtlingsrates und zu seiner Einschätzung der deutschen Flüchtlingspolitik. www.schattenblick.de Schattenblick (SB): Herr Link, was hat Sie dazu gebracht, diese Veranstaltung auszurichten? Martin Link (ML): Zum einen leiden wir zur Zeit unter einer introvertierten innenpolitischen Diskussion bei Sa, 23. April 2016 Elektronische Zeitung Schattenblick den Flüchtlingsthemen. So haben wir feststellen müssen, daß man sich hier kaum mit den Hintergründen, die die Flüchtlinge mitbringen, beschäftigt. Selbst die zuständige Bundesverwaltung hält es nicht für wert, zeitnah Asylverfahren umzusetzen. Statt dessen befinden sich diese Menschen bis zu zwei Jahre und länger in einem Wartestand, ohne daß sich jemand für ihre Fluchtgründe interessiert, was sie dermaßen zermürbt, daß sie lieber freiwillig in den Krieg zurückgehen, um dann mit ihrer Familie zu sterben, als hier auf eine Familienzusammenführung zu warten, die allem Anschein nach doch nicht zustandekommt. Das war eines der Szenarien, die uns umgetrieben und dazu geführt haben, mehr Aufmerksamkeit für die Situation in den Herkunftsländern der Flüchtlinge zu schaffen. Zum anderen gibt es noch einen lokalen Aspekt. Als Organisation feiern wir in diesem Jahr unser 25jähriges Bestehen. Aus diesem Anlaß wollten wir eine Veranstaltungsreihe schaffen, die sich von der rein administrativen Debatte weg mit den Flüchtlingen selbst auseinandersetzt. Zu diesem Zweck haben wir die Zusammenarbeit mit den politischen Stiftungen der verschiedenen Parteien angestrebt. Das war jetzt der Termin mit der Heinrich Böll Stiftung, aber auch mit den anderen politischen Stiftungen sind herkunftsländerorientierte Themenveranstaltungen in Vorbereitung. Anfang des Jahres haben wir mit Afghanistan angefangen und setzen die Reihe über das Jahr verteilt sukzessive fort. SB: Wie ist die Situation der hier in Schleswig-Holstein untergebrachten Flüchtlinge? ML: Die Flüchtlingssituation in Schleswig-Holstein ist relativ entspannt, zumal wir ein kleines Bundesland sind und nach dem Königsteiner Schlüssel nur eine geringe Anzahl an Flüchtlingen hierherkommt. Unsere Aufnahmekapazitäten sind Sa, 23. April 2016 längst nicht erreicht, das galt auch im vergangenen Jahr, als hier 55.000 Flüchtlinge registriert worden sind. Das bedeutet allerdings nicht, daß die 55.000 auch tatsächlich im Bundesland geblieben sind. Tatsächlich haben 43.000 einen Asylantrag gestellt und sind hiergeblieben. Auch daß im letzten Quartal 2015 ungefähr 150.000 Transitflüchtlinge durch Schleswig-Holstein nach Skandinavien weitergereist sind, hat keine negativen Spuren hinterlassen. Das heißt nicht, daß sie nur angekommen und auf die Fähre oder den Zug aufgesprungen sind. Zum Teil haben sie sich eine ganze Weile hier aufgehalten, und es hat eine rege Kooperation zwischen zivilgesellschaftlichen Organisationen, kommunalen Verwaltungen und Ordnungsbehörden gegeben, um den Transit der Flüchtlinge möglichst reibungslos geschehen zu lassen und damit den Freedom of Choice, den wir für Flüchtlinge regelmäßig einfordern, durchzusetzen, also daß die Flüchtlinge und nicht irgendwelche Behörden und Administrationen darüber entscheiden, wo sie leben wollen. Auf diese Weise konnte unsere Forderung im flüchtlingspolitisch sonnigen Herbst 2015 tatsächlich einmal Platz greifen. SB: Müssen eigentlich in Skandinavien abgelehnte Flüchtlinge hier wieder aufgenommen werden? auch in den Jemen ab, wo es bekanntermaßen genauso brennt wie in Syrien. Kirchenasyle auch in Schleswig-Holstein konnten jenen Flüchtlingen, deren Asylverfahren in Ländern wie Norwegen gescheitert und die dann von Abschiebung bedroht waren, vielfach zu einem Bleiberecht verhelfen. SB: Gestern kam es in Köln und Hamburg zu Auseinandersetzungen zwischen türkischen Nationalisten und kurdischen sowie türkischen Linken. Ist der Konflikt in der Türkei auch deshalb für die Bundesrepublik so wichtig, weil wir hier starke migrantische Communities haben, in denen sich tatsächlich beide Lager abbilden, und kriegen Sie davon etwas in Kiel mit? ML: Wir haben es hier relativ ruhig. Diese Konfliktlinien treten immer wieder auf, übrigens auch in den Flüchtlingsunterkünften. Das ist aber nichts Neues und hat es schon in den 90er Jahren gegeben, als die einzelnen Communities aus dem ehemaligen Jugoslawien auch vor dem Hintergrund ihrer politischen und zum Teil ethnischen Auseinandersetzungen hier aneinandergeraten sind. Oder man denke an die zahlreichen afrikanischen Flüchtlinge jener Jahre, die zum Teil auch verschiedenen Lagern angehörten und hier mit Schrecken feststellten, daß sie wieder mit Anhängern der Gegenseite konfrontiert wurden. Das hat natürlich zu Reibungen geführt. Es gehört allerdings zur Flüchtlingsaufnahme, daß man die Konflikte, die die Menschen aus ihrer Heimat treiben, immer ein Stück weit mit aufnimmt und sich kompetent macht, um solche Probleme gegebenenfalls auch zu managen, und zwar weit über das hinaus, was Ordnungsbehörden ansonsten im Sanktionenkatalog bereithalten, wenn sich Leute an die Gurgel gehen. ML: Ja, viele Flüchtlinge, die dort abgelehnt wurden, können gemäß der Dublin-Verordnung in das Land zurückgeschickt werden, aus dem sie nachweislich in die skandinavischen Länder eingereist waren. Sich auch dieser Menschen anzunehmen, ist eine dauernde Aufgabe für den Flüchtlingsrat und die hiesigen Initiativen und Unterstützungsorganisationen. Wir haben auch sehr viele Menschen, die zum Beispiel aus Norwegen flüchten, weil man dort Flüchtlinge in den Irak oder nach Afghanistan abschiebt, womit man hier erst Im Zweifel ist das natürlich auch jetzt anfangen will. Norwegen macht notwendig, aber im Grunde genomdas schon sehr lange und schiebt men ist Flüchtlingsaufnahmepolitik www.schattenblick.de Seite 5 Elektronische Zeitung Schattenblick im gewissen Sinne auch Moderation. Wenn es gelingt, daß sich Flüchtlinge hier aufgenommen fühlen und einen dauerhaften bzw. vorübergehenden mittelfristigen Aufenthalt haben, werden sie auf jeden Fall aus dieser Zeit des Exils sowohl politisch als auch individuell gestärkt hervorgehen, falls sie später entweder aus eigener Überzeugung oder aus anderen Gründen wieder zurückgehen. Sie sind dann in einer ganz anderen Situation und können gegebenenfalls auch als Botschafter des Landes auftreten, in dem sie Exil und Schutz zugesprochen bekamen und möglicherweise auch Bildungspakete genießen konnten, um dann eine andere Perspektive und Zukunft für sich und ihre Familien zu entwickeln, wenn Bedingungen in ihrer Heimat herrschen, die eine Rückkehr möglich machen. Dies gilt natürlich immer nur, wenn das Land wieder befriedet ist oder die entsprechenden Verfolgungstatbestände dort nicht mehr grassieren. Daher ist es notwendig, daß wir die Diskussion hier anders führen, als von Flüchtlingen auszugehen, die auf Dauer bei uns bleiben, und solchen, die keine Bleibeperspektive haben. Ein Umdenken ist schon deswegen nötig, weil Flüchtlinge nicht per se dauerhaft hier bleiben, sondern selber entscheiden, wo sie leben wollen. Das hat sehr viel damit zu tun, wie sie sich hier aufgenommen fühlen, und natürlich auch mit der Situation in ihren Heimatländern. Mitunter entscheiden sie sich auch für Communities in Drittländern aufgrund von familiären Verbindungen, die oft viel wichtiger sind als die politischen Rahmenbedingungen in den Gastländern. Wir müssen begreifen, daß Flüchtlingsaufnahme immer so etwas wie ein Durchlauferhitzer ist, wo Menschen zur Ruhe kommen und aufatmen können, um ihre mittelfristige Perspektive entweder über eine Weiterwanderung oder eine Rückkehr nochmals neu zu formatieren. Sich für eine solche Grundhaltung stark zu machen, gehört mit hinein in Seite 6 eine demokratische Flüchtlingsauf- Flüchtlinge aus solchen Ländern kanahmepolitik und auch solidarische men, hingegen wurden Fluchthelfer Flüchtlingshilfe. mit Orden behängt, wenn sie Flüchtlingen über den Eisernen Vorhang In der augenblicklichen Diskussion, halfen. Diese Doppelmoral war die massiv unter dem Druck der Stra- schon immer gegeben und existiert ße steht, wird dies in der politischen auch heute in der flüchtlingspolitiKlasse scheinbar nicht als beden- schen Debatte wieder. kenswert angesehen. Statt dessen wird nach Schema F schwarz-weiß Natürlich sind alle heilfroh, daß die über den Löffel balbiert und aufge- sogenannte Balkanroute geschlossen teilt in diejenigen, die angeblich ei- wurde, und ebenso dankbar ist man ne gute Bleibeperspektive besitzen, im Grunde genommen dafür, daß und solche, denen eine gute Bleibe- das, was bei Dublin 2 und 3 schon perspektive nicht zugestanden wer- angelegt war, nämlich die Ränder den soll. Europas, vor allem Griechenland, für die Flüchtlingsaufnahme verantSB: Als Bundeskanzlerin Angela wortlich zu machen, jetzt nochmal Merkel betonte, daß wir das schaf- eskaliert werden konnte. Ich denke, fen, und sich nicht auf die Nennung das Flüchtlingsabkommen, das mit von Obergrenzen einlassen wollte, der Türkei durchgesprochen wird, ging es wohl in einem gewissen Aus- könnte ein Präzedenzfall dafür wermaß auch darum, daß die Bundesre- den, daß nicht mehr nur die Ränder publik als Führungsmacht der EU Europas, sondern auch die europäipolitische Gestaltungskraft rekla- schen Vorposten auf diesen Zweck mierte, wenn sie das Flüchtlingspro- verpflichtet werden. Außerdem verblem positiv und nicht restriktiv an- handelt die EU noch mit den Hergeht. Jetzt hat sich das Ganze dahin- kunftsländern über Rücknahmeabgehend verlagert, daß die EU-Au- kommen. Wir werden sehen, daß das ßengrenzen dichtgemacht werden in Marokko, Algerien und Tunesien und man sich erleichtert zeigt, daß die gleichen Ergebnisse zeitigen weniger Leute hier ankommen. Wie wird, nämlich daß auch dort beurteilen Sie diese Politik auch in Brückenköpfe geschaffen werden, Hinsicht auf Ihre Arbeit? die im wesentlichen die Funktion erfüllen, die Flüchtlinge außenvor zu ML: Nun, das ist eine Alibipolitik, lassen. Diese Art der Politik hat jahdie in der Flüchtlingspolitik immer relang auch in Libyen mit dem Gadschon angelegt war. Selbst die Schaf- dafi-Regime sehr gut funktioniert, fung des Asylgrundrechts war im nur daß sich Europa gegen die USwesentlichen dadurch motiviert, die amerikanischen Avancen, dort einen Flüchtlinge aus kommunistischen Regime Change zu erzwingen, nicht Staaten hier aufzunehmen und damit durchsetzen konnte, und jetzt alle, im Grunde genommen die antikom- nur die Amerikaner nicht, mit dem munistische Strategie im Kalten Debakel leben müssen. Krieg auf eine Verfassungsgrundlage zu stellen. Damit hatte man natür- SB: Es wurde ja angekündigt, daß lich nicht die Flüchtlinge im Blick, mit Libyen eine Neuauflage dieses die bald danach zum Beispiel aus den Paktes geschaffen werden soll. faschistischen europäischen Regimen oder aus Lateinamerika ins Aus- ML: Ganz genau. Deswegen ist das, land getrieben worden sind. Entspre- was wir mit der Türkei erleben, chend restriktiv war dann auch die nichts Neues, sondern alter Wein in Flüchtlingsaufnahmepolitik gegen- neuen Schläuchen, der jetzt noch über diesen Flüchtlingen. Ebenso weiter verteilt wird. Die flüchtlingswurde eine Kriminalisierung von politische Debatte hier ist selbstverFluchthilfe intensiv betrieben, wenn ständlich ganz scheinheilig. So war www.schattenblick.de Sa, 23. April 2016 Elektronische Zeitung Schattenblick die Aufnahme im Herbst 2015 mit dem Kalkül versehen, daß sich die nach Deutschland kommenden Flüchtlinge zu großen Teilen im Transit bewegen, was ja auch stimmt. Daß 300.000 bis 400.000 Flüchtlinge, die in jenen Monaten nach Deutschland eingereist waren, jetzt nicht mehr auffindbar sind, ist nicht weiter verwunderlich, weil sie weitergewandert sind. Die Bundesregierung hatte damals angenommen, daß die Flüchtlingsbewegungen diffundieren und jeder europäische Staat so seinen Teil übernehmen wird. Zudem sollte eine brenzlige Situation entschärft werden, die möglicherweise in Ungarn dazu geführt hätte, daß Ordnungskräfte auf Flüchtlinge schießen. Man fürchtete in der Tat eine gewalttätige Eskalation und war daher bereit, das kleinere Übel in Kauf zu nehmen und die Flüchtlinge relativ unsortiert über Europa zu verteilen. Nur hat man sich damit verkalkuliert. SB: Das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei betrifft auch Griechenland. Im Sommer letzten Jahres befand sich die Tsipras-Regierung in einer wichtigen europapolitischen Position, und man konnte den Eindruck bekommen, daß man ihr mit der Flüchtlingsproblematik kein Druckmittel an die Hand geben wollte. Wie werten Sie es, daß Griechenland nun zu einer Art Außenlager der EU verkommt? ML: Griechenland hat sich weder unter der alten noch unter der neuen Regierung jemals gut um die Flüchtlinge gekümmert. Die Illegalität von Flüchtlingen war geradezu ein Massenphänomen in Griechenland und ging so weit, daß selbst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gefordert hat, daß keine DublinFlüchtlinge mehr dorthin zurückgeschickt werden dürfen, weil sie weder einen Asylzugang, der nach europäischem Recht vorgeschrieben ist, noch eine soziale Versorgung haben, die zumutbar wäre und humanitären Gesichtspunkten genügt. Daß Sa, 23. April 2016 Griechenland eine sehr flüchtlingsunfreundliche Politik betreibt, ist kein Ergebnis der sogenannten griechischen Krise. Wir haben mit Interesse festgestellt, daß auch die Aufnahmepolitik und Flüchtlingshilfe, die sich auf den Inseln etabliert hat, in ganz großen Teilen bürgerschaftlich organisiert ist. Dort sind viele internationale und auch einheimische Leute tätig, die sich entsprechend engagieren - der Staat ist fern. Daß der griechische Staat jetzt im Zuge des Türkei-EU-Abkommens, in dem vorgesehen ist, daß die Flüchtlinge in Griechenland registriert werden und in geschlossene Internierungslager kommen, aus denen sie dann wieder in die Türkei zurückgeschickt werden, verstärkt in die Flüchtlingsregulation eingebunden wird, ist eine Politik des Teilens und Herrschens, an der sich Griechenland beteiligt. Dem Abkommen zufolge definiert die Zahl der zurückgeschickten syrischen Flüchtlinge die Zahl jener Syrer, die von den europäischen Staaten sukzessive aufgenommen werden sollen. Das betrifft aber nicht jene Syrer, die vergeblich versucht haben, nach Europa zu kommen. Wir bedauern schon seit vielen Jahren, daß Griechenland sehr restriktiv gegenüber Flüchtlingen agiert. Selbst als von der Schließung der Balkanroute noch nicht die Rede war und Flüchtlinge in dieser relativ kurzen Zeit weitgehend ungehindert über den Balkan wandern konnten, war es für sie lebensgefährlich gewesen, aus Griechenland weiterzureisen. Mitunter haben sich Flüchtlinge unter einen LKW geklemmt. Das Weiterziehen der Flüchtlinge ist zuweilen mit viel Gewalt unterbunden worden, vor allem, wenn Besuche von europäischen Staatsgästen in Athen angekündigt waren. Ansonsten hat man die Leute einfach sich selbst überlassen und zugesehen, wie sie ihr Überleben mit karitativer Hilfe und zivilgesellschaftlichen Unterstützungsangeboten fristen. www.schattenblick.de SB: Herr Link, vielen Dank für das Interview. Anmerkung: [1] http://www.frsh.de/fluechtlingsrat/ueber-uns/ [2] BERICHT/234: Die Zwischentürkei - nicht sicher, nicht frei ... (SB) http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0234.html http://www.schattenblick.de/ infopool/politik/report/ prin0312.html SCHACH - SPHINX Wider die Konvention (SB) Wenn das Gebräuchliche den freien Atem beengt, die Schritte wie durch Morast sich schleppen, wenn der Kopf zur Abstellkammer wird und nicht mehr Schmiede neuer Gedanken ist, wenn das Herz vor Langeweile stöhnt und der Biedersinn die Schöpferkraft zum Versiegen bringt, wenn also der Mensch nur noch an der Welt der Schatten Gefallen findet, dann hilft im Sinne der höchsten Wut nur noch eine Attacke auf die Konvention. Die Geschichte der Menschen verläuft auf zwei Pfaden. Der eine ist kurz und führt rasch und dornenfrei zum Erfolg der Mittelmäßigkeit. Viele sind es, die ihn gehen. Der andere kennt nur Unrast und kämpferische Augenblicke der Orientierungslosigkeit. Man täusche sich nicht, das, was dem strebenden Menschen als Erfolg begegnet, war nie das Ziel, zu dem er einst aufgebrochen war. So ist der Erfolg die hinterhältigste Leimrute für das Streben nach Überwindung der Grenzen. Man besinne sich auf die Worte des aus der Oberpfalz stammenden Komponisten und Opernreformers Christoph Willibad Gluck, Seite 7 Elektronische Zeitung Schattenblick der vor mehr als 200 Jahren die aufgesetzte Künstlichkeit des vorherrschend italienischen Opernstils durch eine auf Text und Handlung hinzielende Musik ersetzte: "Der Stil, den ich einzuführen versuche, scheint mir, der Kunst ihre Würde zurückzugeben." Sein Streit gegen die "kalten Schönheiten der Konvention" wirkte sich hundert Jahre später revolutionierend auf Wagners Musikdramen aus. Auch im Schach hat es solche Umstürzler des guten und zeitgemäßen Geschmacks gegeben. Der englische Großmeister Tony Miles ist solch ein Sonderling, dem nichts so verhaßt ist wie die abgeschmackte Gewöhnlichkeit. Man erinnere sich an seine Partie gegen den FIDE- Weltmeister Anatoli Karpow, in der er auf 1.e2-e4 mit 1...a7a6 konterte. Im heutigen Rätsel der Sphinx fand er auch in bedrückter Lage mit den weißen Steinen den schillernden Weg zum Sieg. Zunächst mußte er sich um seine Dame kümmern und gleichzeitig der Drohung Lf6xc3 begegnen. Also, Wanderer, zwei Aufgaben und ein Mattweg. Wie reimt sich das zusammen? Miles Pritchett London 1982 Auflösung letztes SphinxRätsel: UMWELT / REPORT / INTERVIEW Profit aus Zerstörungskraft - gebrochene Rechte ... Kerstin Rudek im Gespräch 5 Jahre Leben mit Fukushima 30 Jahre Leben mit Tschernobyl Internationaler IPPNWKongreß vom 26. bis 28. Februar 2016 in der Urania, Berlin Kerstin Rudek über die niederschmetternde Fukushima-Katastrophe, die gute Zusammenarbeit der BI Umweltschutz Lüchow-Dannenberg mit der japanischen Anti-Atom-Bewegung und darüber, daß der Spruch, "wir können noch viel von euch lernen", kulturspezifisch gedeutet werden muß ... Kerstin Rudek ist bereits seit vielen Jahren in der Anti-Atom-Bewegung aktiv. Heute ist sie im Beirat der Bürgerinitiative (BI) Umweltschutz Lüchow-Dannenberg, ehrenamtlich wie alle anderen Vorstandsmitglieder auch. Angefangen hatte sie bei der BI 1998 im Büro, mußte zwei Jahre daraufeine Auszeit nehmen, um sich um ihre Familie zu kümmern. 2007 ging sie in den Vorstand der BI und hatte dort den Vorsitz inne. Um nach fünf Jahren einen Wechsel an der Spitze zu ermöglichen und selber etwas Neues zu machen, hat sie 2012 den Vorstandsvorsitz an jemand anderen abgetreten und sich als parteilose Kandidatin aufder Liste der Linken als umweltpolitische Sprecherin für den Niedersächsischen Landtag aufstellen lassen. Mit nur 3,2 Prozent war die Linke jedoch deutlich an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert. 2014 wurde die Mutter von sechs Kindern erneut in den Vorstand der BI gewählt und übt dort die Funktion einer Sprecherin für internationale Angelegenheiten aus. (SB) Der simple Zug 1.Th2-f2 in Zusammenhang mit der Mattdrohung e6e7# brach der schwarzen Stellung trotz Mehrfigur das Rückgrat. Miles versuchte noch, mittels 1...Lh5-f3 2.De5-f6 Dc6-c7 3.Tf2xf3 Tc8-d8 seinen Hals aus der Schlinge zu ziehen. Allein, nach 4.e6-e7+ Dc7xe7 5.Df6-h8# war der Traum von einem Am Rande des Internationalen Entkommen ausgeträumt. IPPNW-Kongresses, der vom 26. bis 28. Februar 2016 in Berlin stattfand, http://www.schattenblick.de/ hatte der Schattenblick die Gelegeninfopool/schach/schach/ heit, mit Kerstin Rudek ein Interview sph05814.html zu führen. Seite 8 www.schattenblick.de Kerstin Rudek, Demonstration am 14.06.2014 in Hannover für die so fortige Stilllegung des AKW Grohnde Foto: Andreas Conradt / PubliX viewinG, freigegeben als CC BYND Schattenblick (SB): Die Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg kämpft seit Jahrzehnten gegen die Atomindustrie. Du bist dort für internationale Angelegenheiten zuständig und dadurch mit Fukushima befaßt. Wie kam es dazu? Kerstin Rudek (KR): Die Reaktorkatastrophe von Fukushima hatte mich zunächst unheimlich niedergeschmettert, das war eine schlimme Erfahrung. Ich hatte die letzten 25 Jahre meines Lebens neben meinem privaten Leben und dem Großziehen der Kinder alle Zeit, Kraft und auch sehr viel Geld in die Anti-Atom-Arbeit gesteckt. Als dann das Akw Fukushima explodiert ist und sich der Sa, 23. April 2016 Elektronische Zeitung Schattenblick radioaktive Fallout ausgebreitet hat, be ich das abgelehnt. Wir waren habe ich eine schwere Krise gehabt. nicht vorbereitet und hatten keine Ahnung, was uns dort erwartet hätte. Mit Japan hatte ich bis dahin nichts Daraufhin haben die beiden ihren zu tun. Doch im Mai 2011 war eine Plan fallen gelassen. japanische Delegation in Deutschland unterwegs, um verschiedene Dennoch hatte ich mir vorgenomSchauplätze von Widerstands- und men, mir Fukushima selber anzuProtestbewegungen zu besuchen. schauen, weniger das Akw FukushiDie Delegation befand sich gerade ma und seine Umgebung, sondern auf dem Weg von Braunschweig ich wollte dort die Menschen treffen, nach Berlin, als ihr Termin kurzfri- weil ich festgestellt habe, daß es stig abgesagt wurde. Daraufhin wur- einen großen Unterschied macht, ob de unsere BI angerufen und wir wur- man etwas zu einer Sache liest und den gefragt, ob sie einen Abstecher sich darüber informiert oder ob man zu uns machen könnten. Wir haben die Menschen direkt trifft und sich uns spontan Zeit dafür genommen. mit ihnen austauscht. Aus dieser Begegnung ist dann ein sehr schöner Kontakt entstanden. Im Januar 2012 sind wir zu dritt aus der BI nach Japan gereist und haben an einer internationalen Konferenz für eine Zukunft ohne Atomkraft teilgenommen. Das war in der Stadt Yokohama, die liegt 40 Kilometer von Tokio entfernt, und es waren 11.500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer gekommen. Die gesamte Reise dauerte zwar nur vier Tage, aber in der Zeit haben wir eine Reihe von Kontakten geknüpft, beispielsweise zu den Müttern von Fukushima, zum Club demokratischer Frauen, zur Eisenbahnergewerkschaft Doro-Chiba, zum großen Anti-Atom-Netzwerk NAZEN (Nationalkonferenz für die sofortige Abschaltung aller Atomkraftwerke) und einigen weiteren Akteuren. Noch im selben Jahr bin ich mit einer anderen Delegation für die BI nach Japan geflogen und war dann auch in Fukushima. Dort haben wir die vom Tsunami zerstörten Gebiete besucht und waren in Gebieten, die außerhalb der Evakuierungszone liegen, aber dennoch als verstrahlt galten, wenngleich nicht sehr stark verstrahlt. Dort haben wir mit einem einfachen Geigerzähler Messungen durchgeführt, nicht zuletzt zur eigenen Dokumentation. Wir hatten auch Schutzkleidung und Masken dabei, haben uns aber nicht lange dort aufgehalten. ma. Auch besuche ich viele Orte, an denen protestiert wird und in deren Nähe sich Strahlenquellen befinden. Ich versuche durchaus, die Belastung für mich in Grenzen zu halten. Strahlung macht Krebs, das wissen wir. SB: Wobei zumindest die nach außen abgegebene Strahlung von Gorleben um mehrere Größenordnungen unter der von Fukushima liegt. KR: Ja, selbstverständlich, da sprechen wir über eine ganz andere Ebene. In Fukushima ist es tatsächlich so, daß da eine riesige Katastrophe stattgefunden hat und die Menschen fast alle traumatisiert sind. Gerade Eltern fragen sich sehr häufig, wo die Grenze ist, ab der sie einfach alles stehen und liegen lassen und weggehen, um nicht das Krebsrisiko ihrer Kinder zu erhöhen, auch wenn das bedeuten würde, daß sie dann verschuldet sind. Es ist wirklich ein Dilemma, daß die Menschen in den verstrahlten Gebieten überhaupt nicht annähernd ausreichend Entschädigung von der Betreibergesellschaft Tepco und der Regierung erhalten haben. Der Unfall wird sogar verharmlost und die Menschen, die sich kritisch äußern, werden unter Druck gesetzt, sei es durch Geheimdienste und Polizei, die Entlassung vom Arbeitsplatz oder allgemein durch eine Diskriminierung gesellschaftlicher Art. Da gibt es viele Möglichkeiten, wie man leicht den Verstand verlieren kann, wenn man merkt: Es genügt, daß man einfach nur mal sagen muß, worunter man leidet und daß man es gern anders hätte, und schon löst man dadurch starke Repressionen gegen sich aus. Für die psychische Gesundheit braucht man auch Sozialkontakte, und in Japan fällt man leicht hinten runter, wenn man sich eben nicht so benimmt, wie die Gesellschaft es von einem erwartet. SB: Hier in Deutschland hat man den Eindruck, daß die japanische Präfektur Fukushima weitgehend verstrahlt ist. Auch von Tokio wurde schon mal eine erhöhte Strahlung gemeldet. Hattest du nicht Sorge, nach Japan zu reisen? Das war schon ein komisches Gefühl, geradezu gruselig. Denn wir hatten natürlich keine Gewißheit, ob wir nicht doch radioaktive Partikel inkorporiert hatten oder was eigentlich mit den Schuhen ist, die wir anschließend wieder mit nach Hause schleppen. Ich habe mir dann nochmal klar gemacht: Die Menschen leben hier jeden Tag. Die müssen es da die ganze Zeit aushalten und dabei diese Ängste ertragen. Mein Risiko ist dagegen vergleichsweise klein. KR: Bei dieser ersten Reise war ich gar nicht in der Region Fukushima gewesen, sondern nur in Tokio und Umgebung. Die Radioaktivität hat für mich eine Rolle gespielt. Als die beiden anderen aus der BI vorschlugen, nach Fukushima zu fahren, ha- Ich wohne selber in der direkten Umgebung von Gorleben. Das sind nur ungefähr vier Kilometer Luftlinie bis zu dem Zwischenlager, in dem 113 Castor-Behälter stehen, die hochgra- SB: Ein persönliches Gespräch ist oft dig radioaktiv sind. Für mich ist etwas vertraulicher, als wenn die Strahlung sowieso immer ein The- Menschen mit der Presse oder den Sa, 23. April 2016 www.schattenblick.de Seite 9 Elektronische Zeitung Schattenblick Behörden sprechen. Hattest du die Gelegenheit, in Japan auch mit Menschen zu sprechen und zu erfahren, was sie ganz persönlich zu sagen haben? KR: Das war für mich sogar am spannendsten. Also wirklich zu schauen, wie es den Müttern dort geht. Worunter leiden die Väter? Wie ist es für ältere Menschen, die in einer Notunterkunft leben? Wir haben wahnsinnig wenig geschlafen und uns fast permanent mit Menschen getroffen. Einige Gespräche haben wir auch auf Video aufgezeichnet, um sie zu dokumentieren. Denn neben der Angst vor Krankheiten in Folge der Strahlung und der Angst um ihre Familien ist die Angst, vergessen zu werden, sehr groß. Das ist die Angst, daß der Rest der Welt zur Tagesordnung übergeht, überall das Leben weiter seinen Lauf nimmt, nur eben das eigene nicht. Manche Gespräche waren schwer zu ertragen, denn wir wußten, daß wir uns in einigen Tagen wieder ins Flugzeug setzen und nach Hause fliegen würden. Eine Eigenheit der japanischen Menschen ist es, zu höflich und zu freundlich zu sein. Wo hierzulande jemand auf jeden Fall mit einem Nein antworten würde, da würde man dort als Antwort geben: Es wäre eine Möglichkeit. Doch hat die japanische Gesellschaft in den letzten fünf Jahren eine Entwicklung hinter sich, bei der zumindest einige Menschen auch sagen, daß für sie etwas nicht in Ordnung ist und sie von der Regierung und dem AkwBetreiber in eine schwierige Lage gebracht worden sind. Beispielsweise hatten wir Kontakt zu einer Familie, die ursprünglich knapp außerhalb der erweiterten Evakuierungszone lebte. Deren Radius war zeitweilig von 20 auf 30 Kilometer ausgedehnt worden, wurde dann aber wieder auf 20 Kilometer zurückgenommen. Die Radioaktivitätsfahne des Fallouts hat sich Seite 10 natürlich nicht an den 30-KilometerRadius gehalten, sondern es gab bzw. gibt innerhalb dieser Zone Gebiete, die überhaupt nicht verstrahlt sind, und es gibt außerhalb Gebiete, die sehr verstrahlt sind. An so einem Ort wohnte die Familie und hat keine angemessene Entschädigung angeboten bekommen. Ihr wurde gesagt, sie solle dort wohnen bleiben. Obwohl doch nachgewiesen worden war, wie hoch die Strahlung dort war! weggezogen, nach zwei, drei Wochen ist ihr der Mann gefolgt. Auch das Dorf, in dessen Nähe sie gelebt haben, war verlassen. Ich versuche mir immer selber vorzustellen, ob ich ohne Ersparnisse und Rücklagen Gorleben verlassen würde, wenn dort zum Beispiel ein Anschlag begangen würde und anschließend alles verstrahlt wäre. Ich nehme an, ich würde weggehen. Aber wenn dann, wie in Japan, die Regierung sagt, man sei dort sicher, SB: Würdest du sagen, daß die aus- wo man wohne, stellt sich schon die gewiesene Schutzzone im wesentli- Frage, wie man sich in so einer Sichen ein politischer Begriff war und tuation verhält. sich die Behörden damit nicht am notwendigen Schutz der Gesundheit SB: Was ist aus der Familie geworder Menschen orientiert haben? den? KR: Auf jeden Fall. Eine Kategorie wie, "wir ziehen jetzt mal einen Kreis um die Unglücksstelle", hat nichts damit zu tun, wo etwas wirklich verstrahlt ist und wo nicht. Jenes japanische Ehepaar hatte mit seinen drei jugendlichen bis erwachsenen Kindern in einem wunderschönen Haus gewohnt, das es selber auf einem Grundstück errichtet hatte, das von ihm erstmal urbar gemacht werden mußte. Dort haben die beiden sich eine Kaffeerösterei mit zwei Anlagen aufgebaut, in denen sie importierten Biokaffee geröstet haben. Sie haben sich also etwas aufgebaut, von dem sie leben konnten, auch wenn sie nicht wohlhabend waren. KR: Wir haben sie zu einem Zeitpunkt getroffen, an dem sie sich in der Nähe von Fukushima-Stadt ein Haus gemietet, ein kleines Café und wieder eine Rösterei, doch diesmal sehr viel kleiner, aufgebaut hatten. Sie haben sich eine Existenzgrundlage geschaffen und waren froh über ihre Entscheidung, weggegangen zu sein. Nun verklagen sie sowohl Tepco als auch die Regierung auf Schadenersatz. Man hatte ihnen zwar eine kleine Entschädigung angeboten, aber nur in Höhe von umgerechnet einigen tausend Euro. Das hätte nie und nimmer gereicht, um sich eine gänzlich neue Existenz aufzubauen. Sie haben das Geld nicht angenommen und statt dessen geklagt. Sie wollen die Summe, die Durch die Reaktorkatastrophe war ihr Besitz an Wert hatte, als Entalles verstrahlt worden. Aber wie schädigung. Dafür streiten sie vor gesagt, sie lebten nicht innerhalb der Gericht. Zone, in denen die Einwohner Unterstützung bekommen haben oder Das war natürlich gesellschaftlich evakuiert worden wären. Also stan- sehr verpönt. Von vielen Seiten den sie ganz allein da. Unmittelbar wurde ihnen gesagt, daß doch jetzt nach Ausbruch der Katastrophe wa- alle die Lasten dieses Unglücks traren sie bei befreundeten Familien gen müßten. Darauf hat die Familie untergekommen. Doch dann stellte stets den Standpunkt vertreten: sich irgendwann die Frage, ob sie al- Nein, das Unglück war nicht unsere les aufgeben sollten - mit der klaren Schuld, wir wollen, daß diejenigen Aussicht, daß sie keine Entschädi- dafür bezahlen, die das auch verurgung für ihre Verluste erhalten. Zu- sacht haben, und das sind der Benächst ist die Frau mit den Kindern treiber und die Regierung. www.schattenblick.de Sa, 23. April 2016 Elektronische Zeitung Schattenblick SB: Wie sieht die Zusammenarbeit eurer BI mit den Fukushima-Betroffenen aus? KR: Zunächst einmal unterhalten wir nach wie vor enge, gute und kontinuierliche Kontakte zu jenen Gruppen in Japan, die ich vorhin erwähnt habe. Jeden Montag findet in Dannenberg auf dem Marktplatz eine Mahnwache statt, zu der regelmäßig 20 bis 30 Personen kommen. Da tragen wir die Infos aus Japan rein und reden, was im Wendland und in der BRD allgemein an Anti-Atom-Aktionen oder Diskussionen läuft. Das tragen wir dann wieder als Infos nach Japan. Wir informieren uns gegenseitig, wie sich die Bewegung weiterentwickelt. In solchen Notunterkünften lebt noch heute ein Teil der rund 160.000 Eva kuierten aus der Präfektur Fukushima. Foto: OekoInstitut e.V, freigegeben als CC BYSA 2.0 [https://creative commons.org/licenses/bysa/2.0/] via Flickr SB: Wie gehen die alten Leute, die evakuiert wurden, mit ihrem erzwungenen Umzug um? KR: Die leben teilweise noch heute in Notunterkünften. Das sind Holzhäuser einfachster Art, wenig isoliert und in Reihe gebaut, immer acht nebeneinander. Insgesamt sind es, wo wir waren, 80 Häuser. Darin leben jetzt Menschen, die zwischen 60 und 90 Jahre alt sind, teilweise alleine, ohne Hoffnung. Sie wissen nicht, ob sie jemals nach Hause kommen. Sie würden gerne zurückkehren, aber sie wollen natürlich auch nicht in einem verlassenen Dorf leben, wo niemand mehr ist, und ebenfalls wollen sie sich nicht der Strahlung aussetzen. Diese Menschen zu treffen war ziemlich schrecklich, weil wir ihnen gar nichts geben und ihnen keinen Mut machen konnten. SB: Schließen sich die Leute in den Notunterkünften zusammen oder handelt es sich um einzelne HolzSa, 23. April 2016 Außerdem haben wir von Anfang an häuser, in denen die Menschen eben die Fukushima-Kinderklinik unterauch vereinzeln? stützt. In Japan werden die Kinder nur alle zwei Jahre auf eine SchildKR: Die wohnen schon alleine, ha- drüsenveränderung hin untersucht. ben aber ein Gemeinschaftshaus, in Die Eltern sind aber zu Recht sehr dem sie auch zusammen essen kön- besorgt. Eine Ultraschalluntersunen. Dort gibt es manchmal gemein- chung sollte wenigstens dreimal pro same Aktivitäten. Einmal fand dort Jahr gemacht werden. Die ist nicht eine kleine Aufführung statt. Da kam belastend, da gibt es keine Nachteiein Theaterspieler, der auch Musik le, die man befürchten muß. Es fehlt machte und pantomimisch Ge- zwar auch an Untersuchungskapazischichten erzählt hat. Einige Leute täten, aber vor allem fehlt es am Wilhaben sehr gelacht. Aber man hat len. Die Universitätsklinik in Fukusdoch den Widerspruch gemerkt. hima lehnt es ab, die Untersuchung Denn nach den fröhlichen zwei Stun- öfter zu machen als alle zwei Jahre. den waren die Alten wieder allein In der Kinderklinik dagegen können und wurden ihrem Schicksal überlas- eigene Untersuchungen durchgeführt sen. Da war eine tiefe Traurigkeit zu werden, deshalb unterstützen wir sie. merken. Das waren Menschen, die Wir sammeln Spenden und machen haben vorher selbstbestimmt gelebt, Veranstaltungen, wo wir dann ebenhatten ein Haus mit Garten, vielleicht falls Spenden sammeln. noch einen Hund oder eine Katze, und Nachbarn, die sie kannten. Das Ende August kommt wieder eine Dewar eine ganz andere Form von Le- legation aus Japan nach Deutschben. Das alles haben sie verloren. land. Dann werden wir gemeinsam andere Gruppen besuchen und die Zum großen Teil haben die Alten Kontakte intensivieren. Wir arbeiten auch abgebaut. Nach ein, zwei Mo- gemeinsam daran, den weltweiten naten in den Notunterkünften haben Atomausstieg zu forcieren und darsie jegliche Hoffnung verloren und an mitzuwirken, daß eben nicht noch sind teilweise pflegebedürftig ge- eine Reaktorkatastrophe passiert. worden. Das wurde uns von einem Wir wollen gemeinsam Menschen Arzt berichtet, der die Alten schon überzeugen, sich dafür einzusetzen, aus der Zeit von vor der Evakuierung daß es wichtig ist, sofort aus der kannte. Atomkraft auszusteigen. www.schattenblick.de Seite 11 Elektronische Zeitung Schattenblick SB: Kann es sein, daß es Japanern manchmal leichter fällt, sich mit ausländischen Besuchern über einige ihrer Probleme auszutauschen, weil es untereinander Tabus gibt? stützen, einfach im Gespräch zu sein, zu reflektieren, einander Tips zu geben und eben gemeinsam an einem weltweiten Atomausstieg zu stricken. Die Solidarität aus Japan ist da wirklich ein ganz probates KR: Das könnte eine Rolle spielen. Mittel. Jedenfalls haben sie ein reges Interesse, daß man auch in Deutschland SB: Hast du eine Rückmeldung darüber die Probleme durch Fukushi- über erhalten, was die Japaner vielma berichtet. Dort ist es für die An- leicht von euch gelernt haben? ti-Akw-Bewegung schwierig, in den Medien Gehör zu finden. Zum KR: (lacht) Da könnte ich lustige Beispiel gehören viele Fernsehsen- Geschichten erzählen! Es geht dader den Energieriesen. Da gibt es bei konkret um jenen Satz "wir könkeine unabhängige Berichterstat- nen noch viel von euch lernen". Ich tung. Die Presse ist nicht frei. Viel- bin davon überzeugt, der hat in Jaleicht ist das ein Grund, weswegen pan eine andere Bedeutung als bei bei ihnen so schnell der Gedanke uns. Bei unserer zweiten Reise haeiner länderübergreifenden Vernet- ben wir passend zum Gedenktag im zung entstanden ist. Sie wollten August in Hiroshima an den Dewissen, welche Probleme wir ha- monstrationen gegen den Atomben, welche Rolle wir im weltwei- bombenabwurf teilgenommen. Auf ten Kontext der Atomkraft spielen dem Rückweg von Hiroshima kaund was sie von uns lernen können. men wir an der Insel Iwaishima vorLetzteres ist ein Satz, den wir dort bei, deren Bewohner sich seit über sehr oft gehört haben. Wir haben dreißig Jahren erfolgreich gegen darauf immer geantwortet, daß wir den Bau eines Atomkraftwerks auf gar nicht in ihr Land gekommen sind, damit sie von uns lernen, sondern damit wir voneinander lernen können. Sie nähmen eigentlich für uns eine Vorbildfunktion ein, wie sie mit der Strahlung umgehen und würden gerne auch von ihnen etwas mitnehmen. te da ein Lautsprecher los, natürlich auf Japanisch: "Bitte betreten Sie nicht das Gelände! Verlassen Sie sofort das Gelände! Sie befinden sich aufAkw-Gelände!" Unsere Übersetzer wollten schon wieder gehen, doch da waren keine Wachleute, und so haben wir gesagt: "Wißt ihr was, Leute, wir sind am Rande unserer Kräfte, es ist ja so furchtbar heiß heute. Wir springen mal kurz ins Meer." Wir haben dann unsere Sachen bis auf die Unterwäsche ausgezogen und sind im Meer schwimmen gegangen. Unsere Gastgeber standen ganz brav am Rand und haben uns bloß zugeschaut. Die wären im Leben nicht auf die Idee gekommen, mit uns ins Wasser zu gehen. Dann sagte unser Übersetzer: "Wir können noch viel von euch lernen." (lacht) Das war aber so gemeint wie: "Ihr seid total verrückt, was macht ihr da!" SB: Vielen Dank, Kerstin, für das Gespräch. SB: Was habt ihr von den Menschen in Japan gelernt? KR: Daß Solidarität sehr, sehr wichtig ist. Ich kenne das selber auch, ich bin oft sehr dankbar gewesen, daß man uns solidarisch begegnet ist. Wenn Castor-Transporte kamen, daß dann viele tausend Menschen zu uns gekommen sind. Ich lebe auch immer in dem Gefühl, daß wir etwas zurück- der gegenüberliegenden Landseite zur Wehr setzen. geben müssen. Wir müssen unheimlich darum kämpfen, daß Deutschland schneller aus der Atomkraft aussteigt. Am liebsten sofort. Aber es ist eben auch genauso ein Bedürfnis und eine Verpflichtung, andere zu unterSeite 12 Auf der Akw-Baustelle ist noch nicht viel geschehen. Es handelt sich um ein nicht-gesichertes Baugelände, das direkt am Meer liegt. Wir sind dort hingefahren, es waren 45 Grad im Schatten. Plötzlich tönwww.schattenblick.de Die weitgehend autonom lebenden Einwohner der Insel Iwaishima ver hindern seit über dreißig Jahren, daß auf der Landseite ein Atomkraftwerk errichtet wird, durch das das Ökosystem Meer nachhaltig gestört würde. April 2009 Foto: BrackWorry, freigegeben als public domain Sa, 23. April 2016 Elektronische Zeitung Schattenblick INTERVIEW/206: Profit aus Zerstörungskraft - auf verlorenem Posten ... Ian Thomas Ash und Rei Horikoshi im Gespräch (SB) http://schattenblick.de/infopool/umBERICHT/112: Profit aus Zerstö- welt/report/umri0206.html rungskraft - Herrschaftsstrategie Atomwirtschaft ... (SB) INTERVIEW/207: Profit aus Zerstöhttp://www.schattenblick.de/info- rungskraft - eine ungehörte Stimme pool/umwelt/report/umrb0112.html ... Prof. Dr. Toshihide Tsuda im Gespräch (SB) BERICHT/113: Profit aus Zerstö- http://schattenblick.de/infopool/umrungskraft - kein Frieden mit der welt/report/umri0207.html Atomkraft ... (SB) http://www.schattenblick.de/info- INTERVIEW/208: Profit aus Zerstöpool/umwelt/report/umrb0113.html rungskraft - Empathie und Trauma ... Tatjana Semenchuk im Gespräch INTERVIEW/203: Profit aus Zerstö- (SB) rungskraft - nach unten unbegrenzt http://schattenblick.de/infopool/um... Dr. Alexander Rosen im Ge- welt/report/umri0208.html spräch (SB) http://schattenblick.de/infopool/um- INTERVIEW/209: Profit aus Zerstöwelt/report/umri0203.html rungskraft - so was wie Diabetes ... Liudmila Marushkevich im GeINTERVIEW/204: Profit aus Zerstö- spräch (SB) rungskraft - Spielball der Atom- http://schattenblick.de/infopool/ummächte ... Dr. Helen Caldicott im welt/report/umri0209.html Gespräch (SB) http://schattenblick.de/infopool/um- INTERVIEW/210: Profit aus Zerstöwelt/report/umri0204.html rungskraft - Schlußfolgerungen verfrüht ... Dr. Alfred Körblein im GeINTERVIEW/205: Profit aus Zerstö- spräch, Teil 1 (SB) rungskraft - systemische Verschleie- http://schattenblick.de/infopool/umrung ... Tomoyuki Takada im Ge- welt/report/umri0210.html spräch (SB) http://schattenblick.de/infopool/um- INTERVIEW/211: Profit aus Zerstöwelt/report/umri0205.html rungskraft - Schlußfolgerungen verDie Berichterstattung des Schatten blick zum IPPNWKongreß finden Sie unter INFOPOOL → UMWELT → REPORT: Hinweis: BUCH / SACHBUCH / REZENSION Aufstieg und Zerfall des deutschen Europa von Tomasz Konicz (SB) Der alljährliche Ausblick auf die Entwicklung der Weltwirtschaft fiel dieses Mal noch düsterer aus als in den Vorjahren. Auf der Frühjahrstagung des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank wurden niedriges Wachstum, hohe ArSa, 23. April 2016 früht ... Dr. Alfred Körblein im Gespräch, Teil 2 (SB) http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0211.html INTERVIEW/212: Profit aus Zerstörungskraft - Schlußfolgerungen verfrüht ... Dr. Alfred Körblein im Gespräch, Teil 3 (SB) http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0212.html INTERVIEW/213: Profit aus Zerstörungskraft - die Faust des Bösen ... Jonathan Frerichs im Gespräch (SB) http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0213.html INTERVIEW/214: Profit aus Zerstörungskraft - den Finger in der Wunde ... Dr. Ian Fairlie im Gespräch (SB) http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0214.html INTERVIEW/215: Profit aus Zerstörungskraft - Augenwischerei ... Mycle Schneider im Gespräch (SB) http://schattenblick.de/infopool/umwelt/report/umri0215.html http://www.schattenblick.de/ infopool/umwelt/report/ umri0216.html Tomasz Konicz Aufstieg und Zerfall des Deutschen Europa Unrast Verlag, Münster 2015 192 Seiten, 14,00 Euro ISBN 9783897715912 beitslosigkeit und Verschuldung auf gen Stagnation, des zentralen Merkunabsehbare Zeit prognostiziert. mals der seit 2008 manifesten Krise Auch außerhalb der die neoliberale des Kapitals, entdecken ... Globalisierung maßgeblich vorantreibenden Weltfinanzinstitutionen http://www.schattenblick.de/ können die Ökonomen keinen Silinfopool/buch/sachbuch/ berstreif am Horizont der langfristibusar655.html www.schattenblick.de Seite 13 Elektronische Zeitung Schattenblick ______I n h a l t____________________________________Ausgabe 1803 / Samstag, den 23. April 2016____ POLITIK - REPORT POLITIK - REPORT SCHACH-SPHINX UMWELT - REPORT DIENSTE - WETTER Die Zwischentürkei - Sippenhaft und Bürgerkrieg ... Die Zwischentürkei - taktische Spiele, strategische Ziele ... Martin Link im Gespräch Wider die Konvention Profit aus Zerstörungskraft - gebrochene Rechte ... Kerstin Rudek im Gespräch Und morgen, den 23. April 2016 Seite Seite Seite Seite Seite 1 4 7 8 14 DIENSTE / WETTER / AUSSICHTEN Und morgen, den 23. April 2016 +++ Vorhersage für den 23.04.2016 bis zum 24.04.2016 +++ © 2016 by Schattenblick IMPRESSUM Kleine Schauer, himmelblau, machen Jean verlegen. Kurze Sonne, dunkelgrau, frische Winde fegen. Elektronische Zeitung Schattenblick Diensteanbieter: MA-Verlag Helmut Barthel, e.K. Verantwortlicher Ansprechpartner: Helmut Barthel, Dorfstraße 41, 25795 Stelle-Wittenwurth Elektronische Postadresse: [email protected] Telefonnummer: 04837/90 26 98 Registergericht: Amtsgericht Pinneberg / HRA 1221 ME Journalistisch-redaktionelle Verantwortung (V.i.S.d.P.): Helmut Barthel, Dorfstraße 41, 25795 Stelle-Wittenwurth Inhaltlich Verantwortlicher gemäß § 10 Absatz 3 MDStV: Helmut Barthel, Dorfstraße 41, 25795 Stelle-Wittenwurth ISSN 2190-6963 Urheberschutz und Nutzung: Der Urheber räumt Ihnen ganz konkret das Nutzungsrecht ein, sich eine private Kopie für persönliche Zwecke anzufertigen. Nicht berechtigt sind Sie dagegen, die Materialien zu verändern und / oder weiter zu geben oder gar selbst zu veröffentlichen. Nachdruck und Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. 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