DIE WELT - Die Onleihe

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DIENSTAG, 19. APRIL 2016
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Nr. 91
Zippert zappt
KOMMENTAR
Die SPD macht sich Sorgen, bei
der Bundestagswahl an der
Fünf-Prozent-Hürde zu scheitern. Deshalb sucht die Partei
verzweifelt nach Themen, die
ihr größere Popularität verschaffen könnten. Nur ein paar
Tage nach der CSU hat man
nun das Thema Rente für sich
entdeckt. Rentner sind
Deutschlands größte natürliche
Ressource. Ein ständig nachwachsender Rohstoff, ein riesiges Wählerreservoir. 62 Prozent der Bevölkerung sind heute im Ruhestand, 2030 werden
es über 80 Prozent sein. Ein
Beschäftigter arbeitet dann
sieben Monate im Jahr für die
Renten von vier älteren Menschen, drei Monate fürs Finanzamt und acht Wochen für den
neuen Thermomix, der auch als
Drohne einsetzbar ist und das
Essen an der richtigen Stelle
abwirft, beispielsweise bei vier
hungernden Rentnern. Es soll
eine Rentenreform geben, und
das Geld dafür kommt von
Gerhard Schröder, den die SPD
auf Schadenersatz verklagt,
weil er die Riesterrente in
Deutschland eingeführt hat. Es
wird trotzdem nicht reichen,
daher will die SPD vier Millionen Rentner in die Türkei und
andere Drittstaaten abschieben.
Missbrauch
beenden
THEMEN
AUS ALLER WELT
Warum eine Lehrerin
zur Frisörin wurde
Seite 25
POLITIK
Die CDU will Partei der
Mitte bleiben. Trotz
Gefahr von rechts
Seite 5
WIRTSCHAFT
Die größten Sorgen
der Mittelständler
Beilage
KULTUR
Russlands unheimlicher
Einfluss in Deutschland
Seite 23
MARTIN GREIVE
REUTERS/ UESLEI MARCELINO; SARAH MARIA BRECH
S
Tschüs, meine Liebe!
Die Brasilianer wissen einfach, wie man feiert. So jedenfalls muss man das Foto
deuten, das den Kongressabgeordneten Bruno Araújo beim Bad in der Politikermenge zeigt. Was den Mann derart freut? Es ist die Entscheidung über die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens gegen die amtierenden Präsidentin Dilma
Rousseff. Sie gilt als korrupt und mit der Krise überfordert. „Tchau Querida!“,
wünscht man ihr deshalb im Kongress. Zu Deutsch: Tschüs, meine Liebe! Die Freude beschränkte sich nicht auf die Politik. In São Paulo gingen Hunderttausende auf
Seite 7
die Straße. Bei der Verkündung des Verfahrens brandete Jubel auf.
Bundesregierung geht
gegen Pflegebetrüger vor
Gesundheitsministerium bestätigt Milliardenschäden durch falsche Abrechnungen und kündigt
„konsequente Verfolgung“ an. SPD spricht von einem der „größten Skandale der letzten Jahrzehnte“
D
er milliardenschwere Betrug in der ambulanten
Pflege ist nun Chefsache.
Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) kündigte an, sich in den Kampf gegen die vor
allem osteuropäischen Banden einzuschalten.
VON ANETTE DOWIDEIT
Diese sollen die Sozialsysteme nach
Informationen der „Welt am Sonntag“
und der „Bayerischen Rundfunk Recherche“ um mindestens eine Milliarde Euro
pro Jahr betrügen. Das Bundesgesundheitsministerium will derartigen Betrug
nun „konsequent verfolgen“. Ein Ministeriumssprecher bestätigte, es gebe laut
Bundeskriminalamt (BKA) „Abrechnungsbetrug durch ambulante Pflegedienste, die mehrheitlich von Personen
aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion
geführt werden“.
Die Pflegebedürftigen und ihre Familien müssten sich darauf verlassen können, dass ihnen die zustehende Unterstützung auch zukomme, sagte der Sprecher. Zuvor hatte der SPD-Gesundheits-
experte Karl Lauterbach das Betrugssystem als „einen der größten Skandale im
Gesundheitswesen der letzten Jahrzehnte“ bezeichnet und mehr Überwachung
ambulanter Pflegedienste gefordert.
„Wir brauchen mehr und bessere Kontrollen über die Leistungen der Pflegekassen“, sagte Lauterbach gegenüber
mehreren Medien, „das heißt: unangemeldet und in die Tiefe, nicht nur Papiere prüfen.“
Zudem müsse es künftig den Aufsichtsbehörden möglich sein, auch bei
unangemeldeten Hausbesuchen zu überprüfen, ob auch die von der Krankenversicherung bezahlten Leistungen für die
Pflege wie vertraglich vereinbart verwendet würden, so Lauterbach. Bisher
sind hier im Gegensatz zu den gezahlten
Leistungen der Pflegekassen keine solchen Kontrollbesuche möglich. „Das
müssen wir dringend beseitigen. Ich hoffe, dass wir noch in dieser Legislaturperiode zu einer Einigung kommen“, so der
Politiker. Diese Forderung äußerte am
Montag auch der Medizinische Dienst
des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS) gegenüber der „Welt“
und „BR Recherche“. Die im Verband or-
ganisierten MDK sind die Prüforgane der
Krankenkassen. Sie sind für die Einhaltung der Verträge zwischen Kassen und
Pflegediensten zuständig.
Durch die derzeitige Gesetzeslage
seien die Hände der Prüfer in vielen Fällen gebunden, sagte der Geschäftsführer des MDS, Peter Pick. „Die MDK kön-
Deutsche zweifeln an
Qualität von Heimen
Die Bundesbürger haben wenig
Vertrauen in die offizielle Bewertung von Pflegeheimen und Pflegediensten. Sie sind zudem stark
verunsichert, ob wirklich alle Menschen in Pflegeeinrichtungen gut
versorgt werden, und vermuten
starke Qualitätsunterschiede zwischen Einrichtungen. Das geht aus
einer Befragung des Zentrums für
Qualität in der Pflege (ZQP) hervor. In der Bundesrepublik nehmen
1,38 Millionen Menschen Pflegeleistungen in Anspruch.
nen nur dann prüfen, wenn auch Leistungen der Pflegeversicherung erbracht
werden.“ Gerade bei den Intensivpflegefällen, auf die sich den Recherchen
zufolge die kriminellen Banden zuletzt
konzentriert haben, fehle es „sowohl an
Transparenz als auch an Kontrollmöglichkeiten“, so Pick.
Auch der Vorstand der Deutschen
Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch,
kritisierte, dass der Gesetzgeber Kranken- und Pflegeversicherung „künstlich
getrennt“ habe und dies erst den Betrug
ermögliche. „Beide Versicherungen müssen endlich gemeinsam in den Blick genommen werden. Denn bisher, erklärte
Brysch, könnten Kriminelle Behandlungen abrechnen, die nie erbracht wurden.
„Beispiel Pflege-WG. Dort wird das morgendliche Waschen eines Patienten über
die Pflegekasse abgerechnet, seine
Wundversorgung aber als häusliche
Krankenpflege über die Krankenkasse.
Ebenso wird das Nebeneinander beider
Versicherungen bei Schwerstkranken
ausgenutzt, die intensiv versorgt werden. In Beatmungs-WGs fallen pro Patient monatlich schnell über 20.000 EuSiehe Kommentar
ro an.“
chwindel bei Pflegeabrechnungen gibt es schon
lange. Aber die Machenschaften haben offenbar
ein deutlich größeres
Ausmaß angenommen als bislang bekannt: Russische Pflegedienste stehen im Verdacht, deutsche Kranken-,
Pflege- und Sozialkassen jährlich um
eine Milliarde Euro zu betrügen.
Trifft diese Zahl zu, wäre das einer
der größten Skandale im Gesundheitswesen seit Jahrzehnten.
Auf perfide Weise nutzen die Pseudopflegedienste Schwachstellen des
überkomplexen und trägen deutschen Gesundheitssystems aus. Anders als früher sind ihre Opfer nicht
mehr nur Intensivpflegepatienten.
Die Betrüger konzentrieren sich verstärkt auf einfache Pflegebedürftige,
deren Angehörigen es egal ist, ob Opa
ordentlich betreut wird – und die
manchmal sogar noch gemeinsame
Sache mit der Russenmafia machen.
Überraschend kommt diese Entwicklung allerdings nicht. Pflege wird
zu einem immer größeren Milliardenmarkt und damit zu einem ständig lukrativeren Geschäftsfeld für die
organisierte Kriminalität. Die Politik
hat gerade erst durch die zweite Stufe
der Pflegereform die Zahl der Leistungsempfänger in der gesetzlichen
Pflegeversicherung um 500.000 ausgeweitet. Durch die Alterung der Gesellschaft wird die Zahl der pflegebedürftigen Menschen in Deutschland
bis zum Jahr 2050 von rund 2,6 auf
4,6 Millionen steigen. Mit jedem zusätzlichen Pflegebedürftigen steigt
das Betrugsrisiko – und die Herausforderung, Pflegedienste effektiv zu
kontrollieren.
So hart wie die Politik gegen Steuerbetrüger vorgeht, so entschieden
muss sie Betrügereien im Pflegesystem einen Riegel vorschieben. Vorschläge für bessere Kontrollen durch
mehr Rechte für Kranken- und Pflegekassen oder unangemeldete Besuche bei ambulanten Pflegediensten
zielen in die richtige Richtung. Doch
alle Kontrollen werden ins Leere laufen, solange die Behörden nicht enger
zusammenarbeiten.
Besonders bei den Staatsanwaltschaften hakt es. Sie haben oft nicht
die Ressourcen, Verdachtsfällen
nachzugehen, und stellen viele Strafermittlungen ein. Statt Vergehen mit
aller Konsequenz zu ahnden, verkommt der Pflegebetrug auf diese
Weise zu einem Kavaliersdelikt. Die
Politik muss die Justiz daher mit
mehr Personal ausstatten und analog
zu
den
Landeskriminalämtern
Schwerpunktstaatsanwaltschaften
für Pflegebetrug aufbauen. Andernfalls nimmt sie nicht nur Betrug am
Sozialsystem hin, sondern lässt auch
zu, dass pflegebedürftigen Menschen
die Würde genommen wird – und im
schlimmsten Fall sogar das Leben.
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Elena Griffing arbeitet seit 1946 in der gleichen Klinik in San Francisco. In der Zeit war sie nur vier Tag krankgemeldet
A
ls sich Elena Griffing am 10. April 1946 zum ersten Mal im
damaligen Alta Bates Community Hospital in San Francisco
zur Arbeit meldete, hatte die Welt vom Internet und
Smartphones noch nichts gehört. Gerade war der Zweite Weltkrieg
zu Ende gegangen.
VON MICHAEL REMKE
AUS NEW YORK
Die Sensation damals war der erste Bikini, der in Frankreich vorgestellt wurde, oder die Tupperware, die in den US-Haushalten ihren
Siegeszug begann. Damals kostete der Liter Benzin in Amerika auch
nur fünf Cent, ein neues Auto im Schnitt 1120 Dollar, und ein Angestellter in den USA verdiente im Jahr kaum mehr als 2500 Dollar.
Die Zeiten ändern sich. Der Job manchmal nicht. Elena Griffing ist
ihrem Arbeitgeber treu geblieben. Seit 70 Jahren. Gerade feierte die
90-Jährige ihr Dienstjubiläum. Es soll nicht das letzte sein. Denn ans
Aufhören denkt Griffing nicht. „Wenn sie mich nicht rausschmeißen
oder in einer Kiste heraustragen, werde ich weitermachen“, sagt sie.
Griffing hat in ihren sieben Arbeitsjahrzehnten nur vier Tage aus
Gesundheitsgründen gefehlt.
Dabei war es ironischerweise eine „mysteriöse Krankheit“, die sie
zu ihrem Arbeitsplatz gebracht hatte. Anfang 1946 hatte sich Griffing
schwach und apathisch gefühlt und in der Klinik untersuchen lassen.
Das Blutbild ist nicht in Ordnung, diagnostizierten die Ärzte damals.
Wochenlang wurde sie mit Infusionen behandelt. So auch an einem
Tag im April. „Ich saß im Wartesaal, als das Telefon auf einmal klingelte“, erinnert sich Griffing. Niemand sei rangegangen. Die Telefonistin hatte sich krankgemeldet. „Sie sind doch eine ausgebildete
Sekretärin“, habe ein Arzt zu ihr gesagt. „Gehen Sie doch mal ran.“
70 Jahre sei das jetzt her. Und der Rest sei Geschichte. „Ich bin die
Einzige im Haus, die noch mit der Gründerin des Krankenhauses
zusammengearbeitet hat“, sagt Griffing stolz. Alta Alice Miner Bates
hatte die Klinik 1905 mit gerade einmal acht Betten eröffnet. Heute
besteht das Medical Center aus insgesamt 944 Betten und hat 1217
Ärzte. „Frau Bates war mit meiner Arbeit immer zufrieden“, sagt
Griffing über die Gründerin. „Sie hat sich nur an meinen hochhackigen Schuhen gestört.“ Bates habe befürchtet, dass sie stürzen könnte
und am Ende das Krankenhaus auf Schadenersatz verklage. Deswegen habe sie die Höhe ihrer Absätze später reduziert.
Vier Tage pro Woche kommt die kinderlose Griffing, deren Mann
vor 24 Jahren starb, als Patientenbetreuerin in die Klinik.
Die stabile Gesundheit verdanke sie ihren „sizilianischen Wurzeln“, glaubt Griffing. „Ich esse kein Fast-Food und versuche, mich
auch gesund zu ernähren.“ Das beste Gesundheitsprogramm sei aber
immer noch der Job. „Der hält mich fit“, sagt Griffing. „Ich bin jeden
Tag mehrere Meilen unterwegs in der Klinik.“ Und zu Hause habe sie
noch ein Laufband. Dort höre sie dann immer Frank Sinatra.
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