** DIENSTAG, 19. APRIL 2016 KUNDENSERVICE 0 8 0 0 / 9 3 5 8 5 3 7 ** D 2,50 EURO B Nr. 91 Zippert zappt KOMMENTAR Die SPD macht sich Sorgen, bei der Bundestagswahl an der Fünf-Prozent-Hürde zu scheitern. Deshalb sucht die Partei verzweifelt nach Themen, die ihr größere Popularität verschaffen könnten. Nur ein paar Tage nach der CSU hat man nun das Thema Rente für sich entdeckt. Rentner sind Deutschlands größte natürliche Ressource. Ein ständig nachwachsender Rohstoff, ein riesiges Wählerreservoir. 62 Prozent der Bevölkerung sind heute im Ruhestand, 2030 werden es über 80 Prozent sein. Ein Beschäftigter arbeitet dann sieben Monate im Jahr für die Renten von vier älteren Menschen, drei Monate fürs Finanzamt und acht Wochen für den neuen Thermomix, der auch als Drohne einsetzbar ist und das Essen an der richtigen Stelle abwirft, beispielsweise bei vier hungernden Rentnern. Es soll eine Rentenreform geben, und das Geld dafür kommt von Gerhard Schröder, den die SPD auf Schadenersatz verklagt, weil er die Riesterrente in Deutschland eingeführt hat. Es wird trotzdem nicht reichen, daher will die SPD vier Millionen Rentner in die Türkei und andere Drittstaaten abschieben. Missbrauch beenden THEMEN AUS ALLER WELT Warum eine Lehrerin zur Frisörin wurde Seite 25 POLITIK Die CDU will Partei der Mitte bleiben. Trotz Gefahr von rechts Seite 5 WIRTSCHAFT Die größten Sorgen der Mittelständler Beilage KULTUR Russlands unheimlicher Einfluss in Deutschland Seite 23 MARTIN GREIVE REUTERS/ UESLEI MARCELINO; SARAH MARIA BRECH S Tschüs, meine Liebe! Die Brasilianer wissen einfach, wie man feiert. So jedenfalls muss man das Foto deuten, das den Kongressabgeordneten Bruno Araújo beim Bad in der Politikermenge zeigt. Was den Mann derart freut? Es ist die Entscheidung über die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens gegen die amtierenden Präsidentin Dilma Rousseff. Sie gilt als korrupt und mit der Krise überfordert. „Tchau Querida!“, wünscht man ihr deshalb im Kongress. Zu Deutsch: Tschüs, meine Liebe! Die Freude beschränkte sich nicht auf die Politik. In São Paulo gingen Hunderttausende auf Seite 7 die Straße. Bei der Verkündung des Verfahrens brandete Jubel auf. Bundesregierung geht gegen Pflegebetrüger vor Gesundheitsministerium bestätigt Milliardenschäden durch falsche Abrechnungen und kündigt „konsequente Verfolgung“ an. SPD spricht von einem der „größten Skandale der letzten Jahrzehnte“ D er milliardenschwere Betrug in der ambulanten Pflege ist nun Chefsache. Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) kündigte an, sich in den Kampf gegen die vor allem osteuropäischen Banden einzuschalten. VON ANETTE DOWIDEIT Diese sollen die Sozialsysteme nach Informationen der „Welt am Sonntag“ und der „Bayerischen Rundfunk Recherche“ um mindestens eine Milliarde Euro pro Jahr betrügen. Das Bundesgesundheitsministerium will derartigen Betrug nun „konsequent verfolgen“. Ein Ministeriumssprecher bestätigte, es gebe laut Bundeskriminalamt (BKA) „Abrechnungsbetrug durch ambulante Pflegedienste, die mehrheitlich von Personen aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion geführt werden“. Die Pflegebedürftigen und ihre Familien müssten sich darauf verlassen können, dass ihnen die zustehende Unterstützung auch zukomme, sagte der Sprecher. Zuvor hatte der SPD-Gesundheits- experte Karl Lauterbach das Betrugssystem als „einen der größten Skandale im Gesundheitswesen der letzten Jahrzehnte“ bezeichnet und mehr Überwachung ambulanter Pflegedienste gefordert. „Wir brauchen mehr und bessere Kontrollen über die Leistungen der Pflegekassen“, sagte Lauterbach gegenüber mehreren Medien, „das heißt: unangemeldet und in die Tiefe, nicht nur Papiere prüfen.“ Zudem müsse es künftig den Aufsichtsbehörden möglich sein, auch bei unangemeldeten Hausbesuchen zu überprüfen, ob auch die von der Krankenversicherung bezahlten Leistungen für die Pflege wie vertraglich vereinbart verwendet würden, so Lauterbach. Bisher sind hier im Gegensatz zu den gezahlten Leistungen der Pflegekassen keine solchen Kontrollbesuche möglich. „Das müssen wir dringend beseitigen. Ich hoffe, dass wir noch in dieser Legislaturperiode zu einer Einigung kommen“, so der Politiker. Diese Forderung äußerte am Montag auch der Medizinische Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS) gegenüber der „Welt“ und „BR Recherche“. Die im Verband or- ganisierten MDK sind die Prüforgane der Krankenkassen. Sie sind für die Einhaltung der Verträge zwischen Kassen und Pflegediensten zuständig. Durch die derzeitige Gesetzeslage seien die Hände der Prüfer in vielen Fällen gebunden, sagte der Geschäftsführer des MDS, Peter Pick. „Die MDK kön- Deutsche zweifeln an Qualität von Heimen Die Bundesbürger haben wenig Vertrauen in die offizielle Bewertung von Pflegeheimen und Pflegediensten. Sie sind zudem stark verunsichert, ob wirklich alle Menschen in Pflegeeinrichtungen gut versorgt werden, und vermuten starke Qualitätsunterschiede zwischen Einrichtungen. Das geht aus einer Befragung des Zentrums für Qualität in der Pflege (ZQP) hervor. In der Bundesrepublik nehmen 1,38 Millionen Menschen Pflegeleistungen in Anspruch. nen nur dann prüfen, wenn auch Leistungen der Pflegeversicherung erbracht werden.“ Gerade bei den Intensivpflegefällen, auf die sich den Recherchen zufolge die kriminellen Banden zuletzt konzentriert haben, fehle es „sowohl an Transparenz als auch an Kontrollmöglichkeiten“, so Pick. Auch der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, kritisierte, dass der Gesetzgeber Kranken- und Pflegeversicherung „künstlich getrennt“ habe und dies erst den Betrug ermögliche. „Beide Versicherungen müssen endlich gemeinsam in den Blick genommen werden. Denn bisher, erklärte Brysch, könnten Kriminelle Behandlungen abrechnen, die nie erbracht wurden. „Beispiel Pflege-WG. Dort wird das morgendliche Waschen eines Patienten über die Pflegekasse abgerechnet, seine Wundversorgung aber als häusliche Krankenpflege über die Krankenkasse. Ebenso wird das Nebeneinander beider Versicherungen bei Schwerstkranken ausgenutzt, die intensiv versorgt werden. In Beatmungs-WGs fallen pro Patient monatlich schnell über 20.000 EuSiehe Kommentar ro an.“ chwindel bei Pflegeabrechnungen gibt es schon lange. Aber die Machenschaften haben offenbar ein deutlich größeres Ausmaß angenommen als bislang bekannt: Russische Pflegedienste stehen im Verdacht, deutsche Kranken-, Pflege- und Sozialkassen jährlich um eine Milliarde Euro zu betrügen. Trifft diese Zahl zu, wäre das einer der größten Skandale im Gesundheitswesen seit Jahrzehnten. Auf perfide Weise nutzen die Pseudopflegedienste Schwachstellen des überkomplexen und trägen deutschen Gesundheitssystems aus. Anders als früher sind ihre Opfer nicht mehr nur Intensivpflegepatienten. Die Betrüger konzentrieren sich verstärkt auf einfache Pflegebedürftige, deren Angehörigen es egal ist, ob Opa ordentlich betreut wird – und die manchmal sogar noch gemeinsame Sache mit der Russenmafia machen. Überraschend kommt diese Entwicklung allerdings nicht. Pflege wird zu einem immer größeren Milliardenmarkt und damit zu einem ständig lukrativeren Geschäftsfeld für die organisierte Kriminalität. Die Politik hat gerade erst durch die zweite Stufe der Pflegereform die Zahl der Leistungsempfänger in der gesetzlichen Pflegeversicherung um 500.000 ausgeweitet. Durch die Alterung der Gesellschaft wird die Zahl der pflegebedürftigen Menschen in Deutschland bis zum Jahr 2050 von rund 2,6 auf 4,6 Millionen steigen. Mit jedem zusätzlichen Pflegebedürftigen steigt das Betrugsrisiko – und die Herausforderung, Pflegedienste effektiv zu kontrollieren. So hart wie die Politik gegen Steuerbetrüger vorgeht, so entschieden muss sie Betrügereien im Pflegesystem einen Riegel vorschieben. Vorschläge für bessere Kontrollen durch mehr Rechte für Kranken- und Pflegekassen oder unangemeldete Besuche bei ambulanten Pflegediensten zielen in die richtige Richtung. Doch alle Kontrollen werden ins Leere laufen, solange die Behörden nicht enger zusammenarbeiten. Besonders bei den Staatsanwaltschaften hakt es. Sie haben oft nicht die Ressourcen, Verdachtsfällen nachzugehen, und stellen viele Strafermittlungen ein. Statt Vergehen mit aller Konsequenz zu ahnden, verkommt der Pflegebetrug auf diese Weise zu einem Kavaliersdelikt. Die Politik muss die Justiz daher mit mehr Personal ausstatten und analog zu den Landeskriminalämtern Schwerpunktstaatsanwaltschaften für Pflegebetrug aufbauen. Andernfalls nimmt sie nicht nur Betrug am Sozialsystem hin, sondern lässt auch zu, dass pflegebedürftigen Menschen die Würde genommen wird – und im schlimmsten Fall sogar das Leben. [email protected] DAX Leichtes Plus 70 Jahre treu Seite 15 Dax Schluss Euro EZB-Kurs Punkte US-$ 10.120,31 1,1306 +0,68% ↗ +0,19% ↗ Dow Jones 17.40 Uhr 17.959,42 Punkte +0,35% ↗ ANZEIGE Geheimnisvoller Planet: Anfang und Ende Heute um 21.05 Uhr Wir twittern Diskutieren live aus dem Sie mit uns Newsroom: auf Facebook: twitter.com/welt facebook.com/welt Elena Griffing arbeitet seit 1946 in der gleichen Klinik in San Francisco. In der Zeit war sie nur vier Tag krankgemeldet A ls sich Elena Griffing am 10. April 1946 zum ersten Mal im damaligen Alta Bates Community Hospital in San Francisco zur Arbeit meldete, hatte die Welt vom Internet und Smartphones noch nichts gehört. Gerade war der Zweite Weltkrieg zu Ende gegangen. VON MICHAEL REMKE AUS NEW YORK Die Sensation damals war der erste Bikini, der in Frankreich vorgestellt wurde, oder die Tupperware, die in den US-Haushalten ihren Siegeszug begann. Damals kostete der Liter Benzin in Amerika auch nur fünf Cent, ein neues Auto im Schnitt 1120 Dollar, und ein Angestellter in den USA verdiente im Jahr kaum mehr als 2500 Dollar. Die Zeiten ändern sich. Der Job manchmal nicht. Elena Griffing ist ihrem Arbeitgeber treu geblieben. Seit 70 Jahren. Gerade feierte die 90-Jährige ihr Dienstjubiläum. Es soll nicht das letzte sein. Denn ans Aufhören denkt Griffing nicht. „Wenn sie mich nicht rausschmeißen oder in einer Kiste heraustragen, werde ich weitermachen“, sagt sie. Griffing hat in ihren sieben Arbeitsjahrzehnten nur vier Tage aus Gesundheitsgründen gefehlt. Dabei war es ironischerweise eine „mysteriöse Krankheit“, die sie zu ihrem Arbeitsplatz gebracht hatte. Anfang 1946 hatte sich Griffing schwach und apathisch gefühlt und in der Klinik untersuchen lassen. Das Blutbild ist nicht in Ordnung, diagnostizierten die Ärzte damals. Wochenlang wurde sie mit Infusionen behandelt. So auch an einem Tag im April. „Ich saß im Wartesaal, als das Telefon auf einmal klingelte“, erinnert sich Griffing. Niemand sei rangegangen. Die Telefonistin hatte sich krankgemeldet. „Sie sind doch eine ausgebildete Sekretärin“, habe ein Arzt zu ihr gesagt. „Gehen Sie doch mal ran.“ 70 Jahre sei das jetzt her. Und der Rest sei Geschichte. „Ich bin die Einzige im Haus, die noch mit der Gründerin des Krankenhauses zusammengearbeitet hat“, sagt Griffing stolz. Alta Alice Miner Bates hatte die Klinik 1905 mit gerade einmal acht Betten eröffnet. Heute besteht das Medical Center aus insgesamt 944 Betten und hat 1217 Ärzte. „Frau Bates war mit meiner Arbeit immer zufrieden“, sagt Griffing über die Gründerin. „Sie hat sich nur an meinen hochhackigen Schuhen gestört.“ Bates habe befürchtet, dass sie stürzen könnte und am Ende das Krankenhaus auf Schadenersatz verklage. Deswegen habe sie die Höhe ihrer Absätze später reduziert. Vier Tage pro Woche kommt die kinderlose Griffing, deren Mann vor 24 Jahren starb, als Patientenbetreuerin in die Klinik. Die stabile Gesundheit verdanke sie ihren „sizilianischen Wurzeln“, glaubt Griffing. „Ich esse kein Fast-Food und versuche, mich auch gesund zu ernähren.“ Das beste Gesundheitsprogramm sei aber immer noch der Job. „Der hält mich fit“, sagt Griffing. „Ich bin jeden Tag mehrere Meilen unterwegs in der Klinik.“ Und zu Hause habe sie noch ein Laufband. Dort höre sie dann immer Frank Sinatra. „Die Welt“ digital Lesen Sie „Die Welt“ digital auf allen Kanälen – mit der „Welt“-App auf dem Smartphone oder Tablet. Attraktive Angebote finden Sie auf welt.de/digital oder auch mit den neuesten Tablets auf welt.de/bundle DIE WELT, Axel-Springer-Straße 65, 10888 Berlin, Redaktion: Brieffach 2410 Täglich weltweit in über 130 Ländern verbreitet. Pflichtblatt an allen deutschen Wertpapierbörsen. 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