Stressreiche biografische Übergänge. Wege in die Vulnerabilität

Stressreiche
biografische Übergänge
Wege in die Vulnerabilität oder
Chancen zum persönlichem Wachstum?
Prof. Dr. Pasqualina Perrig-Chiello
Perrig-Chiello
Übersicht
> 
Psychische Vulnerabilität: Wann sind wir über die Lebensspanne
am verletzlichsten? Transitionen/biografische Übergänge und ihre
gesundheitlichen Risiken
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Worauf kommt es beim Bewältigen schwieriger biografischer
Transitionen an?
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Persönliches Wachstum nach kritischen Lebensereignissen –
bloss Einbildung?
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Perrig-Chiello
Wege in die psychische Vulnerabilität
Wann sind wir am verletzlichsten und warum?
In Zeiten grösserer Abhängigkeit und Unsicherheit:
1. 
Kindheit: eine sensible Phase – weichenstellend für die weitere
Entwicklung. Der familiale und gesellschaftliche Kontext spielt
eine bedeutsame Rolle.
2. 
Biografische Wendepunkte, Transitionen und kritische
Lebensereignisse erfordern eine Reorganisation des Lebens,
verändern Rollen, Beziehungen und führen daher zu
emotionalem Ungleichgewicht.
Jedoch:
Grosse individuelle Unterschiede im Umgang mit diesen
Herausforderungen.
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Frühkindliche Belastungen mit nachhaltigen Folgen Frühkindliche Belastungen erhöhen die
Wahrscheinlichkeit von gesundheitlichen
Problemen (psychisch und körperlich) im
Erwachsenenalter.
Verluste
Tod, Scheidung der Eltern
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Elterliche Verhaltensauffälligkeiten
Psychische Störungen, Drogenkonsum
>  Kriminalität, Häusliche Gewalt
> 
Misshandlung
Körperlicher, sexueller und emotionaler
Missbrauch
>  Vernachlässigung
> 
Familiale ökonomische Not
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Dauerbelastung vermindert Impulskontrolle und
erhöht die Vulnerabilität über die Lebensspanne
Dauerstress > erhöhte
Stresshormon-Ausschüttung >
Reduktion des HippocampusVolumen und Zunahme der
Amygdala >
verminderte Impulskontrolle >
negative Folgen in Schule, /Beruf,
Sozialverhalten, emotionalem/
sozialem Coping >
risikoreiches Gesundheitsverhalten>
Krankheit, Behinderung, soziale
Probleme > frühzeitiger Tod
(Mischel, 2012).
Felitti VJ, Anda RF,, et al.. BMC Public Health 2009
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Biografische Wendepunkte als Herausforderung
- heute mehr denn je
> 
Zunehmende Destandardisierung der Lebensläufe aufgrund des
demographischen und gesellschaftlichen Wandels.
> 
Übergänge sind heute weniger „normiert“ und gesellschaftlich weniger
sichtbar – dafür aber zahlreicher (= mehr berufliche und private Übergänge).
> 
Zunehmende „Privatisierung“ biografischer Übergänge und kritischer
Lebensereignisse.
> 
Gestiegener Originalitätsanspruch bei der Gestaltung des
Lebenslaufs (Individualisierung) und damit Gefahr der Überforderung der
Selbststeuerungs-Kompetenz.
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Biografische Wendepunkte – häufiger
Grund für psychische Vulnerabilität
•  Kritische Lebensereignisse: häufiger Grund für psychische
Vulnerabilität.
•  Psychische Probleme gehören zu den häufigsten Krankheiten mit
Auswirkungen auf verschiedenste Lebensbereiche.
•  Rund 1/5 der CH-Bevölkerung leidet an 1 oder mehreren
psychischen Erkrankungen. Kosten: etwa 7 Milliarden CHF/Jahr.
(BAG, SKGD, Gesundheitsförderung Schweiz 2015).
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Kumulation schwieriger biografischer
Übergänge in den mittleren Jahren
Übergänge auf:
Persönlicher Ebene
•  Körperliche Veränderungen
•  Bilanzierungsprozesse aufgrund
veränderter Zeitperspektive
Familialer Ebene
•  Scheidung, Trennung
•  Pflegebedürftigkeit der Eltern
Beruflicher Ebene
•  Wiedereinstieg
•  Jobwechsel
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Stressreiche Lebensereignisse,
diagnostizierte Depressionen, Burn-out...
Herausforderungen der mittleren Jahre – häufig tabuisiert
Anzahl Scheidungen
Alter bei der Scheidungen, BFS 2013
Source: Federal Office of Statistics
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Partnerschaftliche Brüche und soziale
Verluste - ein besonders hohes Risiko der
Vulnerabilisierung
Hoffnungsbarometer 2015/SwissFuture
> 
> 
Negative Auswirkungen auf das Leben allgemein sowie auf
körperlicher und psychischer Ebene: depressive Symptome,
Suizidgedanken, Einsamkeit, „Broken-Heart-Syndrom“.
Jedoch: grosse Unterschiede in der psychischen Adaptation.
Carey, Shah, DeWilde, Harris, R. Victor, Cook, et al. JAMA Intern Med. 2014;174(4):598-605
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Perrig-Chiello
Psychische Adaptation nach kritischen
Lebensereignissen – unterschiedliche Muster
Bonanno G.A. (2004). Loss, trauma, and human resilience. American Psychologist 59:20-28.
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Resilienz –
Kernelement für die erfolgreiche Bewältigung von
kritischen Lebensereignissen
•  Psychische Widerstandfähigkeit und Fähigkeit, auf
Widerwärtigkeiten des Lebens flexibel zu reagieren, erfolgreich
mit Schwierigkeiten umzugehen.
•  Resultat einer komplexen Person-Umwelt-Interaktion:
Optimale Passung zwischen dispositionellen Eigenschaften
und protektiven Faktoren ausserhalb der Person.
•  Resilienz ist nicht Schicksal, sondern kann erlernt und durch
gezielte Angebote und Strukturen gefördert werden
(z.B. http://www.apa.org/helpcenter/road-resilience.aspx)
•  Resilienz hat Grenzen!
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Was aber ist letztlich entscheidend?
Die Rolle von Charakterstärken
Resiliente Menschen besitzen bis zu sieben
Charakterstärken, die besonders typisch für sie sind =>
Signaturstärke!
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Charakterstärken, die im Leben zählen
Liebe und Menschlichkeit: Fähigkeit zu lieben und geliebt zu werden:
Freundlichkeit, Mitgefühl, soziale Intelligenz
Mut und Gerechtigkeit:
Tapferkeit, Ausdauer, Ehrlichkeit, Tatendrang
Teamwork, Fairness
Weisheit und Wissen:
Neugier, Urteilsvermögen, Aufgeschlossenheit,
Weitsicht Kreativität, Selbstregulation,
Vergebungsbereitschaft und Gnade,
Bescheidenheit und Demut
Transzendenz:
Sinn für das Schöne, Dankbarkeit, Hoffnung,
Humor, Religiosität und Spiritualität
Charakterstärken sind das Ergebnis eines lebenslangen Lern- und
Formungsprozesses! Es ist nie zu spät sie zu erlernen!
Gnothi Seautón – Erkenne dich selbst!
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Persönliches Wachstum nach kritischen
Lebensereignissen?
Resilientes Verhalten zeigt ein Mensch nicht nur trotz widriger
Umstände, sondern primär wegen derselben.
Bei vielen Menschen werden ihre Ressourcen und Stärken erst
dann richtig aktiviert, wenn sie in extreme Stresserfahrungen
geraten.
Wohlbehagen ermattet den Geist,
Schwierigkeiten erziehen und kräftigen ihn.
!
Francesco Petrarca (1304-1374)
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Persönliches Wachstums - nicht nur
Einbildung und auch nicht nur temporär!
1. 
Sich der eigenen Stärke bewusst werden
2. 
Intensivere Wertschätzung des Lebens
3. 
Beziehungen zu Anderen intensivieren, mehr Mitgefühl und Empathie
für Mitmenschen entwickeln
4. 
Neue Möglichkeiten der Lebensgestaltung, neue Prioritätensetzung
5. 
Spiritueller Wandel Ein intensiveres spirituelles Bewusstsein erlangen
(Tedeschi & Calhoun , 1996)
Persönliches Wachstum ist sehr individuell und kann in einem oder
mehreren Bereichen stattfinden.
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Perrig-Chiello
Die Gnade des Nullpunkts
Johannes Tauler(1300-1361)
„Ordentliches inneres Üben
ist notwendig zur
Überwindung der Krise“ :
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Innehalten
Bilanzieren
Neu definieren
Offen sein für Neues
Nicht alles kontrollieren
wollen
-  Relativieren
-  Eigene Standards
entwickeln
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Aus Krisen lernen – wieviele Krisen sind
verkraftbar?
Seery (2011) Current Directions in Psychological Science 2011 20: 390
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Wege aus der psychischen Vulnerabilität
Resilienz – Förderung auf verschiedenen Ebenen
Wo?
1)  Individuelle Ebene
2)  Familiale Ebene
je
3)  Kommunale Ebene
4)  Gesellschaftliche Ebene
Was?
•  Informieren, entstigmatisieren
•  Früherkennung
•  Belastungen reduzieren
•  Gefährdung auffangen
•  Bewältigungskompetenzen stärken
Wie?
-  Ressourcenorientiert
-  So früh wie möglich
-  Kulturelle Vielfalt respektierend
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Perrig-Chiello
Literatur und Konferenzhinweis
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Perrig-Chiello, P. (2015). Vulnerabilität und Wachstum über die
Lebensspanne. In Schweizerisches Rotes Kreuz (Hrsg.), Wege aus der
Verletzlichkeit. Reihe „Gesundheit und Integration – Beiträge aus Theorie
und Praxis“. Zürich: Seismo Verlag (pp. 21-49).
> 
Perrig-Chiello, P., Knöpfli, B., Hutchison, S. (in press). Vulnerability following
a critical life event: temporary crisis or lasting distress? A psychological
controversy and its methodological implications. In M. Oris, C. Roberts, D.
Joye, & M. Ernst Staehli (Eds.), Surveying human vulnerabilities across the
life course (pp. In Press). Dordrecht, The Netherlands: Springer.
Konferenz “Relationships in later life” in Bern mit George Bonanno u.a.
> 
https://www.lives-nccr.ch/en/actualite/lives-international-conferencerelationships-later-life-challenges-and-opportunities-n1713
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