Strapazierte Generationensolidarität? Pflegende Töchter und Söhne zwischen Sollen und Können Prof. Dr. Pasqualina Perrig-Chiello " 1 Perrig-Chiello Übersicht • Veränderte Generationenstrukturen – neue Solidaritätsansprüche: die geforderte mittlere Generation • Generationensolidarität in der Familie: Wie gehen pflegende Töchter (und Söhne) damit um? • Was bringt die Zukunft? 2 1 Perrig-Chiello Neue Generationenverhältnisse und Strukturen" Langlebigkeit: • Starke Zunahme der Hochaltrigen • längere gemeinsame Lebenszeit der Generationen: „Linked Lives“ Grössere Mobilität: • familiale Generationen leben zunehmend getrennt 3 Perrig-Chiello Hohe Lebenserwartung Viele Chancen – aber auch viele Herausforderungen Chancen - Längere Lebenserwartung in guter Gesundheit - „Verjüngung des Alters“ und bessere Lebensqualität - Längere gemeinsame Lebenszeit der Generationen: vermehrte und verbesserte Kommunikation zwischen den familialen Generationen Herausforderungen - Das vulnerable „vierte Alter“ bleibt eine Herausforderung: vermehrte Hilfs- und Pflegebedürftigkeit (Multimorbidität, dementielle Erkrankungen > funktionale Abhängigkeit) - Wer ist gefordert? Die Betroffenen selbst, aber auch die Familie, insbesondere die erwachsenen Kinder 4 2 Perrig-Chiello Zu Hause bleiben bis am Ende – ein zentrales, universelles Bedürfnis Zu Hause bleiben können – trotz oder gerade auch bei Krankheit > > und Behinderung – ist bedeutsam für: Intimität, Nähe, Privatheit Eigene Rhythmen, Autonomie und Selbstbestimmung Gesellschaftlicher Wandel (Individualisierung) verstärken die Tendenz! Gefordert sind Partner/Partnerinnen, vor allem die erwachsenen Kinder: > Jede 4. Familie in Österreich von der Problematik betroffen (www.ig-pflege.at) > Hilfs-, Betreuungs- und Pflegeleistungen werden mehrheitlich von Frauen erbracht (in Österreich zu 2/3: in der CH: 80%). Strapazierte familiale Generationensolidarität? 5 Perrig-Chiello Neue Generationenverhältnisse u. –beziehungen – neue Herausforderungen Ist der Generationenvertrag in Gefahr? Nein! Noch nicht? Kleiner und grosser Generationenvertrag werden nach wie vor erfüllt – und zwar primär durch die mittlere Generation! Kleiner Generationenvertrag: Hilfe und Pflege der Eltern durch die erwachsenen Töchter und Söhne. • Grosser Generationenvertrag: Monetäre Transferleistungen in Form von Steuern, Sozialleistungen, etc. • Kleiner Generationenvertrag: Familiäre intergenerationelle Hilfe (funktional, sozial und emotional). Grosser Generationenvertrag: Sozialstaatliche Massnahmen ersetzen (vormals) wichtige familiale intergenerationelle Solidarität durch kollektive Formen der sozialen Sicherung. 6 3 Perrig-Chiello Die gesellschaftlichen Erwartungen Einstellungen zu familialer Solidarität variieren nach Alter – und Betroffenheit 7 Perrig-Chiello Die Sandwichgeneration („Welfare Generation“) Frauen und Männer in den mittleren Jahren zwischen den Fronten zweier Generationen 8 4 Perrig-Chiello Psychisches Wohlbefinden: in den mittleren Jahren in der Talsohle - kein Zufall! PNAS, 2010 9 Perrig-Chiello Übersicht • Veränderte Generationenstrukturen – neue Solidaritätsansprüche: die geforderte mittlere Generation • Generationensolidarität in der Familie: Wie gehen pflegende Töchter (und Söhne) damit um? • Was bringt die Zukunft? 10 5 Perrig-Chiello Hohe Erwartungen und Ansprüche – ambivalente Beziehungen Liebe und Pflichtgefühl den Eltern zu helfen sind zumeist sehr hoch. Gleichzeitig berichtet eine Mehrheit pflegender Töchter/Söhne, dass die Eltern zu viel erwarten und die Hilfe zu wenig schätzen. Rund die Hälfte der Töchter beklagt, dass die Eltern nicht realisieren würden, dass sie sich auch um die eigenen Partner kümmern müssen. Pflegebedürftigkeit der Eltern führt bei Töchtern und Söhnen häufig zu ambivalent erlebten (oft krisenhaften) Rollenumkehrungen. Wichtig: Ambivalenzen gehören generell zu engen Beziehungen - in Stresssituationen aber in besonderem Masse. Perrig-Chiello/Höpflinger, 2012 . 11 Perrig-Chiello Pflegende Angehörige – “Prisoners of Love”? Was ist der Grund, weshalb Sie pflegen? 100" 80" Verpflichtung& Prozent" 60" Liebe& 40" Notwendigkeit& 20" Finanzielle&Ü.& 0" Söhne& Töchter& Perrig-Chiello/Höpflinger, 2012 12 6 Perrig-Chiello Pflegende Angehörige Zeitlich stark eingebunden – wenig Entlastungsmöglichkeiten Stunden pro Woche 80 Ist (Std/Woche) Wunsch (Std/Woche) 60 40 20 0 Partner Partnerin Söhne Töchter Ja, ich habe jetzt oder immer wieder mal eine Auszeit nötig 100 Prozent 80 60 40 20 0 Perrig-Chiello/Höpflinger, 2012 Partner Parterinnen Söhne Töchter Ja, es gibt jemand, der für mich einspringen würde wenn ich eine Auszeit 13 brauche Perrig-Chiello Überlastung, Stress (% mit Maximalwert) Erhöhter Medikamentenkonsum (% mehrmals pro Woche) Medikamentenkonsum Perrig-Chiello/Höpflinger, 2012 14 7 Perrig-Chiello Frauen garantieren den kleinen Generationenvertrag – der Preis dafür? Familiale Hilfe und Pflege = „Hidden Economy“ Frauen bezahlen einen hohen Preis: • Viele 40-60-Jährige erleben einen zweiten beruflich-familialen Vereinbarkeitskonflikt. • Rund zwei Drittel reduzieren ihr Arbeitspensum,16% gaben gar den Job auf (Perrig-Chiello & Höpflinger, 2012). Aber auch der Gesellschaft entstehen Opportunitätskosten: • Unbezahlte Care-Arbeit ist nur theoretisch kostenlos: • Personen im Erwerbsalter stehen während der Zeit, in der sie unbezahlte Aufgaben übernehmen, dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung. • Je schlechter die Vereinbarkeit von familiären Aufgaben und Beruf ist, desto grösser sind diese wirtschaftlichen Ausfälle (Opportunitätskosten). 15 Perrig-Chiello Wie Sollen und Können besser vereinbaren? Handlungsbedarf auf verschiedenen Ebenen Sozialpolitische Ebene • Wissen und Bewusstsein für den Wert unbezahlter Pflegearbeit stärken • Bereitstellung von Entlastungsmöglichkeiten und Information • Vereinbarkeit Beruf-Familie ermöglichen (Beratungsstellen für pflegende Angehörige, flexiblere Arbeitsplatzgestaltung, steuerliche Entlastung, Betreuungsgutschriften,.) Institutionelle Ebene • Erweiterung und Flexibilisierung ambulanter und teilstationärer Angebote • Sicherstellung einer koordinierten Arbeit aller in die Pflege eingebundenen Personen Individuelle Ebene • Niederschwellige Information für Pflegende (Self-Care) • Information und Stärkung der Kompetenzen von pflegenden Angehörigen, Selbsthilfegruppen 16 8 Perrig-Chiello Übersicht • Veränderte Generationenstrukturen – neue Solidaritätsansprüche: die geforderte mittlere Generation • Generationensolidarität in der Familie: Wie gehen pflegende Töchter (und Söhne) damit um? • Was bringt die Zukunft? 17 Perrig-Chiello Die familiale Solidarität hat Grenzen • Der Anteil an alten Personen ohne Nachkommen steigt an. • Wenig Geburten und Langlebigkeit führen zu mehr ‚Bohnenstangen-Familien‘. Damit verteilt sich informelle Pflege oft auf eine Tochter oder einen Sohn. • Die Töchter sind allerdings zunehmend beruflich engagiert die Scheidungsraten von Frauen zwischen 40 und 60 nehmen stark zu. (auch in wichtigen Funktionen) und 18 9 Perrig-Chiello Ausserfamiliale und ambulante Unterstützung werden wichtiger In Zukunft werden familiale Beziehungen durch ausserfamiliale (Freundschaften, Nachbarschaften) ergänzt - Wahlverwandtschaften werden wichtiger. Ausbau der Unterstützung durch Freunde, Nachbarn oder Freiwillige ist nur möglich, wenn auch die professionellen Angebote ausgebaut werden. Ein Ausbau der ambulanten Pflege führt nicht zur Verdrängung intergenerationeller Unterstützung, sondern stärkt die familialen Generationenbeziehungen. Gleichzeitig zeigt sich ein Trend zur Spezialisierung: Angehörige leisten primär informelle Hilfe, Professionelle leisten primär (intime) Pflegeleistungen. 19 Perrig-Chiello Familiale Hilfe und Pflege – Eine Frage der Bereitschaft und der Opportunitätsstrukturen Familiale Hilfe und Pflege ist primär eine Frage der emotionalen Verbundenheit in der Familie. Auch wenn in unserer Gesellschaft eine hohe Bereitschaft zur familialen Solidarität besteht, hängt deren Realisierung in entscheidendem Ausmass von gesellschaftlichen Strukturen und Möglichkeiten ab. Nicht alle familialen Beziehungen sind solidarisch. Die Differenzen sind vor allem in den unterschiedlichen Ressourcen zu suchen. Empirische Befunde weisen auf ein Matthäus-Prinzip hin: Wer hat, dem wird gegeben. Ressourcenstarke Familien (finanziell, sozial, psychisch, physisch, bildungsmässig) haben nachweislich die besseren Voraussetzungen. 20 10 Perrig-Chiello Künftige Herausforderungen erfordern neue Perspektiven 1. Lebenslaufperspektive: Lebensläufe von Frauen und Männern werden flexibler, unabhängiger voneinander. Die bislang geltende altersdifferenzierte Sichtweise des Lebenslauf wird obsolet und ersetzt werden müssen durch eine altersintegrierende. 2. Genderperspektive: Generationenfragen sind und bleiben GenderFragen: Frauen sind beliebte Caregiver, aber sie geraten dadurch in einen Dauerkonflikt Familie-Beruf. Die intergenerationelle Solidarität in Familie und Gesellschaft hängt von einer paritätischen Mitwirkung von Frauen und Männern ab. 3. Wertediskussion: Neben der finanziellen Sicherung der Sozialwerke müssen auch Aspekte wie Solidarität und Sicherheit vermehrt thematisiert und neu definiert werden. 21 Perrig-Chiello Trotz Forderungen und Überforderungen Nicht vergessen: Es wird ja nur noch besser! PNAS, 2010 22 11 Perrig-Chiello Literatur 23 12
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