DEUTSCHLANDFUNK Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Redaktion: Birgit Morgenrath Sendung: Dienstag, 19.04.2016 19.15 – 20.00 Uhr High in Uruguay Wie Montevideo den Drogenkrieg beenden will Von Karl-Ludolf Hübener Co-Produktion WDR/DLF URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - 1 ATMO: (Bajofondo live) ERZÄHLER: Ein Sommerabend im „Teatro Verano“, einer Freilichtbühne in Montevideo, direkt am Wasser gelegen. „Bajofondo“, eine argentinisch-uruguayische Elektrotango-Truppe, spielt. 5000 überwiegend junge Zuschauer haben das Amphitheater bis auf den letzten Platz gefüllt. Die neuen Klänge vom Rio de la Plata begeistern. Nicht wenige sind high. An mehreren Ecken glühen Zigarettenenden. Es wird gedreht und herumgereicht. Der süßliche Geruch von Cannabis gehört für Viele hier zum entspannten Abend. ATMO: (Stimmengewirr, Musik im Hintergrund) ATMO: (Lucia) / ATMO: (Javier) / ATMO: (Flor) ERZÄHLER: Feierabendstimmung auch in den nahe gelegenen Kneipen. Weil drinnen Rauchverbot herrscht, teilt sich eine Gruppe von Freunden vor dem Bier noch schnell einen „porro“, so nennen sie hier einen Joint. Marihuana beruhigt mich, kann aber auch meine Sinne anregen, meint Lucia. Ihr Freund Javier nickt zustimmend. Ich entspanne mich, wirft Flor ein, aber ich fliege auch ein wenig… Und erst recht mit Musik! Sie züchtet im Garten ihren eigenen Stoff. Angst vor der Polizei muss sie nicht haben. ATMO: (Stimmengewirr, Musik im Hintergrund) ERZÄHLER: Vor ein paar Jahren wäre ein solch entspanntes Verhältnis zum „Gras“ undenkbar gewesen. Möglich gemacht hat es vor allem Jose Mujica, ein ehemaliger Tupamaro-Guerillero, und bis 2015 Präsident der kleinen Republik am Rio de la Plata: 2 O-TON: (Mujica) ...Y no le dejo ese mundo a que lo maneje la delincuencia. El problema es robarle el mercado al narcotráfico como mejor manera de combatirlo... SPRECHER 1: „Ich werde nicht zulassen, dass diese Welt von Verbrechern regiert wird. Deshalb müssen wir dem Drogenhandel den Markt entreißen. Das ist die beste Methode, ihn zu bekämpfen.“ MUSIK: Bajofondo "Caminante" (CD: Presente) ERZÄHLER: Uruguay änderte seine Gesetze und wurde zum ersten Land, das nicht nur den Konsum von Cannabis legalisiert, sondern auch Anbau und Vertrieb unter staatliche Kontrolle stellt. Das Vorhaben erregte weltweit Aufmerksamkeit. Die Reaktionen reichten von verhaltener Zustimmung über Skepsis bis zu harscher Ablehnung. MUSIK: Bajofondo "Codigo de barra" (CD: Presente) ERZÄHLER: Die oberste Drogenbehörde der UNO zeigte sich in einer ersten Stellungnahme entsetzt: ZITATOR: „Das ist eine Aktion, wie sie nur Piraten-Staaten eigen ist.“ ANSAGE: High in Uruguay Wie Montevideo den Drogenkrieg beenden will Ein Feature von Karl Ludolf Hübener ATMO: Expo, Stimmen, Musik ERZÄHLER: Dezember 2015. Die „Expo Cannabis“ in Montevideo, der Hauptstadt Uruguays, hat mehr als 7000 Besucher gelockt. Die meisten sind unter 30. Viele kommen auch aus den Nachbarländern, wo der Stoff nach wie vor strikt verboten ist. 3 ATMO: Expo Stimme ERZÄHLER: Einige Messebesucher tragen eingetopfte grüne Pflanzen mit lanzettförmigen Blättern vor sich her – wie Trophäen. Sie kommen aus dem Workshop „Einführung in den Cannabis-Anbau“. Dort hat der Kursleiter gezeigt, wie man mit einer Spezialschere vorsichtig die Blüten aus der Pflanze herausschneidet. O-TON: (Julio Rey) ...Es más, en un principio, ni siquiera sabía lo que era macho y lo que era hembra y te pensaba que fumando la hoja era lo que te pegaba... SPRECHER 3: „Anfangs wussten wir doch nicht einmal, welche Pflanze männlich und welche weiblich ist. Wir glaubten gar, wenn man das Blatt raucht, würde man high.“ ERZÄHLER: Räumt Julio Rey ein. Er ist Vorsitzender der Vereinigung der Marihuana-Anbauer. Auch sein Stand ist umlagert. 160.000 der 3,2 Millionen Uruguayos greifen nach – allerdings vagen – Schätzungen gelegentlich oder regelmäßig zum Joint, Alkohol trinkt mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Ungefähr eine halbe Million raucht Tabak. Damit unterscheidet sich Uruguay statistisch nicht wesentlich von seinen Nachbarn oder von vielen anderen Teilen der Welt. Anders ist nur, dass diese Rauschmittel jetzt ähnlich behandelt werden. MUSIK: La Vela Puerca "Mi Semilla" ERZÄHLER: Die lange verfemte Pflanze, die die Rockband "La Vela Puerca" in einem ihrer populärsten Hits besingt, ist nicht länger underground. MUSIK: La Vela Puerca "Mi Semilla" ...Miro de reojo y las hojas ya puedo ver Y las flores que vas a dar Y me pongo contento voy a tener Pa’ fumar. 4 ERZÄHLER: Schon vor rund hundert Jahren – auch darin unterscheidet sich Uruguay nicht von vielen anderen Staaten - verkauften Apotheken Joints. Ganz legal. Cannabis-Zigaretten seien gut „gegen Asthma, Schlaflosigkeit, Bronchitis und zur Entspannung vom Stress des modernen Lebens“, hieß es in der Werbung. Auch Kokain wurde als Pille ein Mittel zum Wachbleiben. Ohne Rezept. Erst als sich Diktator Gabriel Terra 1933 von Mussolini inspirieren ließ, war es mit der Legalität vorbei. Drogen galten fortan als „Gefahr für die Rasse“. „Drogensüchtigen, Trunksüchtigen, Geisteskranken, Epileptikern, Bettlern, Zigeunern und Bohemiens“ war die Einreise verboten. Doch ausgerechnet unter einer weiteren Diktatur kam die Kehrtwende. 1974 erlaubte eine Militärjunta den Konsum psychoaktiver Drogen für den persönlichen Gebrauch. Im Zeitalter der „Chicago boys“ war das nur auf den ersten Blick ein ungewöhnlicher Schritt, meint heute Milton Romani, Generalsekretär der Nationalen Drogenbehörde: O-TON: (Milton Romani) ...Hay una vieja tradición liberal, que en Estados Unidos ha sido fuerte, encabezada por Milton Friedman y Gary Becker, ponen el ejemplo de la fiscalización de drogas como una distorsión del mercado y, por lo tanto, proponen y propugnan la libertad total de mercado. Bueno, no lo propugnan sólo para las drogas, lo propugnan para todo. Es la escuela neoliberal clásica… SPRECHER 2: „Es gibt eine alte liberale Tradition. Sie ist in den USA stark verankert, vor allem bei Milton Friedman und Gary Becker… Die Kontrolle von Drogen sei eine Verzerrung des Marktes, sagten sie. Deshalb setzen sie sich für die totale Freiheit des Marktes ein, natürlich nicht nur für Drogen. Das ist die klassische neoliberale Schule.“ Erzähler: Allerdings, so erinnert sich Florencia Lemos von der Menschenrechtsorganisation „Proderechos“, lebte die Legalisierung des Konsums mit einem entscheidenden Widerspruch: 5 O-TON: Florencia Lemos ...pero no podían acceder a ellas. Era ilegal comprar o plantar. Entonces, ahí, lo que pasaba es que los usuarios tienen que cometer un delito para acceder a esas sustancias... SPRECHERIN 1: „Gleichzeitig war der Zugang versperrt. Kauf und Anbau waren illegal. Die Konsumenten mussten folglich eine Straftat begehen, um an Rauschmittel zu kommen.“ ERZÄHLER: Das traf weniger die betuchten, weltläufigen Kokain-Konsumenten im mondänen Badeort Punta del Este, als vielmehr junge CannabisFreunde, die Pflanzen auf dem Balkon oder im Garten versteckten oder sich beim Dealer um die Ecke eindeckten. Nach dem Ende der Diktatur, 1985, blieb die rebellische Jugend im Focus der – nun gewählten- konservativen Regierungen: Die Verfolgung von Kiffern und Händlern nahm Fahrt auf. Mit Razzien, Verhaftungen und Gefängnis änderte sich zwar wenig am Konsum; dafür wuchs der illegale Markt: ATMO: Don Cony "Yo soy Marconi" ...Gobierno, no es la solución hacer cárceles nuevas; mejor preocúpese por hacer nuevas escuelas. No es un atentando, es un llamado de atención para el Senado. Claro, es muy difícil pensar sentado con aire acondicionado... ZITATOR: …Regierung! Es ist doch keine Lösung, neue Gefängnisse zu bauen. Besser wären neue Schulen. Das ist keine Attacke, vielmehr ein Weckruf für den Senat. Klar, es ist schwierig darüber nachzudenken, wenn man gut klimatisiert im Sessel sitzt… ATMO: Cannabis-Marsch ERZÄHLER: Anfang des neuen Jahrtausends nehmen die Demonstrationen auf Montevideos Straßen zu. Doch während die Cannabis-Freunde die vollständige Legalisierung vom Anbau über den Handel bis zum Konsum fordern, lehnt eine Mehrheit der Bevölkerung das ab, vor allem die ältere Generation. 6 O-TON: Mujica / Radio-Ton ...Somos un país de viejos, en gran medida, y nos cuesta horriblemente atender y entender a los jóvenes… SPRECHER 1: „Wir sind vor allem ein Land von alten Leuten und es fällt uns schrecklich schwer, der jüngeren Generation zuzuhören und sie zu verstehen.“ ERZÄHLER: Jose „Pepe“ Mujica, der mit dem Linksbündnis „Frente Amplio“ 2010 das Präsidentenamt erobert, wirbt fortan in Interviews und einer wöchentlichen Radiosendung für ein Umdenken. Er fürchte die Droge weniger als die Drogenmafia. O-TON: Mujica / Radio-Ton ...Hay cerca de 3.000 presos colindantes con fenómenos del narcotráfico, pero la droga sigue estando allí ¿Por qué? Porque la tasa de ganancia es enorme y siempre hay gente que se la juega por las ganancias rápidas. Esa tasa de ganancia enorme sirve para prostituir la vida carcelaria, tiende a corromper a los aparatos represivos, a las gestiones financieras porque está el lavado. Se paga cerca del 30 % para lavar el dinero negro, se financian campañas. Está clarísimo, ha habido países donde se han financiado campañas electorales… SPRECHER 1: „Es gibt ca. 3000 Gefangene, die mit Drogenhandel zu tun haben. Aber der Drogenhandel geht weiter. Weshalb wohl? Die Gewinnmarge ist einfach enorm. Und es wird immer Leute geben, die auf den schnellen Profit setzen. Die enormen Gewinne korrumpieren das Leben, selbst im Gefängnis. ... Für die Wäsche von Schwarzgeld werden 30 Prozent Kommission bezahlt. Sogar Wahlkampagnen werden damit finanziert.“ ERZÄHLER: Mit der Regulierung von Rauschmitteln hat das Land bereits Erfahrung gesammelt. Mujicas Amtsvorgänger hatte die Steuern für Nikotin erhöht, sich mit der Tabaklobby angelegt und das strikteste Rauchverbot der Region erlassen - es gilt in allen öffentlich zugänglichen Räumen. Schadensbegrenzung und 7 Gesundheitsvorsorge heißt nun auch die Begründung für die Legalisierung von Cannabis. O-TON: Mujica / Radio-Ton ...La ley que se intenta es una regulación, no es un “viva la pepa”. Regular algo que ya existe y que está adelante de nuestras narices, por allí anda en la puerta de los liceos, por las esquinas. Se intenta arrebatarle el mercado a la clandestinidad... SPRECHER 1: „Das Gesetz, sieht einen regulierten Markt vor. Es bedeutet keineswegs: „Jetzt können wir die Sau rauslassen.“ Wir wollen etwas regulieren, was längst existiert, direkt vor unserer Nase, vor Schulen, an Straßenecken. Der Markt soll so der Illegalität entrissen werden.“ ATMO: Parlament, Ansage, Beifall ERZÄHLER: Wenige Monate später stimmt der uruguayische Kongress nach langer Debatte zu. Beifall von den Zuschauerrängen. Dort überwiegen junge Gesichter. MUSIK: La Vela Puerca "Mi Semilla" O-TON: Milton Romani ...En la ley están previstas tres vías de acceso: el autocultivo, es decir, hasta seis plantas, pero tiene que registrarse en el Instituto de Regulación y Control del Cannabis, que es un instituto estatal. La segunda vía es la de los clubes canábicos, es decir, pequeños clubes sociales de membresía, que tienen que sacar personería jurídica en el Estado y tienen que registrarse en el IRCA. Y la tercera, que está en fase de instrumentación, que es la obtención de una dosis determinada, 40 gramos al mes, en las farmacias, con una identificación digital previo registro de usuarios... SPRECHER 2: „Das Gesetz sieht drei Zugänge vor: Erstens: den Anbau von bis zu sechs Pflanzen für den Eigengebrauch. Dafür muss man sich beim Institut für Regulierung und Kontrolle von Cannabis registrieren lassen. Dasselbe gilt auch für den zweiten Weg: die Cannabis8 Clubs. Auch sie brauchen eine Zulassung. Mit dem dritten Zugang sind wir noch nicht soweit: In Apotheken kann man künftig eine Dosis von 40 Gramm pro Monat kaufen. Verbunden ist das mit einer digitalen Identifikation.“ ERZÄHLER: Milton Romani, Leiter der Nationalen Drogenbehörde, ist nicht zu beneiden. Er soll schwer vereinbare Ziele unter einen Hut bringen: Den Kartellen den Markt entziehen, dem Konsumenten Zugang zu unverschnittenem Gras sichern, und gleichzeitig alles dafür tun, dass Uruguay nicht zum internationalen Kifferparadies oder zur Drehscheibe eines neuen illegalen Handels wird. O-TON: Augusto Vitale ...Es una política de reducción de daño, pero no tiene nada que ver con la promoción del uso. Reconoce la existencia de usuarios y les da un acceso seguro. Y también les brinda asistencia, si tienen un uso problemático... SPRECHER 2: „Es ist eine Politik der Schadensbegrenzung. Keineswegs wird dadurch der Konsum gefördert. Das Gesetz erkennt die Existenz von Konsumenten an und gibt ihnen einen sicheren Zugang. Es bietet Hilfe an, wenn dieser Konsum zu einem Problem wird.“ ERZÄHLER: Augusto Vitale soll die Behörde dabei unterstützen. Er ist Generalsekretär des neu gegründeten “Instituts für Regulation und Kontrolle von Cannabis“. Etwa 5000 Einzelanbauer hat es bislang registriert und rund 20 Cannabis-Clubs. Die Auflagen sind strikt. Manche wirken etwas absurd. O-TON: Augusto Vitale ...Esos cultivos, si son de clubes, no se deberían ver desde ningún lado. Lo único que se podrá sentir es el aroma, pero no pueden estar visibles... 9 SPRECHER 2: „Bei einem Club darf man z.B. den Geruch wahrnehmen, aber die Pflanzen darf man von keiner Seite her sehen.“ ATMO: Autofahrt ERZÄHLER: Eine halbe Autostunde vom Zentrum Montevideos entfernt, zweigt ein Schotterweg von der Bundesstraße 1 ab. Bauern ernten dort Gemüse und Obst. Der Weg führt zu einigen unauffälligen einstöckigen Häusern. Unter ausladenden Bäumen versperren zwei Tore die Weiterfahrt. Dahinter beginnt ein schmaler Pfad, beidseitig mit mannhohem Maschendraht eingezäunt. Er endet vor einem mehrfach verriegelten Tor. Auf einem der Torpfosten sind Überwachungskameras montiert. O-TON: Nicolás ...Cruzo los dedos de siga muy tranquilo porque todo esto… se puede complicar el partido donde mucha gente sepa... SPRECHER 3: „Ich bete, dass es weiterhin so ruhig bleibt. Es könnte kritisch werden, wenn viele Leute wissen, was hier vor sich geht.“ ERZÄHLER: Nicolás führt den Besucher in eine geräumige Holzhütte mit Wellblechdach. Es ist der Aufenthaltsraum des Cannabis-Clubs „Tu cultivo“. Hinter einem langgestreckten Tisch steht ein tresorähnlicher doppelt verschlossener Metallschrank. Er entnimmt ihm zwei flache Blechdosen voller getrockneter Blüten und dreht sich einen Joint. Sechs, sieben Stängel würde er wohl täglich rauchen. Der 39-Jährige ist Unternehmer. O-TON: Nicolás …Yo tengo una empresa que importo impresoras, tintas, que ahí tengo 5, 6 técnicos laburando, tengo vendedores… SPRECHER 3: „Ich importiere Drucker und Druckertinte. Fünf Techniker arbeiten für mich, und dann sind da noch die Verkäufer.“ 10 ERZÄHLER: Zwanzig Mitglieder hat der Club. Höchstens 45 dürfen es laut Gesetz werden. O-TON: Nicolás ...el 50% de los socios del club son empleados míos. Yo los contrato por… les busco el perfil, si no fuman no…No entran en la empresa mía si no... SPRECHER 3: „Die Hälfte der Clubmitglieder arbeitet in meiner Firma. Ich sehe sie mir genau an. Wenn sie nicht rauchen, werden sie nicht angestellt.“ ERZÄHLER Wie ernst Nicolás die Bemerkung meint, lässt sich schwer einschätzen. In jedem Fall kennen sich die Mitglieder von „el cultivo“ schon länger. ATMO: Arbeiten, Stimmen ERZÄHLER: Am Wochenende gäbe es hier mehr Geselligkeit. Clubmitglieder kämen, aber meistens nur um sich ihre Dosis abzuholen oder einen Grillabend zu verbringen. Anpacken sei nicht sonderlich beliebt. O-TON: Nicolás No se levantan a las 8 los socios. SPRECHER 3: „Unsere Mitglieder stehen dafür doch nicht um 8 Uhr morgens auf.“ ERZÄHLER: Vorschriften, Dekrete, Regulierungen und das alles für einige „porros“! Nicolás stöhnt über die Bürokratie: Ein Notar habe die Gründung des gemeinnützigen Clubs beglaubigt. Dann stand die Registrierung an: 11 O-TON: Nicolás ...hay presidente, secretario, tesorero, responsable técnico. Se llevan cinco libros, que no estoy muy interiorizado en esa parte porque se encarga el presidente de todo eso, pero todo hay que detallarlo: desde los gastos, de las decisiones, de las reuniones. Se lleva un software también de control de las entregas del cannabis. En teoría, deberían venir a controlar cada cosecha. SPRECHER 3: „Nun gibt es einen Präsidenten, einen Sekretär, Schatzmeister und einen verantwortlichen Techniker. Fünf verschiedene Bücher müssen wir führen, …: dort werden Ausgaben, Entscheidungen und Sitzungsprotokolle festgehalten. Mit einer Software wird die Verteilung des Stoffs kontrolliert. Theoretisch muss jede Ernte kontrolliert werden.“ ERZÄHLER: Wem das alles zu viel ist, kann stattdessen im eigenen Garten oder auf dem Balkon maximal sechs Pflanzen züchten. Vorher muss er allerdings zum Postamt, um sich registrieren zu lassen. ATMO: Postamt ERZÄHLER: Eine Frau im Rentenalter lässt sich gerade ein Paket aushändigen. André fragt die Angestellte am Schalter, welche Papiere für die Registrierung nötig seien. Sie antwortet mit gedämpfter Stimme: Personalausweis und eine Strom- oder Telefonrechnung, auf der der Wohnsitz vermerkt ist. Dann vergewissert sie sich bei einem Kollegen, ob das ausreichend sei. Ist das alles? fragt André. Nein, nein, dann ist da noch ein langer Fragebogen. Die Postfrau breitet die Arme aus. Nur sie dürfe die Antworten in den Computer tippen. Ein Daumenabdruck würde schließlich elektronisch erfasst. Und mit einem Lächeln fügt sie hinzu: Wenn Sie bereits Pflanzen haben, besser nicht angeben. Die Rentnerin schaut ein wenig entgeistert drein. André murmelt beim Hinausgehen: Jetzt verstehe ich, warum einige Freunde sich nicht registrieren lassen. ATMO: Expo 12 ERZÄHLER: Auch Julio Rey vom Verband der Cannabis-Züchter schüttelt den Kopf: O-TON: Julio Rey ...Y si hay algo que tuviera que criticar básicamente, sin los detalles puntuales de la ley, es que fue redactada en una profunda desconfianza hacia el consumidor, hacia el cultivador. Es sumamente restrictiva. Porque no vaya a ser que nosotros, teniendo seis plantitas en casa nos transformemos en Escobar, algo que es bastante absurdo... SPRECHER 3: „Das Gesetz wurde mit tiefen Misstrauen gegenüber den Konsumenten und Marihuana-Anbauern abgefasst. Es ist allzu restriktiv. Weil wir sechs kleine Pflanzen zu Hause züchten, werden wir doch nicht zu Pablo Escobars!“ ATMO: Büro Milton Romani ERZÄHLER: Pablo Escobar, lange einer der mächtigen kolumbianischen Drogenbarone. Sein Leben und Sterben steht für das organisierte Verbrechen das mit Rauschmitteln Milliarden machte, und gleichzeitig auch für den so genannten „Krieg gegen die Drogen“ der bislang rund 180.000 Menschen das Leben kostete. O-TON: Milton Romani ...eso hay que decirlo: la cruzada contra las drogas ha hecho que los derechos humanos sean una piltrafa, porque el combate contra las drogas justifica cualquier cosa... SPRECHER 2: „Man muss es deutlich sagen: Der Kreuzzug gegen die Drogen hat aus den Menschenrechten einen Fetzen Papier gemacht, denn die Drogenbekämpfung hat alles gerechtfertigt.“ MUSIK: Jimi Hendrix "Star Spangled Banner" in Woodstock 13 O-TON: Richard Nixon …Ladies and gentlemen. I want to summarize for you the meeting I just had with partners and leaders. America’s public enemy No. 1 in the United States is drug abuse… ERZÄHLER: US-Präsident Richard Nixon erklärt 1971 Drogen zum Feind Nr.1 der Vereinigten Staaten. Der Krieg gegen Drogen wurde vor allem in Lateinamerika geführt. Gestützt auf das Abkommen über Betäubungsmittel der Vereinten Nationen von 1961 richtete er sich offiziell gegen Anbau, Verarbeitung, Handel und Konsum von Pflanzen und Rohstoffen, aus denen Drogen hergestellt werden können. Dazu gehören Schlafmohn, Coca-Sträucher, aber auch die Cannabis-Pflanze. O-TON: Ronald Reagan …Now we need your support again. Drugs are menacing our society. They are threatening our values and undercutting our institutions. They are killing our children… ERZÄHLER: Drogen bedrohten Gesellschaft und Werte, argumentierte 1986 Präsident Ronald Reagan. Gleichzeitig paktiert die CIA selbst mit Drogenhändlern, um mit den Gewinnen aus den illegalen Geschäften den geheimen Krieg der Contras gegen die linke Regierung Nicaraguas zu unterstützen. O-TON: Bill Clinton …to break up the sources and supply, wether they are cocaine farms in Colombia or meth and amphetamine labs in California and finally reduce the terrible social an economic cause imposed by drugs on our society… ERZÄHLER: Unter Bill Clinton reift schließlich der so genannte „Plan Colombia“, der angeblich die Wurzeln allen Übels ausrotten soll. Die rechtsgerichtete Regierung Kolumbiens wird ab der Jahrtausendwende mit Waffen, Söldnern und Beratern im Wert von 7, 5 Milliarden Dollar ausgestattet. Verdächtige Felder brennen und treiben Bauern in die Flucht; doch vor allem zielt der 14 Plan auf die Vernichtung der Farc-Guerilla. Auch Bolivien wird Kriegsschauplatz. Der US Botschafter gebärdet sich mit seiner Devise „cero coca“ wie ein imperialer Statthalter. Bolivianische Militärs rupfen Coca-Pflanzen, im Auftrag des großen Bruders. Ohne Erfolg. Die unersättlichen Märkte des Nordens versorgen sich auch anderswo. ATMO: "Coca cero" ERZÄHLER: Viel Heuchelei hat Milton Romani, heute Leiter der uruguayischen Drogenbehörde, in diesem Krieg ausgemacht: O-TON: Milton Romani ...Porque vivimos hablando de sustancias prohibidas, de combate al crimen, del mercado ilícito, pero las ganancias van para… los flujos internacionales a bancos de primera y a cuentas… SPRECHER 2: „Wir reden über verbotene Substanzen, über den Kampf gegen das Verbrechen, den illegalen Markt, aber wenig über die Gewinne und entsprechende internationale Geldflüsse. Die werden doch über renommierte Banken abgewickelt.“ ERZÄHLER: Die Multis des organisierten Verbrechens beschränkten sich längst nicht mehr allein aufs Drogengeschäft. O-TON: Milton Romani ...También giran en el rubro del tráfico de armas. Es decir: va cocaína de sur a norte, vienen armas de norte a sur. Y también gira en el rubro de la trata de personas... SPRECHER 2: „Sie sind auch in den Waffenhandel verwickelt: Kokain wandert vom Süden in den Norden, dafür kommen Waffen aus dem Norden in den Süden…Das organisierte Verbrechen mischt auch im Menschenhandel mit.“ 15 ERZÄHLER Tatsächlich reagieren die Kartelle auf den Krieg immer flexibler. Es gleicht einem Katz- und Mausspiel. Sie verlagern Anbau und Produktion in andere Regionen und Länder. Beispielsweise von Kolumbien nach Peru; kaufen sich Politiker; betreiben eigene Flugzeug- und sogar U-Boot Flotten für den Transport der Ware. Das Geschäft blüht. Abermilliarden werden alljährlich umgesetzt. Die Gewinnspannen suchen ihresgleichen, die Schäden ebenfalls. Immer mehr warnende Stimmen erheben sich. Darunter auch die aufgeklärter Konservativer die sich in einer „Kommission zu Demokratie und Drogen“ zusammenfinden . Mitglieder sind der peruanische Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa, Ernesto Zedillo, ehemaliger Staatschef Mexikos, sein kolumbianischer Kollege sowie Fernando Henrique Cardoso, Ex-Präsident Brasiliens. O-TON: Fernando H. Cardoso ...The violence and corruption associated with drug trafficking has reached such a level that democratic institutions are under attack in several Latin American countries... SPRECHER 1: „Gewalt und Korruption, verbunden mit dem Drogenhandel, haben ein derartiges Ausmaß erreicht, dass sie die demokratischen Institutionen in mehreren Ländern attackieren.“ Musik: Chalino Sanchez Con Banda Brava “El Crimen de Culiacan” ERZÄHLER: Mexiko, von manchem bereits als „failed state“ eingestuft, ist Vielen ein abschreckendes Beispiel. Die Mafia ist dort zum Staat im Staate geworden. O-TON: Ricardo Dominguez ...históricamente los narcos, los cárteles compraban funcionarios a través de mecanismos de corrupción. Hoy son ellos mismos los que a veces salen a competir. Sobre todo a nivel municipal… 16 SPRECHER 2: „Früher korrumpierten Drogendealer und Kartelle Beamte. Heute stellen sie sich bei Wahlen als Kandidaten auf.“ ERZÄHLER: Ricardo Dominguez ist Vertreter der „Organisation Amerikanischer Staaten“, OAS, in Montevideo. Die Organisation hat ihren Sitz in Washington. Der Einfluss der USA ist erheblich. Doch auch hier wird mittlerweile nach Berechtigung und Sinn des Kriegs gegen die Drogen gefragt. Ein Bericht von 2013 leitet die Wende ein. Nun gibt es das Recht auf den eigenen Weg. O-TON: Ricardo Dominguez ...el informe lo que hace es entender que no todos piensan iguales, que no todos los países del continente piensan iguales ni tienen las mismas políticas, y que todos tienen el derecho a ser considerados como legítimos desde este punto de vista... SPRECHER 2: „Der Bericht stellt fest, dass nicht alle Länder des Kontinents gleich denken und dieselbe Politik durchführen. Alle hätten jedoch ein Recht darauf, ihre Politik als legitim anzusehen.“ ERZÄHLER: Ganz unerwartet kommt die Wende nicht. Denn auch in den USA, dem Mutterland des „war on drugs“ hat sich die Perspektive geändert. In einigen Bundesstaaten sind Produktion und Verkauf von Marihuana inzwischen erlaubt. Dort floriert das Geschäft. Weniger mit Gras selber als mit der Produktion von Cannabis-Kuchen, -Drinks, -Lotionen bis hin zu Appetitmachern für Haustiere. Der Staat Colorado verzeichnete im letzten Jahr Steuermehreinnahmen von 135 Millionen Dollar. Prominente wie der Hiphop-Star Snoopy Dog stecken Gewinne aus dem Musikgeschäft ins Cannabis-Business. Großanleger stehen in den Startlöchern. Das Geschäft mit den gezackten grünen Blättern gilt als kommende „greenbuck-revolution“, als Dollar-Revolution. 17 O-TON: Augusto Vitale ...es una actividad entre privados. El que produce, el que comercializa y el que puede ir a comprar, el Estado no está tan presente en todo el control de esa cadena... SPRECHER 2: „Es ist ein Geschäft zwischen Privaten. Sie produzieren, vermarkten und kaufen Cannabis. Bei der Kontrolle dieser Kette ist der Staat nicht sonderlich präsent.“ ERZÄHLER Eine Lösung über den freien Markt sei für Uruguay keine Option, meint Augusto Vitale vom Institut für Drogenregulierung. Sein Land wolle Anbau Vertriebskette und Gewinne auch aus gesundheitspolitischen Gründen kontrollieren. Kiffer die sich keinem Club anschließen oder den Eigenanbau registrieren, sollen sich demnächst in der Apotheke versorgen können. ATMO: Farmacia Rivera ERZÄHLER: Die über 100-jährige Apotheke „Farmacia Rivera“ liegt an einer verkehrsreichen Straßenkreuzung im Zentrum Montevideos. Raquel Gerstenblüth und Saúl Szafranski nehmen telefonische Bestellungen auf. Die beiden Pharmazeuten sind sich uneins, was sie von den neuen Gesetzen halten sollen. O-TON: Raquel Gerstenblüth ...Y estamos estimulando a nuestros jóvenes a utilizarla legalmente, que lo van a hacer de hecho con mucho más tranquilidad y con más libertad y sin aquello de que “me están persiguiendo”. Pienso que ahí va a haber como un crecimiento en el mercado... SPRECHERIN 1 „Wir ermuntern damit doch nur unsere Jugend… Sie werden es nun ungestört und freier rauchen ... Ich denke, dass der Markt so nur noch größer wird.“ 18 ERZÄHLER: Raquel Gerstenblüth wird von einem Kunden abgelenkt. Saúl, der sich bis dahin ein wenig im Hintergrund gehalten hat, gibt zu verstehen, dass er mit der Freigabe durchaus einverstanden ist. O-TON: Saúl Szafranski ...Yo pienso que el público va a ser el mismo. De repente va a fumar algo mejor que lo que le están ofreciendo los contrabandistas que traen marihuana de Paraguay... ZITATOR: Ich denke, dass die Zahl der Konsumenten gleich bleiben wird. Aber sie können mit einem Mal einen besseren Stoff konsumieren als das, was die Schmuggler aus Paraguay rüberbringen. ERZÄHLER: Allerdings möchte er selbst lieber kein Marihuana im Regal haben. O-TON: Saúl Szafranski ...Por algo tenemos seccionales policiales con policías, con gente que hay en cada barrio. Que lo despachen en las seccionales policiales. Porque los que nos estamos arriesgando si mañana nos obligan a despachar somos los farmacéuticos. Y en una reunión que nosotros estuvimos con mi señora en el Centro de Farmacias, un farmacéutico dijo: Yo no tengo miedo de venderlo; tengo miedo a los contrabandistas que me van a querer matar porque les estoy haciendo la competencia. ¿Quién me va a proteger a mí?... ZITATOR: Es gibt doch Polizeikommissariate in jedem Stadtviertel. Dort sollten sie den Stoff verkaufen. Wir Apotheker gehen ein Risiko ein. Wir beide waren auf einer Veranstaltung. Dort hat ein Kollege gesagt: Ich habe keine Angst davor, Marihuana zu verkaufen. Ich habe Angst vor den Dealern, die mich töten könnten, weil ich ihnen Konkurrenz mache. ERZÄHLER: Ungeachtet dessen haben sich mehr als hundert Apotheken in der Hauptstadt bereit erklärt, getrocknete Cannabis-Blüten ins Angebot aufzunehmen. 19 Da Eigenanbau für die meisten Menschen insbesondere in Armenvierteln unpraktikabel und die Clublösung teuer ist, dürfte der Apothekenverkauf zur Nagelprobe für eine Lösung à la Uruguay werden. Er dürfte darüber entscheiden, ob den Drogengangs der Markt entzogen werden kann. Doch Cannabis aus der Apotheke lässt auf sich warten. Auch zwei Jahre nach Verabschiedung des Gesetzes fehlt das Entscheidende: der Rohstoff. Die Regierung erntet deshalb Spott. Beispielsweise von der Murga „Diablos Verdes“, einer Karnevalsgruppe die sich „Grüne Teufel“ nennt: ATMO: Diablos Verdes La ley de la marihuana lleva más vueltas que calesita en parque Rodó. Primero era que el estado iba a plantarla y a cosecharla, después que no... ¡AY, M’HIJO!... ZITATOR: …Das Marihuana-Gesetz hat mehr Umdrehungen gemacht als ein Karussell im Rodó-Park. Zunächst wollte der Staat Marihuana anpflanzen und ernten, aber dann hieß es ...nein… ERZÄHLER: Tatsächlich war den Spitzenpolitikern der regierenden „Frente Amplio“ die Vorstellung, dass der Staat selber Marihuana pflanzt, unerträglich. Insbesondere Tabaré Vazquez, der dem populären „Pepe“ Mujica im März 2015 im Präsidentenamt folgte, zeigt in der Drogenpolitik weniger Engagement als sein Vorgänger, wenn es um Cannabis geht. Auch aus der Verwaltung kam Widerstand, wie Martin Collazo von „Proderechos“ beobachtete. O-TON: Martin Collazo ...Muchos de los técnicos que trabajan en el Estado vienen de una perspectiva de la enfermedad y del deseo de la abstención, y ta, están muy distantes de muchos avances en torno a la reducción de daño. Y eso impacta sobre la policía, impacta sobre los operadores de salud... SPRECHER 3: „Viele vom Staat beschäftigte Experten sehen den Drogenkonsum weiterhin als Krankheit an. Sie setzen auf Drogenverzicht und 20 sind weit entfernt von einer Sichtweise, die Schadensbegrenzung im Auge hat. Das wirkt sich auf Polizei und Gesundheitsbehörden aus.“ ATMO: Diablos Verdes ...Salieron de Psiquiatría escandalizados, y al pronunciarse la asociación Argumentaron los daños que la plantita provocaría sin condición... ¡MACABRO! Estaban horrorizados, casi no duermen de preocupados muy estresados ¡QUE SALADOS! Pensar que con las pastillas que ellos recetan quedas tarado pero es legal... ZITATOR: …entrüstet trat die Vereinigung der Psychiater auf. Sie beschworen die Schäden, die das Pflänzlein ohne Zweifel hervorrufen würde. Makaber. Sie schaudern, schlafen kaum vor Sorgen, stehen unter starkem Stress. Wie witzig! Wenn man bedenkt, dass man mit den Tabletten, die sie verschreiben, verrückt werden kann. Aber das ist ja legal… ERZÄHLER: Mühsam fand sich schließlich ein Kompromiss für den Anbau. Privatinvestoren konnten sich um Lizenzen bewerben. Polizisten übernehmen dann den Schutz des Geländes. Ein zehn Hektar großes Areal ist inzwischen eingezäunt. Das Feld liegt weit außerhalb von Montevideo. Über die genaue Lage gibt die Drogenbehörde ungern Auskunft. ATMO: Stimme, Wind ERZÄHLER: Ein Wachmann erscheint, stellt sich mit Vornamen vor. Freundlich erklärt José, dass eine Besichtigung nicht in Frage käme. Schon wegen der heimischen Medien, die Regierung habe genug Ärger am Hals. Vielleicht gälte das Verbot ja nur für uruguayische Journalisten? José wählt auf seinem Smartphone die Nummer von Augusto Vitale, dem Chef des Drogeninstituts. Wiederholte Versuche scheitern. Resigniert gibt er auf: Fotos außerhalb des Zauns wolle er dem deutschen Journalisten erlauben. Später wird Vitale anrufen: Auf keinen Fall Bilder veröffentlichen! Seine Stimme klingt nervös. 21 ERZÄHLER: Statt Plantagenbesichtigung Treffen mit Gastón Rodriguez. Er ist Mitbegründer von „Simbiosys“, einem der beiden Unternehmen, die eine Lizenz zum Marihuana-Anbau ergattert haben. ATMO: Kneipe, Stimme Gastón ERZÄHLER: Gastón Rodriguez ist 43 Jahre alt und Professor für Industriedesign. Auf keinen Fall wollte er sich in der Fakultät seiner Hochschule treffen. Noch immer regt er sich über den Titel im vielgelesenen „Observador“ auf: „Universitätsprofessor gewinnt Lizenz um Marihuana zu produzieren!“ Danach hätten ihn nicht nur Kollegen, sondern auch etliche Studenten schräg angesehen. Mit 16 Jahren habe er sich erstmals einen Joint gedreht, seitdem fasziniere ihn Cannabis, eine magische Pflanze. Über dreihundert Wirkstoffe ließen sich extrahieren. Er rauche immer noch, aber süchtig sei er nicht. O-TON: Gastón Rodriguez ...Entonces, hace cuestión de tres años, con un amigo nos planteamos. Él me llama y me dice: Che, ¿viste que está esto de que va a salir la ley y no sé qué? ¿Y quién va a estar atrás de esto? Y digo: Mirá, la verdad que no sé, pero la verdad, me encantaría poder participar de este proceso. SPRECHER 3: „Vor etwa drei Jahren habe ich das Ganze mit einem Freund durchgecheckt. Er hatte mich angerufen: He, hast du davon gehört, dass dieses Gesetz da verabschiedet wird. Wer wird sich darum kümmern? Ich sagte ihm: ich weiß nicht, aber mir würde es Spaß machen, mitzumachen.“ 22 ERZÄHLER: Sein Freund ist Agronom; ein Wirtschaftsfachmann kommt dazu und sie gründen „Simbiosys“. Bei der Suche nach Investoren wurden sie bei einem internationalen Technologie-Unternehmen fündig. Mit zwei Millionen Dollar auf der Habenseite bewarb sich das Start Up um die Lizenz. In Konkurrenz zu 21 weiteren Firmen . Eine mehrmalige Überprüfung der eingereichten Unterlagen war notwendig, damit sich kein schmutziges Kapital einschleichen konnte. Zwei Unternehmen blieben schließlich übrig. O-TON: Gastón Rodriguez ...Bueno, nuestra ecuación es muy ajustada, tremendamente ajustada, sobre todo el primer año, con un riesgo muy alto... SPRECHER 3: „Unsere Berechnungen sind knapp, besser gesagt: äußerst knapp. Das ganze Unternehmen geht ein sehr großes Risiko ein. Vor allem im ersten Jahr.“ O-TON: Gastón Rodriguez ... y si Uruguay logra elaborar un, digamos, una producción donde el costo del gramo es cercano a un dólar, claramente estamos diseñando un nuevo mecanismo de producción de cannabis muy barato, muy barato. No existe en ningún lado del mundo…. SPRECHER 3: „Aber wenn es Uruguay gelingt Cannabis herzustellen, das pro Gramm etwa einen Dollar kostet, dann haben wir etwas Neues geschaffen. Das heißt eine sehr, sehr billige Produktion von Cannabis, wie nirgendwo auf der Welt.“ ERZÄHLER: Gastón wirkt optimistisch, verspricht einen ökologischen Anbau, der die Verbraucher nicht mit Pestiziden belastet. Doch er weiß, dass das Rennen noch gar nicht richtig begonnen hat. O-TON: Gastón Rodriguez ...ya se habla, ya se dice, se comenta que el narcotráfico ya está elaborando una estrategia de mejora de calidad... 23 SPRECHER 3: „Es heißt, der Drogenhandel ist dabei, eine Gegenstrategie zu entwerfen, die unter anderem auf eine Verbesserung der Qualität hinausläuft.“ ERZÄHLER: Auch die Behörden sind nervös. Ihnen ist wohl bewusst, dass die Drogenbanden nicht tatenlos zusehen werden, wie ihnen der Markt streitig gemacht wird. Schließlich geht es mittelfristig nicht nur um das kleine Uruguay. Ganz bewusst wurde eine Art genetischer Stempel entwickelt: O-TON: Milton Romani ...Ésta es la que vamos a producir: es una originalidad genética uruguaya por la cual podemos determinar la trazabilidad, es decir, que la genética de esta marihuana, si va para otra parte, puede ser identificada, no puede haber fuga... SPRECHER 2: „Wir werden original uruguayische Cannabis-Gene produzieren. So können wir stets den Weg zurückverfolgen. Wenn dieser Stoff woanders auftaucht, kann er leicht identifiziert werden.“ ERZÄHLER: Zum Beispiel an Uruguays Grenzen . Die Nachbarländer sehen das Experiment mit äußerst gemischten Gefühlen, wenn auch mit einer gewissen Neugier. ATMO: Uruguayisches Fernsehen ERZÄHLER: Abendnachrichten im Kanal „La Tele“. Die cronica roja, die rote Chronik, die allabendliche Verbrechensbilanz: …häusliche Gewalt…bewaffneter Überfall auf einen Supermarkt… noch ein Raub…zum x-ten Mal wird der Auftragsmord an einem paraguayischen Dealerpärchen thematisiert. Drogengewalt ist zur alltäglichen Nachricht geworden. Dabei geht es längst nicht nur um Marihuana. Für einen einzigen Tag summiert die Zeitung „El Pais“: 24 ZITATOR: Mindestens vier Tote, mehrere Verletzte, zwei Häuser mit Molotov-Cocktails abgefackelt, zwei ausgebrannte Autos und drei Feuergefechte sind das Resultat eines Krieges zwischen zwei Drogenfamilien. ATMO: Busfahrt ERZÄHLER: Man muss in die Armenviertel fahren, um zu verstehen, welche Schwierigkeiten und Hoffnungen sich mit dem tastenden Versuch des Staates verbinden, den Umgang mit Drogen gleichzeitig zu liberalisieren und zu reglementieren. In ein Viertel wie „Borro“, das vom uruguayischen Wirtschaftswachstum weitgehend abgekoppelt scheint. ATMO: Don Cony "Yo soy Marconi" ...Éste es mi barrio / éste es mi Borro / Ésta es la calle que me vio crecer desde que era un cachorro... ZITATOR: …Das ist mein Viertel, das ist mein Borro. Das ist die Straße, auf der ich aufgewachsen bin, als ich ein junger Spund war… ERZÄHLER: Neben einfachen Häusern mit Vorgärten besteht das Viertel aus feuchten Bauten, zumeist mit Dächern aus Zinkblech und Fußböden aus Erde oder Zement, kalt im Winter und unerträglich heiß im Sommer. Ein Labyrinth von unbefestigten Wegen, staubig im Sommer, bei Regen nicht selten voller Schlamm, führt in und durch das Viertel. Abwässer fließen entlang der Wege, die gleichzeitig Spielplätze für die Kinder sind. ATMO: Kinder spielen Fußball ATMO: Carrito ERZÄHLER: Allmorgendlich ziehen von hier zahlreiche Pferdewagen los. Abends kommen sie mit Abfällen aus den Straßen Montevideos zurück. 25 O-TON: Juan Carlos Silva ...Bueno, tenemos de todo: hay delincuencia, hay personas trabajadoras, hay personas que son clasificadoras que son trabajadores de la economía informal, hay feriantes, hay pintores, hay albañiles, changas individuales de la construcción, de mil cosas… SPRECHER 2: „Hier leben alle möglichen Menschen: ehemalige Häftlinge, Personen, die Müll klassifizieren, also Arbeiter des informellen Sektors. Es gibt außerdem Markthändler, Maler, Maurer und Gelegenheitsarbeiter auf dem Bau.“ ERZÄHLER: Juan Carlos Silva ist hier geboren. O-TON: Juan Carlos Silva ...Tenemos familias destruidas. Si mi madre y mi padre están en la droga, o están en la delincuencia, o yo me crié sin padre, con una madre abandónica, con padrastro borracho, con palizas, con violencia doméstica, si yo me crié en la calle… SPRECHER 2: „Hier leben zerrüttete Familien. Zerrüttet, weil sich Mutter oder Vater mit Drogen abgeben oder sich im kriminellen Milieu bewegen. Oder weil man ohne Vater, aber mit einer Mutter aufgewachsen ist, und mit einem Stiefvater, der säuft, und schlägt. Oder, weil man auf der Straße aufgewachsen ist.“ ERZÄHLER: In einem Hauseingang stehen ein paar Jugendliche herum, unterhalten sich, schauen kurz hoch. Misstrauisch, herausfordernd. Ein selbst gedrehter „porro“ wird herumgereicht. An einer Ecke wird mit Kokain gedealt, an einer anderen mit Pasta Base, eine aus Kokainresten gewonnene Substanz. Boca, Mund oder Schlund, werden die Verkaufsplätze der Dealer genannt. Das kann eine Straßenecke, ein verlassenes verwildertes Grundstück sein oder eine Hütte. In jedem Viertel gebe es reichlich bocas, sagt Juan Carlos: 26 O-TON: Juan Carlos Silva ...Ahora, lo insólito es ver algún policía, jefe de Policía a las 4 de la mañana conversando con el narco, ¿no?... SPRECHER 2: „Unerhört, wenn man dann um vier Uhr morgens einen Polizisten, manchmal gar einen Polizeichef sieht, wie er sich mit einem Drogendealer unterhält.“ ATMO: Polizeisirenen ERZÄHLER: Den Kampf um den illegalen Markt fechten Drogenbanden immer brutaler aus. Ein Auftragskiller ist schon für umgerechnet 150 Dollar zu haben. Die jährliche Mordrate stieg in den letzten zehn Jahren um 30 Prozent. ATMO: Polizeisirenen ERZÄHLER: Die Regierung schickt schwer bewaffnete, vermummte Stoßtrupps der „Guardia Republicana“ in einige Viertel. Eine noch immer verschreckte Lehrerin berichtet, dass erst vor ein paar Tagen auf dem Schulhof Schüsse fielen. Abrechnung unter Mafiosi. Ihren Namen will sie nicht nennen. ATMO: Don Cony "Yo soy Marconi" ...Basta ya de poner presión./ Ya no estamos en la dictadura para tanta represión... ZITATOR: …Schluss mit der Repression. Wir leben doch nicht mehr in der Diktatur... ERZÄHLER: Die Gewalt hat deutlich zugenommen, seit Pasta base das Drogensortiment der Dealer erweitert hat. 27 O-TON: Florencia Lemos ...En el 2002, llegó la pasta base, que es conocida como crack en otros lados. Cuando no había marihuana, ofrecían esas otras drogas... SPRECHERIN 1: „2002 ist Pasta base, in anderen Ländern auch unter dem Namen Crack bekannt, in unser Land gelangt. Als kein Marihuana da war, boten Dealer diese Droge an." ERZÄHLER: Pasta base besteht aus Resten der Kokainraffination und Natriumkarbonat. Nicht selten wird Pasta base auch mit Benzin und Koffein gestreckt. Die Droge ist viel billiger und wirksamer als Kokain. Depression wechselt sich mit Euphorie ab. Der Effekt dauert vielleicht 10 oder 15 Minuten, manchmal auch mehr. O-TON: Osvaldo Pazos ...pasta base es una droga que es muy adictiva y destructiva, porque te lleva a hacer cosas que quizás con otras drogas no las hacías, como vender todo lo que tenés, como engañar, mentir... SPRECHER 3: „Pasta base macht extrem süchtig. Die Droge zerstört dich. Denn sie bringt dich dazu, Dinge zu tun, die du mit anderen Drogen nicht anstellen würdest: Zum Beispiel alles zu verkaufen, was du hast, zu betrügen und zu lügen.“ ERZÄHLER: Osvaldo Pazos, seit Jahren clean, hat seine Erfahrungen mit der Billigdroge gemacht. Osvaldo hat mit 17 Jahren erstmals Marihuana geraucht. Aus Neugierde. In den Nächten, auf Fiestas hat der heute 40-jährige dann alles Mögliche probiert: Kokain, Acid, LSD, bis er schließlich bei pasta base landete. O-TON: Osvaldo Pazos ...porque termina robando cosas a los padres o robándoles dinero a los padres para poder venderlas para poder consumir... 28 SPRECHER 3: „Schließlich klaust du Sachen deiner Eltern, um sie zu verkaufen und wieder Geld für den Stoff zu haben. Oder du entwendest ihnen Geld.“ ATMO: Don Cony "Yo soy Marconi" ...Por eso pido la oportunidad para que esos niños de mi barrio y del país sigan creciendo y no se críen en la calle como criminales … ZITATOR: …Deshalb bitte ich um eine Chance. Für diese Kinder aus meinem Viertel und im ganzen Land. Damit sie normal heranwachsen können und sich nicht auf der Straße zum Kriminellen entwickeln… ERZÄHLER: Im Innenhof eines besetzten Hauses im Zentrum Montevideos ist ein Tisch aufgebaut. Nach und nach trudeln junge Leute ein. ATMO: Proderechos, Stimmen ERZÄHLER Allwöchentlich trifft sich hier die Gruppe „Proderechos“. Sie hat für die Legalisierung von Cannabis gestritten, doch es geht ihr nicht in erster Linie um das private Kiff-Vergnügen. „Proderechos“ versteht sich als Teil einer politischen Bewegung, die für Rechte von Minderheiten und mehr soziale Gerechtigkeit kämpft. O-TON: Florencia Lemos ...yo creo que muchos de los problemas que tienen los usuarios conflictivos de drogas son problemas que van más allá de las drogas. Son problemas de exclusión social, de tener bajos ingresos, de tener una educación también baja, de no tener una contención social que los ampare... SPRECHERIN 1: “Viele der Probleme, denen Drogenkonsumenten ausgesetzt sind, gehen über die Drogen hinaus. Es handelt sich um Probleme des gesellschaftlichen Ausschlusses, niedriger Einkünfte, unzureichender Erziehung, und nichts zu haben, was die Menschen schützt.“ 29 ERZÄHLER: Sozialhilfe sei auf Dauer keine Lösung. Die Lebensverhältnisse müssten grundlegend verbessert, der Kreis aus Armut, Sucht und Gewalt durchbrochen werden. Helfen könne dabei auch, nicht nur Cannabis, sondern alle Drogen aus der Illegalität zu holen. O-TON: Martin Collazo ...En que, en realidad, hay que regular todos los mercados. También el mercado de cocaína, por ejemplo. Y probablemente, si regulamos el mercado de cocaína, otros usos más heavy, como la pasta base, disminuyan... SPRECHER 3: „Eigentlich müssten alle Drogenmärkte reguliert werden. Auch der illegale Kokainhandel. Wenn wir diesen Markt regulieren könnten, würde sich wohl auch der problematische Konsum von Pasta Base verringern.“ ERZÄHLER: ergänzt Martin Collazo. Er sagt, was Viele denken und manche Initiatoren des uruguayischen Weges trotz aller Hürden und Verzögerungen weiterhin hoffen. Nur bestätigen möchte es im Regierungspalast keiner. Immerhin lässt sich Milton Romani, Chef der nationalen Drogenbehörde, dann doch ein vorsichtiges Statement entlocken: O-TON: Milton Romani ...Entonces, sí, efectivamente, si la experiencia uruguaya es exitosa, puede servir como orientación general a que es posible controlar las sustancias dañinas de otra manera... SPRECHER 2: „Wenn dann tatsächlich eines Tages das uruguayische Experiment erfolgreich ist, könnte es als allgemeine Orientierung dienen und zeigen, dass es möglich ist, schädliche Substanzen auf andere Art und Weise als bisher zu kontrollieren.“ ATMO: Stimmengewirr, Musik 30 ERZÄHLER: Ein lauwarmer Sommerabend. Kein Tisch ist frei im „Brecha“, einer Eckkneipe in Montevideo. Treffpunkt junger Leute, kaum grauhaarige. Es geht auf Mitternacht zu. Die Fenster sind weit geöffnet. Die Rockgitarren werden fast vom Stimmengewirr verschluckt. Rings um den Eingang glimmt es. Auch hier ein herb süßlicher Geruch von Joints. Doch drinnen herrscht reine Luft. Beim Rauchverbot in geschlossenen Räumen ist Uruguay eisern. Zumindest diese Regulierung hat am Rio de La Plata funktioniert. MUSIK: Bajofondo "Pide piso" (CD: Presente) ABSAGE: High in Uruguay Wie Montevideo den Drogenkrieg beenden will Ein Feature von Karl Ludolf Hübener Es sprachen: Daniel Berger, Ralf Drexler, Walter Gontermann, Tanja Haller, Till Klein, Ruth Schiefenbusch und Carlos Lobo Technische Realisation: Dirk Hülsenbusch und Jeanette WirtzFabian Regieassistenz: Natia Koukoulli-Marx Regie: Thomas Werner Redaktion: Thomas Nachtigall Eine Produktion des Westdeutschen Rundfunks mit dem Deutschlandfunk 2016. 31
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