Prof. Dr. Günter Rieger Fünf Thesen in (hoffentlich) fünf Minuten 1

Prof. Dr. Günter Rieger
Fünf Thesen in (hoffentlich) fünf Minuten
1. „Angst essen Seele auf“ (R.W. Fassbinder: 1974) und manchmal auch den
Verstand.
Kriminalpolitik gestaltet sich seit Jahrzehnten in einem gesellschaftlichen Umfeld
von Kriminalitätsfurcht, Risikoorientierung und Sicherheitsdenken. In diesem
Klima wächst - trotz gesicherter, anderslautender kriminologischer Befunde zur
tatsächlichen Kriminalitätsentwicklung - die Furcht vor Kriminalität im
allgemeinen und Gewalt und Sexualstraftaten im besonderen, wird regelmäßig
eine punitivere Strafpolitik und mehr Kontrolle gefordert, werden immer neue
Gruppen (jugendliche Gewalttäter, Pädophile usw.) zu unmittelbar realen
Bedrohungen stilisiert. Die jüngsten Entwicklungen deuten darauf hin, dass nun
die Flüchtlinge zur Projektionsfläche dieser diffusen Alltagsängste werden. In
diesem Fall kommt dann verschärfend - als weiteres angstgetriebenes Phänomen
- hinzu: Angst (ver-)führt zu Generalisierung und Stereotypisierung (Sunstein
2007). Flüchtlinge und Migranten werden als Gruppe wieder besseren
(kriminologischen) Wissens zum allgemeinen Kriminalitätsrisiko (phantasiert)
(erhellend für den Bereich der Jugendkriminalität Walter 2016).
2. Oberstes Gebot: Differenzierung und Individualisierung.
Sowohl in ihren fachlichen Interventionen wie im Bereich der
Öffentlichkeitsarbeit muss Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft
differenzieren und individualisieren. Den Ausländer, den Flüchtling oder den
Menschen mit Migrationshintergrund gibt es nicht und darf es für die
Straffälligenhilfe nicht geben. Denn es macht mit Blick auf Auftrag, Bedarfe und
Ressourcen möglicher Klientel einen erheblichen Unterschied, ob wir es bei den
(zeitweise oder dauerhaft) in Deutschland lebenden Ausländern mit
Freizügigkeit genießenden Unionsbürgern, Asylbewerbern, geduldeten
Ausländern, Angehörigen ausländischer Streitkräfte, Touristen oder sogenannten
Illegalen (Sans Papiers) zu tun haben; ob Menschen mit Migrationshintergrund
(die nach ihrem Pass sowohl Ausländer als auch Deutsche sein könne) in der BRD
geboren und sozialisiert sind, ob ihre Eltern neu zugewandert sind oder nur ein
Elternteil eine Migrationsgeschichte hat, ob sie als Aussiedler oder Spätaussiedler
unmittelbar die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten haben oder auch nach 30
Jahren im Gastarbeiterstatus verharren (vgl. Knödler 2009).
3. Straffälligenhilfe muss in der Arbeit mit MigrantInnen „das Rad nicht neu
erfinden“.
Oberster (quasi verfassungsrechtlich geschützter) Auftrag ist die
Resozialisierung straffällig gewordener Menschen und zwar unabhängig davon,
über welche Staatsbürgerschaft jemand verfügt und welchen Aufenthaltsstatus er
genießt. Die Straffälligenhilfe ist beauftragt „Voraussetzungen für eine soziale
Eingliederung und zur Bekämpfung des Rückfalls“ (ebd., S. 24) zu schaffen. Sie
muss soziale Hilfen (Wohnen, Arbeit, Sprache, Bildung, Netzwerke/Kontakte,
Behandlungsangebote, psychosoziale Unterstützung) zur Lösung persönlicher
Probleme zur Verfügung stellen. Letztlich also das, was Straffälligenhilfe immer
schon tut. Sicher wird es dazu notwendig sein, die MitarbeiterInnen in
spezifischen
ausländerbzw.
aufenthaltsrechtlichen
Angelegenheiten
weiterzubilden und interkulturelle Kompetenzen zu fördern. Aber gerade mit
Blick
auf
letztere
ist
auch
festzustellen,
dass
SozialarbeiterInnen/SozialpädagogInnen es immer schon mit KlientInnen zu tun
hatten, deren Lebenswelten ihnen letztlich mehr oder weniger fremd sind und es
insofern in Arbeitsweisen und Haltung in der Hilfe für Menschen mit und ohne
Migrationshintergrund wie auch bisher auf Achtung (Respekt) des Klienten,
Einfühlungsvermögen (Empathie) und Echtheit (Authentizität) ankommt. Dies
für die Bedingungen einer Einwanderungsgesellschaft auszubuchstabieren ist die
eigentliche Herausforderung.
4. Wichtig: Auftragsklärung.
Wenn in unserer Gesellschaft Integrationsprobleme auftreten, dann wird nach
Sozialer Arbeit gerufen und diese fühlt sich dann auch meist gleich in der Pflicht.
Dies führt aber schnell zur Überforderung und Verunsicherung auf der Ebene der
SozialarbeiterInnen in der Fallarbeit vor Ort. Nicht nur dass allzu oft die
notwendigen Ressourcen für professionelle Sozialarbeit nicht zur Verfügung
gestellt werden, sondern zuallererst, dass gar nicht klar ist, was von Sozialer
Arbeit erwartet wird. Soziale Arbeit (hier die Straffälligenhilfe) muss deshalb
klären, was sie in welchen Fällen leisten muss, kann und will. Dabei gilt es,
ebenso die Bedarfe der KlientInnen (Sprachförderung, Staatsbürgerkunde,
Arbeit, Ausbildung, Wohnen, soziale Kontakte, religiöse Bedürfnisse usw.)
wie die gegebenen gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen zu
berücksichtigen (Wer darf bleiben? Wer muss gehen? Welche Ressourcen
werden für welche Arbeit zur Verfügung gestellt?).
5. Straffällig gewordene „Neuzuwanderer“ und Subkulturen stellen eine neue
Herausforderung für die Straffälligenhilfe dar.
Zwei Gruppen ist vor dem Hintergrund der neuesten Einwanderungssituation
besondere Aufmerksamkeit zu schenken: der Gruppe der nicht integrierten
„Neuzuwanderer“ und den (z. T.) daraus entstehenden Subkulturen. So muss
dringend geklärt werden, welche Aufgaben und Möglichkeiten Straffälligenhilfe
mit Blick auf nicht integrierte straffällige Neuzuwanderer hat
(Orientierungshilfe/Bürgerkunde; Soziale Unterstützung; Sprachförderung;
Rückkehrhilfe ...). Und freie Straffälligenhilfe und Jugendhilfe sind gefordert, dort
zu reagieren, wo sich jugendliche Subkulturen bilden, aus denen heraus
Straftaten begangen werden. Die Rechtswissenschaftlerin Monika Frommel
(2016) vertritt beispielsweise mit Blick auf die Vorkommnisse in der
Silvesternacht in Köln die These: das Problem sind nicht die Flüchtlinge, sondern
„Subkulturen wie die Maghreb-Banden“. „Hier sind alle Voraussetzungen erfüllt,
um hemmungslos Straftaten zu begehen. Schließlich wollen die meisten wieder
zurück in ihre Heimat und nur zu möglichst viel Geld kommen, um dann zuhause
besser leben zu können. Sie lernen, ohne jeden Respekt vor den Rechten anderer
zu agieren. Das Problem sind nicht so sehr Herkunft, ´Kultur der Ehre´, oder ein
zurückgebliebenes Frauenbild, sondern die Regeln dieser Subkulturen. Sie erst
festigen eine hohe Aggressivität, die es normal erscheinen lässt, regelmäßig zu
klauen, grapschen, betrügen und einzuschüchtern“.
Lesehinweise:
Frommel, M. 2016: Legal, illegal, alles egal. Für sexuelle Gewalt wie in Köln sind nicht
pauschal Flüchtlinge verantwortlich, sondern kriminelle Subkulturen, SZ vom
11.02.2016.
Knödler, C. 32009: Straftäter nicht-deutscher Nationalität, in: Cornel, H. u. a. (Hrsg.):
Resozialisierung. Handbuch, Baden-Baden, S. 422-437.
Sunstein, C. R. 2007: Gesetze der Angst. Jenseits des Vorsorgeprinzips, Frankfurt/M.
Walter, J. 2016: Jugendkriminalität und Zuwanderung, in InfAuslR 1/2016, S. 37-41 (als
Download frei verfügbar).