gekorene Kollektivgüter

Theorie der Wirtschaftspolitik
WS 2015/16
Prof. Dr. Gerhard Wegner
1
Gliederung
Theorie der Wirtschaftspolitik
I.
Wiederholung: Wirtschaftspolitik und marktwirtschaftliche
Ordnung – eine Systematisierung der Aufgabenfelder
II.
Verfügungsrechte, Transaktionskosten und Regulierung –
eine Systematisierung der Allokationspolitik
III.
Wettbewerbspolitik – Begründungsfragen, Leitbilder und
praktische Probleme
IV.
Verteilungspolitik – Begründungsfragen und
Umsetzungsprobleme
2
V. Zur ökonomischen Theorie des Politikversagens
3
Literatur
Streit, Theorie der Wirtschaftspolitik, 5. Aufl., Düsseldorf.
Wegner, G. (2013), „Wirtschaftspolitik“; in: Heuser, J./ Priddat, B.P./
Spoun, S. (Hrsg.), Die ganze Welt der Wirtschaft, Bd. I., S. 111 – 117.
Fritsch/Wein/Ewers, Marktversagen und Wirtschaftspolitik, München,
1999
Cassel, D.; H. Berg; K. H. Hartwig (2003), Theorie der Wirtschaftspolitik,
in: D. Bender;u.a., Vahlens Kompendium der Wirtschaftstheorie und
Wirtschaftspolitik, 8. A., Bd. 2, München (Vahlen)
Kath, D. „Sozialpolitik; Vahlens Kompendium, S. 479 – 541.
Motta, M. (2004), Competition Policy. Theory and Practice, Cambridge
Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen
Entwicklung: www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de
4
Barr, N. (2004), Economics of the Welfare State, Oxford University
Press.
5
I.
Wiederholung: Wirtschaftspolitik und
marktwirtschaftliche Ordnung - eine
Systematisierung der Aufgabenfelder
6
Kernfunktionen des Staates
Protective State
(schützender Staat)
Productive State
Staat als
Leistungsanbieter
Schutz der ökonomischen
Grundfreiheiten
Regulating State
„regulierender Staat“
Schutz des
Wettbewerbs
7
Erweitertes liberales Aufgabenmodell => Verteilungspolitik
Schutz der Eigentumsrechte
•
•
•
•
Schutz des Eigentums der Individuen gegenüber
anderen Individuen (Raub, Diebstahl)
Schutz des Eigentums gegenüber staatlicher
Herrschaft (in Autokratien ein besonderes Problem,
weil sich der Herrscher bestenfalls freiwillig
unterwirft)
eigentumsrechtlicher Schutz von Geldforderungen der
Individuen untereinander (im Rahmen von
Kreditverträgen) => Voraussetzung für komplexere
Tauschprozesse auch außerhalb von Nahbeziehungen
=> Rechtsstaatlichkeit, unabhängige Gerichte und
Verwaltung
8
•
•
eigentumsrechtlicher Schutz von Geldforderungen der
Privaten gegenüber staatlicher Herrschaft =>
Verpflichtung zur Einhaltung von Kreditverträgen
=> war historisch der entscheidende Schritt für die
Herausbildung des entwickelten Kapitalismus (England,
Ende des 17. Jahrhunderts).
Vertragsfreiheit (einschl. Gewerbefreiheit) der Individuen
=> ist für heutige marktwirtschaftliche
Transformationsprozesse von überragender Bedeutung
(Bsp.: Transformation in Schwellen- und
Entwicklungsländern)
9
Der Staat als Leistungsanbieter
Leistungen sind nicht marktfähig (öffentliche Sicherheit,
Küstenschutz)
Leistungen sind prinzipiell marktfähig, werden aber nicht
oder nur “ungenügend” vom Markt bereitgestellt oder
nachgefragt (Kulturangebote)
Leistungen sind marktfähig, können aber nicht
wettbewerblich angeboten werden => subadditive
Kostenfunktionen („fallende Durchschnittskosten“)
10
Der Staat als Regulierer von Wirtschaftsbeziehungen
Regulierung stellt eine staatliche Verhaltenskorrektur von
Marktteilnehmern in einem begrenztem Wirtschaftsbereich dar:
- erfolgt sektorspezifisch
- mit regulierungstypischen Instrumenten
Regulierung kann in Form sektorspezifischer Besteuerungen
oder Subventionen erfolgen (Ausgleich externer Effekte;
„Pigou-Steuer“)
anderes Beispiel: Bankenregulierung (z.B. in Bezug auf
Eigenkapital); Regulierung auf dem Markt für Mietwohnungen;
11
Regulierung im engeren Sinne:
tritt neben marktkonstituierenden Vorschriften oder
modifiziert diese;
weitere Beispiele: Zulassungsvorschriften, Vorschriften
für das In-Verkehr-Bringen von Gütern,
Informationspflichten von Anbietern gegenüber Kunden;
Vorschriften für Vertragsbeziehungen
Regulierung im weiteren Sinne:
branchenübergreifend in einem spezifischen Bereich; z.B.
Arbeitsmarktregulierung
12
bereits diskutierte Fälle von Marktversagen:
1. Wettbewerbsversagen: keine atomistische Marktstruktur
(obwohl möglich); atomistische Marktstruktur nicht
sinnvoll
2. externe Effekte/Kollektivgüter (Austauschbeziehungen
zwischen Individuen, die nicht in Preisen reflektiert werden)
3. unvollständige Information (Marktintransparenz z.B. in
Form von Desinformation der Nachfrager über
Beschaffenheit von Transaktionsobjekten).
13
Leitfragen:
 Unter welchen Umständen sollte der Staat eingreifen?
=> gesell. Wohlfahrt als normatives Kriterium
 Können mit Eingriffen unbeabsichtigte Nebenwirkungen
verbunden sein?
 Können sich vermeintliche Marktunvollkommenheiten
auflösen, weil sie nur temporär sind?
 Kann die Wirtschaftspolitik Anpassungsprozesse auf
Märkten fördern?
 Gibt es Nachteile einer staatlichen Intervention?
=> Hinweis auf die Finanzmarktkrise; staatliche und
private Banken haben versagt; welche Lehren sind
daraus zu ziehen?
14
Nach welchem Leitbild soll die Wirtschaftspolitik vorgehen:
Leitbild I:
Kritik:
Wohlfahrtsoptimum soll realisiert werden =>
Theorie des Marktversagens
(Fritsch/Wein/Ewers und viele andere
Lehrbücher); => Ist das Wohlfahrtsoptimum
verfehlt, liegt Marktversagen vor
=> neoklassisch-stationärer Ansatz
Marktversagen liegt eigentlich immer vor, also
könnte die Wirtschaftspolitik im Prinzip auf jedem
Markt eingreifen
Motivationseinwand: Haben staatliche Akteure ein
Eigeninteresse, das dem Wohlfahrtsoptimum
entgegen arbeitet?
Wissenseinwand: Steht das Lenkungswissen zur
Verfügung ?
15
Leitbild II:
Wirtschaftspolitik sollte Marktprozesse fördern,
die Unvollkommenheiten auflösen oder entdecken
=> Förderung der marktendogenen
Fehlerkorrektur (Beispiel aus Vorlesung im
vergangenen Semester: Senkung von
Marktzutrittsschranken, damit sich Monopole
auflösen statt Preisregulierung von
Monopolen)
=> prozess- statt ergebnisorientiert
klassisch-evolutorischer Ansatz
16
II. Verfügungsrechte, Transaktionskosten und
Regulierung – eine Systematisierung der
Allokationspolitik
1.
2.
3.
4.
5.
Marktfähigkeit, Handlungsrechte und Ausschlußkosten
Kollektivgüter
Externe Effekte als Kollektivgutproblem
Transaktionskosten
4.1. Die Coase’sche Unterscheidung
4.2. Vorgelagerte Märkte und innere Institutionen
4.3. Infrastrukturgebundene Transaktionskosten
Koordinationshemmnisse durch Substitutionskosten
Literatur: Streit, S. 66 – 81.
17
1.
Marktfähigkeit, Handlungsrechte und
Ausschlußkosten
Ausschließbarkeit macht ein Gut marktfähig
Bewirtschaftung wird durch Rivalität nötig,
marktmäßiger Tausch wird durch Ausschließbarkeit
möglich.
ausschlaggebendes Kriterium für Marktfähigkeit ist
Ausschließbarkeit;
=> nicht-rivalisierende Nutzung - innerhalb
gewisser Kapazitätsgrenzen - kann durchaus
möglich sein (Rockkonzert etc.)!
(Hinweis: die ältere Finanzwissenschaft hat das
anders gesehen)
18
institutionelle Voraussetzung für Ausschließbarkeit:
Handlungsrechte
Definition: Handlungsrechte sind Rechte an einem Gut. Sie
beinhalten für den Berechtigten Chancen, über die Verwendung
nach eigenem Willen zu verfügen (Verfügungsrechte) und die
Ergebnisse der Verfügungen zu nutzen (Nutzungsrechte).
Verfügungen beziehen sich auf: Erwerb, Gebrauch, Belastung
und Übertragung von Gütern
Nutzungen beziehen sich auf: Aneignung der Ergebnisse, die
Verfügungen zur Folge haben.
Kostenelement für Ausschließbarkeit: Ausschlußkosten
19
=>
im Extremfall kann Ausschluss trotz formalem
eigentumsrechtlichen Schutz eingebüßt sein
wirtschaftspolitische Aufgaben:




Klärung von Eigentumsrechten bei strittiger
Zuordnung (s. Strombeispiel)
ggf. Schaffung „künstlicher“ Eigentumsrechte
(bei geistigem Eigentum);
Klärung der Reichweite von Nutzungs- und
Verfügungsrechten => beeinflußt den
ökonomischen Wert von Eigentumsrechten
(Bebauungsvorschriften für Grundstücke)
Garantie der faktischen Ausschließbarkeit durch
Senkung privater Ausschlußkosten (Polizei,
Zollfahndung u.ä.)
20
Handlungsrechte
Neukombination
Sicherung des Werts
marktmäßiger Tausch
Transaktion
Ressourcenzusammenlegung
Ausschluss
einmalig
Ausschlusskosten
laufend* Organisationskosten
Stärke eines Handlungsrechts
* Transaktionskosten im Sinne von Coase
21
2. Kollektivgüter
Kollektivgüter: Güter, bei denen
a) Ausschlußmöglichkeit nicht gegeben ist (aufgrund
prohibitiver Ausschlußkosten) oder
b) eine denkbare Ausschlußmöglichkeit aufgrund politischer
Entscheidungen nicht wahrgenommen wird.
ad a) "geborene Kollektivgüger" (Landesverteidigung,
Leuchtturm, Meeresdeich)
ad b) gekorene (auch: meritorische) Kollektivgüter (Schulen,
Straßen, Theater, Museen, Schwimmbäder etc.) =>
„Clubgüter“
22
geborene Kollektivgüter:
gehören zum Kern des „produzierenden Staates“
Frage: rechtfertigt die Unmöglichkeit des
Ausschlusses bereits eine staatliche
Bereitstellung?
 kollektive Präferenzen für öffentliche Güter sind zu
klären;
 Frage nach einem „Präferenzaufdeckungsmechanismus“
oder gleichwertigen Verfahren
Frage: wie würde ein marktanaloges Verfahren bei
Kollektivgütern aussehen?
23
weitere wirtschaftspolitische Aufgabe:
Überprüfung, ob Ausschluß durch neue „Ausschlußtechniken“
möglich wird
(Bsp.: Dekodiertechniken beim Fernsehen; Ausschlußtechniken
bei Straßenbenutzung)
 Eingliederung in den privatwirtschaftlichen Bereich grundsätzlich möglich
neue Technologien
geborene KG
gekorene KG
24
gekorene Kollektivgüter:
auch „meritorische“ Güter genannt => Clubgüter
Ausschluss könnte praktiziert werden, deshalb ist private
Bereitstellung denkbar (und findet häufig parallel zum
staatlichen Angebot statt)
Finanzierung gekorener Kollektivgüter
a) über Steuern (den allgemeinen Staatshaushalt)
b) über Gebühren
Argumente für staatliche Bereitstellung ?
kein Fall von Marktversagen im engeren Sinne
25
es bedarf zusätzlicher Argumente („Gemeinwohlbelange“)
z.B.
hohes öffentliches Interesse an privater Nachfrage (Kitas)
Umverteilungsargumente: gewisse öffentliche Leistungen
sollten ohne Rücksicht auf Zahlungsbereitschaft angeboten
werden => unentgeltliches Angebot von Bildungsgütern;
dadurch Stimulierung der privaten Nachfrage (Bibliotheken).
26
wirtschaftspolitischer Anwendungsfall:
Sollte es ein öffentlich-rechtliches Fernsehen als „gekorenes
Kollektivgut“ geben?
Fragen:
Warum handelt es sich um ein gekorenes
Kollektivgut?
Welche Gemeinwohlbelange könnten berührt sein?
Welche ökonomischen Folgen entstehen aus der
öffentlichen Bereitstellung, wie sie gegenwärtig
praktiziert wird (GEZ bzw. „Beitragsservice“)?
Wäre Steuerfinanzierung vorzuziehen?
weitere Gesichtspunkte: mögliche
Wettbewerbsverzerrung, Kostenaufblähung,
Bestimmung des Leistungsumfanges
27
Allokationsfolgen bei Kollektivgütern:
1. Unterversorgung (solange keine staatliche Bereitstellung
erfolgt)
Qualifizierung: bei Unteilbarkeiten muß Unterversorgung
nicht notwendigerweise eintreten (Bsp.: Deichbau)
2. Übernutzung im Falle der Bereitstellung
(nachfrageerhöhende Wirkung der unentgeltlichen
Bereitstellung); bei Clubgütern geringer ausgeprägt
(warum?)
=> Allmendeproblem
28
Problem der Unterversorgung (Übernutzung) von
Kollektivgütern hat Struktur eines Gefangenendilemmas
Ein Beispiel
Fischer nutzen gemeinsam eine „Common Pool Resource“
Überfischung möglich, daher Fangquote erforderlich
Freiwillige Einhaltung rational?
Einkommenslage der Fischer bei freiwilliger Einhaltung oder
Nichteinhaltung der Fangquote in Euro pro Monat
A
einhalten
einhalten
2000/2000
nicht einhalten
1000/3000
B
nicht einhalten 3000/1000
500/500
29
Differenz von individueller und kollektiver Rationalität
tritt grundsätzlich bei allen geborenen Kollektivgütern auf;
ausgeprägt bei Umweltgütern und hohen individuellen Kosten
des eigenen Beitrags zum Kollektivgut; (bei niedrigen Kosten
kann Differenz unbedeutend sein; s. Beiträge von B. Frey und
Möglichkeiten intrinsischer Umweltmotivation)
„The Tragedy of the Commons“ (Hardin)
Beispiel: Übernutzung von Fischbeständen; individuelle Kosten
können (im Extremfall) in der Aufgabe der Erwerbsgrundlage
bestehen;
andere Beispiele: hohe individuelle Anreize, bedrohte Tierarten
zu jagen
30
freiwillige Übereinkunft denkbar?
Begriffe:
Defektieren: Nicht-Einhalten der ursprünglichen
Vereinbarung
Kooperieren: freiwilliges Einhalten trotz Abwesenheit eines
bindenden Vertrags
mehrpersonelles Spiel: mehr als 2 Personen beteiligt
Sanktion: Erzeugung von Kosten für die Defektierenden
Sanktionskosten: Kosten, die den Sanktionierenden bei der
der Organisation einer Sanktion entsteht
(Überwachungskosten – monitoring –, Kosten der
Organisation einer Überwachungsinstanz)
31
wirtschaftspolitische Lösung:
„bindender Vertrag“ zwischen den Nutzern des
Kollektivgutes => grundsätzlich privat möglich (Vertrag
muss einklagbar sein => Kollektivgutproblem 2. Ordnung;
funktionierende Beispiele bei Ostrom)
oder: Schutz von Umweltkollektivgütern als hoheitliche
Aufgabe (Fangquoten in der Fischerei) =>
Regulierungslösung („third-party enforcement“)
oder (falls möglich): Umwandlung von Allemendegütern
in privates Eigentum (Beispiel: „Enclosures“ in England
während des 18. Jahrhunderts)
32
Elinor Ostrom (Nobelpreis 2009):
auch andere Lösungen in Gruppen kleiner und mittlerer
Größe (kleine Städte, Dörfer) denkbar und empirisch
nachweisbar! allerdings Defizite in produktiven
Investitionen bei Allmende-Gütern
33
II. Verfügungsrechte, Transaktionskosten und
Regulierung – eine Systematisierung der
Allokationspolitik
1.
2.
3.
4.
5.
Marktfähigkeit, Handlungsrechte und Ausschlußkosten
Kollektivgüter
Externe Effekte als Kollektivgutproblem
Transaktionskosten
4.1. Die Coase’sche Unterscheidung
4.2. Vorgelagerte Märkte und innere Institutionen
4.3. Infrastrukturgebundene Transaktionskosten
Koordinationshemmnisse durch Substitutionskosten
Literatur: Streit, S. 66 – 81.
34
Definition:
(Technologische) Externe Effekte liegen vor, wenn durch
Produktion oder Verbrauch anderen Kosten oder Erträge
entstehen, ohne dass der Verursacher über den
Preismechanismus eine Entschädigung zahlt oder ein
Entgelt erhält.
Externe Effekte: negativer oder positiver Art
ausgehend von und/oder wirkend auf Produktions- und
Konsumsphäre
35
formale Struktur:
Schädiger
Geschädigter
soziale
Zusatzkosten
soziale Grenzkosten
t: Pigou-Steuer
soziales Optimum
privates Optimum
Produktion
(mit Schädigung
36
korreliert)
wirtschaftspolitische Aufgabe:
 Ermittlung der Differenz von privaten und sozialen
Grenzkosten;
 Erhebung einer Steuer auf die ökonomische
Aktivität, von der die Schädigung ausgeht
 lässt ein Informationsproblem auf Seiten der
wirtschaftspolitischen Instanz entstehen
 was wären die Folgen?
37
Die eigentumsrechtliche Umdeutung des
Externalitätenproblems durch Coase
Nutzer I
konsumtive Nutzung
Nutzer II
(Fabrik leitet Schadstoffe in
See ein)
Common Pool Resources
=> Möglichkeit der Übernutzung mangels Ausschließbarkeit
38
nach Coase kein Marktversagen (das würde die
Existenz von Märkten bereits voraussetzen) =>
vielmehr sind Märkte erst zu schaffen.
gemeinsame Übernutzung lässt offen, wer Schädiger
und Geschädigter ist;
es bedarf eines Werturteils, wessen
Nutzungsansprüche vorrangig sind (anders als bei
Pigou)
Werturteil beruht häufig auf Gewohnheitsrechten
eines Erstnutzers
39
Handlungsauftrag an die Wirtschaftspolitik:
-
Identifikation eines übernutzten Kollektivgutes
-
Entscheidung über Vorrangigkeit von
Nutzungsansprüchen
Zuweisung von geschützten, einklagbaren und
handelbaren Nutzungs- und Verfügungsrechten
-
=> verteilungswirksame Veränderung der Anfangsausstattung
alles weitere bleibt den privaten Entscheidungen über
Veräußerung und Erwerb von Nutzungs- und Verfügungsrechten
überlassen
40
GVK,
GS
Grenzschädigung
Grenzvermeidungskosten
maximale
Zahlungsbereitschaft
GVK =
GS
geforderte
Kompensa
tion
E*
Schaffung von handelbaren Emissionsrechten
(„Recht auf Verschmutzung“)
Emax
Emissionseinheiten
41
Erläuterung:
Grenzvermeidungskosten sind eine objektive Kategorie
Grenzschaden meint die Bewertung von zusätzlichen
Emissionen für die davon Betroffenen
nicht zu verwechseln mit Immissionen (die objektiv
messbar sind)
Implikation: gleiche (zusätzliche) Immissionen können
einen unterschiedlichen Grenzschaden bedeuten, je
nachdem, wie eine Gesellschaft Immissionen bewertet
(Einflussfaktoren: Wissensstand, ökonomischer
Entwicklungsstand, Relevanz von Umweltfragen)
42
GVK,
GS
maximale Zahlungsbereitschaft
des Emittenten
geforderte
Mindestkompensa
-tion
E*
Recht auf saubere Umwelt
Emissionseinheiten
43
Coase-Theorem
• Wenn Parteien ohne Kosten und zu ihrem
beiderseitigen Vorteil verhandeln können, ist das
Verhandlungsergebnis wohlfahrtsmaximal,
gleichgültig, welche Eigentumsrechte vorliegen.
• Hinweis: Verhandlungskosten („Transaktionskosten“)
mindern die Verhandlungsgewinne. Im Extremfall
kommen Verhandlungen gar nicht erst zustande.
Zur Diskussion: Überlegen Sie sich eine graphische
Interpretation des Hinweises.
44
GVK,
GS
Grenzschädigung
Grenzvermeidungskosten
Transaktionskosten
GVK =
GS
maximale
Zahlungsbereitschaft
geforderte
Kompensa
tion
E*
Schaffung von handelbaren Emissionsrechten
(„Recht auf Verschmutzung“)
Emax
Emissionseinheiten
45
Zum Überlegen:
Stimmt es, dass bei Transaktionskosten keine
Internalisierung durch Verhandlungslösung zustande
kommt?
Welchen Unterschied machen einmalige und laufende
Transaktionskosten
(einmalig: TK bei der Vorbereitung einer Verhandlung;
laufend: TK bei jedem weiteren Verhandlungsschritt)
Unter welchen Bedingungen kommt es zu einer
unvollständigen oder zu gar keiner Internalisierung?
46
Problem der CoaseLösung:
eine Verhandlungsseite kann aus
vielen Individuen
bestehen => neues
Free-rider Problem
würde entstehen
=> der Coase-Vorschlag produziert (u.U.) ein neues
Kollektivgutproblem
47
offene Probleme:
Ist die Anfangsausstattung „irrelevant“?
Überlegung: Die Ausstattung mit Rechten verschiebt
die „Budgetgerade“ nach außen; bei superioren
Gütern würde sich die Nachfrage mit steigendem
Einkommen relativ erhöhen („Luxusgüter“ wie
Champagner etc).
 Rechtstitelinhaber messen jedem Emissionswert
einen höheren Grenzschaden zu, verglichen mit einer
Duldungspflicht („Verschmutzungsrechte)“!
 Verteilung von Rechten beeinflusst den
„optimalen Emissionswert E*
48
GVK,
GS
maximale Zahlungsbereitschaft des
Emittenten
Grenzschaden
geforderte
Mindestkompensa
-tion
E**
Recht auf saubere Umwelt
E*
Emissionseinheiten
49
Verhandlungsproblem zwischen Emittenten und
„Geschädigten“ nur schwer lösbar
 Suche nach anwendungsnahen Lösungen
 sogenannte Second-Best-Lösungen
Umweltpolitik legt das Schädigungsniveau E* fest .
E* wird zu minimalen Gesamtkosten der Emittenten
(Summe bzw. Integral der Grenzvermeidungskosten)
realisiert
warum „second –best“-Lösung (Baumol) ?
=> „Zertifikatelösung“
50
politisch festgelegt
Gesamtnachfrage
nach Zertifikaten
z*
Emissionsniveau
GVK = Grenzvermeidungskosten
51
Nachfrage nach Zertifikaten
GVK,
z
GVK1
GVK2
GVK2: modernes Kraftwerk
GVK1: Alttechnik
umweltpolitische
Bedenken?
z*
Einkaufsmenge
an Zertifikaten
individuelle
Emissionsmenge
GVK =
Grenzvermeidungskosten
52
Nachfrage nach Zertifikaten
GVK,
z
Ausgangsniveau an
Emissionen;
warum ist Reduktion auf
GVK = z* sinnvoll ?
GVK2
z*
e*
optimale
Einkaufsmenge an
Zertifikaten
individuelle
Emissionsmenge
GVK =
Grenzvermeidungskosten
53
Vergleich mit Auflagenlösung für alle Betreiber
GVK,
z
GVK1
GVK2: modernes Kraftwerk
GVK1: Altanlage
GVK2
Auflagenlösung
(volkswirtschaftlich nicht
sinnvoll)
z*
Einkaufsmenge
an Zertifikaten
individuelle
Emissionsmenge
gleiche Auflage für alle
Emittenten im Ordnungsrecht
54
•
bei einer Auflagenlösung hätten alle Emittenten –
unabhhängig von ihren Grenzvermeidungskosten –
dasselbe Emissionsniveau zu realiseren
• wenn der Emittent mit den höheren GVK eine
marginale Einheit mehr emittiert und der Emittent mit
den niedrigeren GVK eine Einheit an Emissionen
einspart, sinken die Gesamtkosten (Anlagenbetreiber 2
entstehen niedrigere zusätzliche Kosten, als
Anlagenbetreiber 1 vermeidet); die Gesamtemission
bleibt gleich
• die volkswirtschaftlichen Kosten der Emissionsvermeidung sind minimiert, wenn die GVK aller
Anlagenbetreiber gleich sind (Intuition: es ist sinnvoll,
die Emissionen dort zu reduzieren, wo die Einsparpotentiale am höchsten und die Kosten am niedrigsten
sind)
K (E1 ) + K (E2) => min
E2 = E – E1
55
GVK1 + GVK2 (-1) = 0
<=> GVK1 = GVK2
Bisheriges wirtschaftspolitisches Fazit:
Der Emissionshandel mit CO2-Emissionsrechten gestattet eine
kostenminimale Reduzierung von Kohlendioxid;
Die Umweltpolitik (vorzugsweise eine internationale
Staatengemeinschaft; Frage: warum?) legt das Gesamtniveau an
CO2-Emissionen fest;
CO2-Emittenten (möglichst alle!) dürfen nur im Rahmen ihrer
erworbenen Emissionsrechte (plus einer „Anfangsaustattung“,
die sich am bisherigen Niveau orientiert), CO2 emittieren;
Handel mit Emissionsrechten sorgt für Gleichheit der GVK bei
allen Emittenten (GVKi = z* für alle i !);
56
in der Praxis allerdings zahlreiche Folgeprobleme
(Kontrollproblem, zu geringes Handelsvolumen,
wettbewerbspolitische Probleme; zu viele
Ausnahmeregelungen; leakage effect => internationales
Zertifikatesystem zwingend erforderlich;
Hot-spot-Effekte aufgrund lokaler
Schadstoffkonzentration müssen ausgeschlossen sein)
57
Wirtschaftspolitische Üb(erleg)ung:
Die Regierung möchte die jährlichen Kohlendioxidemissionen
reduzieren.
Sie richtet einen Zertifikatehandel ein, an dem die wichtigsten
CO2-Emittenten Zertifikate erwerben müssen
Parallel fördert die Regierung erneuerbare Energien (durch
direkte Finanzhilfen, Preisgarantien etc.)
Wie wirkt die Förderung erneuerbarer Energien auf den CO2Ausstoß?
58
politisch festgelegt
Gesamtnachfrage
nach Zertifikaten
Gesamtnachfrage sinkt;
Angebot bleibt konstant
Subventionierung der CO2Emittenten, die keine
Förderung erhalten (z.B.
Zementindustrie, ausländische
Energieerzeuger)
z*
z**
Emissionsniveau
GVK = Grenzvermeidungskosten
59
weiterführende umweltpolitische Überlegungen:
 in der Bundesrepublik zuerst Förderung der
Erneuerbaren Energien (Stromeinspeisegesetz,
Erneuerbare Energien Gesetz), dann Steuerung von
CO2 im Rahmen der Kyoto-Verpflichtungen
 keine Überprüfung der Förderung von erneuerbaren
Energien nach Übernahme von CO2Reduktionsverpflichtungen
 inzwischen ein kompliziertes System von Förderungen
von erneuerbaren Energien durch gesetzlich
garantierte Einspeisetarife, Umlagen,
Direktvermarktungsprämien, Risikoübernahmen mit
permanentem Nachsteuerbedarf
60
IV. Verfügungsrechte, Transaktionskosten und
Regulierung – eine Systematisierung der
Allokationspolitik
1.
2.
3.
4.
5.
Marktfähigkeit, Handlungsrechte und Ausschlußkosten
Kollektivgüter
Externe Effekte als Kollektivgutproblem
Transaktionskosten
4.1. Die Coase’sche Unterscheidung
4.2. Vorgelagerte Märkte und innere Institutionen
4.3. Infrastrukturgebundene Transaktionskosten
Koordinationshemmnisse durch Substitutionskosten
Literatur: Streit, S. 66 – 81.
61
IV. Verfügungsrechte, Transaktionskosten und
Regulierung – eine Systematisierung der
Allokationspolitik
1.
2.
3.
4.
5.
Marktfähigkeit, Handlungsrechte und Ausschlußkosten
Kollektivgüter
Externe Effekte als Kollektivgutproblem
Transaktionskosten
4.1. Die Coase’sche Unterscheidung
4.2. Vorgelagerte Märkte und innere Institutionen
4.3. Infrastrukturgebundene Transaktionskosten
4.4. Regulierung als Mittel zur Senkung von
Transaktionskosten
Koordinationshemmnisse durch Substitutionskosten
Literatur: Streit, S. 66 – 81.
62
Without the concept of transaction
costs, which is largely absent from
current economic theory, it is my
contention that it is impossible to
understand the working of the economic
system, to analyze many of its problems
in a useful way, or to have a basis for
determining policy.
Ronald Coase (1988, p. 6)
Ronald Coase,
geb. 1910
63
Ronald Coase (1960) thematisiert erstmals die „Kosten der
Nutzung des Marktsystems“
Drei Arten der Wissensdefizite von Tauschpartnern:



Welche Tauschobjekte und welche Tauschpartner
kommen in Frage?
zu welchen Vertragsbedingungen könnte die
Gegenseite zustimmen?
Werden vertragliche Leistungen eingehalten?
64
dementsprechend: drei Arten von Transaktionskosten
(Coase-Kosten):
können grundsätzlich bei jeder Transaktion als laufende
Kosten anfallen:

Such- und Informationskosten zum Aufspüren von
Tauschobjekten und Tauschpartnern*

Kosten der Aushandlung (Kommunikationskosten)

Kontrollkosten
* schließt die Risikobewertung von Transaktionsobjekten ein
65
Bemerkung:
Bei neuen Tauschobjekten (Innovationen) kann der
„Transaktionskostenpegel“ einer Volkswirtschaft besonders
ansteigen (aus welchen Gründen?), ebenso bei der
Erschließung neuer internationaler Märkte
hohe Transaktionskosten bei „Vertrauensgütern“ =>
Konsumenten können Qualität erst ex post feststellen
bedeutsam für den Dienstleistungssektor
=> Gefahr der Verdrängung „guter Qualität“ oder nichtrationalen Konsumentenverhaltens
Literatur: Donges/Freytag, Allgemeine Wirtschaftspolitik, Stuttgart,
2004, S. 186 - 199
66
Handlungsrechte
Neukombination
Sicherung des Werts
marktmäßiger Tausch
Transaktion
Ressourcenzusammenlegung
Ausschluss
Ausschlusskosten
kosten
einmalig
laufend* Organisations(versunken)
Stärke eines Handlungsrechts
* Transaktionskosten im Sinne von Coase67
versunkene Transaktionskosten:
entstehen bei der Vorbereitung von wiederholten
Handelsbeziehungen (Beispiel: Niederlassung eines
Unternehmens in einem anderen Land zwecks
Erschließung eines neuen Absatzmarktes)
laufende Transaktionskosten
entstehen bei jeder einzelnen neuen
Transaktionsbeziehung (Beispiel: Verhandlungskosten
beim Verkauf eines Neuwagens durch einen Händler)
68
vielfältige Formen der Senkung von Transaktionskosten aus
dem Markt heraus ohne staatliche Beteiligung
umfassende wirtschaftshistorische Studie: Greif, A. (2006),
Institutions and the Path to the Modern Economy
(Cambridge); Möglichkeit von private-order contract
enforcement im mittelalterlichen Maghreb; Abwesenheit
staatlicher Rechtsinstanzen (erschwert durch multiethnischen
und multireligiösen Handel)
=> innere Institutionen
69
innere Institutionen entstehen aus dem Marktsystem:
in entwickelten Volkswirtschaften:
 Werbung zur Übernahme von Informationskosten
(Problem der irreführenden Werbung)
 Informationsplattformen im Internet (Bsp.: günstige
Versicherer, Anbieter von Strom, Gas etc.)
 Senkung von Aushandlungskosten durch
Standardverträge oder allgemeine
Geschäftsbedingungen
 Ursprungszeugnisse
 Meisterbriefe
 Qualitätsstandards und freiwillige
Garantieleistungen durch Handwerkskammern
 freiwillige Zertifizierungen (audits; Bsp.: ISO 9000)
 Industrienormen (Sicherheitsnormen; DIN; VDE)
70
Transaktionskosten und Institutionen
Koordinationskosten
Ziel: Neukombination von Handlungsrechten
AusschlussZäune, Polizei,
kosten
Transaktionskosten
Organisationskosten
Kosten der Errichtung und
äußere: Gesetzgebung
Veränderung (äußerer und innerer)
innere: AGB, DIN-Normen
Institutionen
Kosten der Planung, Errichtung
und
Corporate
Veränderung
Identity
von
Organisationen
Such- und Werbung
Informationskosten
Kommunikationskosten
Controlling
Vertragsverhandl.,
VerhandlungsTÜV-Check
und
vor
Gebrauchtwagenkauf
Entscheidungskosten
Mitarbeitergespräche
Kontrollkosten
Überwachungs- und
Mahnung, Bausachverständige
Durchsetzungskosten
Stechuhr,
Sanktionskosten
Abmahnung
Wachdienste etc.
Ziel: Sicherung von
Handlungsrechten
Compliance Verbraucherschutzrechte
Costs
z.B. AGG, Transparenzpflichten,
Befolgungskosten staatlicher Institutionen
Quelle: Rösel/Retzlaff
71
Senkung von Transaktionskosten auch durch vorgelagerte
Märkte möglich; Strukturprinzip der Arbeitsteilung
entwickelter Volkswirtschaften
Beratungsmärkte, Informationsdienstleister => Information
wird als Gut verkauft
=> Rechtsproblem: Information muss ein marktfähiges
Gut sein (oder unentgeltlich angeboten werden =>
Informationsquelle „ Internet“)
=>
innere Institutionen und vorgelagerte Märkte
senken Transaktionskosten
72
Ein Teil der Transaktionskosten erfolgt einmalig und hat investiven
Charakter
 einmalige Transaktionskosten für eine Vielzahl von
Transaktionen => versunkene Kosten:
 Kosten zur Erlangung von Rechtskenntnis
 Kosten zur Sicherung des eigentumsrechtlichen Schutzes
eines neuen Transaktionstyps
 Kosten, die bei der Einrichtung von Handelsplätzen
(Märkten, Messen, Tauschbörsen oder Internetplattformen)
entstehen.
 Kosten bei der Einrichtung von Auskunftsdateien (z.B.
Schufa)
73
verschiedene Versuche der empirischen Messung
eine davon mißt den zur Abwicklung mit Transaktionen
maßgeblich beschäftigen Sektor einer Volkswirtschaft
(Transaktionskostensektor; TKS)
Studie von Wallis/North (1986):
Anteil des TKS am BIP der USA 45 Prozent in 1970. „The more
developed the economy, the larger the transaction sector“;
Dollery/Leong (1998) schätzen für Australien in 1991 den Anteil
des TKS mit 60 Prozent (1911: 32 Prozent);
Dagnino/Farina (1999) schätzen für Argentinien den TKS auf
35 Prozent in 1990 (1970: 28 Prozent)
74
Quelle: Wang (2003): Measuring Transaction Costs: An Incomplete Survey;
Ronald Coase Institute, Working Paper 2
Revolutionierung des ökonomischen Denkens durch Coase:
 Transaktion als „Elementareinheit“ des ökonomischen
Kosmos
 Transaktionskosten können sich als entscheidendes Hindernis
für die Arbeitsteilung erweisen => Verlust von Tausch- und
Spezialisierungsvorteilen
 hohe Transaktionskosten in unterentwickelten
Volkswirtschaften ohne funktionierende Rechtsordnung
(Thema der Neuen Institutionenökonomie)
75
wirtschaftspolitische Ansatzpunkte in entwickelten
Volkswirtschaften:
 Aufbau und Pflege einer Privatrechtsordnung
 gesetzliche Klärung des eigentumsrechtlichen Schutzes
neuer Tauschobjekte
 Regulierung von Produkten zur Senkung privater
Transaktionskosten durch:
 Qualitätsstandards
 Informations- und Kennzeichnungspflichten
76
Senkung von Transaktionskosten in Kombination mit
Verbraucherschutzpolitik: Produktregulierung (z.B.
Qualitätsregulierung) zur Senkung von Transaktionskosten und
Sicherstellung von präferierten Qualitätsniveaus
Beispiel:
Lebensmittelrecht; Arzneimittelrecht; technische
Sicherheitsnormen (VDE); Rücktrittsrecht der Käufer
Kontrollfrage: welche Transaktionskosten hätten die
Marktteilnehmer bei Abwesenheit der Regulierung zu tragen?
=> staatliche Regulierung scheint naheliegende Lösung zu
sein
77
Schlußfolgerung: mit staatlicher Regulierung (Standardsetzung)
von Marktangeboten lassen sich Transaktionskosten senken.
Diskussionsfrage: Gibt es mögliche Einwände gegen staatliche
Regulierung der Qualität von Produkten und Dienstleistungen?
Beispiel 1:
EU erlegt Flugreiseveranstaltern strenge
Kompensationspflichten bei Überbuchung von Flügen auf
Beispiel 2:
Mit strikten Baunormen möchten die Regulierer eine hohe
Qualität im privaten Hausbau sicherstellen (Wärmedämmung;
Schallschutz)
78
Auch staatliche Regulierungstätigkeit wirft Probleme auf:
1. Auf welchem Qualitätsniveau soll Produktregulierung erfolgen, wenn
Qualitätspräferenzen streuen?
2. Wie kann sichergestellt werden, dass sich die staatliche
Administration an den Nachfragerpräferenzen orientiert ?
3. Wie kann eine Instrumentalisierung der Regulierung als künstliche
Marktzutrittsschranke verhindert werden?
4. => sogenannte „capture theory“; große Unternehmen können
Regulierer für ihre Interessen vereinnahmen (Bsp.: kosmetische
Industrie)
5. Transaktionskosten können marktendogen (durch vorgelagerte Märkte
und innere Institutionen) sinken und zu flexibleren Selbstre79
gulierungen führen, so dass sich staatliche Regulierung u.U. erübrigt.
6. „Trägheit der staatlichen Regulierung“: Wie schnell
lässt sich staatliche Regulierung an neue Erfordernisse
anpassen?
Alternativen
staatliche Regulierung versus
private Selbstregulierung
vorgelagerte Märkte
zuverlässigere Regulierung;
Zeitbedarf; Trial and
Verbindlichkeit; aber:
Error; nicht immer
Gefahr der
anwendbar
Fehlangepasstheit; Marktzugangsschranken;
Überforderung der
Private Angebotsleistungen
Administration
80
eingriffsschwächere Variante der Regulierung:
staatliche Kennzeichnungspflichten für Produktqualitäten und –
eigenschaften; Qualitätsvielfalt bleibt möglich;
Bsp.: Kennzeichnungspflichten für Lebensmittel (Achtung: kann
auch Produkte diskriminieren => Rechtsprechung durch den
EuGH); Pflicht zur Angabe des Effektivzinses bei
Konsumentendarlehen; Schutz von Berufsbezeichnungen
auch wettbewerbsfördernde Regulierungen sind
möglich, zum Beispiel:
Standardmengen bei Lebensmitteln (1/2 Ltr, ¼ Ltr, ¾ Ltr bei
Getränken), um Preisvergleiche zu erleichtern
81
Exkurs zur europäischen Wirtschaftspolitik
Grundsatzfrage: Brauchen wir eine EU-weite Regulierung
von Qualitätsstandards auf gleichem Niveau
zur Durchsetzung eines gemeinsamen
Marktes? => Harmonisierung von
Produktregulierungen (Strategie der
Kommission bis Mitte der 1980er Jahre)
Alternative:
Prinzip der wechselseitigen Anerkennung
Ursprungs- (Herkunfts)-landprinzip
gangbarer Weg durch Auslegung der Verträge
durch den EuGH
82
wechselseitige Anerkennung
(Ursprungslandprinzip)
Rechtsgebiet II (D)
Rechtsgebiet I (NL)
Warenstrom
2 Regulierungsstandards
(„Inländerdiskriminierung“)
Stichwort: Cassis-de-Dijon-Rechtsprechung des EuGH
(Diskriminierungsverbot => Beschränkungsverbot)
wirtschaftspolitische Kontroverse: Ursprungslandprinzip auch bei
83
Dienstleistungen? (Bolkesteinrichtlinie)
Integrationspolitische Fragen
Kommt es zu einem „Race-to-the-bottom“?
oder umgekehrt zu einem „Race-to-the-top? (unter welchen
Umständen wäre ein Rtb zu erwarten? Ist dieses
wohlfahrtsmindernd?)
Können sich Nachfrager in einer Regulierungsvielfalt zurecht
finden? (neue Informationskosten?)
Bietet das Bestimmungslandprinzip eine Alternative?
Sollte die EU langfristig einheitliche Regulierungen für Güter
und Dienste festlegen? => „Harmonisierungslösung“
84
Antworten verweisen auf unterschiedliche Formen für die
Integration von Märkten:
 Freihandel unter Beibehaltung des
Bestimmungslandprinzips bleibt eine unvollständige
Integration => Regulierungskompetenz verschafft den
Importländern Möglichkeiten der Handelsbeschränkung
 positive Integration versus negative Integration
(Tinbergen)
 positive Integration überlässt die Schaffung von
grenzüberschreitenden Märkten den Regierungen (bzw.
den Organen der EU)
 negative Integration geschieht graduell und bleibt bei
den Gerichten angesiedelt (Tumlir).
85
5. Exkurs: Koordinationshemmnisse durch
Substitutionskosten
Definition: Substitutionskosten bezeichnen Kosten
der Umwidmung von Ressourcen (im Gegensatz zu
Transaktionkosten, die vor oder nach einer
Transaktion entstehen).
prototypisch: Transportkosten
Adam Smith, Wealth of Nations, Book I,
III. That the Division of Labour is limited by the Extent of
the Market
86
Transportkosten begrenzen die Umwidmung von Ressourcen und
damit die Ausdehnung des Marktes
p
Anbietergruppe I
Anbietergruppe II
p
Transportkosten/
Stück; B=>A
x
Standort A
x
Standort B
87
gesamter Markt der
Anbietergruppe II (ohne
Transportkosten)
Kostenvorteil
der
Anbietergruppe
II
Kostenvorteil der
Anbietergruppe I
(„Transportkostentrichter“)
Transportkosten proportional zur Entfernung vom Absatzmarkt
räumlich abgegrenzte Märkte (Gebietsschutz)
88
Bei Senkung der Transportkosten durch überregionale
Verkehrswege geraten beide Anbietergruppen in direkte
Konkurrenz => bei Produktionskostenvorteil der
Anbietergruppe II kann diese u.U. den gesamten Markt
versorgen (insbesondere im Fall von steigenden
Skalenerträgen möglich)
=> Preisarbitrage, Verdichtungsräume
=> Märkte wachsen zusammen, können aber im Falle
steigender Skalenerträge und positiver Externalitäten
räumliche Konzentration bewirken (Krugman); Beisp.:
Eisenbahnen im 19. Jahrhundert senkten Transportkosten um
85 Prozent).
=> Senkung von Transportkosten (Substitutionskosten)
schafft größere Wettbewerbsräume und intensiviert die
Arbeitsteilung
89
Gründe für staatliche Bereitstellung:
 Ausschlusskosten zu hoch („gekorene Kollektivgüter)
 Wohlstandsgewinne können evtl. nur unzureichend von
privaten Verkehrswegeanbietern internalisiert werden
(fallen in Form positiver Externalitäten bei den
Unternehmen an)
 Zeithorizont zu langfristig; lange Amortisationsdauer
 private Monopole möglich
=> Prüfung der Alternative einer privaten Bereitstellung
oder von Mischformen
90
weitere Argumente: Kapitalmangel ?
eventuell; ist bei knappen öffentlichen Mitteln aber eher ein
Argument für Public-Private-Partnership
entscheidender Gesichtspunkt: private Anbieter von
Verkehrswegen würden sich an natürlichen („gewachsenen“)
Standortvorteilen von Regionen orientieren =>
Renditeerwartung hier am höchsten
Sollte staatliche Infrastrukturpolitik vorrangig in bestehende
Ballungsräume investieren oder strukturschwache Regionen
fördern?
91
Nutzen und
Kosten des
Ballungsrau
mes
Kalkül für
Infrastrukturinvestitionen
im Ballungsraum
Kosten
Nutzen
Frage nach der Priorisierung
von öff. Investitionen in
Ballungsräumen oder
unterentwickelten Gebieten
Ballungsoptimum
Nutzen: Lokalisations- und
Fühlungsvorteile,
Kommunikationsvorteile, positive
Externalitäten, Skalenvorteile
Ballungsgröße
Kosten: negative Externe
Effekte; Staueffekte, zu
92
hohe Mieten und Löhne
Die „blaue Banane“ (Roger Brunet, 1990) => europäischer
Verdichtungsraum => Kritik an der französischen
93
Raumordnungspolitik
Modifkation: „blaue“ und „goldene Banane“
(südeuropäischer Sunbelt) mit Ausstrahlungswirkungen
nach Osten
94
95
Grundfrage: „akkomodierende“ Infrastrukturpolitik oder „aktive 96
Raumgestaltung“ ?
Fazit: Infolge der Vergrößerung des Marktes werden
Ressourcen aus bestehenden Verwendungen freigesetzt und
eine rentable Reallokation ermöglicht
Reallokation von Ressourcen und Strukturwandel sind
Motor der Wohlstandsentwicklung; Substitutionskosten
(Transportkosten) begrenzen die Wohlstandsentwicklung;
anders als im Falle von Transaktionskosten nehmen die
Transportkosten
(pro
Stück)
im
Verlauf
der
Wirtschaftsgeschichte dramatisch ab. Wesentliche Folge ist
die Intensivierung des Wettbewerbs.
97
unterschiedliche Wirkung von Transaktionskosten und
Transportkosten auf die räumliche Arbitrage:
-
Transportkosten lassen räumliche Preisunterschiede
dauerhaft bestehen (s.o.)
Transaktionskosten verteuern die Entdeckung von
Preisunterschieden; nach der Entdeckung kommt es (c.p.,
das heißt ohne Transportkosten) zu einem vollständigen
Preisausgleich
Beispiel: entdecken Nachfrager einen preisgünstigeren
Anbieter, müssen teurere Anbieter ihre Preise senken; ein
natürlicher Wettbewerbsschutz entfällt, anders als im Falle
von Transportkosten
98
III.
Wettbewerbspolitik – Begründungsfragen,
Leitbilder und praktische Probleme
1. Die Leitidee des dynamischen Wettbewerbs
2. Handlungsfelder der Wettbewerbspolitik
(Systematisierung)
3. Kandidaten für wettbewerbsbeschränkendes
Verhalten
4. Leitbilder der Wettbewerbspolitik
5. Die Abgrenzung des relevanten Marktes
6. Verfahrensregeln und Eingriffsprinzipien der
Wettbewerbspolitik
7. Säulen der europäischen Wettbewerbspolitik:
99
1. Entstehung von dynamischem Wettbewerb bei
Transaktions- und Substitutionskosten:
Suche nach Preisund
Qualitätsvorteilen
Nachfrage
Anbieter => Preis- und
Qualitätsunterschiede
Transaktionskosten
vor- und nachstoßender
Wettbewerb
Kosten der Umwidmung
100
Wettbewerb sowohl Preis- , Kosten und Qualitätswettbewerb

erweiterter Wettbewerbsbegriff:
Innovationen bilden Teil des dynamischen
Wettbewerbs
idealtypischer Prozess:
im Wettbewerb bauen sich temporär Monopole auf =>
Anreiz für Innovationswettbewerb
 „nachstoßender“ (Imitationswettbewerb);
Monopolgewinne verschwinden;
101
Joseph A. Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen
Entwicklung, 1911
Unternehmer als Pioniere („schreiten voran“), ergreifen
Chancen und realisieren Monopolgewinne; Imitatoren folgen
„scharenweise“ („Wirte“) und drücken die Monopolgewinne
auf p= GK herab.
aber:
Transaktionskosten und Substitutionskosten behindern den
Imitationswettbewerb und können Monopolstellungen
verfestigen; gewisser natürlicher Schutz vor Wettbewerb
allerdings funktional (warum?)
102
Monopol: Erläuterung der Flächen
Frage: worin besteht die
Monopolmacht? Bleibt sie auf lange
Sicht bestehen?
103
Idealtypischer Wettbewerb:
Wettbewerb als Selbstregulativ von (Preissetzungs-)
Macht=> nur temporäre Machtstellungen => deadweight-loss stellt auf Dauer kein relevantes
wirtschaftspolitisches Problem dar => Schumpeters
Modell des Innovationswettbewerbs („Pioniere“ vs.
„Scharen von Imitatoren“)
mögliche Formen des Mißbrauchs marktbeherrschender
Stellungen:
o Ausbeutungsmißbrauch => Preissetzungsmacht
o Behinderungsmißbrauch => Fernhalten von
Wettbewerbern
„unilaterale
Effekte“
104
schließlich:
kollektive Marktbeherrschung (auch „koordinierte Effekte“
genannt oder „tacit collusion“) zwischen verschiedenen
Wettbewerbern im Oligopol
Beispiel: Kartelle (Preisabsprachen) oder hohe
Reaktionsverbundenheit der Unternehmen (QuasiKartelle)
realtypischer Wettbewerb oft durch
Wettbewerbsbeschränkungen gekennzeichnet;
Dauerhaftigkeit ist zu prüfen
=> wettbewerbspolitischer Handlungsbedarf
105
III.
Wettbewerbspolitik – Begründungsfragen,
Leitbilder und praktische Probleme
1. Die Leitidee des dynamischen Wettbewerbs
2. Handlungsfelder der Wettbewerbspolitik
(Systematisierung)
3. Kandidaten für wettbewerbsbeschränkendes
Verhalten
4. Leitbilder der Wettbewerbspolitik
5. Die Abgrenzung des relevanten Marktes
6. Verfahrensregeln und Eingriffsprinzipien der
Wettbewerbspolitik
7. Säulen der europäischen Wettbewerbspolitik:
106
2. Handlungsfelder der Wettbewerbspolitik
Wettbewerbsregeln zur
Sicherung des
Wettbewerbs
Wettbewerblicher
Bereich
*) früher: „Ausnahmebereich“
Regulierung zur
Simulierung
wettbewerblicher
Ergebnisse
Nicht-wettbewerblicher
Bereich*
(marktfähig, aber nicht
wettbewerbsfähig)
natürliches Monopol,
Netze
107
Grundfragen der Wettbewerbspolitik
1. Welcher Bereich (Branche) sollte vom Wettbewerb
ausgenommen werden? => Überprüfung der
kostentheoretischen Argumente („fallende
Durchschnittskosten“)
2. Unter welchen Bedingungen sollte eine Wiedereingliederung
des Ausnahmebereiches in den Wettbewerb erfolgen?
(Aktualisierung von 1., um Bestandsschutz für Monopole zu
vermeiden)
3. Wie sollte die Regulierung des nicht-wettbewerblichen
Bereiches erfolgen ?
=>
Preisregulierung; evtl. Qualitätsregulierung
Festlegung der Nutzungsentgelte
(Durchleitungsgebühren) zur Stimulierung des
Wettbewerbs bei Endkunden
108
4. Welche Wettbewerbsregeln sollten für den
wettbewerblichen Bereich gelten ? => Identifikation von
wettbewerbsbeschränkenden Verhaltensweisen
(Kartellverbot, Mißbrauch einer marktbeherrschenden
Stellung, Fusionskontrolle u.a.m.)
5. An welchem wettbewerbspolitischen Leitbild sollten
Wettbewerbsregeln ausgerichtet werden? (Effizienz,
Konsumentenrente, dynamischer Wettbewerb)
6. Festlegung von Verfahrensregeln und Eingriffsprinzipien
der Wettbewerbspolitik
Verbot von typisierten Wettbewerbsbeschränkungen
(„Legalvermutungen“) oder Verbot nach Beurteilung des
Einzelfalls? (auch: rule of law versus rule of reason)
109
im weiteren nur Behandlung von Regeln für den
wettbewerblichen Bereich
Hinweis: spezielle Seminare zur Regulierungstheorie.
110
III.
Wettbewerbspolitik – Begründungsfragen,
Leitbilder und praktische Probleme
1. Die Leitidee des dynamischen Wettbewerbs
2. Handlungsfelder der Wettbewerbspolitik
(Systematisierung)
3. Kandidaten für wettbewerbsbeschränkendes
Verhalten
4. Leitbilder der Wettbewerbspolitik
5. Die Abgrenzung des relevanten Marktes
6. Verfahrensregeln und Eingriffsprinzipien der
Wettbewerbspolitik
7. Säulen der europäischen Wettbewerbspolitik:
111
3. Kandidaten für wettbewerbsbeschränkendes Verhalten
•
•
•
•
monopolistische Preissetzung (insbesondere auf
ausgereiften Märkten)
mit Sonderfällen: monopolistische Sekundärmärkte (aftersales markets) => Ersatzteilpreise
Kartelle => Preis-, Quoten-, Submissionskartelle
Zusammenschluß von Anbieten zum Zwecke der
Ausschaltung von Wettbewerb
Unternehmenszusammenschlüsse zum Zweck der
Erlangung einer marktbeherrschenden Stellung (z.B. zur
Erlangung von Monopolmacht, aber auch unterhalb dieser
Schwelle; HHI < 18%
Markthandlungen zur Errichtung von privaten
(„künstlichen“ ) Marktzutrittsschranken, z.B.:
112
Lieferverweigerung
(Bezugssperren, raising rivals‘ costs)
Nachfrage
Anbieter
(Endprodukte)
Vorleistungsstufe
(Rohprodukt): 1
Anbieter
A
B C D E
M
vertikale Integration
plus Bezugssperre
(oder Preisdiskriminierung)für
Wettbewerber von A
113
Ausschließlichkeitsbindungen
Alleinbezugsvereinbarung („Markenzwang“)
Nachfrage
Einzelhandel
Handelsmonopol ?
Alleinbezugsvereinbarung
Anbieter A
B
C
D
E
114
Alleinvertriebsvereinbarung
Regionaler Absatzmarkt
Händler A
Händler B
Händler C
Gebietsschutz für Händler A
Fehlen eines “intrabrand”-Wettbewerbs;
ökonomische
Rechtfertigung
denkbar?
Hersteller eines Markenprodukts
115
Kopplungsgeschäfte
=> Produkte werden gemeinsam angeboten, obwohl sie sachlich
nicht zusammen gehören
unter welchen Umständen kann dies attraktiv sein?
Übertragung der Monopolstellung für ein Produkt auf ein
anderes, bei dem ausreichend Wettbewerber vorhanden sind;
berühmte Beispiele: Tetrapak; Explorer von Microsoft;
Google als Monopolist für Suchmaschinen kauft
(produktfremde) Anbieter anderer Märkte
116
Sperrpatente
strategisches Ausnutzen eines Patentschutzes (Ausnutzen von
Lernkurveneffekten durch „Round-about“ Forschung)
Kampfpreise („predatory pricing“)
Setzen von Niedrigpreisen unter Ausnutzung von
Skalenvorteilen („limit pricing“), um den Marktzutritt gerade
noch zu verhindern.
Frage: sollten wir Kampfpreisstrategien verbieten?
Überlegung: Sind Kampfpreisstrategien selbstschädigend und
damit unwahrscheinlich?
langfristige Verträge und Abnahmeverpflichtungen
Kunden wird der Wechsel zu günstigeren Anbietern erschwert
117
III.
Wettbewerbspolitik – Begründungsfragen,
Leitbilder und praktische Probleme
1. Die Leitidee des dynamischen Wettbewerbs
2. Handlungsfelder der Wettbewerbspolitik
(Systematisierung)
3. Kandidaten für wettbewerbsbeschränkendes
Verhalten
4. Leitbilder der Wettbewerbspolitik
5. Die Abgrenzung des relevanten Marktes
6. Verfahrensregeln und Eingriffsprinzipien der
Wettbewerbspolitik
7. Säulen der europäischen Wettbewerbspolitik:
118
4. Wettbewerbspolitisches Leitbild der Wettbewerbsregeln
statische Effizienz als mögliches Leitbild
(„Wohlfahrtsoptimum“)
 wurde schon im Falle des Monopols relativiert
maximale Konsumentenwohlfahrt als Ziel?
Frage: Zulassung einer „Effizienzeinrede“? (efficiency defense)
grundlegendes Argument: technischer Fortschritt kann einen
Verlust an Konsumentenwohlfahrt rechtfertigen
119
Der „Williamson-Trade-off“
p
Kostensenkung durch
„economies of scale“, aber
monopolistische
Preissetzung
pM
p0
XM
X0
x
Soll Fusion trotz Monopolpreis gestattet werden?
120
Begründet „technischer Fortschritt“ Fusionstoleranz ?
1. Problem: Total Welfare Standard versus Consumer
Welfare Standard => Umverteilungsproblem
„pass-on“ Problem: Wie werden die Konsumenten an den
Effizienzgewinnen beteiligt?
Williamson-Trade off muss in diesem Fall nicht empirisch
überprüft werden; Effizienzeinrede wäre nicht maßgeblich
121
2. abzuwägen:
Monopolgewinne als Ressource für F&E für weiteren
Fortschritt (sogenannte Schumpeter-Hypothese:
Monopolisierung ist dem technischen Fortschritt förderlich)
Gegenargument: Anreiz für dynamischen Wettbewerb
verringert sich => economies of scale sind kein verlässlicher
Maßstab für dauerhafte Kostenvorteile
Identifikationsproblem von Unternehmensgewinnen in
Oligopolen: Gewinne können in anderer Form „verteilt“
werden (an Aktionäre, in Form von hohen Vorstands- und
Mitarbeitergehältern)
europäisches Kartellrecht: Konsumenten müssen in jedem
Fall an Effizienzgewinnen beteiligt sein
122
Einwand gegen vermeintliche Kostenvorteile im Oligopol:
Bei Beurteilung der längerfristigen Wirkung einer Fusion ist die
Dynamik des Wettbewerbs wichtiger als ein kurzfristiger
Effizienzvorteil
 dynamischer Wettbewerb wird beeinträchtigt;
Effizienzvorteile werden (wenn überhaupt) in vermindertem
Umfang an Kunden weitergegeben; bedeutender Anstieg des
Konzentrationsmaßes HHI würde auf geringeren
dynamischen Wettbewerb hindeuten;
 „Synergieeffekte“ sind als wettbewerbspolitisches Argument
dubios, wenn kein messbarer Zuwachs an Konsumentenrente
erfolgt
123
Bei der Beurteilung von Wettbewerbsbeschränkungen fließen drei
Aspekte ein, die in jedem wettbewerbspolitischem Leitbild jeweils
anders beurteilt werden:
Effizienzargumente, unterschieden nach
• allokativer Effizienz => tritt ein „dead-weight-loss“ auf?)
• produktiver Effizienz => treten economies of scale oder
economies of scope auf?)
dynamische Betrachtungen mit der Leitfrage:
Steigt die Innovationsfähigkeit der Wettbewerber (auch: als
dynamische Effizienz bezeichnet) ? Bleibt genügend
unternehmerische Vielfalt am Markt?
Unter Entwicklungsaspekten wiegen Effizienzargumente
schwächer
124
Freiheitsargumente:
Resultieren Wettbewerbsergebnisse aus freiwilligen Verhaltensweisen
der Marktteilnehmer? Oder beschränken Wettbewerber die Freiheit
anderer Marktteilnehmer ? (Beispiel: after-sales Märkte)
zu beachten: wettbewerbspolitische Handlungen (z.B. Fusionsverbot)
beschränken die Marktfreiheiten (Vertragsfreiheit).
Wiegt diese Beschränkung geringer als die durch den
kartellrechtlichen Eingriff „gewonnene“ Freiheit der übrigen
Marktteilnehmer ?
längerer wirtschaftspolitischer Lernprozess: Vertragsfreiheit kann
einseitig zum Maßstab erhoben werden => siehe Kartellrecht in
Deutschland bis zur Weltwirtschaftskrise 1929
Frage: wie könnten bei einer Fusion Freiheitsargumente zum Tragen
125
kommen? wie verhalten sie sich zu Effizienzargumenten?
Verabsolutierung von formalen Freiheitsargumenten kann leicht in
einen wettbewerbspolitischen Agnostizismus führen
 (ältere) Chicago-School of Anti-Trust (bedeutsam für USamerikanische Wettbewerbspolitik in den 1980er Jahren)
=> macht Unterscheidung in formaler und materialer
Wettbewerbsfreiheit notwendig (im Monopol ist nur die erste
intakt)
 in diesem Fall stützen sich (materiale) Freiheits- und
Entwicklungsargumente gegenseitig
Zielklarheit wünschenswert, ansonsten zu viele Spielräume für
Kartellbehörden und Gerichte (=> Einwand der Chicago-School
gegen Harvard-School of Anti-Trust)
126
III.
Wettbewerbspolitik – Begründungsfragen,
Leitbilder und praktische Probleme
1. Die Leitidee des dynamischen Wettbewerbs
2. Handlungsfelder der Wettbewerbspolitik
(Systematisierung)
3. Kandidaten für wettbewerbsbeschränkendes
Verhalten
4. Leitbilder der Wettbewerbspolitik
5. Die Abgrenzung des relevanten Marktes
6. Verfahrensregeln und Eingriffsprinzipien der
Wettbewerbspolitik
7. Säulen der europäischen Wettbewerbspolitik:
127
5. Abgrenzung des relevanten Marktes
Freiheit der Marktteilnehmer hängt von der Möglichkeit ab,
auf andere Anbieter auszuweichen.
 Problem der Abgrenzung des relevanten Marktes
"Der sachlich relevante Produktmarkt umfaßt alle jene
Erzeugnisse und/oder Dienstleistungen, die vom
Verbraucher hinsichtlich ihrer Eigenschaften, Preise
und ihres vorgesehenen Verwendungszwecks als
austauschbar oder substituierbar angesehen werden."
(Europäische Kommission)
128
Nestle/Perrier (1993)
Limonaden
Mineralwasser (mit
Kohlensäure)
Mineralwasser
(stille)
Wie würden Sie aus Sicht von Nestle argumentieren? Was bedeutet 129
die
Definition der Kommission?
„Nach Abgrenzung des Marktes ist es möglich, u. a. Marktanteile
zu berechnen, die aussagekräftige Informationen für die
wettbewerbliche Würdigung der Marktposition und die
Anwendung von Artikel 101 AEUV (81 EGV) darstellen.
Die sachliche und räumliche Abgrenzung des relevanten Marktes
ist bei der Würdigung eines Wettbewerbsfalles häufig
ausschlaggebend.“(Europäische Kommission 1997)
130
Determinanten des Wettbewerbsdrucks:
•
Nachfragesubstituierbarkeit (welche Produkte substituieren
die Nachfrager?
•
Angebotssubstituierbarkeit (Angebotsumstellungsflexibilität)
(können Anbieter mit geringen Umstellungskosten in den
Markt eintreten ? => potentieller Wettbewerb)
SSNIP – Test oder hypothetische Monopoltest
⇒ Gedankenexperiment: Wäre für einen hypothetischen
Monopolisten eine dauerhafte („non-transitory“)
Preiserhöhung des Gutes X um 5-10% („small but
significant“) profitabel oder würden die Kunden in
hinreichend großer Zahl zu Konkurrenten abwandern?
131
SSNIP-Test: Preiserhöhung profitabel
⇒ Gut X ist der relevante Markt!
falls Preiserhöhung nicht profitabel: => („engstes“ Substitut) Gut
Y wird dazu genommen und Experiment wiederholt
=> Wiederholung bis Preiserhöhung profitabel
=> Relevanter Markt!
• Nachfragesubstituierbarkeit: Wandern Kunden zu anderem
Produkt ab? => Zentraler Punkt, als erstes zu klären!
• Angebotssubstituierbarkeit: Stellen Hersteller anderer
Güter ihre Produktion auf vergleichbare Produkte um? (was
wäre zu berücksichtigen?)
132
Frage zur Diskussion:
Könnte man mit diesem Test vorhandene Marktmacht übersehen ?
sogenannte „Cellophane- Fallacy“
man muß von (hypothetischen „Wettbewerbspreisen“
ausgehen, aber nicht von den gegenwärtigen (überhöhten);
(auch für einen Monopolisten lohnt es sich nicht, den
Cournot-Preis zu erhöhen => dann würde es nach dem
SSNIP – Test kein Monopol geben, weil die Außengrenzen
des relevanten Marktes weit genug gewählt wurden!)
=> weitere Tests (einschließlich Verbraucherumfragen)
erforderlich!
133
6. Verfahrensregeln und Eingriffsprinzipien der
Wettbewerbspolitik
•
•
Fallweise Prüfung und Beurteilung von Verhaltensweisen im
Hinblick auf tatsächliche Wettbewerbsbeschränkung
=> Untersagung im Einzelfall => Mißbrauchsprinzip
Typisierung von Legalvermutungen der
Wettbewerbsbeschränkung und generelles Verbot
=> Verbotsprinzip
ausnahmslose Untersagung von potentiell
wettbewerbsbeschränkenden Verhaltensweisen
134
Erläuterung am Beispiel des Williamson-Trade-offs
Verbotsprinzip (per se rule) könnte bedeuten: Fusionen zur
Erlangung eines Marktanteils von > 40% gelten als
wettbewerbsbeschränkend
 Verbot ohne weitere Prüfung möglicher Vorteile
Mißbrauchsprinzip (rule of reason):
Unternehmen werden beweispflichtig, economies of scale
(economies of scope, „Verbundvorteile“) nachzuweisen und den
Vorteil für die Konsumenten darzulegen;
Kartellbehörde prüft, ob mögliche Newcomer („Entrants“) den
Monopolgewinn bedrohen könnten.
=> erst nach Abwägung Verbot oder Erlaubnis
135
Frage zur Diskussion:
Was schlagen sie vor ?
Welche Gesichtspunkte halten sie bei der Wahl der
Eingriffsprinzipien für relevant ?
136
Beispiel der Fusionskontrolle
kollusionsbegünstigende Faktoren in der Industrieökonomik
bekannt:
-
-
geringe Zahl der Wettbewerber
große Homogenität des Produkts und der
Kostenstrukturen der Wettbewerber
Markt für die Wettbewerber transparent
hohe Eintrittsbarrieren
niedrige Entdeckungswahrscheinlichkeit für
Absprachen
Erfahrung der Anbieter mit Kollusionen in der
Vergangenheit
stabile wirtschaftliche Umgebung
Diese Faktoren sind für jeden Einzelfall zu überprüfen und zu
137
gewichten => kartellrechtliche Beurteilung bleibt ungewiss
Wettbewerbsregeln sind Teil der Rahmenordnung einer
Marktwirtschaft
 sollten verläßlich und (einigermaßen) vorhersehbar sein =>
Rechtssicherheit => „Prinzip der Konstanz in der
Wirtschaftspolitik“ (Walter Eucken)
 „Fehler“ erscheinen hinnehmbar => Verzicht auf
Einzelfallprüfung (auch Übertretung von Verkehrsregeln wird
nicht auf tatsächliche Gefährdung anderer im Einzelfall
überprüft; die Regel unterstellt eine potentielle Gefährdung)
 Analyse der tatsächlichen Wettbewerbsbeschränkung
aufwendig, abhängig von ökonomischen Theorien => „Battle of
the Experts“ => Vorhersehbarkeit sinkt
 spricht für Verbotsprinzip (rule of reason)
 „More economic approach“ der Europäischen Kommission
sucht jedoch nach einem ökonomischen Präjudiz für
Fusionskontrolle, untergräbt Verbotsprinzip
138
auch Verbotsprinzip weist Nachteile auf:
•
•
•
in Kauf genommene „Fehler“ durch zu strenge oder zu
laxe Handhabung (Beides möglich) => Fehler 1. und 2.
Art => Wettbewerbsbeschränkungen werden toleriert
(Fehler 1. Art) oder Verhaltensweisen, die tatsächlich
keine Wettbewerbsbeschränkungen darstellen, verboten
(Fehler 2. Art)
zu geringes Wissen über tatsächliche Folgen von
Handlungsweisen = Verbotsprinzip zu unflexibel
strategisches Verhalten der Marktteilnehmer
139
Mißbrauchsprinzip:
•
flexibler, Wettbewerbspolitik kann auf den Einzelfall
zugeschnitten werden
• neues ökonomisches Wissen und neue Methoden können in
die Beurteilung einfließen (als „more economic approach“
vom EuGH gefordert)
• aber: kurzfristige Folgenbeurteilung rückt in den
Mittelpunkt der Beurteilung (z.B. könnten sich die Grenzen
eines relevanten Marktes mittelfristig verschieben)
• „Battle of the Experts“; Wettbewerbspolitik wird von
„Theoriemoden“ abhängig (Beispiel: „SchumpeterHypothese“ in den 80er Jahren)
• Vorhersehbarkeit und Rechtssicherheit sinkt
140
III.
Wettbewerbspolitik – Begründungsfragen,
Leitbilder und praktische Probleme
1. Die Leitidee des dynamischen Wettbewerbs
2. Handlungsfelder der Wettbewerbspolitik
(Systematisierung)
3. Kandidaten für wettbewerbsbeschränkendes
Verhalten
4. Leitbilder der Wettbewerbspolitik
5. Die Abgrenzung des relevanten Marktes
6. Verfahrensregeln und Eingriffsprinzipien der
Wettbewerbspolitik
7. Säulen der europäischen Wettbewerbspolitik
141
Artikel 101 AEUV
(1)Mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar und verboten sind
alle Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von
Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte
Verhaltensweisen, welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten
zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung,
Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des
Gemeinsamen Marktes bezwecken oder bewirken, insbesondere
142
Art. 101 (Forts.)
a) die unmittelbare oder mittelbare Festsetzung der An- oder
Verkaufspreise oder sonstiger Geschäftsbedingungen;
b) die Einschränkung oder Kontrolle der Erzeugung, des Absatzes,
der technischen Entwicklung oder der Investitionen;
c) die Aufteilung der Märkte oder Versorgungsquellen;
d) die Anwendung unterschiedlicher Bedingungen bei
gleichwertigen Leistungen gegenüber Handelspartnern, wodurch
diese im Wettbewerb benachteiligt werden;
e) die an den Abschluß von Verträgen geknüpfte Bedingung, daß
die Vertragspartner zusätzliche Leistungen annehmen, die weder
sachlich noch nach Handelsbrauch in Beziehung zum
Vertragsgegenstand stehen.
(2) Die nach diesem Artikel verbotenen Vereinbarungen oder
Beschlüsse sind nichtig.
143
(3) Die Bestimmungen des Absatzes 1 können für nicht anwendbar
erklärt werden auf
- Vereinbarungen oder Gruppen von Vereinbarungen zwischen
Unternehmen,
- Beschlüsse oder Gruppen von Beschlüssen von
Unternehmensvereinigungen,
- aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen oder Gruppen von
solchen, die unter angemessener Beteiligung der Verbraucher an
dem entstehenden Gewinn zur Verbesserung der Warenerzeugung
oder - verteilung oder zur Förderung des technischen oder
wirtschaftlichen Fortschritts beitragen, ohne daß den beteiligten
Unternehmen
a) Beschränkungen auferlegt werden, die für die Verwirklichung
dieser Ziele nicht unerläßlich sind, oder
b) Möglichkeiten eröffnet werden, für einen wesentlichen Teil der
144
betreffenden Waren den Wettbewerb auszuschalten.
Artikel 102 AEUV
Mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar und verboten ist die
mißbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf dem
Gemeinsamen Markt oder auf einem wesentlichen Teil desselben
durch ein oder mehrere Unternehmen, soweit dies dazu führen kann,
den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen.
Dieser Mißbrauch kann insbesondere in folgendem bestehen:
a) der unmittelbaren oder mittelbaren Erzwingung von
unangemessenen Einkaufs- oder Verkaufspreisen oder sonstigen
Geschäftsbedingungen;
b) der Einschränkung der Erzeugung, des Absatzes oder der
technischen Entwicklung zum Schaden der Verbraucher;
c) der Anwendung unterschiedlicher Bedingungen bei gleichwertigen
Leistungen gegenüber Handelspartnern, wodurch diese im Wettbewerb
benachteiligt werden;
d) der an den Abschluß von Verträgen geknüpften Bedingung, daß
die Vertragspartner zusätzliche Leistungen annehmen, die weder
145
sachlich noch nach Handelsbrauch in Beziehung zum Vertragsgegenstand
Art 101 und 102 zentrale Säulen der europäischen
Kartellpolitik
beide Artikel enthalten Regelbeispiele („insbesondere …“),
die jedoch nicht erschöpfend sind.
Art. 101 (3) enthält (anders als Art. 102) Ausnahmen
(„industriepolitische Klausel“) => Verbotsprinzip von Absatz
1 wird dadurch relativiert
„objektiver“ Begriff von Wettbewerbsbeschränkung
(„bezwecken oder bewirken“) => subjektive Absicht der
Wettbewerber für kartellrechtliche Beurteilung irrelevant
146
neues Anwendungsverfahren der Artikel 101 und 102 durch:
Kartellverfahrensverordnung (VO 1/2003) => Systemwechsel
 dezentrale Anwendung der Artikel durch die Mitgliedstaaten
(vorher: Zuständigkeit bei Kommission)
 Schaffung von Legalausnahmen (ermöglicht beschleunigte
Verfahren)
neu: Vorrang des europäischen Kartellrechts vor dem Kartellrecht
der Mitgliedstaaten
 Mitgliedstaaten dürfen keine Sachverhalte erlauben
(verbieten), die durch europäisches Kartellrecht verboten
(erlaubt) sind
 nationale Abweichungen nur noch bei rein innerstaatlichen
Wettbewerbsbeschränkungen möglich
147
ferner:
regelmäßige Konsultationen und regelmäßiger
Erfahrungsaustausch der nationalen Kartellbehörden in einem
Europäischen Wettbewerbsnetz (EWN)
Ziel: Harmonisierung der Wettbewerbspolitik bei dezentraler
Anwendung!
 läuft auf Stärkung des Verbotsprinzips hinaus
Andernfalls würden im Gemeinsamen Markt unterschiedlich
angewendete Wettbewerbsregeln herrschen, was zu einer
Fragmentierung der Geschäftsstrategien der Unternehmen
einladen würde.
148
Davon zu unterscheiden:
Fusionskontrollverordnung (seit 1990 wirksam, vorher
durch Art. 102 abzudecken versucht)
wird weiterhin zentral durch die Europäische Kommission
angewandt
Verfahren:
Kommission hat 1 Monat Zeit, Verfahren einzuleiten (bei
„ernsthaften Bedenken“)
Ab Einleitung eines Verfahrens hat die Kommission 4
Monate Zeit für Entscheidung. Untersuchungsmittel:
ähnlich wie im Kartellverfahren, Auskunftsverlangen und
Nachprüfungen. Sachverhaltsdarstellungen werden
veröffentlicht.
Genehmigung unter Auflagen möglich.
149
Das neue Untersagungskriterium für
Unternehmenszusammenschlüsse im Gemeinsamen Markt
Significant Impediment of Effective Competition (SIEC –
Test*):
Zusammenschlüsse, durch die wirksamer Wettbewerb im
Gemeinsamen Markt oder in einem wesentlichen Teil desselben
erheblich behindert würde, insbesondere durch Begründung oder
Verstärkung einer beherrschenden Stellung, sind für mit dem
Gemeinsamen Markt unvereinbar zu erklären.
*) Significant Impediment of Effective Competition
Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates vom 20. Januar 2004 über die
150
Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, http://www.eur-lex.europa.eu
SIEC erfasst
•
Monopolisierung
•
Koordinierte Effekte („kollektive
Marktbeherrschung“)
•
Unilaterale Effekte => Wettbewerbsbeschränkung
auch unterhalb der Monopolbildung möglich (z.B.
bei Wegfall eines nahen Substituts)
vorher: „Errichtung oder Stärkung einer
marktbeherrschenden Stellung; dort keine Erfassung
koordinierter Effekte
151
Nachgewiesene Effizienzvorteile der Fusion werden
berücksichtigt (sog. Leitlinien Ziff. 76 – 88).
•
Effizienzvorteile müssen fusionsspezifisch sein.
•
Sie müssen Vorteile für die Verbraucher bringen.
•
Sie dürfen keine Hindernisse für den Wettbewerb
errichten.
=> kein „echter“ Trade-off im Sinne Williamsons
zugelassen!
 prinzipiell Verschärfung der europäischen
Fusionskontrolle möglich
152
Aber:
Hinwendung zu einer Einzelfallbetrachtung plus
ökonomischem Präjudiz („more economic approach“) macht
Entscheidungen schwer vorhersehbar (abhängig von
theoretischer Beurteilung und empirischem Material)
Aufhebung dreier EC Fusionsverbote durch den Europäischen
Gerichtshof erster Instanz
im Jahre 2002 (Airtours/First Choice; Schneider/Legrand;
Tetra Laval/Sidel):
-schwerwiegende Verfahrensmängel,
-mangelhafte ökonomietheoretische Fundierung,
-Erhöhung der Beweisanforderungen bei kollektiver
Marktbeherrschung.
153
•
•
•
•
„Forum shopping“, „Battle of the Experts“ begünstigt
tendendziell Großunternehmen
„Einladung“ zu Klagen vor dem EuGH;
Klagemöglichkeit verlängert Entscheidungen
(mindestens um ein Jahr) und vergrößert
Rechtsunsicherheit
de facto Mißbrauchsprinzip bei vergrößerter
Rechtsunsicherheit etabliert
Hauptproblem: ökonomische Beurteilung von
Fusionen geschieht bei der Regelanwendung (anstatt
bei der Regelfindung)
154
weiteres institutionelles Problem:
•
•
•
keine unabhängige europäische Kartellbehörde
Europäische Kommission ist auch industriepolitischer
Akteur (=> Lissabon-Prozess)
Zwischen Industriepolitik und Wettbewerbspolitik bestehen
Zielkonflikte (warum?)
155
weitere Säulen der europäischen Wettbewerbspolitik:
156
Art. 106 AEUV
Öffentliche und monopolartige Unternehmen
(1)Die Mitgliedstaaten werden in Bezug auf öffentliche
Unternehmen und auf Unternehmen, denen sie besondere oder
ausschließliche Rechte gewähren, keine diesem Vertrag und
insbesondere dessen Artikeln 12 und 81 bis 89 (alte Fassung)
widersprechenden Maßnahmen treffen oder beibehalten.
(2) Für Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem
wirtschaftlichen Interesse betraut sind oder den Charakter
eines Finanzmonopols haben, gelten die Vorschriften dieses
Vertrages, insbesondere die Wettbewerbsregeln, soweit die
Anwendung dieser Vorschriften nicht die Erfüllung der ihnen
übertragenen besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich
verhindert. Die Entwicklung des Handelsverkehrs darf nicht
in einem Ausmaß beeinträchtigt werden, das dem Interesse
157
der Gemeinschaft zuwiderläuft.
Art. 86 (Forts.)
(3) Die Kommission achtet auf die Anwendung dieses Artikels
und richtet erforderlichenfalls geeignete Richtlinien oder
Entscheidungen an die Mitgliedstaaten
Art. 107 AEUV (Beihilfenkontrolle)
(wendet sich gegen staatliche Wettbewerbsbeschränkungen in Form
national gewährter Beihilfen und Begünstigungen für nationale
Unternehmen und Produktionszweige, falls dadurch der
gemeinschaftliche Wettbewerb verfälscht wird)
=>
Europäische Union stellt rechtliche Möglichkeiten zur
Bekämpfung aller wesentlichen privaten und staatlichen
Wettbewerbsbeschränkungen zur Verfügung =>
weltweit einzigartiger transnationaler
marktwirtschaftlicher Ordnungsrahmen !
158
Fazit: Die EU verfügt über alle institutionellen Möglichkeiten,
a) den Wettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten zu öffnen, b)
private und c) staatliche Wettbewerbsbeschränkungen zu
bekämpfen => weltweit singulärer internationaler
Ordnungsrahmen
Frage zur Diskussion:
Sollte es angesichts einer globalisierten Wirtschaft auch eine
weltweite wettbewerbspolitische Ordnung geben ?
 Weltkartellbehörde
 weltweite Beihilfenkontrolle
?
159
VI.
Verteilungspolitik – Begründungsfragen,
Ansatzpunkte und Umsetzungsprobleme
160
1. Begründungsfragen der Verteilungspolitik
Ausgangsfrage: Warum soll die Politik Markteinkommen
nachträglich umverteilen, ohne dass eine Prüfung nach
rechtmäßigem Erwerb erfolgt?
Grenzen einer ökonomischen Begründung für Verteilungspolitik:
Ökonomische Begründungen für wirtschaftspolitisches Handeln
zielen auf allgemeine Vorteilhaftigkeit => schließt
Wirtschaftspolitik zugunsten einzelner Individuen oder Gruppen
aus
=> Operationalisierung des Prinzips der allgemeinen
Vorteilhaftigkeit durch die Paretonorm
161
U2
zulässiger (paretosuperiorer)
Bereich für Umverteilung
X
unzulässige (egalitäre) Verteilung
=> Person 1 Gewinner,
Person 2 Verlierer
U1
Problem der Paretonorm: nur Vergleiche mit dem Status quo
zulässig
=> normative Privilegierung des Status quo, kann sich als
unzureichend oder kontraintuitiv erweisen
162
U2
X
U1
Problem bereits bei der Bewertung von
Allokationsverbesserungen, die mit Umverteilung
einhergehen => Außenhandelstheorie
Paretonorm kann auch ökonomisch sinnvolle Veränderungen
ausschließen („zu moralisch“); Kompensationsregeln bauen
163
hier eine Umverteilung ein
Einwand: normative Privilegierung des Status quo ist
rechtfertigungsbedürftig und verstößt oft genug gegen
Gerechtigkeitsintuitionen
Beispiel: 30 Prozent der Gesellschaftsmitglieder lebten in
absoluter Armut und 0,001 Prozent seien
Einkommensmillionäre
 selbst geringfügige Beeinträchtigungen des Wohlstandes
der Reichen zugunsten der armen Individuen gelten als
unstatthaft („paretoinferior“)
(auch Beispiele aus der Weltwirtschaftsordnung stellen die
Pareto-Norm in Frage)
164
allerdings:
„Rückzug“ der Ökonomen auf die Paretonorm war Resultat
einer Begründungsproblematik
„Unmöglichkeit“ einer willkürfreien gesamtgesellschaftlichen
Wohlfahrtsfunktion auf der Basis individueller
Nutzenpositionen:
W = W (U1, U2, Ui, ….Un)
„klassischer Utilitarismus“ :
n
W  U i
„größter Nutzen für die größte Zahl“
1
165
klassischer Utilitarismus behandelt Nutzeneinbußen als
kompensierbar und enthält darum ein „kollektivistisches“
Element (warum? Hinweis stammt von Rawls)
Problem des interpersonellen Nutzenvergleiches (auch andere
Gewichtungen als 1 denkbar, allgemein:
n
W   iU
1
i
interpersoneller Nutzenvergleich
Skepsis: aufgrund der Konflikthaftigkeit der Interessen führen
Abstimmungsverfahren zu einer Verletzung der Interessen
einzelner Gesellschaftsmitglieder; Probleme der Aggregation
individueller Präferenzen zu einer „Sozialen
Wohlfahrtsfunktion“ treten deshalb besonders zu Tage;
166
„kommunistische Fiktion“ (Myrdal)
(unter Ökonomen) allgemein geteilter Befund:
•
•
•
ökonomische (objektive) Antwort auf das Ziel der
Verteilungspolitik nicht möglich
erst recht ist eine „gerechte Verteilung“ ökonomisch nicht
angebbar
Wertungen müssen von woanders bezogen werden (Philosphie,
Ethik) sind gefragt.“ (unterstützt durch den sogenannten 2.
Hauptsatz der Wohlfahrtsökonomik; Frage zur Wiederholung:
was bedeutet dieser Satz?)
Aufgabe der Ökonomie stattdessen:
•
•
Beschäftigung mit Effizienzfragen (normativ unproblematisch)
sowie
167
Analyse der Folgen von Umverteilungspolitik
 Ausklammerung der normativen Frage nach der gerechten
Verteilung in der Ökonomie ist allerdings unbefriedigend
 2. Hauptsatz überschätzt die Möglichkeiten der
Umverteilungspolitik („jede beliebige Verteilung“ ist nicht
realisierbar ohne gravierende Anreizfolgen)
 empirisch große Bedeutung der Umverteilungspolitik (s.
früherer Hinweis in der Vorlesung)
 (weitgehender) gesellschaftlicher Konsens über die Ziele der
Verteilungspolitik stabilisiert den Ordnungsrahmen
 wünschenswert eine normative „Selbststabilisierung“ der
Verteilungspolitik => Verteilungspolitik wird als gerecht
angesehen und sichert sozialen Frieden“
168
Sozialausgaben als Anteil der gesamten Staatsausgaben
Netherlands
Germany
Norway
Finland
1998
1980
1960
USA
UK
Ireland
Canada
Australia
169
0.0%
10.0%
20.0%
30.0%
40.0%
50.0%
60.0%
Das verteilungspolitische Gerechtigkeitsideal
Selbststabilisierung von Institutionen, weil sie als gerecht
empfunden werden
 Friedensstiftung (nach innen) von gerechten
Institutionen (=> Umkehrschluss: ungerechte
Institutionen führen zur Destabilisierung von
Gesellschaften)
 Argument in der constitutional economics (Buchanan,
Brennan): Ohne gewissen Konsens in der
Verteilungspolitik wird Demokratie zum Schauplatz
von Umverteilungskämpfen => Unsicherheitsfaktor für
170
Investoren
- eine Art Verfassungskonsens über das Ausmaß von
Umverteilungspolitik ist wünschenwert
 Thema bei John Rawls: gerechte Institutionen fördern die
Überzeugung bei den Gesellschaftsmitgliedern, dass sie
erhalten bleiben sollten.
 führt zur Frage: wieviel Ungleichheit ist tolerabel?
Frage kann sehr verschieden beantwortet werden: Mill
versus Rawls
171
häufig genannte (ergebnisbezogene) Verteilungsnormen:
•
•
•
•
egalitäre Verteilung (Gleichverteilung)
Verteilung nach den Bedürfnissen („jedem nach seinen
Bedürfnissen“)
Berücksichtigung des objektiven Leistungsbeitrags der
Individuen zum Gesamtprodukt („jedem nach seiner
Leistung“)
Verteilung nach dem Grad der individuellen Anstrengung =>
subjektive Mühe und Leistungsfähigkeit als Grundlage für
Umverteilung
Quelle: Mill, Utilitarismus, 1871.
Millscher Einwand: alle Verteilungsnormen sind plausibel,
bedeuten aber jeweils etwas anderes => Konflikthaftigkeit von
Verteilungsnormen bleibt bestehen (diskutieren Sie, warum)
Auch in sozialistischen Programmen kontroverse Auffassungen
172
Probleme der Rechtfertigung von Verteilungspolitik aus
ökonomischer Sicht
1. Umverteilung greift in Eigentumsrechte der Bürger ein und
bedarf daher besonderer Rechtfertigung => Umverteilung
kollidiert mit den konstituierenden Prinzipien einer
Marktökonomie
2. Begründung im Falle von für Hilfs- und Unterstützungspflichten
im Falle von Notlagen leicht möglich; tatsächliche
Umverteilungspolitik zielt aber auf Ausgleich von Lebenslagen
3. Umverteilung von Einkommen erzeugt tendenziell negative
Anreizwirkungen auf das Angebot produktiver Leistungen
(Arbeit, Kapital) => Kollision mit den konstituierenden
Prinzipien einer Marktökonomie
4. Trade-off zwischen Umverteilung und Wettbewerbsprinzip;
Lenkungsfunktion der Preise kann gestört sein
173
Frage zum Diskutieren:
Warum könnte der 2. Hauptsatz der Wohlfahrtsökonomik die
wirtschaftspolitischen Möglichkeiten einer Umverteilung
zum Zwecke einer wünschenswerten Einkommensverteilung
überschätzen?
Überlegen Sie, was der 2. Hauptsatz der Wohlfahrtsökonomik
besagt und was dort zum Gegenstand einer Umverteilung
wird.
174
grundlegende Erwägungen:
Verteilung von Gütern und Einkommen resultiert aus
unterschiedlichen Anfangsausstattungen von Vermögen und
sozialer Herkunft
=> vergleichbar einer „Lotterie“ (Rawls) ohne individuelles
Verdienst
 Schaffung gleicher Startchancen ist aber utopisch; dazu
gehören nämlich nicht nur das Einkommen der Eltern oder
vererbte Vermögen, sondern auch das soziale Milieu, die
Vererbung von Talenten etc.
 rechtfertigt Kompensation für mangelndes „soziales
Losglück“
175
Kritiker der sozialen Gerechtigkeit argumentieren:
nur Handlungen können Gegenstand einer Gerechtigkeitsnorm
sein, nicht soziale Zustände (Verteilungspositionen) => Hayek,
Nozick
zu fragen ist:
a) Wurde ein Einkommen Y von Person X durch eine Kette von
gerechten Handlungen erworben?
b) Hat Person X andere Personen am Einkommenserwerb
gehindert und deren Armut (mit-)verursacht?
Bei positiver (negativer) Antwort auf a (b) sind soziale
Differenzen nicht Resultat ungerechter Handlungen
(war eine soziale Exklusion intendiert bzw. in Kauf genommen,
oder erfolgte sie aufgrund der Nichtwahrnehmung von
176
Chancen?)
Rawls‘ Versuch einer Theorie der Gerechtigkeit (einflußreichstes
sozialphilosophisches Werk des 20. Jahrunderts)
zentraler Gedanke: moderne Demokratie (mit gleichen politischen
Partizipationsrechten der Bürger) bleibt auf ein Konzept von
„Gerechtigkeit als Fairness“ angewiesen; dieses soll auf einem
(weitgehenden) Konsens beruhen und auch demokratische
Machtwechsel überdauern => Selbststabilisierung von
Gerechtigkeit als Fairness (Sozialisationsfunktion gerechter
Institutionen für die Gesellschaftsmitglieder)
Konsens über „Gerechtigkeit als Fairness“ ist – trotz
Meinungspluralismus – möglich
177
Einigung der Gesellschaftsmitglieder auf
Gerechtigkeitsprinzipien in einem „Urzustand“
=> Individuen müssen von ihrem sozialen Status
abstrahieren (sonst brechen die Konflikte auf)
=> „Veil of ignorance“
verborgen:
soziale Herkunft,
Geschlecht,
Begabung, Talente,
ethnische
Zugehörigkeit,
Gesundheit
Rawls‘ Frage: auf welche Gerechtigkeitsprinzipien würden 178
sich die Individuen einigen, bevor der Vorhang aufgeht?
Die beiden Grundsätze der Gerechtigkeit
1. Jedermann sollte gleiches Recht auf das umfangreiche System gleicher
Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen
verträglich ist.
2. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, dass a)
vernünftigerweise zu erwarten ist, dass sie zu jedermanns Vorteil
dienen, und b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem
offen stehen.
=> Unterschieds- oder Differenzprinzip
Reformulierung: Soziale und wirtschaftliche Grundfreiheiten sind so zu regeln,
dass sie sowohl a) den am wenigsten Begünstigten die best-möglichen
Aussichten bringen als auch b) mit Ämtern und Positionen verbunden sind, die
allen gemäß der fairen Chancengleichheit offen stehen.
1. Gerechtigkeitsgrundsatz hat Vorrang vor dem 2. (d.h. dem Differenzprinzip)
179
U1
wachsende
Schere der
Ungleichheit,
aber zum
Nutzen Beider
Q
P
45o
O
U2
Übergang O Q verstärkt soziale Ungleichheit, ist
aber mit dem 2. Gerechtigkeitsprinzip kompatibel;
gilt nicht für Q P.
(In P tangiert ein Lot der Winkelhalbierenden die
180
Nutzenkurve. Wäre P nach einer anderen Norm „gerecht“?)
Nutzenkurve beschreibt die Verteilung der Nutzen auf
die Gesellschaftsmitglieder bei maximaler Ausnutzung
der Kooperationschancen unter unterschiedlichen (d.h.
zur Wahl stehenden) gesellschaftlichen Institutionen.
Institutionen, welche die Nutzenverteilung Q
realisieren, würden U1 am meisten nützen; in P ist das
nicht der Fall => nach Rawls gerechtfertigte
Umverteilung
Frage zur Diskussion: Durch welche Institutionen ist Q
gekennzeichnet? Kommen auch die Institutionen einer
freie Marktwirtschaft in Frage oder meint Rawls einen
Wohlfahrtsstaat westlicher Prägung?
Rawls selbst lässt die Frage offen.
181
Fazit: grundlegender Konflikt zwischen
•
Verfahrensgerechtigkeit („sind die Regeln, unter denen
die Menschen im Land X leben, gerecht?“) sowie
•
Zustandsgerechtigkeit („ist die Verteilung von
Einkommen und Vermögen in Land x zum Zeitpunkt t
gerecht?“)
prägt wirtschaftspolitische Kontroversen
in der sozialphilosophischen Diskussion überwiegt ein
Plädoyer für Verfahrensgerechtigkeit, Ablehnung von
Zustandsgerechtigkeit
in der politischen Diskussion überwiegen Fragen der
Zustandsgerechtigkeit; jede Ungleichheit kann als Indiz für
Ungerechtigkeit genommen werden.
182
2. Ansatzpunkte der Verteilungspolitik
zunächst pragmatischere Frage:
Wie bilden sich überhaupt Versorgungslagen von
Haushalten (und Individuen)?
Welche grundsätzlichen Ansatzpunkte ergeben sich daraus
für die Wirtschaftspolitik?
Ziel der weiteren Überlegungen: Erkennen, dass sich
Verteilung aus einem komplexen Zusammenwirken vieler
Einflußfaktoren ergibt (bleibt in sozialphilosophischen
Diskursen häufig ausgeblendet)
183
Faktorbesitz
der Haushalte
Relative Knappheit
der Faktoren auf
Faktormärkten
Arbeit
Kapital
Humankapital
Immobilien
Faktoreinkommen
der Haushalte
Verwendung des
Haushaltseinkommen
Wettbewerb auf
Gütermärkten
Realeinkommen
der Haushalte
Zusammenhang zwischen Vermögensbesitz,
Einkommenserzielung und Versorgungslagen
184

nicht nur Ausstattung mit Vermögen ist relevant
Ressourcen + Fähigkeiten + Investitionsentscheidungen
„soziale Lotterie“
individuelle Entscheidungen
(Zeitpräferenzrate)
+ Marktlagen (relative Knappheit) =>
Faktoreinkommen

sondern auch individuelle Entscheidungen und die
relative Knappheit der Ressourcen
 Wettbewerb auf Gütermärkten bietet Ansatzpunkt
zur Verbesserung von Versorgungslagen (klassisch:
Getreidezölle; heute durch Anwendung von Art. 102
AEUV; s. Vorlesung Teil V.); ebenso Zollpolitik =>
„Entschärfung“ der Konflikte um Verteilungspolitik
185
außerwettbewerbliche Einflüsse auf individuelle
Versorgungslagen:
•
•
•
•
Ausmaß der Betroffenheit von technologischen
externen Effekten (Umweltschäden) =>
Operationalisierung z.B. in Form der
Lebenserwartung
Einkommensäquivalente selbst genutzter
Arbeits- und Produktivvermögen
Nutzen- und Einkommenseffekte der
Bereitstellung von staatlichen Kollektivgütern
private Transferzahlungen (Erbschaften,
Schenkungen)
186
Maße der Ungleichverteilung (Lorenzkurve,
Ginikoeffizient u.a.m.)
Gleichverteilung
kumuliertes
Einkommen als
Anteil des
Gesamteinkommens
(normierte) Fläche
Maß für
Ungleichverteilung
20%
10%
50% „50% der ärmsten Haushalte verfügen
187
über 20% des Gesamteinkommens“
auch andere Maße denkbar und gebräuchlich
(Verhältnis zwischen Gesamteinkommen des
oberen zum unteren Quintil; Quelle: Eurostat)
188
Ungleichverteilung in der
Welt
Gini-Koeffizient der Einkommensverteilung nach
dem CIA World Factbook mit den Daten von 2009
189
Entwicklung des Gini-Indexes für einige Länder
190
Fragen zum Diskutieren:
Welchen Zusammenhang sehen Sie zwischen GiniKoeffizienten (Ungleichverteilung) und allgemeinem
Wohlstand? Gibt es eine ein-eindeutige Beziehung?
Wie lässt sich der Anstieg des Gini-Koeffizienten in
Deutschland bis 1969 und dann der spätere Abfall erklären?
Warum steigt der Gini-Koeffizient gerade in
Transformationökonomien häufig an? (Indien, China,
Postkommunistische Länder)
191
Was ist verteilungspolitisch zu entscheiden?
•
•
•
•
Inwieweit sollen Unterschiede in den individuellen
Einkommen verringert werden ?
Inwieweit sollen Unterschiede in den
Einkommenserzielungschancen verändert
(verringert) werden?
In welchem Maße soll die intergenerationale
Einkommensverteilung korrigiert werden?
In welchem Maße soll auf die Einkommensmöglichkeit künftiger Generationen Einfluss
genommen werden (durch Sachkapitalbildung
oder Nutzung bzw. Schonung von Umweltkapital)?
Frage zur Diskussion: was würde denn hier der 2.
Gerechtigkeitsgrundsatz von Rawls implizieren?
•
In welchem Maße sollen räumliche Einkommensunterschiede verringert werden?
Hinweis: Frage beim Länderfinanzausgleich bedeutend
192
Zwei Hauptansatzpunkte der umverteilenden
Wirtschaftspolitik:
o ursachenorientiert
Korrektur der Ausgangslagen, mit denen sich
Individuen in den Wettbewerb begeben
o ergebnisorientiert => Umverteilung der
Markteinkommen
zu 1)
• für Agrargesellschaften: Bodenreform
• ansonsten: selektive Förderung (Subventionierung) von
Vermögensbildung => z.B. Sparförderung bei Beziehern
geringer Einkommen
• Sparförderung zum Zwecke des Immobilienerwerbs
(Eigenheimförderung; Verteilungswirkung fragwürdig)
• konfiskatorische Erbschaftssteuer (wegen Anreizwirkung
umstritten, hat aber auch liberale Befürworter wie Mill gefunden) 193
(Fortsetzung)
•
Vermögenssteuer (potentieller Konflikt mit der
Eigentumsgarantie des Grundgesetzes muss gelöst werden)
•
•
Milieukorrekturen (z.B. durch Ganztagsschulen,
Kindergartenpflicht)
Beeinflussung der Humankapitalbildung
Bereitstellung von Bildungsgütern als öffentliche
Aufgabe; staatliche Förderung des Studiums (könnte
auch in der Form von Bildungsgutscheinen verwirklicht
werden)
Frage: reicht die allgemeine Bereitstellung von Bildungsgütern hin?
Hinweis: Bedeutung individueller Entscheidungen (Präferenzen)
und Risikopräferenzen und sozial vermittelter
„Netzwerkkompetenzen“
=> Vernachlässigung kann zur Überschätzung
wirtschaftspolitischer Möglichkeiten führen (z.B. wenn
Bildungsaufstieg mehr als eine Generation bedarf);
194
zu 2): ergebnisorientierte Umverteilung
•
Einkommensentzug durch progressive Steuer; zu Mitte der
siebziger Jahre in allen Wohlfahrtsstaaten hohe Grenzsteuerbelastung;
in der BRD 56%, in Schweden zeitweilig 80 %; heute ca 44% incl.
Solidaritätszuschlag (zusätzlich „Reichensteuer“)
•
•
•
=> Hauptinstrument der Umverteilungspolitik (allgemeine
Tendenz ging in Richtung „Flat-Tax“ (s. KirchhofVorschlag; nach der Finanzmarktkrise gewisse Umkehrung)
steuerfinanzierte Transferzahlungen nach dem
Fürsorgeprinzip
ALG II („Hartz IV“); früher: Arbeitslosenhilfe
Sozialhilfe (bei erwerbsunfähigen Personen)
Steuerentlastungen (Grundfreibetrag;
Vorsorgepauschale; Berücksichtigung individueller
Leistungsfähigkeit)
Subventionierung (oder Steuerbefreiung, -absenkung)195
für Güter des Grundbedarfs
•
höhere Verbrauchssteuern bei Gütern des gehobenen
Bedarfs („Luxussteuer“)
Frage: welchen Vorteil bietet die Konsumbesteuerung?
•
Realtransfers von Gütern (Bereitstellung zum Nulltarif
oder zu nicht-kostendeckenden Preisen);
Bsp.: unentgeltlicher Zugang zu
Kinderbetreuungseinrichtungen; unentgeltliche
Nutzung öffentlicher Einrichtungen; (bei
Gebührenfinanzierung Sondertarife für Personen ohne
Erwerbseinkommen)
196
in allen westlichen Wohlfahrtsstaaten von herausragender
Bedeutung
(gesetzliche) Soziale Sicherungssysteme in D
•
•
•
•
Arbeitslosenversicherung
Rentenversicherung
Krankenversicherung
Pflegeversicherung
notwendigerweise Instrumente der Umverteilung?
Unterfrage: sind Versicherungen generell Instrumente
einer intendierten Umverteilung?
vorläufige Antwort: ex post ja, ex ante nein.
197
Differenzierung nach Risikoklassen;
innerhalb einer Risikoklasse „Umverteilung“ in
Abhängigkeit von (zufälliger) Schadensrealisation
=> keine „geplante“ Umverteilung zwischen
Personengruppen einer Versichertengemeinschaft
Grundlage einer verteilungsneutralen Versicherung:
Äquivalenzprinzip => Äquivalenz von Prämie und
Versicherungsleistung
im weiteren: Erläuterung des Äquivalenzprinzip mit
Überlegungen darüber, ob staatliche Versicherungen
angeboten werden sollten und die tatsächlichen
Versicherungen sich am Äquivalenzprinzip ausrichten.
198
„aktuarische (oder faire) Prämie“ als Angebotsleistung der
Versicherung
Schadensfall (Schadenshöhe)
L
Schadenswahrscheinlichkeit
von Person i
πi
erwarteter Schaden
einer Person i
L* πi
Versicherungsprämie
пi = (1 + a) * L* πi
a: Verwaltungskosten,
Gewinnmarge
199
bei risikoaversen Personen und symmetrischer Information
werden Versicherungen am Markt angeboten; Prämie
entspricht dem erwarteten Schaden
Bedingungen für die aktuarische (faire) Prämie:
-
-
unabhängige Schadenswahrscheinlichkeiten der
Versicherungsnehmer (keine positive Korrelation)
Schadenswahrscheinlichkeit (signifikant) < 1
Schadenswahrscheinlichkeiten bekannt
Abwesenheit asymmetrischer Information
(Versicherungsnehmer kennt Risiko besser als
Versicherung)
keine adverse Selektion von Personen mit hohen Risiken;
keine „hidden action“ (nachträgliche Manipulation des
Eintretens eines Versicherungsfalles)
200
Nachfrage nach Versicherungsleistung bestimmt von
Risikopräferenz der Nachfrager
abzuwägen: um Versicherungsprämie verringertes sicheres
Einkommen gegen höheres Einkommen bei unversichertem
Risiko
Prinzip des Äquivalenzprinzip: Prämien nach Risikoklassen
(Schadenswahrscheinlichkeit) differenziert; keine
Umverteilung zwischen unterschiedlichen Risikoklassen;
Individuen können gemäß ihrer Risikopräferenz eine
Versicherung nachfragen
insbesondere: keine Einkommensabhängigkeit der
Versicherungsprämie (Bsp.: KFZ-Versicherung)
201
Grenzen eines individualistischen (marktorientieren) und
freiwilligen Versicherungsprinzips:
-
-
Personen mit zu hohen Risiken finden keine Versicherer
(z.B. chronisch Kranke)
Versicherungen könnten moderne Diagnoseverfahren
(Genanalyse) zum Ausschluss von Versicherten nutzen
opportunistisches Verhalten von Versicherungen denkbar
(Kündigung von Versicherungen)
Personen können bedeutsame Risiken
(Erwerbsunfähigkeit, Krankheit) systematisch
unterschätzen
insbes. Krankenversicherung funktioniert nur, wenn
Rücklagen durch junge Versicherte gebildet werden
Personen vernachlässigen Eigenvorsorge für die weite
Zukunft (Bsp.: Selbständige, die von
202
Rentenversicherungspflicht befreit sind)
gesetzliche Sozialversicherung stellt keine Versicherung im
Sinne des (reinen) Äquivalenzprinzips dar, obwohl dies (mit
Einschränkungen) möglich wäre => Instrument der
Umverteilungspolitik
Versicherungspflicht greift in die Einkommensverwendung
(Dispositionsfreiheit) der Bürger ein; Entscheidung wird den
Bürgern entzogen; typischerweise werden auch die Leistungen
gesetzlich festgelegt.
Versicherungspflicht z.T. verhaltensökonomisch begründbar
(s.o.), jedoch verschafft sich der Staat auch neue Einnahmen
und unterliegt der Versuchung nach politisch motivierten
Umverteilungsabsichten (Versichertengemeinschaft kann
nicht selbst über Verwendung von Überschüssen oder
Leistungen entscheiden) => versteckte Umverteilung
203
Umverteilungskomponenten in der gesetzlichen
Sozialversicherung (GS) im Einzelnen:
hälftige Beteiligung von Arbeitnehmern und Arbeitgebern als
Prinzip in der Bismarckschen Sozialversicherung
Frage: Sind die Arbeitgeber auch volkswirtschaftlich an den
Prämien der GS beteiligt? => (überlegen Sie, warum
Arbeitgeberbeiträge volkswirtschaftlich als Bestandteil des
Lohnes anzusehen sind)
Arbeitslosenversicherung:
Beitrag und Leistung einkommensabhängig,
aber auch Verstöße gegen das Äquivalenzprinzip:
keine Risikoabhängigkeit des Beitrags oder Bildung von
Risikoklassen
204
gesetzliche Krankenversicherung
hier existiert eine private Krankenversicherung ab
Pflichtversicherungshöchstgrenze („2. Säule“;
Reformbestrebungen zielen allerdings z.T. auf Abschaffung
=> „Bürgerversicherung“)
Beitragsprinzip der GKV: einkommensabhängige Prämie
(„2. Einkommensteuer“) bis Beitragsbemessungsgrenze;
Leistungen gesetzlich definiert und nicht betragsabhängig
unentgeltliche Mitversicherung von Ehegatten und Kindern
=> gesetzlich gewollte Umverteilung
keine risikoabhängige Prämie (unterteilt nach
Krankenrisiko, Alter, Geschlecht, eventuell Berufs- oder
Sportrisiken, Lebensgewohnheiten)
205
zusätzliches Umverteilungsmoment in der GKV:
steuerfinanzierte Mitversicherung von Kindern; Zuschüsse für
Kassendefizite aus dem Bundeshaushalt
=> für Politiker bestehen viele Möglichkeiten
sozialpolitischen Handelns ohne Budgetverantwortung
private Krankenversicherung im Vergleich:
•
•
•
•
keine unentgeltliche Mitversicherung von Ehegatten und
Kindern, Prämie abhängig vom (Eintritts-) Alter in die PKV,
keine umlagenfinanzierte Versicherung, sondern Aufbau
von Altersrückstellungen (durch Gesetz erneut erhöht,
verblieben aber bei Kassenwechsel in der jeweiligen
Versicherung => Hindernis für Wettbewerb zwischen PKVs)
Beitragszuschläge bei gewissen Risiken
206
kein Kontrahierungszwang (inzwischen geändert)
gesetzliche Pflegeversicherung:
einkommensabhängige Versicherungsprämie bei
gesetzlich festgelegten (einheitlichen) Leistungen
 Verstoß gegen Äquivalenzprinzip
in Deutschland bei Einführung massiver Verstoß
gegen das Äquivalenzprinzip infolge des
Umlageverfahrens (Alternativen wären möglich
gewesen)
 Erhebung von Beiträgen durch alle Arbeitnehmer,
Auszahlung unabhängig von Beitragsdauer
=> „Einführungsgewinne“ der 1. Generation
=> Demographieanfälligkeit macht langfristige Zahler
zu Verlierern der Pflegeversicherung
(Extremvorschlag: Abschaffung oder sofortige
207
Umstellung auf Kapitaldeckung)
gesetzliche Rentenversicherung
(Hauptsäule der Altersversorgung in Deutschland; daneben:
berufsständische Versorgungswerke, Beamtenpensionen):
Äquivalenzprinzip:
früher: Beitragsäquivalenz: eigentumsähnliche Bindung von
Rentenansprüchen an Beitragszahlungen (mindestens
Rendite von Null); „Beitragsbezogenheit der Rente“
heute: Teilhabeäquivalenz
„Hierarchieposition des Versicherten bei den
Beitragszahlern muß mit Hierarchieposition der
Rentenempfänger übereinstimmen“ (schwächste Form
des Prinzips der Teilhabeäquivalenz) => Rente könnte als
Umverteilungsinstrument ausgebaut werden
208
Implikation des Äquivalenzprinzips:
„faire Versicherung“
Rendite aus der (umlagefinanzierten) Rentenversicherung
unabhängig vom Renteneintrittseinalter
=> keine höhere Rendite bei vorzeitigem (freiwilligem)
Ausscheiden aus dem Erwerbsleben (Vorruhestand);
s.u. mehr dazu
hier: Rentenversicherung orientiert sich (anders als ALV,
PV, GKV) stark am Äquivalenzprinzip
Ausnahmen: Berücksichtigung von Erziehungszeiten,
Kindern, Frühverrentung (inzw. teilweise korrigiert)
209
vorläufiges Ergebnis:
In den gesetzlichen Sozialversicherungssystemen wird
das Äquivalenzprinzip gezielt für Umverteilungszwecke
außer Kraft gesetzt;
daraus können Fehlanreize erwachsen (Arbeit mit
hoher Wertschöpfung wird relativ teuer)
allerdings bislang Mitbeteiligung auch Geringverdiener
am Wohlfahrtsstaat
Vorteil für Politiker:
keine Mittel aus dem Bundeshaushalt erforderlich; nur
beschränkter eigentumsrechtlicher Schutz der Mittel
der Beitragszahler
210
Grundsätzliches zur Rentenversicherung:
 sie kann staatlich, privat, oder gemischt ausgestaltet sein
(in D überwiegend staatlich)
 Teilnahme kann obligatorisch oder freiwillig sein (in D für
Arbeitnehmer, Handwerker, selbst. Künstler und
Publizisten) obligatorisch, ansonsten freiwillige
Mitversicherung möglich
 sie kann kapitalgedeckt oder umlagefinanziert sein:
Kapitaldeckung: Bildung eines Kapitalfonds aus Beiträgen,
die zinstragend angelegt werden; daraus Zahlung von Renten
(Hinweis: Kapital muss nicht zwingend im Inland angelegt
werden, was Risikostreuung ermöglicht)
Umlageverfahren: Einzahlung von Beiträgen der
Erwerbstätigen bei gleichzeitiger Auszahlung an die
211
Rentnergeneration; keine Fondsbildung (mit Ausnahmen)
Kapitalwertformel der Rentenversicherung
 1 
  Bs 

1 r 
ss 0
sr
s0
ss 0

Beitagszahlungen
 1 
Rs 


1 r 
s  sr
sle
sr
ss 0
Rentenbezug

0
sle
r: interne Rendite (Zinssatz, bei dem der Barwert der
Einzahlungen dem Barwert der Auszahlungen entspricht)
212
interne Rendite:
Jahrgang 1940 (Männer):
Jahrgang 2000
4, 01 % jährlich
2,75 % jährlich
(bei Frauen bis zur Anhebung des Renteneintrittsalters
0,5 Prozentpunkte höher),
bei positiven Kapitalmarktzinsen entsteht
jedoch eine implizite Steuer
213
 1 
T   Bs 

1 d 
ss 0
sr
ss 0
 1 
  Rs 

1 d 
s  sr
sle
ss 0
d=r => T = 0
d<r => T > 0
 Steuer des Umlageverfahrens (niedrigere
Verzinsung d als bei Anlage der Beiträge auf dem
Kapitalmarkt
(„Kapitaldeckungsverfahren“)
T/YL => implizite Steuer (YL = Lebenseinkommen)
durch Teilnahmezwang am Umlageverfahren
jetzt bei 16% (vor der rot-grünen Rentenreform wäre
implizite Steuer auf über 20 % gestiegen)
214
„Rentenformel“ in Deutschland:
Monatsrente = persönliche Entgeltpunkte × Rentenartfaktor
× aktueller Rentenwert
Rentenartfaktor: 1 bei Altersrente
0,55 bei Witwenrente
0,5 bei Erwerbsminderungsrente
Persönliche Entgeltpunkte: Summe der Entgeltpunkte ×
Rentenzugangsfaktor
Entgeltpunkte (für ein Jahr):
= eigenes beitragspflichtiges Einkommen dividiert durch das
Durchschnittseinkommen aller Arbeitnehmer im
betreffenden Jahr
Forts.:
215
Rentenzugangsfaktor: berücksichtigt Renteneintritt
(Abschlag von 0,3 Prozent pro Monat des vorgezogenen
Renteneintritts)
aktueller Rentenwert aRWt
BEt−1 100 − BSt−1 − AVAt−1 1 − 𝛼 RQt−1 −1
aRWt = aRWt-1
BEt−2 100 − BSt−2 − AVAt−2
RQt−2
BE: durchschnittliches beitragspflichtiges Bruttoeinkommen
BSt: Rentenbeitragssatz: stellt Bruttolohnbezug der Rente
her; AVA: Altersvorsorgeaufwendungen
RQ: Rentenquotient: Verhältnis Beitragszahler zu Zahl der
Rentner: berücksichtigt Demographie
(„Nachhaltigkeitsfaktor“) plus Konjunktur (de facto Rente
nach Kassenlage)
216
Wirtschaftspolitische Gesichtspunkte für die Beurteilung
von Verteilungskorrekturen
 Förderung eines gesellschaftlichen Konsenses prüfen
 politische Überlegenheit staatlicher Korrekturen im Vergleich
zu privaten Alternativen prüfen
Ausmaß negativer Nebenwirkungen möglichst begrenzen:
a)
wirtschaftspolitische Kosten: Kosten von Gesetzgebung
und Kosten der Transferbürokratie
217
b)
negative Anreizwirkungen prüfen:

Verringerung der Sparquote auf Seiten der Belasteten =>
Verringerung der volkswirtschaftlichen Kapitalbildung
durch verteilungspolitische Transfers ?
Verlust an unternehmerischer Eigeninitiative ?
Gründungshemmnisse durch Kosten der Umverteilung ?
geringer Anreiz zum Verlassen der sozialen
Sicherungssysteme ?
Ausweichen in abgabefreie Bereiche durch
Abgabenvermeidung und – hinterziehung ?



218

geringe Anreize der Begünstigten, die Begünstigung zu
verlassen ?

Aushöhlung des Subsidiaritätsprinzips ?

Stützung nachgelagerter Sektoren
("Sozialindustrien") mit geringer
Wettbewerbsintensität ?

politische Selbstverstärkungsprozesse ?

Gefahr von schleichenden Fehlanreizen für
wirtschaftliches Wachstum, auf die politisch schwer zu
reagieren ist ? => Frage der Krisenfestigkeit von
Umverteilungspolitik
=> zu große negative Nebenwirkungen zwingen in Phasen
wirtschaftlicher Krisen i.d.R. zu Korrekturen
219
Das „ALG – II – Problem“
Der Trade-off zwischen Anreizverträglichkeit und
Bedürftigkeit bei steuerfinanzierten Transferzahlungen
ALG II hat alte Arbeitslosenhilfe abgelöst
(steuerfinanzierte Transferzahlung, Leistung vom
Arbeitslosengeld abhängig); ALG II – Bezug von ALG I
unabhängig (allerdings: 2 Jahre Übergangsgeld;
inzwischen abgeschafft)
Prämissen: Transferempfänger arbeitsfähig (ansonsten
Sozialhilfe); Jobs zumindest im Niedriglohnbereich
grundsätzlich verfügbar
220
Nettolohn
Zuverdienst anrechnungsfrei
Teilanrechnung
ALG IISatz
Bedürfigkeitsgrenze
Vollanrechnung von
Zuverdienst auf ALG II
Erwerbseinkommen = ALGII-Satz;
E<A: „Aufstocker“
Bruttolohn
221
Nettolohn
ALG IISatz
Alternative (Vorschlag SVR)
Bedürftigkeitsgrenze
Vollanrechnung von
Zuverdienst auf ALG II
Erwerbseinkommen = „Stütze“
Bruttolohn
222
Alternative:
•
•
•
Leistungsbezug gekoppelt an Arbeitsverpflichtung
AV kann durch Teilnahme an Qualifizierungsmaßnahmen
reduziert werden (=> Sozialstaatsreform 1996 in den USA
durch Clinton-Regierung)
Idee: Schaffung von marginalen Anreizen zum Ausstieg
aus dem Transfersystem; (etwas bessere Bezahlung, etwas
besserer Job)
=> Leistungsempfänger verlassen bereits bei marginal
besseren Jobs (Qualität, Bezahlung) das Transfersystem
223
Fazit:
Verteilungspolitik ist eine dauerhafte „Baustelle“ der
Wirtschaftspolitik; Konflikt zwischen angemessener Sicherung
des Lebensunterhalts und Anreizwirkung;
in Wachstumsperioden meist Ausbau der Umverteilung (verstärkt
durch politischen Wettbewerb)
bei Wachstumseinbrüchen setzen Korrekturen rasch bei den
Transfersystemen ein
Bei Wachstumseinbrüchen steigen die Leistungen von ALG I und
II bei sinkenden Beitragseinnahmen; tragen zu Haushaltsdefiziten
bei; in Wachstumsphasen umgekehrte Entwicklung
224
Schlußfolgerung
eine Eingliederung der Umverteilung in den marktwirtschaftlichen
Ordnungsrahmen wünschenswert
=> motiviert Suche nach dauerhaften Lösungen
 ein Vorschlag: Bürgergeld => allgemeines Grundeinkommen
ohne Bedarfsprüfung bei gleichzeitigem Wegfall aller
sonstigen Transferzahlungen (ALG II, Wohngeld, Sozialhilfe)
 (Vorschlag wurde in der Vergangenheit von FDP, GRÜNEN,
und CDU-Politikern gemacht, oft aber wieder verworfen)
 Hauptproblem: aus Finanzierungsgründen müsste das
Bürgergeld unter dem jetzigen ALG II-Satz abgesenkt werden
=> kann zu sozialen Härten bei Bedürftigen und
Mitnahmeeffekten bei nicht Bedürftigen („Zahnarztgattin“)
führen
225