POLITISCHER BERICHT AUS DER RUSSISCHEN FÖDERATION Dr. Markus Ehm Leiter der Verbindungsstelle Moskau Nr. 11 /2015 – 26. Mai 2015 IMPRESSUM Herausgeber Copyright 2015, Hanns-Seidel-Stiftung e.V., München Lazarettstraße 33, 80636 München, Tel.: +49 (0)89 1258-0, E-Mail: [email protected], Online: www.hss.de Vorsitzende Prof. Ursula Männle Staatsministerin a.D. Hauptgeschäftsführer Dr. Peter Witterauf Verantwortlich Ludwig Mailinger Leiter des Büros für Verbindungsstellen Washington, Brüssel, Moskau, Athen / Internationale Konferenzen Hanns-Seidel-Stiftung e.V. Tel.: +49 (0)89 1258-202 oder -204 Fax: +49 (0)89 1258-368 E-Mail: [email protected] Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung, Verbreitung sowie Übersetzung, vorbehalten. 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Jahrestag des Sieges im Zweiten Weltkrieg beging das Land mit großen Feierlichkeiten, u.a. mit dem offiziellen Festakt auf dem Roten Platz und einer Militärparade (2). Große Aufmerksamkeit zog das „Unsterbliche Regiment" auf sich, ein Umzug zur Erinnerung an die Gefallenen mit Hunderttausenden Teilnehmern allein in Moskau (3). Über den Besuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel wurde in den Medien positiv berichtet (4). Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die Staatsspitze den „Tag des Sieges" in ungewöhnlich deutlicher Form zur Untermauerung aktueller politischer Positionen nutzte (5). 1. Symbolik und politisches Umfeld des Feiertags In der Russischen Föderation wird der Krieg gegen Hitler-Deutschland als "Großer Vaterländischer Krieg" bezeichnet. Er ist für die Identität des Landes von herausragender Wichtigkeit, weil damals fast 27 Millionen Bürger der Sowjetunion den Tod fanden - deutlich mehr als von allen anderen Ländern. In einer aktuellen Studie des Umfrage-Instituts "Levada-Zentrum" stufen 42% der Befragten die Bedeutung dieses Feiertags als gleichrangig mit dem eigenen Geburtstag ein; nur dem Neujahrsfest (80%) und dem Geburtstag von Angehörigen (44%) wird ein noch höheres Gewicht beigemessen.1 Obwohl der Triumph im Zweiten Weltkrieg als Vermächtnis der Supermacht UdSSR bis heute fortwirkt, treten sowjetische Symbole mittlerweile spürbar in den Hintergrund. Dies belegt insbesondere ein Vergleich mit dem 65-jährigen Jubiläum im Jahr 2010.2 Damals prangten riesige Plakate, die Hammer und Sichel zeigten und eine Höhe von bis zu 40 Metern sowie eine Breite von 80 Metern hatten, an 25stöckigen Hochhäusern an der Hauptzufahrtsstraße zum Kreml. Sie fehlten diesmal. Zu den Erkennungszeichen des 9. Mai gehört zwischenzeitlich das in den Farben schwarz und orange gestreifte Georgsband. Im Jahr 2005 erstmals in Verbindung mit dem Feiertag vorgestellt, hat es sowjetische Motive nunmehr weitgehend abgelöst.3 Das Band hat folgenden historischen Hintergrund: Ursprünglich geht es zurück auf den Orden des Heiligen Georgs aus der Zarenzeit, der von Katharina der Großen 1769 eingeführt und bis 1917 verliehen wurde; diese Auszeichnung wurde an einem Band in den Farben Schwarz und Orange überreicht. Und die Medaille "Für den Sieg über Deutschland im Großen Vaterländischen Krieg 19411945" wurde ebenso an dieses Georgsband geheftet. Das politische Wochenmagazin "Kommersant Wlastj" weist darauf hin, dass das Georgsband seit 2014 nicht mehr nur mit dem Sieg im Zweiten Weltkrieg assoziiert wird, sondern zum Symbol für die „Rückkehr“ der Krim zu Russland und für die Kämpfe in der Ostukraine wurde4. Ferner hat sich die Anti-Maidan-Bewegung dieses schwarz-orangene Erkennungszeichen auf ihre Fahnen geheftet.5 1 Umfrage vom 29.04.2015, http://www.levada.ru/29-04-2015/velikaya-otechestvennaya-voina. 2 Siehe dazu Berichte aus dem Ausland, Politischer Bericht aus der Russischen Föderation, hrsg. von der Hanns-Seidel-Stiftung e.V., Nr. 07/2010 vom 24.05.2010. 3 Das Folgende nach: https://ru.wikipedia.org. 4 Kommersant Wlastj vom 11.05.2015, S. 16ff. Außerdem im Beitrag zum Georgsbändchen unter https://ru.wikipedia.org: Am 5. Mai 2014 wurde im Rahmen der Aktion "Energie des Sieges" in Smolensk das längste Georgsband Russlands präsentiert: 400 Meter in der Länge und 36,5 cm in der Breite. Diese Größe wurde nicht zufällig gewählt; sie wollte die Einwohnerzahl Russlands nach der Annexion der Krim symbolisieren (400 000 mm x 365 mm = 146 Millionen). 5 Vgl. das Foto in Profil vom 30.03.15, S. 14. 1 Was die Frage des Umgangs mit der Person Josef Stalins betrifft, gab es seit 2010 ebenfalls Veränderungen. Im Jahr 2010 entschied die Stadt Moskau auf Wunsch von Veteranenverbänden, auf zehn von insgesamt 2.000 Sonderplakaten (mit einer Größe von ein mal eineinhalb Metern) das Porträt Stalins zu zeigen, was einen öffentlichen Streit über das politische Vermächtnis des bis zu seinem Tod 1953 drei Jahrzehnte lang mächtigsten Mannes der Sowjetunion entfachte. Der damalige Kremlchef Dmitrij Medwedew lehnte das Aufhängen von Stalin-Bildern ab. Zitiert wurde in diesem Zusammenhang auch eine Äußerung von Premierminister Wladimir Putin aus dem Jahr 2009: "Alles Positive ... [wurde] zu einem unannehmbar hohen Preis [erreicht]." Damals bezeichnete er den Ribbentrop-Molotow-Pakt als "eine geheime Absprache, um die eigenen Probleme auf Kosten anderer zu lösen; alle Versuche zwischen 1934 und 1939, die Nationalsozialisten mit der Hilfe von verschiedenen Abmachungen und Verträgen zu beschwichtigen, waren moralisch betrachtet inakzeptabel und politisch gesehen sinnlos, schädlich und gefährlich." 6 Heute hingegen schreibt die Tageszeitung "The Moscow Times", dass der Kreml seit der Annexion der Krim und den westlichen Sanktionen einen Schwenk zu einer Glorifizierung Stalins und seines Paktes mit NaziDeutschland vollzogen habe. So habe Putin im November 2014 die Frage aufgeworfen, was so schlecht daran gewesen sein solle, dass die Sowjetunion keinen Krieg habe führen wollen. Später beschrieb der Kulturminister Russlands den Pakt als eine "riesige Errungenschaft der Stalin-Diplomatie". 2. Festakt mit Militärparade Am offiziellen Teil der Feierlichkeiten auf dem Roten Platz nahmen neben dem UN-Generalsekretär politische Spitzenvertreter aus 19 Ländern teil. Hauptgast war der chinesische Staatschef Xi Jinping. Es fehlten hochrangige Repräsentanten der ehemaligen Sowjetrepubliken Ukraine, Georgien, Moldawien, Usbekistan, Weißrussland und der baltischen Staaten.7 Zu den Anwesenden zählten außerdem die Staatschefs von Indien, Ägypten, Südafrika und dem EU-Land Zypern. Der tschechische Präsident und der slowakische Premierminister hielten sich in Moskau auf, stießen aber erst nach Abschluss der Militärparade zum Kreis ihrer Kollegen, um gemeinsam mit ihnen einen Kranz am Grabmal des unbekannten Soldaten niederzulegen.8 In seiner Ansprache erinnerte Putin daran, dass die Sowjetunion, für deren Freiheit alle ihre Völker gekämpft hatten, die härtesten Schläge des Feindes habe hinnehmen müssen.9 Der Kremlchef dankte den Alliierten Russlands, allen voran Großbritannien, Frankreich und den Vereinigten Staaten von Amerika für ihren Beitrag zum Sieg. Ferner dankte er den antifaschistischen Kräften in Europa, die als Partisanen oder im Untergrund gekämpft hätten, wobei er den deutschen Widerstand mit einschloss. Die Nachkriegsordnung habe die Vereinten Nationen hervorgebracht; diese Organisation habe ihre Effektivität bei der Lösung von Streitigkeiten und Konflikten bewiesen. Allerdings würden die Grundprinzipien der internationalen Zusammenarbeit in den letzten Jahrzehnten ignoriert. "Wir sehen Versuche zur Schaffung einer einpolaren Welt", so Putin, "unser Ziel muss die Ausarbeitung eines Systems der gleichen Sicherheit für alle Staaten auf einer regionalen und globalen Grundlage ohne militärische Blöcke sein“. Der Kremlchef äußerte seine besondere Anerkennung für diejenigen Länder, die "gegen den Nationalsozialismus und den japanischen Militarismus gekämpft haben". In diesem Zusammenhang erwähnte er die ehemaligen Sowjetrepubliken Aserbaidschan, Armenien, Weißrussland, Kirgisien, Kasachstan und Tadschikistan, zudem ferner China, "das wie die Sowjetunion in diesem Krieg viele Millionen Menschen verloren hat und durch das die Hauptfront im Kampf gegen den Militarismus in Asien verlaufen ist". Abschließend hob der Staatspräsident auch Indien, Serbien und die Mongolei hervor. 6 Das Folgende nach: The Moscow Times vom 12.05.2015, S. 3. 7 Das Folgende nach: Iswestija vom 11.05.2015, S. 2. 8 Ceske noviny vom 09.05.2015, http://www.ceskenoviny.cz/news/zpravy/zeman-meets-slovak-pm-fico-inmoscow/1214037. Das Folgende nach: http://www.kremlin.ru/events/president/transcripts/49438. 9 2 Im Anschluss an die Rede Putins folgte eine Militärparade, die Verteidigungsminister Sergej Schoigu eröffnete. Er fuhr durch das Tor im Erlöserturm der Kremlmauer auf den Roten Platz, bekreuzigte sich als erster Verteidigungsminister überhaupt und setzte sich erst dann entsprechend einer alten Tradition seine Schirmmütze auf (zur Zarenzeit galt der Turm als heilig, und Männer mussten beim Durchschreiten ihre Kopfbedeckung abnehmen).10 Mehr als 16.000 Soldaten, ca. 150 Flugzeuge und 194 Gefechtsfahrzeuge nahmen an der größten Parade in der Geschichte des Landes teil, die außerdem Tausende Zuschauer an den Straßen Moskaus direkt verfolgten; Russland präsentierte seine modernste Rüstungstechnik, darunter den Kampfpanzer "Armata".11 3. Umzug "Unsterbliches Regiment" Am Nachmittag zogen in Moskau mehr als 400.000 Menschen aller Altersklassen vom Weißrussischen Bahnhof über die Twerskaja-Straße zum Roten Platz - ein Format, das in vielen Städten des Landes durchgeführt wurde.12 Alle Teilnehmer zeigten Fotos von im Zweiten Weltkrieg gefallenen Verwandten. Die Bilder klebten sie auf Pappe oder rahmten sie ein und mit einem daran befestigten Stab hielten sie sie in die Höhe. Die Aktion hat ihren Ursprung in einer privaten Initiative zweier Journalisten aus dem sibirischen Tomsk.13 2014 betonten sie in einem Interview, dass sie die Menschen zusammenführen wollten. Ziel sei es, den Umzug einfach zu halten: keine Sponsoren, keine Politik, keine großen Kosten. "Die Erinnerung an diesen Krieg müsse die Leute besser machen.", so einer der Initiatoren. 4. Deutschland Was die Berichterstattung über Deutschland zum Tag des Sieges betrifft, so stand der Besuch von Bundeskanzlerin Merkel am 10. Mai 2015 in Moskau im Mittelpunkt. Das Staatsfernsehen zeigte sie gemeinsam mit Wladimir Putin bei der Kranzniederlegung am Grabmal des unbekannten Soldaten.14 Sie sagte, sie verneige sich vor den Millionen von Opfern des vom nationalsozialistischen Deutschland entfachten Krieges; gerade auf die Völker der damaligen UdSSR und die Rote Armee sei der größte Teil der Opfer entfallen. Merkel erinnerte auch daran, dass der Krieg im Osten mit dem Ziel der Vernichtung geführt worden sei. Mit Bezug auf die Krise in der Ukraine sprach Merkel - nach der Berichterstattung des Staatsfernsehens von der Annexion der Krim, der Verletzung des Völkerrechts und militärischen Auseinandersetzungen wodurch die Zusammenarbeit einen schweren Rückschlag erlitten habe. Die Lehre aus der Geschichte laute, dass man alles für eine friedliche Lösung tun müsse. Putin vertrat die Auffassung, dass es zum Minsker Prozess keine Alternative gebe; jedoch bestünden in der Ukraine Vorbehalte auf beiden Seiten; die Worte Merkels, dass es "sehr, sehr viele Verstöße" gegen die Waffenruhe gerade von der separatistischen Seite gebe, erwähnte das Fernsehen nicht.15 Putin warb für die Aufhebung der "künstlichen Hürden" im Wirtschaftsbereich. 10 Komsomolskaja Prawda vom 12.05.2015, S. 3. 11 RBK daily vom 12.05.2015, S. 4. 12 Ein Teilnehmerzahl von 400.000 nannte die Zeitung RBK daily vom 12.05.2015, S. 5, Iswestija sprach von 500.000 (Iswestija vom 12.05.2015, S. 2). 13 Das Folgende nach: Interfax vom 24.04.2014, http://www.interfaxrussia.ru/Siberia/exclusives.asp?id=493878. 14 http://russia.tv/video/show/brand_id/58500/episode_id/1196922; siehe dazu auch Kommersant vom 12.05.2015, S. 5. 15 Vgl. FAZ vom 11.05.2015, S. 1. 3 Bei der Pressekonferenz fragte ein deutscher Journalist nach Putins Meinung zum Ribbentrop-MolotowPakt. Bei seiner Antwort knüpfte der Kremlchef an seine Ausführungen vom November 2014 an. Die Sowjetunion habe vor 1939 massive Versuche zur Bildung einer Anti-Nazi-Koalition unternommen. Alle diese Versuche seien gescheitert. Und als die UdSSR verstanden habe, dass sie allein gegen Hitler-Deutschland stehe, habe sie die direkte Konfrontation vermeiden wollen - soweit die Berichterstattung im Staatsfernsehen. Merkel führte aus, wie die Tageszeitung "The Moscow Times" darstellt, dass man den RibbentropMolotow-Pakt nicht ohne sein geheimes Zusatzprotokoll verstehen könne. Wenn man dies bedenke, dann sei der Vertrag falsch, ja rechtswidrig gewesen.16 Bereits am 7. Mai 2015 besuchte Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier Wolgograd (ehemals Stalingrad), worüber das Staatsfernsehen in Russland einen ausführlichen Beitrag sendete. 17 Der deutsche Außenamtschef und sein Kollege Sergej Lawrow legten Kränze an einer Gedenkstätte der Kämpfe um Stalingrad nieder und betonten die Verantwortung für zukünftige Generationen. Sie unterstrichen, dass die Ukraine-Krise ausschließlich friedlich gelöst werden könne. 5. Einschätzung Seit 2005 hat sich die Gästeliste der Militärparade auf dem Roten Platz deutlich verkleinert. Damals befanden sich unter den mehr als 50 Staats- und Regierungschefs auch US-Präsident George W. Bush, der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder sowie der Vorsitzende der EU-Kommission José Manuel Barroso.18 Zum 65-jährigen Jahrestag des Kriegsendes 2010 wohnten der Militärparade, die mittlerweile mit einer Waffenschau abgehalten wurde (seit 2008), u.a. bei: Bundeskanzlerin Angela Merkel, der geschäftsführende polnische Präsident und die Staatschefs aus Estland und Lettland.19 Die Zusammensetzung der Teilnehmer zeigt anschaulich die aktuellen Spannungen in den Beziehungen zwischen der Russischen Föderation und dem Westen seit der Annexion der Krim im März 2014 sowie der militärischen Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine.20 Spitzenvertreter solcher Länder, welche die russische Ukraine-Politik verurteilen, hätten sich mit ihrer Teilnahme an den Feierlichkeiten zum Tag des Sieges inkonsequent verhalten: Der Festakt diente nämlich keineswegs ausschließlich der Erinnerung an den sowjetischen Triumph und das unermessliche Leid der Bevölkerung, sondern genauso einer pompösen Inszenierung der Leistungsfähigkeit der russischen Rüstungsindustrie heute, forciert durch die politische Spitze. Es scheint, als präsentiere der Kreml desto mehr Panzer, je weniger Kriegsveteranen noch leben. Auch die Rede Putins zeichnete sich diesmal durch einen vergleichsweise starken Gegenwartsbezug aus. Seine Kritik an den "Versuchen zur Schaffung einer einpolaren Welt" kann nur den Vereinigten Staaten von Amerika gegolten haben - eine undenkbare Äußerung noch vor zehn Jahren im Beisein von George W. Bush, als der Kremlchef erklärte, dass "wir dem hohen Ziel bedeutend näher gekommen sind - der Sicherung des Friedens in Europa"21. Man bedenke, dass zu jener Zeit die Osterweiterungen der NATO und der Europäischen Union im Wesentlichen bereits vollzogen waren. Als völliges Novum darf die ausdrückliche Erwähnung der hohen Opferzahl Chinas und die Rolle des Landes beim Kampf gegen den japanischen Militarismus gelten - geschuldet dem gestiegenen Interesses Moskaus an der Zusammenarbeit mit Peking seit der Abkühlung der Beziehungen zum Westen. Japan dürfte sowohl die Worte auf dem Roten Platz als auch die Intensivierung der russisch-chinesischen Kooperation mit großer Aufmerksamkeit verfolgen. 16 The Moscow Times vom 12.05.2015, S. 3. 17 http://www.youtube.com/watch?v=hI6-Z9ICWeM. 18 Tass vom 07.05.2015, http://tass.ru/obschestvo/1953908. 19 Siehe dazu Berichte aus dem Ausland, Politischer Bericht aus der Russischen Föderation, hrsg. von der Hanns-Seidel-Stiftung e.V., Nr. 07/2010 vom 24.05.2010. 20 Vgl. dazu den Beitrag aus der Nowaja Gaseta vom 02.03.2015, http://www.novayagazeta.ru/society/67490.html. 21 http://www.kremlin.ru/events/president/transcripts/22959. 4 Stellungnahmen Putins aus der jüngsten Vergangenheit zum Ribbentrop-Molotow-Pakt rufen verständlicherweise die baltischen Staaten und Polen auf den Plan. Schließlich wurden diese Länder im Zuge des geheimen Zusatzprotokolls zur Vereinbarung von 1939 zwischen Nazi-Deutschland und der UdSSR aufgeteilt. Schaut man zurück ins Jahr 2010, so drängt sich einem unweigerlich die Schlussfolgerung auf, dass sich die Politik des Kremls gegenüber diesen Staaten signifikant geändert hat. Vor fünf Jahren setzte die russische Staatsspitze auf eine aussöhnende Annäherung an diese Nachbarn, heute fehlen dafür jegliche Anzeichen. So verliert das erfreuliche offizielle Fehlen von Stalin-Bildern bei derartigen Aktionen seinen Wert, denn Putins Äußerungen rufen denjenigen Menschen Stalin wieder in Erinnerung, die seine Politik keineswegs nur mit der Befreiung vom Nationalsozialismus verbinden. Doch auch der polnische Außenminister erwies den Beziehungen zwischen Moskau und Warschau im Januar einen Bärendienst als er sagte, das Vernichtungslager Auschwitz sei 1945 von Ukrainern befreit worden22, obwohl die Befreiung durch die Rote Armee erfolgt ist, die nicht in ethnische Gruppen aufgeteilt war. In der russischen Bevölkerung stieß diese Verzerrung auf breite Ablehnung. Ähnlich wie mit der Interpretation der Rolle Stalins verhält es sich mit den Symbolen, die mit dem „Tag des Sieges“ in Verbindung gebracht werden. Sicherlich begrüßen viele den Abschied von den sowjetischen Erkennungszeichen Hammer und Sichel. An ihre Stelle trat seit 2005 das schwarz-orangene Georgsband, das die Bevölkerung mit zunehmender Akzeptanz verwendet. Es tut seiner Popularität auch keinen Abbruch, dass es mittlerweile bei Demonstrationen unabhängig vom Anlass getragen wird, obwohl die Initiatoren das Georgsband nicht als politisches Zeichen sahen.23 Die Menschen verbinden es ganz mehrheitlich mit dem Sieg im Zweiten Weltkrieg. Den Grund dafür, dass sich bei einer 2014 durchgeführten Umfrage 94% positiv über das Georgsband äußerten, sieht der Generaldirektor des Umfrage-Instituts WZIOM Walerij Fjodorow darin, dass der Sieg im Zweiten Weltkrieg Russland zumindest als Hauptklammer, wenn nicht sogar als die einzige Klammer zusammenhält; jedenfalls sei er Hauptbestandteil der Identität. Und im Zuge der Ereignisse in der Ukraine, so das politische Magazin "Kommersant Wlastj", werde das Georgsband noch emotionaler empfunden, indem es zum Ausdruck bringe, so die Behauptung Fjodorows, wer die Politik Putins unterstütze und wer sie ablehne; bei einer Zustimmung von 84% sei das Kräfteverhältnis zwischen den "Georgis" und den "Anti-Georgis" im Übrigen klar erkennbar. Diese bedauerliche Politisierung hat der Kreml nicht unterbunden. So steht das schwarz-orange gestreifte Symbol nicht mehr ausschließlich mit dem „Tag des Sieges" in Zusammenhang, sondern auch mit der russischen Ukraine-Politik. Russische Kommentatoren konstatieren eine Hysterie um den „Tag des Sieges“. Zwei Journalisten in der Tageszeitung "Wedomosti" vertreten die Auffassung, dass Symbole mit "sakralen Kräften" (zum Beispiel der Sieg im Krieg oder die Orthodoxe Kirche) zur Konsolidierung der Nation eingesetzt würden.24 All dies stellte jedoch die Aktion "unsterbliches Regiment" in den Schatten. Dieser Umzug verwandelte die Feierlichkeiten in eine zutiefst persönliche und ergreifende Erfahrung, frei von politischem Popanz und Machtansprüchen der Staatsspitze. Hunderttausende zeigten die Porträts ihrer getöteten Verwandten. Obwohl jeder Teilnehmer seine ganz individuelle, traurige Geschichte zu erzählen hatte, vereinte gerade die Einmaligkeit eines jeden Leids die gesamte Teilnehmerschar. Die Vordenker der Aktion verdienen Anerkennung für deren Initiierung und ihrem Beharren auf ihrer Einfachheit, um wirklich jedem das Mitmachen zu ermöglichen. 22 Ria Novosti vom 21.01.2015, http://ria.ru/world/20150121/1043600343.html. 23 Das Folgende nach: Kommersant Wlastj vom 11.05.2015, S. 18. 24 Wedomosti vom 30.04.2015, S. 1. Als Beispiele für die Hysterie werden genannt: Verkäuferinnen mit Schiffchenmützen an Kassen von Supermärkten, Aufkleber auf Autos mit den Schriftzügen "Wir konnten es 1941-1945 tun und wir können es auch jetzt tun", "Nach Berlin". Wedomosti vom 08.05.2015, S. 7; The Moscow Times vom 14.05.2015, S. 9, Wedomosti vom 13.02.2015, S. 6. 5 Mit ihrem Besuch in Moskau am 10. Mai erwies die Bundeskanzlerin einerseits demonstrativ allen gefallenen sowjetischen Soldaten die Ehre, ohne es andererseits an der gebotenen Distanz zu Putins militärischer Machtdemonstration fehlen zu lassen. Moskau, 26. Mai 2015 Dr. Markus Ehm Leiter der Verbindungsstelle Moskau der Hanns-Seidel-Stiftung Der Autor dankt Mechti Ajwasow für seine Unterstützung bei der Erstellung des Beitrags. 6
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