"Tag des Sieges mit unterschiedlichen Eindrücken", 26. Mai 2015

POLITISCHER BERICHT AUS DER
RUSSISCHEN FÖDERATION
Dr. Markus Ehm
Leiter der Verbindungsstelle Moskau
Nr. 11 /2015 – 26. Mai 2015
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„Tag des Sieges“ mit unterschiedlichen Eindrücken
Russland zwischen dem Gedenken an gestern und
dem Großmachtanspruch von heute in Zeiten der Ukraine-Krise
In Russland hat der „Tag des Sieges“, der 9. Mai, eine überragende Bedeutung; die Symbole von Hammer
und Sichel werden dabei zunehmend abgelöst durch das Georgsband, das bildlich für einen breiteren
Zeitraum der russischen Geschichte steht als die Symbolik der sowjetischen Ära von 1917 bis 1991 (1).
Den 70. Jahrestag des Sieges im Zweiten Weltkrieg beging das Land mit großen Feierlichkeiten, u.a. mit
dem offiziellen Festakt auf dem Roten Platz und einer Militärparade (2). Große Aufmerksamkeit zog das
„Unsterbliche Regiment" auf sich, ein Umzug zur Erinnerung an die Gefallenen mit Hunderttausenden
Teilnehmern allein in Moskau (3). Über den Besuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel wurde in den
Medien positiv berichtet (4). Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die Staatsspitze den „Tag des Sieges" in
ungewöhnlich deutlicher Form zur Untermauerung aktueller politischer Positionen nutzte (5).
1.
Symbolik und politisches Umfeld des Feiertags
In der Russischen Föderation wird der Krieg gegen Hitler-Deutschland als "Großer Vaterländischer Krieg"
bezeichnet. Er ist für die Identität des Landes von herausragender Wichtigkeit, weil damals fast 27 Millionen Bürger der Sowjetunion den Tod fanden - deutlich mehr als von allen anderen Ländern. In einer aktuellen Studie des Umfrage-Instituts "Levada-Zentrum" stufen 42% der Befragten die Bedeutung dieses
Feiertags als gleichrangig mit dem eigenen Geburtstag ein; nur dem Neujahrsfest (80%) und dem Geburtstag von Angehörigen (44%) wird ein noch höheres Gewicht beigemessen.1
Obwohl der Triumph im Zweiten Weltkrieg als Vermächtnis der Supermacht UdSSR bis heute fortwirkt,
treten sowjetische Symbole mittlerweile spürbar in den Hintergrund. Dies belegt insbesondere ein Vergleich mit dem 65-jährigen Jubiläum im Jahr 2010.2 Damals prangten riesige Plakate, die Hammer und
Sichel zeigten und eine Höhe von bis zu 40 Metern sowie eine Breite von 80 Metern hatten, an 25stöckigen Hochhäusern an der Hauptzufahrtsstraße zum Kreml. Sie fehlten diesmal. Zu den Erkennungszeichen des 9. Mai gehört zwischenzeitlich das in den Farben schwarz und orange gestreifte Georgsband.
Im Jahr 2005 erstmals in Verbindung mit dem Feiertag vorgestellt, hat es sowjetische Motive nunmehr
weitgehend abgelöst.3 Das Band hat folgenden historischen Hintergrund: Ursprünglich geht es zurück auf
den Orden des Heiligen Georgs aus der Zarenzeit, der von Katharina der Großen 1769 eingeführt und bis
1917 verliehen wurde; diese Auszeichnung wurde an einem Band in den Farben Schwarz und Orange
überreicht. Und die Medaille "Für den Sieg über Deutschland im Großen Vaterländischen Krieg 19411945" wurde ebenso an dieses Georgsband geheftet. Das politische Wochenmagazin "Kommersant
Wlastj" weist darauf hin, dass das Georgsband seit 2014 nicht mehr nur mit dem Sieg im Zweiten Weltkrieg assoziiert wird, sondern zum Symbol für die „Rückkehr“ der Krim zu Russland und für die Kämpfe
in der Ostukraine wurde4. Ferner hat sich die Anti-Maidan-Bewegung dieses schwarz-orangene Erkennungszeichen auf ihre Fahnen geheftet.5
1
Umfrage vom 29.04.2015, http://www.levada.ru/29-04-2015/velikaya-otechestvennaya-voina.
2
Siehe dazu Berichte aus dem Ausland, Politischer Bericht aus der Russischen Föderation, hrsg. von der
Hanns-Seidel-Stiftung e.V., Nr. 07/2010 vom 24.05.2010.
3
Das Folgende nach: https://ru.wikipedia.org.
4
Kommersant Wlastj vom 11.05.2015, S. 16ff. Außerdem im Beitrag zum Georgsbändchen unter
https://ru.wikipedia.org: Am 5. Mai 2014 wurde im Rahmen der Aktion "Energie des Sieges" in Smolensk
das längste Georgsband Russlands präsentiert: 400 Meter in der Länge und 36,5 cm in der Breite. Diese
Größe wurde nicht zufällig gewählt; sie wollte die Einwohnerzahl Russlands nach der Annexion der Krim
symbolisieren (400 000 mm x 365 mm = 146 Millionen).
5
Vgl. das Foto in Profil vom 30.03.15, S. 14.
1
Was die Frage des Umgangs mit der Person Josef Stalins betrifft, gab es seit 2010 ebenfalls Veränderungen. Im Jahr 2010 entschied die Stadt Moskau auf Wunsch von Veteranenverbänden, auf zehn von insgesamt 2.000 Sonderplakaten (mit einer Größe von ein mal eineinhalb Metern) das Porträt Stalins zu zeigen, was einen öffentlichen Streit über das politische Vermächtnis des bis zu seinem Tod 1953 drei Jahrzehnte lang mächtigsten Mannes der Sowjetunion entfachte. Der damalige Kremlchef Dmitrij Medwedew
lehnte das Aufhängen von Stalin-Bildern ab. Zitiert wurde in diesem Zusammenhang auch eine Äußerung
von Premierminister Wladimir Putin aus dem Jahr 2009: "Alles Positive ... [wurde] zu einem unannehmbar hohen Preis [erreicht]." Damals bezeichnete er den Ribbentrop-Molotow-Pakt als "eine geheime Absprache, um die eigenen Probleme auf Kosten anderer zu lösen; alle Versuche zwischen 1934 und 1939,
die Nationalsozialisten mit der Hilfe von verschiedenen Abmachungen und Verträgen zu beschwichtigen,
waren moralisch betrachtet inakzeptabel und politisch gesehen sinnlos, schädlich und gefährlich." 6 Heute
hingegen schreibt die Tageszeitung "The Moscow Times", dass der Kreml seit der Annexion der Krim und
den westlichen Sanktionen einen Schwenk zu einer Glorifizierung Stalins und seines Paktes mit NaziDeutschland vollzogen habe. So habe Putin im November 2014 die Frage aufgeworfen, was so schlecht
daran gewesen sein solle, dass die Sowjetunion keinen Krieg habe führen wollen. Später beschrieb der
Kulturminister Russlands den Pakt als eine "riesige Errungenschaft der Stalin-Diplomatie".
2.
Festakt mit Militärparade
Am offiziellen Teil der Feierlichkeiten auf dem Roten Platz nahmen neben dem UN-Generalsekretär politische Spitzenvertreter aus 19 Ländern teil. Hauptgast war der chinesische Staatschef Xi Jinping. Es fehlten
hochrangige Repräsentanten der ehemaligen Sowjetrepubliken Ukraine, Georgien, Moldawien, Usbekistan, Weißrussland und der baltischen Staaten.7 Zu den Anwesenden zählten außerdem die Staatschefs
von Indien, Ägypten, Südafrika und dem EU-Land Zypern. Der tschechische Präsident und der slowakische Premierminister hielten sich in Moskau auf, stießen aber erst nach Abschluss der Militärparade zum
Kreis ihrer Kollegen, um gemeinsam mit ihnen einen Kranz am Grabmal des unbekannten Soldaten niederzulegen.8
In seiner Ansprache erinnerte Putin daran, dass die Sowjetunion, für deren Freiheit alle ihre Völker gekämpft hatten, die härtesten Schläge des Feindes habe hinnehmen müssen.9 Der Kremlchef dankte den
Alliierten Russlands, allen voran Großbritannien, Frankreich und den Vereinigten Staaten von Amerika für
ihren Beitrag zum Sieg. Ferner dankte er den antifaschistischen Kräften in Europa, die als Partisanen oder
im Untergrund gekämpft hätten, wobei er den deutschen Widerstand mit einschloss. Die Nachkriegsordnung habe die Vereinten Nationen hervorgebracht; diese Organisation habe ihre Effektivität bei der Lösung von Streitigkeiten und Konflikten bewiesen. Allerdings würden die Grundprinzipien der internationalen Zusammenarbeit in den letzten Jahrzehnten ignoriert. "Wir sehen Versuche zur Schaffung einer
einpolaren Welt", so Putin, "unser Ziel muss die Ausarbeitung eines Systems der gleichen Sicherheit für
alle Staaten auf einer regionalen und globalen Grundlage ohne militärische Blöcke sein“.
Der Kremlchef äußerte seine besondere Anerkennung für diejenigen Länder, die "gegen den Nationalsozialismus und den japanischen Militarismus gekämpft haben". In diesem Zusammenhang erwähnte er die
ehemaligen Sowjetrepubliken Aserbaidschan, Armenien, Weißrussland, Kirgisien, Kasachstan und Tadschikistan, zudem ferner China, "das wie die Sowjetunion in diesem Krieg viele Millionen Menschen verloren hat und durch das die Hauptfront im Kampf gegen den Militarismus in Asien verlaufen ist". Abschließend hob der Staatspräsident auch Indien, Serbien und die Mongolei hervor.
6
Das Folgende nach: The Moscow Times vom 12.05.2015, S. 3.
7
Das Folgende nach: Iswestija vom 11.05.2015, S. 2.
8
Ceske noviny vom 09.05.2015, http://www.ceskenoviny.cz/news/zpravy/zeman-meets-slovak-pm-fico-inmoscow/1214037.
Das Folgende nach: http://www.kremlin.ru/events/president/transcripts/49438.
9
2
Im Anschluss an die Rede Putins folgte eine Militärparade, die Verteidigungsminister Sergej Schoigu
eröffnete. Er fuhr durch das Tor im Erlöserturm der Kremlmauer auf den Roten Platz, bekreuzigte sich als
erster Verteidigungsminister überhaupt und setzte sich erst dann entsprechend einer alten Tradition seine Schirmmütze auf (zur Zarenzeit galt der Turm als heilig, und Männer mussten beim Durchschreiten ihre
Kopfbedeckung abnehmen).10 Mehr als 16.000 Soldaten, ca. 150 Flugzeuge und 194 Gefechtsfahrzeuge
nahmen an der größten Parade in der Geschichte des Landes teil, die außerdem Tausende Zuschauer an
den Straßen Moskaus direkt verfolgten; Russland präsentierte seine modernste Rüstungstechnik, darunter den Kampfpanzer "Armata".11
3.
Umzug "Unsterbliches Regiment"
Am Nachmittag zogen in Moskau mehr als 400.000 Menschen aller Altersklassen vom Weißrussischen
Bahnhof über die Twerskaja-Straße zum Roten Platz - ein Format, das in vielen Städten des Landes durchgeführt wurde.12 Alle Teilnehmer zeigten Fotos von im Zweiten Weltkrieg gefallenen Verwandten. Die
Bilder klebten sie auf Pappe oder rahmten sie ein und mit einem daran befestigten Stab hielten sie sie in
die Höhe. Die Aktion hat ihren Ursprung in einer privaten Initiative zweier Journalisten aus dem sibirischen Tomsk.13 2014 betonten sie in einem Interview, dass sie die Menschen zusammenführen wollten.
Ziel sei es, den Umzug einfach zu halten: keine Sponsoren, keine Politik, keine großen Kosten. "Die Erinnerung an diesen Krieg müsse die Leute besser machen.", so einer der Initiatoren.
4.
Deutschland
Was die Berichterstattung über Deutschland zum Tag des Sieges betrifft, so stand der Besuch von Bundeskanzlerin Merkel am 10. Mai 2015 in Moskau im Mittelpunkt. Das Staatsfernsehen zeigte sie gemeinsam mit Wladimir Putin bei der Kranzniederlegung am Grabmal des unbekannten Soldaten.14 Sie sagte,
sie verneige sich vor den Millionen von Opfern des vom nationalsozialistischen Deutschland entfachten
Krieges; gerade auf die Völker der damaligen UdSSR und die Rote Armee sei der größte Teil der Opfer
entfallen. Merkel erinnerte auch daran, dass der Krieg im Osten mit dem Ziel der Vernichtung geführt
worden sei.
Mit Bezug auf die Krise in der Ukraine sprach Merkel - nach der Berichterstattung des Staatsfernsehens von der Annexion der Krim, der Verletzung des Völkerrechts und militärischen Auseinandersetzungen wodurch die Zusammenarbeit einen schweren Rückschlag erlitten habe. Die Lehre aus der Geschichte
laute, dass man alles für eine friedliche Lösung tun müsse. Putin vertrat die Auffassung, dass es zum
Minsker Prozess keine Alternative gebe; jedoch bestünden in der Ukraine Vorbehalte auf beiden Seiten;
die Worte Merkels, dass es "sehr, sehr viele Verstöße" gegen die Waffenruhe gerade von der separatistischen Seite gebe, erwähnte das Fernsehen nicht.15 Putin warb für die Aufhebung der "künstlichen Hürden" im Wirtschaftsbereich.
10
Komsomolskaja Prawda vom 12.05.2015, S. 3.
11
RBK daily vom 12.05.2015, S. 4.
12
Ein Teilnehmerzahl von 400.000 nannte die Zeitung RBK daily vom 12.05.2015, S. 5, Iswestija sprach von
500.000 (Iswestija vom 12.05.2015, S. 2).
13
Das Folgende nach: Interfax vom 24.04.2014, http://www.interfaxrussia.ru/Siberia/exclusives.asp?id=493878.
14
http://russia.tv/video/show/brand_id/58500/episode_id/1196922; siehe dazu auch Kommersant vom
12.05.2015, S. 5.
15
Vgl. FAZ vom 11.05.2015, S. 1.
3
Bei der Pressekonferenz fragte ein deutscher Journalist nach Putins Meinung zum Ribbentrop-MolotowPakt. Bei seiner Antwort knüpfte der Kremlchef an seine Ausführungen vom November 2014 an. Die Sowjetunion habe vor 1939 massive Versuche zur Bildung einer Anti-Nazi-Koalition unternommen. Alle diese
Versuche seien gescheitert. Und als die UdSSR verstanden habe, dass sie allein gegen Hitler-Deutschland
stehe, habe sie die direkte Konfrontation vermeiden wollen - soweit die Berichterstattung im Staatsfernsehen. Merkel führte aus, wie die Tageszeitung "The Moscow Times" darstellt, dass man den RibbentropMolotow-Pakt nicht ohne sein geheimes Zusatzprotokoll verstehen könne. Wenn man dies bedenke, dann
sei der Vertrag falsch, ja rechtswidrig gewesen.16
Bereits am 7. Mai 2015 besuchte Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier Wolgograd (ehemals
Stalingrad), worüber das Staatsfernsehen in Russland einen ausführlichen Beitrag sendete. 17 Der deutsche Außenamtschef und sein Kollege Sergej Lawrow legten Kränze an einer Gedenkstätte der Kämpfe um
Stalingrad nieder und betonten die Verantwortung für zukünftige Generationen. Sie unterstrichen, dass
die Ukraine-Krise ausschließlich friedlich gelöst werden könne.
5.
Einschätzung
Seit 2005 hat sich die Gästeliste der Militärparade auf dem Roten Platz deutlich verkleinert. Damals befanden sich unter den mehr als 50 Staats- und Regierungschefs auch US-Präsident George W. Bush, der
deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder sowie der Vorsitzende der EU-Kommission José Manuel
Barroso.18 Zum 65-jährigen Jahrestag des Kriegsendes 2010 wohnten der Militärparade, die mittlerweile
mit einer Waffenschau abgehalten wurde (seit 2008), u.a. bei: Bundeskanzlerin Angela Merkel, der geschäftsführende polnische Präsident und die Staatschefs aus Estland und Lettland.19 Die Zusammensetzung der Teilnehmer zeigt anschaulich die aktuellen Spannungen in den Beziehungen zwischen der Russischen Föderation und dem Westen seit der Annexion der Krim im März 2014 sowie der militärischen Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine.20 Spitzenvertreter solcher Länder, welche die russische
Ukraine-Politik verurteilen, hätten sich mit ihrer Teilnahme an den Feierlichkeiten zum Tag des Sieges
inkonsequent verhalten: Der Festakt diente nämlich keineswegs ausschließlich der Erinnerung an den
sowjetischen Triumph und das unermessliche Leid der Bevölkerung, sondern genauso einer pompösen
Inszenierung der Leistungsfähigkeit der russischen Rüstungsindustrie heute, forciert durch die politische
Spitze. Es scheint, als präsentiere der Kreml desto mehr Panzer, je weniger Kriegsveteranen noch leben.
Auch die Rede Putins zeichnete sich diesmal durch einen vergleichsweise starken Gegenwartsbezug aus.
Seine Kritik an den "Versuchen zur Schaffung einer einpolaren Welt" kann nur den Vereinigten Staaten
von Amerika gegolten haben - eine undenkbare Äußerung noch vor zehn Jahren im Beisein von George W.
Bush, als der Kremlchef erklärte, dass "wir dem hohen Ziel bedeutend näher gekommen sind - der Sicherung des Friedens in Europa"21. Man bedenke, dass zu jener Zeit die Osterweiterungen der NATO und der
Europäischen Union im Wesentlichen bereits vollzogen waren. Als völliges Novum darf die ausdrückliche
Erwähnung der hohen Opferzahl Chinas und die Rolle des Landes beim Kampf gegen den japanischen
Militarismus gelten - geschuldet dem gestiegenen Interesses Moskaus an der Zusammenarbeit mit Peking
seit der Abkühlung der Beziehungen zum Westen. Japan dürfte sowohl die Worte auf dem Roten Platz als
auch die Intensivierung der russisch-chinesischen Kooperation mit großer Aufmerksamkeit verfolgen.
16
The Moscow Times vom 12.05.2015, S. 3.
17
http://www.youtube.com/watch?v=hI6-Z9ICWeM.
18
Tass vom 07.05.2015, http://tass.ru/obschestvo/1953908.
19
Siehe dazu Berichte aus dem Ausland, Politischer Bericht aus der Russischen Föderation, hrsg. von der
Hanns-Seidel-Stiftung e.V., Nr. 07/2010 vom 24.05.2010.
20
Vgl. dazu den Beitrag aus der Nowaja Gaseta vom 02.03.2015,
http://www.novayagazeta.ru/society/67490.html.
21
http://www.kremlin.ru/events/president/transcripts/22959.
4
Stellungnahmen Putins aus der jüngsten Vergangenheit zum Ribbentrop-Molotow-Pakt rufen verständlicherweise die baltischen Staaten und Polen auf den Plan. Schließlich wurden diese Länder im Zuge des
geheimen Zusatzprotokolls zur Vereinbarung von 1939 zwischen Nazi-Deutschland und der UdSSR aufgeteilt. Schaut man zurück ins Jahr 2010, so drängt sich einem unweigerlich die Schlussfolgerung auf, dass
sich die Politik des Kremls gegenüber diesen Staaten signifikant geändert hat. Vor fünf Jahren setzte die
russische Staatsspitze auf eine aussöhnende Annäherung an diese Nachbarn, heute fehlen dafür jegliche
Anzeichen. So verliert das erfreuliche offizielle Fehlen von Stalin-Bildern bei derartigen Aktionen seinen
Wert, denn Putins Äußerungen rufen denjenigen Menschen Stalin wieder in Erinnerung, die seine Politik
keineswegs nur mit der Befreiung vom Nationalsozialismus verbinden. Doch auch der polnische Außenminister erwies den Beziehungen zwischen Moskau und Warschau im Januar einen Bärendienst als er
sagte, das Vernichtungslager Auschwitz sei 1945 von Ukrainern befreit worden22, obwohl die Befreiung
durch die Rote Armee erfolgt ist, die nicht in ethnische Gruppen aufgeteilt war. In der russischen Bevölkerung stieß diese Verzerrung auf breite Ablehnung.
Ähnlich wie mit der Interpretation der Rolle Stalins verhält es sich mit den Symbolen, die mit dem „Tag
des Sieges“ in Verbindung gebracht werden. Sicherlich begrüßen viele den Abschied von den sowjetischen Erkennungszeichen Hammer und Sichel. An ihre Stelle trat seit 2005 das schwarz-orangene
Georgsband, das die Bevölkerung mit zunehmender Akzeptanz verwendet. Es tut seiner Popularität auch
keinen Abbruch, dass es mittlerweile bei Demonstrationen unabhängig vom Anlass getragen wird, obwohl
die Initiatoren das Georgsband nicht als politisches Zeichen sahen.23 Die Menschen verbinden es ganz
mehrheitlich mit dem Sieg im Zweiten Weltkrieg. Den Grund dafür, dass sich bei einer 2014 durchgeführten Umfrage 94% positiv über das Georgsband äußerten, sieht der Generaldirektor des Umfrage-Instituts
WZIOM Walerij Fjodorow darin, dass der Sieg im Zweiten Weltkrieg Russland zumindest als Hauptklammer, wenn nicht sogar als die einzige Klammer zusammenhält; jedenfalls sei er Hauptbestandteil der
Identität. Und im Zuge der Ereignisse in der Ukraine, so das politische Magazin "Kommersant Wlastj",
werde das Georgsband noch emotionaler empfunden, indem es zum Ausdruck bringe, so die Behauptung
Fjodorows, wer die Politik Putins unterstütze und wer sie ablehne; bei einer Zustimmung von 84% sei das
Kräfteverhältnis zwischen den "Georgis" und den "Anti-Georgis" im Übrigen klar erkennbar. Diese bedauerliche Politisierung hat der Kreml nicht unterbunden. So steht das schwarz-orange gestreifte Symbol
nicht mehr ausschließlich mit dem „Tag des Sieges" in Zusammenhang, sondern auch mit der russischen
Ukraine-Politik.
Russische Kommentatoren konstatieren eine Hysterie um den „Tag des Sieges“. Zwei Journalisten in der
Tageszeitung "Wedomosti" vertreten die Auffassung, dass Symbole mit "sakralen Kräften" (zum Beispiel
der Sieg im Krieg oder die Orthodoxe Kirche) zur Konsolidierung der Nation eingesetzt würden.24
All dies stellte jedoch die Aktion "unsterbliches Regiment" in den Schatten. Dieser Umzug verwandelte
die Feierlichkeiten in eine zutiefst persönliche und ergreifende Erfahrung, frei von politischem Popanz
und Machtansprüchen der Staatsspitze. Hunderttausende zeigten die Porträts ihrer getöteten Verwandten. Obwohl jeder Teilnehmer seine ganz individuelle, traurige Geschichte zu erzählen hatte, vereinte
gerade die Einmaligkeit eines jeden Leids die gesamte Teilnehmerschar. Die Vordenker der Aktion verdienen Anerkennung für deren Initiierung und ihrem Beharren auf ihrer Einfachheit, um wirklich jedem
das Mitmachen zu ermöglichen.
22
Ria Novosti vom 21.01.2015, http://ria.ru/world/20150121/1043600343.html.
23
Das Folgende nach: Kommersant Wlastj vom 11.05.2015, S. 18.
24
Wedomosti vom 30.04.2015, S. 1. Als Beispiele für die Hysterie werden genannt: Verkäuferinnen mit
Schiffchenmützen an Kassen von Supermärkten, Aufkleber auf Autos mit den Schriftzügen "Wir konnten es
1941-1945 tun und wir können es auch jetzt tun", "Nach Berlin". Wedomosti vom 08.05.2015, S. 7; The
Moscow Times vom 14.05.2015, S. 9, Wedomosti vom 13.02.2015, S. 6.
5
Mit ihrem Besuch in Moskau am 10. Mai erwies die Bundeskanzlerin einerseits demonstrativ allen gefallenen sowjetischen Soldaten die Ehre, ohne es andererseits an der gebotenen Distanz zu Putins militärischer Machtdemonstration fehlen zu lassen.
Moskau, 26. Mai 2015
Dr. Markus Ehm
Leiter der Verbindungsstelle Moskau der Hanns-Seidel-Stiftung
Der Autor dankt Mechti Ajwasow für seine Unterstützung bei der Erstellung des Beitrags.
6