Das Ballett am Rhein zu Gast in Moskau Gastspiel im Stanislawsk

Das Ballett am Rhein zu Gast in Moskau
Gastspiel im Stanislawsk Theater Moskau: 12. bis 14. Juni 2015
Was ergibt sieben mal sieben? – Ja, auch, aber darum geht es natürlich nicht, das wäre zu
einfach. „Sehr feinen Sand“ wäre in dem Fall die richtige Antwort gewesen, aber darauf kam
selten jemand. Reingefallen. Ein Kinderwitz. Was überhaupt „7“ ergibt, komponiert von
Gustav Mahler, choreographiert von Martin Schläpfer und auf die Bühne des Moskauer
Stanislawski-Musiktheaters gebracht von einer in Deutschland beheimateten und
international inzwischen zum dritten Mal zur „Kompanie des Jahres“ gekürten Balletttruppe,
das haben sich bestimmt viele gefragt, die an drei Abenden den Zuschauerraum des
russischen Traditionstheaters gefüllt haben.
Vom 12. bis zum 14. Juni 2015 war dort Ungewohntes zu erleben. Wo sonst überwiegend
detailgetreu der sichtbaren Wirklichkeit nachgebildete Kulissen den Rahmen geben für
getanzte in sich geschlossene Geschichten, passierte an diesen Tagen etwas ganz anderes.
Bühnenelemente aus Plexiglas definierten einen Raum, der sich im Zusammenspiel mit den
unterschiedlichen Stimmungen von Musik und Tanz verblüffend veränderte. Mal wirkte er
befreiend weit und hoch, mal einengend niedrig, mal zurückgenommen, mal dominant.
Neben dem Positionswechsel der Elemente veränderte vor allem das raffiniert eingesetzte
Licht den Bühnenraum. Und dann der Tanz selbst – die Tänzer: schwere Mäntel und grobe
Boots kontrastierten mit leichten Kleidern und Schläppchen, erdenschwere Erschöpfung mit
himmelstürmendem Spitzentanz. Eine fortgesetzte Suche, ein Sich-Finden und wieder
Trennen, eine unerträgliche Entscheidung, ein Abschied, der beim Zusehen schmerzte.
Nichts war verlässlich an diesem Stück, nichts vorhersehbar – und am Schluss ein Bild der
totalen Vereinzelung. Im Zuschauerraum war anfangs Irritation spürbar. Leises Tuscheln mit
dem Nachbarn: Was passiert da. Dann zunehmende Konzentration, Neugier, ein fühlbares
Gespanntsein. Das Moskauer Publikum ließ sich ein auf das Ungewohnte. Applaudierte
spontan nach jedem Satz. Am Schluss dann die Reise nach Jerusalem, die keinen Zweifel
ließ: es geht um die blanke Existenz. Den Platz im Leben. Und es gibt immer zu wenig
Stühle. Ein Machtspiel. Ein Kinderspiel… Und begeisterter Schlussapplaus.
Was gibt es sonst noch zu berichten vom Gastspiel in Moskau? Eine große Freundlichkeit
und Offenheit, mit der wir aufgenommen wurden, nicht nur im Stanislawski-Theater. Ein
Moskowiter, der Frau und Kind und zwei dicke Taschen packt, um uns im endlosen Labyrinth
der im 90-Sekundentakt hereinkreischenden und –rumpelnden U-Bahnen ans richtige Gleis
zu bringen. Eine beeindruckende Erfahrung, weder das geschriebene noch das gesprochene
Wort zuverlässig entschlüsseln zu können und dennoch immer wieder im Hotel oder im
Theater anzukommen. Die Herausforderung an die mitgereisten Techniker, Beleuchter und
Kollegen aus Kostüm und Maske, sich mit dem russischen Team zu verständigen und den
Tänzern den gewohnten Rahmen und die nötige Sicherheit zu geben. Der Nervenkitzel am
Inspizientenpult, bei jeder Anweisung die Zeitverzögerung für die Übersetzung mitzudenken.
Die tägliche Schnitzeljagd durch ein Theater, das mehrfach abgebrannt und jedes Mal ein
wenig komplexer wieder aufgebaut worden ist. An jeder Gabelung, in jedem Treppenhaus, in
jedem Aufzug, überall Ballett-am-Rhein-Zettel mit Wegweisern zur Bühne, zu den Studios,
zur Kantine, zu den Garderoben. Und schließlich über allem das gute Gefühl, unterwegs zu
sein in einer der Metropolen des klassischen Balletts, mit einer Erzählung, die auch auf
ihrem Vokabular begründet ist, aber eben nicht nur, und die jeder für sich erleben kann, der
sie erleben mag. Ohne eindeutige Antworten.
Monika Doll