Jürgen Stöhr DIE SORGE UM DIE THEORIE Jürgen Stöhr DIE SORGE UM DIE THEORIE Bildanschauungen und Blickoperationen mit Martin Heidegger und Michael Brötje Wilhelm Fink Umschlagabbildung: Sixtinische Madonna, Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden (alte Rahmung und Hängung). SLUB, Deutsche Fotothek, Fotograf: Richard Petersen, 1964, Ausschnitt Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2016 Wilhelm Fink, Paderborn Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-6024-0 Inhalt Einführung 7 Die Sorge um die Theorie I. Heidegger und Panofsky 19 II. Raffaels Sixtinische Madonna 29 III. Die Madonna della Sedia 37 IV. Die Giottos der Arenakapelle 62 V. Van Goghs Stuhl und die Bauernschuhe 90 VI. Caravaggios Enthauptung des Johannes 111 VII Chardins und Morandis Stilleben 137 VIII. Dürers Elisabeth Tucher 165 IX. Die Melencolia I 179 Anhang Kurzer »praktischer Abriss« – Sehoperationen. Literatur 210 219 So bleibt es dabei, dass der Ausgangspunkt aller Bemühungen um das Wesen der Kunst die Erfahrung des Kunstwerkes sein muss, aber so, dass danach gefragt wird, was in ihr begegnet, ob also darin etwa »das Absolute« erfahren wird.“ (WEISCHEDEL 1952, 10) „Die Sprecher der Existenz bewegen sich auf heroisierende Mythologie zu, auch wo sie es nicht bemerken.“ (ADORNO 1964, 108) Ist die Kunst vielleicht ein Brautkleid, in dem es gar keine Braut gibt? „Entweder gibt es nur das Kleid, also nichts als Kunst, oder es gibt jenseits der Kunst etwas anderes, für das die Kunst selbst nur ein Kleid ist.“ (BELTING 1992, 90) „Wir beschäftigen uns mit einer Theorie des künstlerischen Bildes. Diese ist kein Derivat einer überholten Einfühlungsromantik, auch keines der Wahrnehmungspsychologie. Auch setzt sie weder die wirkliche Existenz von Transzendenz noch den Glauben an diese voraus.“ „Unter Transzendierung wird hier [...] eine Verfasstheit des Werkes selbst, d.h. ein in der Anschauung unmittelbar eingelöstes Erscheinungs»geschehnis«“ verstanden. „Das Kunstwerk entwirft eine Ebene der visuellen Erfahrung“, die das „Dargestellte unwiderruflich übersteigt“. (BRÖTJE 2001, 141, 1990, 12 Einführung 1. Eine Vorsichtsmaßnahme Dieses Buch ist eine Bauchrednerei. Der Bauchredner manipuliere seine Stimme in einer Art, heißt es, dass sie von einer anderen Person, einer Puppe oder aus einer anderen Richtung zu kommen scheint. Er spricht Worte und Sätze mit einer fremden Stimme, ohne den Mund oder die Lippen zu bewegen. Tritt der Bauchredner dann nach einigem Üben auf, entstehen so in den meisten Fällen inszenierte Dialoge: Der Bauchredner führt ein Gespräch mit einer Figur oder Gestalt, die er meist mitbringt und die in der Folge häufig ein aufmüpfiges Eigenleben gewinnt. In dieser Konstellation kann der Bauchredner über seine Figuren fiktive Szenen und Diskussionen entstehen lassen und wieder aufführen. Diese Szenarien wären unter normalen Umständen auf den ersten Blick vielleicht seltsam ungewohnt – und im Ton und im Jargon würde man wahrscheinlich mit ihnen fremdeln. Die Gedankenwelt und die Sätze, die hier in diesem Buch nun „aus einer anderen Richtung“ kommen, kann man nicht (mehr) ohne weiteres, »eigentlich«, ausformulieren. Sie müssen aus dem Bauch kommen, weil sie ansonsten eben etwas unzeitgemäß erscheinen würden, oft leicht krude, zu exzentrisch und im hohen Maße eigenwillig, aber dennoch um so spannender! Es sind theoretische Positionen zur Kunst aus dem Text-Pool der deutschen Existential-Hermeneutik. Sie sind vielleicht verstaubt und ideologisch angeschlagen, aber sie können sich dennoch als äußerst wertvoll erweisen. Dazu muss man die Texte und die Akteure aber bauchrednern. Ihre mögliche oder unmögliche reale Anwesenheit wäre weder hilfreich noch zielführend, weil sich die Autoren aus heutiger Sicht eher selber im Wege stehen würden. Außerdem ist damit zu rechnen, dass ihre Texte im Korpus eines »modernen« Wissenschaftsbetriebs ohnehin nichts anderes als Bauchgefühle aus der »Tiefe« von Gemälden vermitteln würden. Die Vorurteile sind also vermutlich nicht so leicht abzuschütteln, so dass Vorsichtsmaßnahmen von Nöten sind. Aber die Vorbehaltlichkeit des Bauchredners schützt auch die Vertreter dieser existential-hermeneutischen Kunstwissenschaft selbst davor, hier allzu verfälscht wiedergegeben zu werden. Ihre eigentlichen Texte bleiben insofern ein wenig unberührt als sie „... geduldige Ver-‐ suche, alles zu sehen“ „Es ist ein typi-‐ scher Effekt von extremem close reading, dass es außerhalb der normalen Inter-‐ pretationsberei-‐ che liegt und in allgemeineren Darstellungen übersprungen wird.“ (ELKINS, in ähnli-‐ chem Kontext, 2007, 115f.) »total-‐hermeneu-‐ tisch«, das Ziel, voll-‐ kommen zu ver-‐ stehen bleibt zwar uneingelöst, aber es geht darum, soweit wie möglich zu kommen... eben in einer Aufführung vorgeführt werden. Sie sprechen zwar selbst, aber in der inszenierten Regie eines anderen, der sie neu anordnet und darüber hinaus auch noch kürzt, mischt oder in neue Zusammenhänge »verpflanzt«. Einerseits hätte also alles auch so gesagt werden können, oder ist auch so gesagt worden, was hier zitiert und collagiert wurde. Aber andererseits ist es den betreffenden Protagonisten, den Philosophen und Kunstwissenschaftlern, doch im hier nun vorliegenden Textes in den Mund gelegt worden. Insbesondere gilt dies für ein Textkonvolut (ab 1969), das im ersten Moment vielleicht schwer zurückzuholen ist in das Spektrum »veritabler« oder verhandelbarer Bildtheorien. Aber dies kann auch täuschen. Die Rede ist von den kunstwissenschaftlichen Schriften von Michael Brötje (1938-2013). Brötje war der Autor einiger der eigenwilligsten Untersuchungen, die einem kunstwissenschaftlich interessierten Publikum überhaupt begegnen können. Und ihr Verfasser hatte selbst schon zu Protokoll gegeben, in den „langen Jahrzehnten der völligen wissenschaftlichen Isolation in Deutschland“ immerzu gemieden worden zu sein. Es war genau diese disziplinäre Quarantäne, die verhindert hat, dass die Texte würdigend rezipiert worden sind. Genauer betrachtet, handelt es sich dabei um Schätze – antiquarisch und visionär zugleich. Man darf in Brötje sicherlich ohne jede Böswilligkeit ein »wunderbares« Fossil erkennen. Der Autor war eine aus der Zeit gefallene Ausnahmeerscheinung. Eigentlich gehört er mit einem Bein in die »dunklen« 50er Jahre des 20. Jahrhunderts. Permanent geht es in seinen genial akribischen, manchmal etwas (w)irren Bildanalysen, um ein Klima der »Transzendenz« und um das, was in den besagten 50er Jahren zum Beispiel unergründliche »Tiefe« und »Metaphysik« des Bildes hieß. Aber auf der anderen Seite ist sein phänomenologisches Detailsehen vielen zeitgeistigen Tendenzen in der heutigen Kunstwissenschaft weit überlegen. Brötjes Schriften erscheinen also als die glückliche Entdeckung einer vergessen geglaubten Spezies. Mit ihnen liegt ein verblüffend umfangreiches Konvolut auf dem Tisch, das der Autor einer weitgehend ignoranten Öffentlichkeit hinterlassen hat. In einer fast 40-jährigen Forschungstätigkeit hatte Brötje »im stillen Kämmerchen« vier Bücher und noch zahlreiche Aufsätze verfasst, die bisher weitgehend unbeachtet geblieben sind. Lediglich im polnischen Poznan, am Instytut Historii Sztuki, stieß er auf Gegenliebe. 8 So liegt eigentlich alles ausgebreitet da, doch mit dem Beigeschmack eines abgelaufenen Verfallsdatums und mit dem Stigma der Kunst-Religiosität abgestempelt. Das Establishment zierte sich einfach. Daher mag es zunächst scheinbar kontra-intuitiv erscheinen, ausgerechnet diese Schriften wiederzulesen. Es lohnt sich aber! Befasst man sich nämlich mit den Schriften Brötjes, findet man zum einen eine bemerkenswerte und bisher ungenutzte »Schule des Sehens« vor. Zum anderen hat man den Eindruck, ihr Verfasser ziehe die »Wurzel« aus einer ungelösten Gleichung, die die Kunstphilosophie und -wissenschaft der 30er und 50er Jahre ihrer Disziplin als ungewolltes Erbe hinterlassen hatte. Die unkomfortable oder unbefriedigende Situation lag dabei darin begründet, dass in Deutschland zwei gleichermaßen ontologisch ausgerichtete »Kunsttheorien« nicht wirklich zueinander fanden. Da war auf der einen Seite Heideggers Ereignisdenken und seine folgenreiche Hinwendung auf die Seinsfragen. Für die Rolle der Kunst war dabei bekanntlich vorgesehen, dass sie von sich aus ereignishaft, Ich-bezogen und amethodisch die „Wahrheit des Seins“ „ins Werk setzt“. Wie und was genau dies bedeuten sollte, füllt bis heute Bibliotheken. Auf der anderen (gleichen) Seite fanden sich vielseitige Aufbrüche im Methodendenken der deutschen Kunstwissenschaft mit Hans Sedlmayr, Martin Gosebruch, Werner Hager, Hans Jantzen, Theodor Hetzer, Kurt Badt und Kurt Bauch, etwas später mit Günther Fiensch und Max Imdahl. Deren Gemeinsamkeit bestand darin, dass sie sich „den »Luxus« deutender Bemühungen um das Kunstwerk leisten“. (GOSEBRUCH 1957, 40) Gosebruch fasste diese Fraktion damals im weitern Sinne als „strukturanalytisch“ zusammen. (EBD., 49) „Wie weit reicht die Kunst [...] ins Innere der Welt?“ (BADT 1956, 9) „Es mag den Kundigen befremde[n ...], dass unter denen, die die Kunst »metaphysisch« betrachten, auch Heidegger erwähnt wurde, bei dem doch von Veröffentlichung zu Veröf-‐ fentlichung deutlicher wird, wie schroff er sein »Denken« von aller metaphysischen Bemü-‐ hung absetzt.“ Doch „zeigt sich ein Überein-‐ stimmendes. [...] Für beide ist jedoch das Sein, in einem formalen Sinne verstanden, das, was nicht in der nächst gegebenen Wirklichkeit aufgeht und das doch – in einer je verschieden gedeuteten Weise – in dieser »anwesend« ist und sie gründet. Eben das umreißt in einer vorläufigen Kennzeichnung jenes »Metaphysi-‐ sche«, nach dem in der Besinnung auf das We-‐ sen der Kunst gesucht wird.“ „Die Frage ist zunächst, ob überhaupt in der Erfahrung des Kunstwerks etwas dergleichen begegnet.“ (WEISCHEDEL 1952, 11) 9 Eine praktische und tragfähige gemeinsame Basis fanden diese beiden ähnlich gelagerten Konzepte aber eben nicht wirklich. Der Grund war dabei folgender: Während die »Ereignisdenker« über ihre konkrete Kunsterfahrung weitgehend schwiegen, aber nicht aufhörten dem Werk dabei eine überbietende Erkenntnisfunktion und Wahrheit einzuräumen, setzten die »Bild-Seher« auf einen „ästhetischen Betrachter“. (EBD., 51) Sie kamen dabei der Gemachtheit des Werkes und der ästhetischen Erfahrung auf die Spur. Allerdings stellte sich zunehmend auch die eher bange Frage, ob denn auch „noch Transcendenz aus strukturalistischen Begriffen gewonnen werden wird“ (EBD., 49). Was Gosebruch hier „strukturanalytisch“ nennt, hat nichts mit dem Strukturalismus zu tun. Eher handelt es sich um einen frühen Hilfsbegriff, der die werkimmanent operierenden Positionen sammeln sollte. Man ahnte schnell, dass diesen „strukturanalytischen“ Ansätzen zunehmend „die Dimension der Transcendenz“ abhanden kommen musste. (HAGER 1955, zitiert EBD., 51) Das unmittelbar ereignishafte und in „seelischer Einstimmung“ Erlebte, zerlegte sich zusehends in kristalline Analysesätze und klang bestenfalls bekenntnishaft noch in akademischen Protokollsätzen an. Aus dem Kunsterlebnis wurde eine abgekühlte und verwissenschaftlichte ästhetische Erfahrung. Die „Wissenschaft der Kunst“ verliere so „die Spannung zu ihren Objekten; sie ist ohne Transcendenz“, klagte man schließlich. (GOSEBRUCH 1978, 164) Daher stammen auch die immer wieder gesuchten Anschmiegungen der »metaphysischen« Kunstwissenschaft an Martin Heidegger: „nicht wegen des Pathos der Existenz, ist hier Heidegger zu nennen“, sondern, weil sein Denken „nicht mehr materiell feste [Bild-]Punkte und die Linien dazwischen [kennt], sondern je im »Wurf« sich Erfüllendes“. Denn Kunst sei „wesentlich im Einen des Wurfs zu erfassen, nicht im Nacheinander von »geistiger« und »ästhetischer« Schicht.“ (DERS., 1954, 39) „Vor Jahren hatten wir selber geglaubt, mit Heidegger den Abschluss der kritischen Auseinandersetzung mit der Ikonografie finden zu können...“ Aber dann schon resignierender: „Was aber nutzt Heideggers Rede von Kunst als Ins-‐Werksetzung der Wahrheit, wenn er vor van Goghs Schuhen sentimental wird, worin unterschiedet sich Gadamer, der an den Abstrakten das Verstummen des Bildes preist, von irgendeinem Feuilletonredakteur?“ (GOSEBRUCH 1969, 124/1978, 164) 10 Das war ungefähr die Lage der Dinge, bis man schließlich das ganze Hintergrundrauschen der Existentialphilosophie und der Kunstmetaphysik wie das Kind mit dem Bade ausschüttete und entmythologisierte. Danach hütete sich die Kunstwissenschaft davor, noch einmal mit einer Wahrheitsästhetik zu »überziehen«. Der in disziplinärer Quarantäne verschollene und hier wieder freigesetzte fleißige »Ungeist« Michael Brötje hatte aber – zurück in die Zukunft – keine Probleme mit alten, aber klaren Formeln und Ansagen, denen man ein „Raunen“ noch anhört: … dass das Kunstwerk „zu einer ganz neuen, seelischen Verge-‐ wisserung einer Wahrheit des Seienden ermächtigt“. (BRÖTJE 2001, 23) Erlebbar werden und ereignen soll sich dies in einem intuitiven Erschließen der Sinnautonomie und „Direktverbindlichkeit“ des Bildes. Man kann Brötje nur mit gewissen Bauchschmerzen zur Lektüre weiterempfehlen. Und es geht auch nicht darum, wieder »gläubig« zu werden. Man muss nicht zuerst an den Glauben glauben, wie es Martin Heidegger als Voraussetzung aller „theologischen Erkenntnis“ herausgestellt hatte. (1927a, 21-27) Sondern es geht vielmehr darum zu beobachten, was mit den Bildern und mir passiert, wenn man sie über diese Umwege und Flashbacks neu betrachtet. In der Latenzzeit der Isolation ist nämlich mit Brötje unbemerkt etwas amalgiert: Eine existentialhermeneutische, metaphysische Grundhaltung ist mit einer kühn weiterentwickelten Praxis einer manchmal großartig exzessiven Bildanschauung in Kontakt gekommen. Dieser Position wird hier eine verstellte Stimme gegeben – mit vielen Auslassungen, Verzerrungen und Sprüngen. Über die Bauchrednerei werden die Kunstwerke auf diese Weise umkreist. In einem anderen Zusammenhang hatte dies schon Kurt Badt in den 50er Jahren ähnlich vorgeschlagen als er schrieb, dass das „Fragen nach dem Wesen der Kunst [...] sich auf dem Umwege der Umkreisung zu vollziehen“ habe, „da weder vom Künstler noch vom Können der Kunst noch von dem Werke der Ausgangspunkt genommen“ werden kann. „Eingedenk dieser Tatsache ist das vorliegende Buch nicht in fortlaufender Folge angelegt...“ (BADT 1956, 9) Was bei diesem Umkreisen genau passieren würde, war dem Bauchredner nicht vorhersehbar. Aber die Bilder werden nicht ganz die gleichen bleiben. Mit der von fremden Stimmen gesteuerten Anschauung werden sie sich für die Lesenden verwandeln. 11 Aber wieso sollte man einen solchen Diskurs und Dialog, eine solche Redeweise über Kunst, überhaupt nachsprechen und nachspielen? Das hat einen einfachen Grund: Innerhalb der Texte – und damit vielleicht innerhalb der Werke – also innerhalb der hier behandelten Schriften, die das Eigentliche der Kunstwerke umkreisen oder treffen wollen, gibt es so provozierende Signifikanten wie »transzendieren«, »Evident-Sein« und – etwas bürokratischer formuliert: »das Referentielle«. Man sollte diese Bezeichnungen nicht einfach nur disqualifizieren, sondern man sollte in sie hineinhorchen und fragen, was sie umhüllen und was noch in und hinter ihnen steckt und wie und worauf sie noch verweisen. Wo ist ihr »Inhalt« oder was ist die Referenz der Referenz? Der Philosoph und Heidegger Schüler Georg Picht hatte das Ganze so auf den Punkt gebracht als er großartig formulierte, man könne „ein Zeichen nicht mehr verstehen, wenn man die Möglichkeit dessen leugnet, was es bezeichnet.“ Und er hatte hinzugefügt, dass „Chiffren“ oder Worte wie »die Transzendenz«, »die Ewigkeit«, »das Absolute« uns heute, zu Recht oder zu Unrecht, als bloßer Schein [gelten].“ Und dabei hatte er offen gelassen, „ob das nun daran liegt, dass sie nichts als Schein sind, oder daran, dass wir das, was in diesem Schein zur Erscheinung kam, nicht mehr begreifen...“ (PICHT 1973, 239) Aber diese frommen Signifikanten bezeichnen eben Erlebnisse der »Überschreitung«... oder die Möglichkeit eines »Übergreifenden«. Sie formulieren verschiedene Level von Differenzen von Immanenz und Transzendenz . Sie haben Kopfschmerzen und Ekstasen erzeugt; sie waren für Halluzinationen und Zusammenbrüche verantwortlich. Und „deshalb könnte das Wort »REFERENT«“, so hatte es Jacques Derrida noch formuliert, „störend sein, wenn der Kontext es nicht neu formieren würde“ (1981a, 13) Definieren also die hier zu betrachtenden Texte und Bilder erst, was Begriffe wie »die Transzendenz«, »die Ewigkeit«, »das Absolute« und »das Referentielle« bezeichnen? Dann müsste nur versucht werden... „... das innere und geregelte Spiel dieser Philosopheme und Episteme so streng wie möglich zu respektieren, indem ich sie dahingleiten lasse, ohne sie bis zu ihrer Unerheb-‐ lichkeit, ihrer Erschöpfung und ihrem Ende zu misshandeln. [...] »dekonstruieren« be-‐ stünde demnach darin, die strukturierte Genealogie ihrer Begriffe zwar in der getreust möglichen Weise und von einem ganz Inneren her zu denken, aber gleichzeitig von einem gewissen, für sie selbst unbestimmbaren, nicht benennbaren Draußen her festzulegen, was [sich] verbergen oder verbieten konnte...“ (DERRIDA 1972, 38) 12 Für alle, die sich auf »die Dekonstruktion« immer noch nicht so recht einlassen wollen – oder schon nicht mehr –, kann man Derrida auch anwendungsfreundlicher umformulieren. Rein technisch gesprochen handelt es sich im vorliegenden Buch um zwei Operationen, die ineinander verwoben sind: In der ersten geht es um die Rekonstruktion von existential-hermeneutischen Theorietraditionen und Denkbewegungen in ihrer Eigenlogik. In der zweiten Operation geht es dann darum, sich von diesen Traditionen auch wieder zu lösen, um in den so »entkleideten« Schwundformen dieser Konstruktionen systematischer nach deren Operationen und der Anschauungslogik zu fragen. 2. Rahmungen und Unterbrechungen Neben dem, was hier mit der Metapher der Bauchrednerei bezeichnet wird, gibt es noch eine zweite Maßnahme, um die verhandelten fremden Schriften auf Nahdistanz zu halten. Dazu wird im folgenden Text dieses Buches nach und nach eine kleine fiktive Geschichte erzählt. Das Buch beginnt mit dem Anfang dieser Geschichte. Sie ist durch Kursivsetzung abgehoben vom übrigen Text, rahmt und unterbricht dann und wann den Fließtext. Gleichzeitig sind diese Episoden aber auch mit dem Haupttext verzahnt. Die Unterbrechungen hinein ins Fiktive und Dramatische geschehen nicht willkürlich, sondern sie setzen etwa immer dann ein, wenn der kunstwissenschaftliche Diskurs ins Stocken gerät oder nicht mehr weiterweiß, oder aber wenn er durch die erzählte Geschichte erläutert werden kann. Die geschilderte Story ist nicht erfunden, sondern im Ganzen nur geborgt. Sie wird nur in einer Abwandlung nacherzählt. Es handelt sich um Honoré de Balzacs berühmte Novelle: Das unbekannte Meisterwerk (1831). Diese Geschichte wird hier, wie gesagt, nacherzählt. Allerdings wurden die Protagonisten ausgetauscht. In dem berühmten Text geht es bekanntlich darum: Ein junger Maler ist im Dezember 1612 auf dem Weg zu einem Meister, der im Text Porbus heißt. Er will sich bei diesem vorstellen, um dann von ihm zu lernen. In einem Treppenhaus trifft er dabei auf einen alten Herrn, dem er sich anschließen kann und als dessen Begleiter er besagten Porbus aufsucht. Im Gespräch und da- 13 rüber hinaus erweist sich dieser Alte, Frenhofer sein Name, als meisterlicher und maßlos fanatischer Maler, der nahe am Abgrund vollkommen obsessiv und seit Jahren dabei ist, das absolute Kunstwerk zu erschaffen. Dieses Bild soll sich selbst »transzendieren« können, indem auf der Leinwand eine begehrte Frau in all ihrer Schönheit und Lebendigkeit wiedererweckt worden sei. Ganz am Ende der Geschichte dürfen der junge Mann und Porbus bekanntlich Frenhofers fetischisiertes Gemälde ansehen. Was sie erwartet, ist ein Meisterwerk, „in dem man fast nichts sieht, auf das man aber die Idee des Absoluten übertragt.“ (BELTING 1992, 90) Künstler haben sich mit der Erzählung identifiziert und Kunsthistoriker haben sie immer wieder gedeutet. Letztere fassten sie meist als (romantische) kunsttheoretische Novelle über die Beseelung der Malerei und einen mächtigen Mythos der Kunst auf. Hier nun aber wird, wie schon angedeutet, das Personal gezielt ausgetauscht, während die Geschichte im Grunde die gleiche bleibt. Aus dem genial-besessenen Malergreis Frenhofer wird ein eigensinniger alter Kunstwissenschaftler. Aus Meister Porbus wird hilfsweise ein deutscher Philosoph und der neugierige Schüler wird nolens volens vom Verfasser gespielt. Alles weitere wird sich zeigen. Dabei ist das Ganze kein Kasperle-Theater. Es wird davon ausgegangen, dass nicht nur ein Maler »besessen« sein kann von der „Gabe“ des Bildes und von der „Beinahe-Halluzination“ einer „leibhaftigen Malerei“ (DIDI-HUBERMAN 1985, 63) Auch ein Kunstwissenschaftler könnte zuweilen zum Obsessiven tendieren. In dieser Leidenschaft ginge es weniger um eine erträumte Verlebendigung und Überschreitung der Repräsentation in Präsenz. Sein Begehren läge darin, das Bild als Medium in ein »Transzendentes« zu begreifen – ein erträumtes „Referentielles“ (DERRIDA 1981a, 39), eine Art »Berührung« mit dem »Jenseits« des Bildes. Man muss Balzacs Novelle nur entsprechend ein wenig umformen. Was dann zwischen den Zeilen sichtbar wird, ist ein unberechenbarer REST, der sich jeder analytischen Kritik entzieht, der aber gleichwohl »da ist«. Dieser Rest war schon Roland Barthes aufgefallen als er am Ende einer Reihe von aufklärenden „Entmythologisierungen“ etwas unverhofft von einer auffälligen „Aporie“ und von „Amputation“ sprach. Der bemühte Analytiker – in Barthes Worten: der „Mythologe“ – stecke nämlich in einem unauflösbaren „Dilemma“. Bildlich gesprochen: Der „Mythologe“ sei nämlich dazu verurteilt, sich bei all seinem Bemühen um Einsicht stets nur mit so etwas wie „der Güte eines Weins“ aus- 14 einander setzen zu müssen, er könne sich aber nie „mit dem Wein selbst“ befassen (BARTHES 1957, 150) – man könnte auch sagen: nie mit dem Wesen des Weins. Dabei bestand schon für den großen Semiotiker Roland Barthes die entscheidende Einsicht in Folgendem: Dieses transzendente „letztlich undurchdringliche, nicht reduzierbare“ Wesentliche, diesen unanalysierbaren REST – für Brötje gab es diesen REST natürlich auch – diesen besten REST könne man überhaupt nur auf „poetisierende“ Weise erreichen. „In einem Wort“, schrieb er damals, „ich sehe noch keine Synthese von Ideologie[Kritik] und Poesie“. „Ich verstehe unter Poesie“, fügte er abschließend hinzu, „auf eine sehr allgemeine Weise die Suche nach dem nicht entfremdeten Sinn der Dinge.“ (EBD., 151) Wenn man so will, sucht dieses Buch auch nach einem Niemandsland oder einem unerklärlichen Rest-»Sinn« der Kunstwerke und darüber hinaus nach einer Schreibweise, die dem näher zu kommen versucht. Die Kenner/Innen wissen außerdem, dass Roland Barthes selbst Jahre später einen Ausweg aus diesem Dilemma vorzuführen beabsichtigt hatte. In S/Z sprach er von einer mitproduzierenden, schreibenden Lektüre: „Denn das Schritt für Schritt“-Mitproduzieren umgehe „gerade durch seine Langsamkeit und seine Zerstreuung das Eindringen in den Bezugstext“ oder das Bezugswerk. Das Schritt für Schritt „vermeidet es“, diese Texte und Kunstwerke „umzukehren“ und nur analytisch anzueignen. Stattdessen gäbe es „immer nur Dekomposition der Lektüre-Arbeit: eine Zeitlupe, wenn man so will, weder ganz Bild noch ganz Analyse...“ (BARTHES 1970a, 17) Darum geht es auch hier. Noch ein Hinweis vorab: Übrigens kommt auch der „alte Pan“, Erwin Panofsky, gleich zu Anfang in einer kleinen Nebenrolle in der imitierten Novelle vor. Er erscheint so, wie ihn auch schon damals ein Teil seiner Deutschen Kollegen gesehen hatten: Gemeinsam standen diese Kunsthistoriker mit Heidegger im Rücken in kritischer methodologischer Distanz zu den ehemaligen Hamburgern: dem Ikonografen Panofsky und Warburg, dem „Historiker symbolischer Bildinhalte“. (GOSEBRUCH 1969, 130) Diese Hamburger würden, so sahen es die süddeutschen Kollegen, vom anderen „Ufer“ aus „auf denselben Strom“ blicken. (DERS., 1978, 163) Dass Panofsky vom falschen Gegenufer aus die Kunst untersuchte, verstand sich daraus, dass dieser „offenbar [...] nicht mehr ahnte, was am Kunstwerk die unvergleichliche Kostbarkeit ausmacht: die Einheit von Form und Bedeutung in meinem Mal hervorzubringen“. Panofsky habe sich stattdessen „daran gewöhnt, Kunstwerke als Zeichen für vorgegebenen Sinn zu nehmen, und sie damit um ihr Wesen zu brin- 15 gen [, denn] dann ist van Eyck um das Wunder seiner Malerei gebracht.“ (EBD., 162) – Aber auch Panofsky lag wohl seinerseits vieles auf der Zunge, was hier nicht zum Thema gehört und nicht verhandelt werden kann. Es würde die Untertöne des hier Gesagten betreffen. Wer will, kann seine Stimme aber noch hören. „Was aber Heidegger betrifft [...] so ist das [...] »ein zu weites Feld«. Nur das Eine möchte ich sagen dürfen: Es ist nicht die Tatsache seiner Rektoratsüber-‐ nahme, sondern der tatsächliche Inhalt seiner Rede1 (und manches andere), das ich ihm nicht verzeihen kann.“ (PANOFSKY 1958, 268, 26. April) Dann aber: „Und wenn Herr Heidegger von Vöge [Panofskys verehrter Lehrer] so begeistert war, wie Sie schreiben, soll ihm anderes verziehen sein.“ (EBD., 270/Brief an Kurt Bauch: 5. Mai 1958) Der Aufbau des vorliegenden Textes ist unkompliziert: Vom Ablauf her gesehen beginnen die hier ausgebreiteten Untersuchungen zunächst recht abrupt, etwas erzählerisch und »methodisch« bei einem kleinen Streit zwischen Martin Heidegger und Erwin Panofsky. Sie werden dann philosophischer, weil es zur geistesgeschichtlichen Kontextualisierung notwendig ist, ganz kurz doch noch einmal etwas zu »heideggern«2. Die Beobachtungen werden dann aber zunehmend immer phänomenologischer und Bild fixierter bis sich alles auf die Frage zuspitzt: »Können Sie etwas erkennen?« Mit dieser Frage am Ende des Buches verbindet sich der Anschauungs-Exzess und vermutlich das produktive »Scheitern« des Autors Michael Brötje – und das letztendliche Scheitern jeder Brötje-Lektüre. Zuletzt nämlich – wenn es abschließend um den Nachvollzug seiner Deutung der Melencolia I von Dürer geht – zuletzt werden die Darstellungen Brötjes dann doch zunehmend immer »anspruchsvoller« und unnachvollziehbarer. „In der Stimme des Rezitators“ (und Bauchredners) schrieb Roland Barthes, „vereinen sich [dann] in der Tat: übertriebene Deklamation, Tremolo, ein schriller [...] Ton, Erschöpfung, Tränen, Anfälle von Wut, von Klagen, von Flehen, unerträgliches Pathos...“ (1970b, 70) 1 Am 27. Mai 1933 an der Universität Freiburg. 2 Wenn dabei hier und da auch einmal der Kunstwerkaufsatz von Heidegger wiedergele-‐ sen wird, dann betrachte ich ihn als einen in sich geschlossenen Text so wie er ist, quasi selbst als »Werk« – und zwar ganz unabhängig von nachträglichen Anmerkungen oder philosophischen Kontroversen oder seiner Rezeptionsgeschichte. Auch geht es nie um einen „urbanisierten Heideggerianismus“ (M. Frank). 16 Man kann dem, was der Meisterseher zu erkennen glaubte, einfach nicht mehr ganz folgen. Dieses Unnachvollziehbar-Werden ist aber als Vorgang selbst so aufschlussreich, dass es hier nicht einfach weggelassen werden kann. Es gehört zu einer abenteuerlichen Bildbetrachtung und einer gewagten und experimentellen Anschauungsleistung dazu. Dabei wirkt das überfordernde Übermaß an »Anschauungserkenntnis« auch wieder befreiend: Man kann miterleben, wie eine existential-hermeneutische Bildtheorie, die sowohl auf unmittelbare Evidenz wie auch auf absolute Kontrollier- und Protokollierbarkeit der Sehvollzüge setzt, etwas aus dem Ruder läuft, sich verselbständigt und das ganze Gegenteil ihrer Ausgangsbedingungen mithervorbringt: Bei völlig konsequenter, absoluter, Durchführung der »Methode« gelangt man plötzlich unweigerlich auf die »andere Seite der Medaille«: die totale Auflösung von Sinn im Exzessiven. Was dann alleine noch bleibt, sind die exorbitanten Seh-Operationen selbst! Im Anhang schließlich findet sich somit ein praktischer Abriss, der ein Spektrum von Sehoperationen auflistet, das im Laufe des Buches eine maßgebliche Rolle gespielt hat. Darüber hinaus lassen sich diese »Anschauungsanweisungen vom Bilde her« auf viele andere Werke übertragen, ohne dass damit einmal mehr eine »To do-Liste« im Sinne einer »Einführung in die Bildanalyse« verabreicht werden soll. Stattdessen zeigt die Zusammenstellung vielmehr – nun ganz pragmatisch und unabhängig von vielleicht strittigen ideologischen Deutungsmustern – den Grad der Eigenständigkeit und der fast vergessenen Innovativität des bildtheoretischen Denkens von Michael Brötje. Des Öfteren schieben sich zudem noch seitlich und in abgesetzter Typografie gehaltene Textbausteine in den Fließtext ein. Viele dieser Einschübe erläutern mit Originalzitaten den Haupttext. Man kann sie mitlesen oder auslassen. Einige unterbrechen die Untersuchungen aber auch durch markante und wichtig Statements, die für den Fortgang unverzichtbar sind. P.S.: Man darf bei all dem nicht vergessen: Letztlich bleiben die Bauchrednerei, die fiktiven Szenen und die Unterbrechungen des Fließtextes am Ende Mittel der Darstellung. Denn letzten Endes manipuliert der Bauchredner die Rede der Anderen, die im Verborgenen doch seine eigene ist. Wer daher mehr oder ursprünglicheres hören will, dem seien die unverzichtbaren Originaltexte in den Schoß und ans Herz gelegt. Mein Dank gilt einer weiteren Stimme im Hintergrund: Frau Dr. Andrea Wandschneider, die mir einige sehr aufschlussreiche handschriftliche Notizen von Michael Brötje zur Verfügung stellte. 17 Alles bleibt „dis-‐ kontinuierlich, codiert und einer Ironie unterwor-‐ fen, sofern man diesem Ausdruck alles Ätzende nimmt.“ (BARTHES 1970b, 71) 18 I. Die Geschichte vom Besuch bei einem einsamen Kunsthistoriker beginnt zunächst vor einer Hütte: Gegen Ende des Jahres, an einem kalten Dezembermorgen, ging ein junger Mann, dessen Kleidung recht dürftig aussah, vor der Türe einer bei Todtnauberg im Schwarzwald gelegenen Hütte auf und ab.3 Nachdem er ziemlich lange mit der Unentschlossenheit eines Liebhabers, der seiner ersten Geliebten nicht unter die Augen zu treten wagte, auf dem Weg unschlüssig hin und her gelaufen war, schritt er schließlich die Schwelle jener Tür und fragte, ob Meister Heidegger da sei. Auf die bejahende Antwort hin, die ihm eine alte Bäuerin erteilte, stieg der junge Man langsam eine kleine Treppe empor, hielt aber – wie ein Abb.: Martin Heidegger (1889-‐1976) frischgebackener Höfling, der über den Empfang beunruhigt ist, den ihm der König bereiten wird – auf jeder Stufe kurz inne. Als er endlich oben angelangt war, verweilte er einen Augenblick auf dem Treppenabsatz, unsicher, ob er den kargen Türklopfer ergreifen sollte, der die Tür des Raumes schmückte, in dem zweifellos der Autor vom ‚Ursprung des Kunstwerks’ an seinem Schreibtisch saß und weiterdachte. Schon vor langer Zeit aber hatte die deutsche Kunstgeschichte diesen Eigenbrödler, der sich nun hier in seinem Arbeitszimmer aufhalten sollte, zugunsten des »Alten Pan« ohne große Umschweife fallengelassen. [...] Fachlich gesehen ereignete sich dieses Fallengelassen-Werden in zwei Phasen. Um zuvor aber etwas Übersicht über die Lage zu erhalten, wäre dabei zunächst folgendes unbedingt zu erwähnen: Aus einem noch aufzuklärenden Missverständnis heraus erwähnte der junge Erwin Panofsky, später der »Alte Pan«, am 3 Die kursiv gesetzten Textteile erzählen Honoré de Balzacs Novelle: Das unbekannte Meisterwerk (1831) nach. Allerdings wurden die Figuren und Orte ausgetauscht. Aus den Malern wurden zwei Kunsthistoriker und ein Philosoph. Die Geschichte bleibt dabei fast die gleiche. Vgl. zur näheren Erläuterung hier die Einführung. 19 zu reden, »Gewalt«. Und damit erhebt sich die schicksalsschwere Frage: Wer oder was setzt dieser Gewalt eine Grenze?“ (PANOFSKY 1932, 199) Panofskys Antwort, welche Instanz der gewalttätigen Interpretation Einhalt gebieten soll, fällt für die heutigen Leser vertraut und simpel aus: „Gestaltungsgeschichte“ und „Typengeschichte“ werden ab jetzt im methodologischen Korsett von Ikonographie und Ikonologie die Interpretationen als „objektive Korrektive“ vor der Gewalt eines willkürlichen Subjektivismus schützen. Soviel ist seit dem 20. Mai 1931 klar. Die Kunstgeschichte entschied sich für Panofsky und ließ den vermeintlich »gewalttätigen« Heidegger fallen. Man wollte sich an „objektiver Geschichtlichkeit“ orientieren, statt als Einzelkämpfer bedingungslos zu denken und zu forschen. Heidegger dagegen hatte dazu im nächsten Satz, den Panofsky nicht mehr zitieren wollte, weiter ausgeführt: „... die Kraft einer vorausleuchtenden Idee muss die Auslegung treiben und leiten“. Die Kunsthistoriker hatte dies offenbar nicht überzeugt. Und Panofskys Zitat bricht, fast gewalttätig ab, bevor von der „vorausleuchtende Idee“ die Rede ist. Offenbar wollte Panofsky Heidegger Aber auch Panofskys eigene „Ein-‐ einerseits gar nicht weiter verstehen. Er bezelanalysen in Studies in Iconology nutzte ihn nur, um die Notwendigkeit eingren(1939) und in Meaning in the Vi-‐ zender Kriterien begründen zu können. Andesual Arts (1955) sind keine rerseits war er in seinen eigenen Analysen oft Exemplifikationen des voran ge-‐ induktiver und kreativer als er sich selbst versetzten methodologischen Textes. Es sind höchst Gelehrte ikonogra-‐ stand. phische Analysen, die nicht nur Dies ist Phase eins. Allerdings muss es sich einen kunsthistorischen Neophy-‐ an diesem Abend in Kiel um ein doppeltes ten durch die immense Text-‐ und Bildkenntnis des Autors einzu-‐ Missverständnis gehandelt haben. Heidegger schüchtern vermögen.“ war wohl absichtlich verkürzt wiedergegeben (THÜRLEMANN 2009, 221) worden, damit man ihn schneller beiseite lassen konnte. Das zweite Missverständnis bestand dann in der Tatsache, dass Panofsky mit seiner methodischen Ausrichtung von Heidegger gar nicht gemeint gewesen sein konnte, auch wenn er selbst dies annahm: Er war nämlich von Heideggers Ausführungen zur erkenntniserschließenden Interpretation gar nicht betroffen. Vorikonographische Beschreibung und Ikonographie bringen so oder so nichts Ungesagtes im Sinne Heideggers vor Augen. Und das System der Ikonologie war auf alle Fälle rein deduktiv und „quasi-erklärend“ gedacht. Es ging gar nicht um ein „Verstehen“. (BÄTSCHMANN 1978, 468f./ 985, 111) Dementsprechend bezeichnete auch Heidegger eine derartige Auslegung, die mit allgemeinen Voraussetzungen arbeitet, seinerseits als einen üblen „Überfall“. (1935, 21 23) Panofsky hatte sich also in Kiel ausdrücklich gegen interpretatorische Gewaltangriffe gewandt. In Wirklichkeit aber überfiel er selbst seine Gegenstände mit einer Armada von Sekundärkontexten. Kurze Zeit später war dies auch Panofsky selbst klar geworden. 1939 hatte er seinen Vortragstext völlig neu überarbeitet. 1955 erschien der geänderte Methodentext dann in englischer Übersetzung. In der Neufassung war die Auseinandersetzung mit Heidegger nicht mehr enthalten. Dieses Missverständnis hatte Panofsky aus seinem amerikanischen Exil aus nachträglich richtig gestellt. In der von den Nationalsozialisten erzwungenen Emigration endete die kurze Debatte über die Gewalt der Interpretation an einem realgeschichtlichen Überfall auf die Weimarer Republik und der anschließenden Machtübernahme. Dies war Phase zwei. Damit war die Nabelschnur zur deutschen Existential-Hermeneutik unmissverständlich und endgültig gekappt. Früher oder später folgte die Mehrheit der Kunsthistoriker dem ikonographischen Paradigma. Und unzweifelhaft ist, dass es zur „wohl bedeutendsten bildanalytischen Methode des 20. Jahrhunderts“ wurde. (MICHELS 1998) Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der zweiten Version des Textes hätte auch schon klar sein können: Dem Freiburger Philosophieprofessor war es nie um ein verschultes und intellektuelles Verfahren der Interpretation eines Kunstwerks gegangen. Kunstwerke lassen geschehen, sie zeigen von sich her. Mit ihnen hat man ein „Spontaneinvernehmen“. Ihnen tut man sicher keine rohe Gewalt an. Stattdessen ist man von ihnen „einberufen“. (BRÖTJE 1990, 135/205) Jede Interpretation ist von vornherein unnötig und unangemessen. „... so galt die radikale ontolo-‐ gische Besinnung Heideggers der Aufgabe, durch eine »transzendentale Analytik des Daseins« die Struktur des Daseins aufzuklären. Er ent-‐ hüllte den Entwurfscharakter allen Verstehens und dachte das Verstehen selbst als die Bewegung der Transzendenz, des Überstiegs über das Sei-‐ ende.“ (GADAMER 1960, 246) 22 Dies stellte das letzte Missverständnis Panofskys dar: Heidegger hatte im Kant-Text tatsächlich das Interpretieren philosophischer Texte gemeint – und dieses Interpretieren hatte eine klare Positionierung in der Konstellation seines Denkens: „[P]hilosophische Interpretation“ stelle eine „abgeleitete Weise[ ] von Verstehen und Auslegen“ dar. „Auslegung“ nennt Heidegger dabei die „Ausbildung des Verstehens“. „In ihr eignet sich das Verstehen sein Verstandenes verstehend zu.“ Auslegung gründe so „existential im Verstehen, und nicht entsteht dieses durch jene.“ „Im Verstehen [wiederum] liegt existential die Seinsart des Daseins als Seinkönnen.“ (HEIDEGGER 1927, 143ff.) Verstehen entwirft das Dasein immer schon; es gehört zur Struktur des Daseins selbst. Genau diese Struktur ist es, die die Existentialphilosophie/die Fundamentalontologie aufklären will. Das fundamentale Wesen des Daseins erfährt man dabei durch und im Leben selbst – nicht durch metaphysische oder methodologische Apriori – und vielleicht eben auch, wenn Kunst und Dichtung sich ereignen. Zu Kunstwerken hatte sich der Philosoph bis 1935 nicht geäußert. Es sieht einen Augenblick so aus, als hätte der mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten einsetzende Kulturbruch auch eine kunsthistorische Leerstelle hinterlassen. Das existenzphilosophische Denken Heideggers über den Ursprung des Kunstwerk fällt dann zusammen mit Panofskys erzwungener und endgültiger Ausreise aus Deutschland. Im November 1935, im gleichen Jahr als dieser Hamburg verließ, um schließlich in Princeton eine Inauguralprofessur am Institut for Advanced Study anzunehmen, begann Heidegger in Freiburg über die »Funktion«, oder besser „das Wesen“ der Kunst zu sprechen. Wenn man den entsprechenden Text liest, wird klar, warum der Ikonologe in Amerika auf jede weitere Auseinandersetzung mit Heidegger verzichtet hatte. Panofskys Hinweise auf den Freiburger Konkurrenten hatten sich mit dessen Kunstwerk-Aufsatz buchstäblich erledigt. Von einer interpretativen Aggression des Rezipienten war überhaupt keine Rede. Auch jeder angebliche Subjektivismus-Vorwurf zerrinnt dem Kritiker zwischen den Fingern. Denn nun lesen wir, dass im Werk Wahrheit geschehe. Das Kunstwerk erst erlaubt uns, ein „Er-sehen zu vermögen.“ (HEIDEGGER 1935, 47) Die Dominanz des Interpreten ist gewendet in die Zumutung, dem Werk stattdessen „zu entsprechen“. Es bedarf nicht einmal mehr einer „vorausleuchtenden Idee“, die die Auslegung treiben und leiten müsste. Auch sie ist schon deswegen unnötig geworden, weil Kunstwerke gar nicht interpretiert werden können oder müssen. Sie „wesen“ einfach unabhängig von uns. Zu „wesen“ meint, dass sie in einer ganz bestimmten Weise da sind: Kunstwerke sind offenbar im Unterschied zu normalen Dingen so da, dass sie sich nicht im Sinne eines Objekts aneignen lassen (sollten). „Ob wir es einmal noch erkennen, Hölderlin Dichtung ist uns ein Schicksal. Es wartet darauf, dass die Sterblichen ihm entsprechen. [...] Doch wie sollen wir dies alles erkennen und behal-‐ ten? Dadurch, dass wir auf Hölderlins Dichtung hören. (HEIDEGGER 1959, Vorbemerkung) „Das Kunstwerk gab zu wissen, was das Schuhzeug in Wahrheit ist.“ (DERS., 1935, 29f, hierzu vgl. das Kapitel V: VAN GOGHS Stuhl und die Bauernschuhe) „Was das Zeug sei, ließen wir uns durch ein Werk sagen. Dadurch kam, gleichsam unter der Hand, an den Tag, was im Werk am Werk ist: die Eröffnung des Seienden in seinem Sein: das Geschehnis der Wahrheit.“ (EBD., 33) 23 Die Begegnung mit dem Werk regelt sich anders und ganz von alleine. Alles Wesentliche sieht man dem Dargestellten im Bilde an. (EBD., 28) „Im Werk hat sich die Wahrheit des Seienden ins Werk gesetzt.“ (EBD., 30) Die Interpretation dieses Satzes hat sich als Sisyphos-Arbeit für etliche Fakultäten herausgestellt. Deswegen ist es besser, ihm erst einmal keine weitere Gewalt mehr anzutun. Trotz oder gerade wegen seiner Abwesenheit entschied sich die deutsche Kunstgeschichte also für den Methodiker Erwin Panofsky und gegen den „Weserich im Garten der Philosophie“, Martin Heidegger. „Weserich“ nannte der Ikonologe seinen Antipoden einmal. (MICHELS 1994, 64) Panofskys Bezeichnung für Heidegger ist nicht nur polemisch, sondern auch in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich: Der metaphorische Ausflug in die Botanik, der zu der Titulierung „Weserich“ – etwa in Abwandlung von „Knöterich“ – geführt haben mag, lässt Heidegger als ein krautiges Gewächs erscheinen. Dabei kommt der Nickname dadurch zustande, dass der Philosoph zur Präzisierung bestimmter Zustände das Verb „wesen“ – in eigenwilliger Abwandlung zu „ist“ und „sein“ – geprägt und so oft wie nötig, ziemlich häufig also, gebraucht hatte. Sich darüber hinaus die Königsdisziplin Philosophie als „Garten“ vorzustellen, ist ebenfalls vielsagend: Nun mag sich jeder selbst ausmalen, wie wohl ein Garten aussehen kann: Vom rationalistischen Barockgarten zum scheinbar freiwachsenden englischen Landschaftsgarten mit seinen mäandernden Wegen und Pseudoruinen bis zum privaten kleinen Schrebergarten. Allerdings hätte Panofsky vielleicht einen Gemüsegarten mit ordentlicher Sortierung der angebauten Nutzpflanzen als Visualisierung der Philosophie bevorzugt. Die Ikonologie hätte dort die benötigten Gewächse nach Rezept ziehen können. Den Weserich sah der Amerikaner wider Willen sicherlich in einem verwilderten Gartenreich unkontrolliert sprießen – sich selbst verortete der Kunsthistoriker dagegen übrigens im Garten Eden: Er nannte seinen erzwungenen Aufenthalt in Princeton bekanntlich: „Ins Paradies vertrieben“. Die Gartenmetapher wird aber in all ihren möglichen Facetten auch zum Bild für den schwelenden Antagonismus von Wahrheit und Methode. Der Weserich im Garten ist die Horrorvorstellung eines amethodisch-analytisches Denken, dem Panofskys größte Vorbehalte galten. So gab es für Heidegger zum Beispiel eminente Werke, die „zu bestehen [...] noch bevorsteht“. (1935, 81) Möglich werden könne dies aber nur, „wenn wir uns selbst unserer Gewöhnlichkeit entrücken und in das vom Werk Eröffnete einrücken, um so un- 24
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