Welche Bildung braucht der Arbeitsmarkt?

Welche Bildung braucht der Arbeitsmarkt?
Call for Papers für die Jahrestagung 2016 (18./19. Februar) der
Deutschen Vereinigung für Sozialwissenschaftliche Arbeitsmarktforschung (SAMF)
Die doppelte Provokation im Titel unserer Veranstaltung ist gewollt. Ja, wir gehen davon aus,
dass ein hoch komplexes Wirtschafts- und Sozialsystem wie das deutsche zu seinem Funktionieren Arbeitskräfte benötigt, die nicht nur über Qualifikationen oder „Kompetenzen“ verfügen, sondern durchaus auch über „Bildung“, deren Inhalte sich nicht vollständig aus Arbeitsplatzbeschreibungen oder Stellenangeboten ableiten lassen. Und ja, als Fachvereinigung von
Arbeitsmarktforschern betrachten wir Bildung, Ausbildung und Weiterbildung in ihrem Wechsel- und Spannungsverhältnis zum Erwerbssystem, ohne damit anderen Perspektiven ihre Berechtigung absprechen zu wollen.
Insofern lässt sich die Fragestellung auch umkehren: Wie wird der Arbeitsmarkt auf die Bildungsprofile reagieren, die nachwachsende, geringer besetze Geburtskohorten einbringen
werden? Welche Arbeitsmarktchancen und –risiken ergeben sich aus dem, was das Bildungssystem produzieren wird, wenn es sich pfadabhängig weiter entwickelt? Wie wird der Arbeitsmarkt auf die strukturelle Veränderung des Arbeitskräfteangebots reagieren, die das Ausscheiden der „Baby-Boomer“ und die weitere Feminisierung mit anderen Berufswahlpräferenzen mit sich bringen? Mit welchen Lern- und Weiterbildungsanforderungen werden die künftigen und die bereits jetzt Erwerbstätigen im Verlaufe ihres Erwerbslebens konfrontiert sein?
Ist das Weiterbildungssystem dafür aufgestellt, diese Herausforderungen zu meistern?
Ohne Ideen für Beiträge abschneiden zu wollen, die vielleicht bei der Auseinandersetzung mit
diesen allgemeineren Fragen schon aufkommen, und ohne Anspruch auf Vollständigkeit benennen wir im Folgenden einige spezifische Diskurse, die wir für aktuell, interessant und unabgeschlossen halten.
Duale Berufsausbildung vs. „Akademisierung“
Dass Deutschland langjährige Aufforderungen u.a. der OECD, seine Akademiker/-innenquote
zu erhöhen, in den letzten Jahren übererfüllt hat, hat unter Experten teilweise mehr Erschrecken als Genugtuung ausgelöst. Doch bereits die rein empirische Frage, mit welcher Art von
Abschlüssen nachrückende Kohorten ihren Berufsweg antreten bzw. den Hauptteil ihres Berufslebens bestreiten (werden), ist angesichts der institutionellen Zersplitterung von Bildungsstatistiken, der Häufigkeit von Abbrüchen, der Ungleichzeitigkeit verschiedener Ausbildungsstufen in den Lebensverläufen und der möglichen Kombination von Beruf und Studium alles
andere als trivial. Und häufig vergessen werden in dieser Debatte die vollzeitschulischen Ausbildungen. – Welche Arten von Abschlüssen werden im Bildungssystem produziert, welche
mittel- und langfristigen Veränderungen haben sich vollzogen, wie sind diese Veränderungen
zu erklären, und entsprechen diese Entwicklungen den erkennbaren Qualifikationsnachfragen
des Arbeitsmarktes? Wie kommen Bildungsentscheidungen zustande? Welche Rolle spielt hierbei die Studien- und Berufsorientierung an den Schulen?
Struktur und Stratifizierung der Hochschulen
Wenn Hochschulsystem und duale Berufsbildung bei den Eintritten gleichziehen, dann bedarf
die Kategorie der akademischen Bildung dringend der Differenzierung. Jenseits der natürli-
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SAMF-Vorstand
chen Rivalitäten zwischen den Hochschularten ist nach der Funktionsteilung zwischen Universitäten und anderen Hochschulen, nach der sozialen Herkunft und den Berufswegen der Absolvent/-innen verschiedener Hochschul- und Abschlussarten sowie danach zu fragen, inwieweit das wohl unvermeidliche Schrumpfen des „dualen Systems“ nach dem BBiG im Hinblick
auf den betrieblichen Bezug der Ausbildung durch Dualisierung von Studiengängen kompensiert wird oder werden kann.
Qualifikationsstruktur, Qualifikationsanforderungen und Verwertung von Qualifikationen
Wie haben sich Arbeitsmarktchancen und –positionen von Absolvent/inn/en verändert, deren
Bildungsgänge aufgewertet wurden? Hat sich die Erwartung erfüllt, dass die Akademisierung
vormals vollzeitschulischer Ausbildungsgänge unterdurchschnittlichen Bildungsrenditen und
geschlechtsspezifischen Benachteiligungen der überwiegend von Frauen ausgeübten Tätigkeiten entgegenwirken könnten?
Welche Auswirkungen haben die vertiefte Digitalisierung der Produktion („4.0“), Veränderungen der globalen Arbeitsteilung oder die Umstellung des Finanzsektors auf „Null-ZinsBedingungen“ auf die künftige Anforderungsstruktur der Arbeitsplätze? Wird die Diskrepanz
zwischen dem Anteil von „Einfacharbeitsplätzen“ und dem Anteil der Arbeitsbevölkerung ohne berufliche Qualifikation zu- oder abnehmen? Wie „einfach“ sind Arbeitsplätze, die keinen
berufsqualifizierenden Abschluss erfordern, und was erfordern sie stattdessen? Reagieren die
Betriebe auf Fachkräfteengpässe mit einer Veränderung von Arbeitsorganisation und Anforderungsstruktur? Entstehen dadurch neue Chancen für „Bildungsverlierer“?
Die Rolle von Anpassungs- und Übergangssystemen
Das Arbeitsförderungsgesetz von 1969 hatte – in Reaktion auf den Fachkräftemangel der
1960er Jahre – u.a. die Funktion, Qualifikationsreserven für die Volkswirtschaft zu mobilisieren. Eine vergleichbare Reaktion der Arbeitsmarktpolitik auf aktuelle Fachkräfteengpässe ist
bisher ausgeblieben — die Förderung beruflicher Weiterbildung mit Abschluss fristet ein
Schattendasein. Sind die arbeitsmarktpolitisch adressierbaren Qualifizierungspotenziale heute
geringer, oder ist die Arbeitsmarktpolitik aus institutionellen Gründen nicht reaktionsfähig?
Welche Qualifikationsreserven bietet die feststellbare unterwertige Beschäftigung, und welche Potenziale eröffnet die Anerkennung oder Ergänzung von im Ausland erworbenen beruflichen Qualifikationen, die bisher am deutschen Arbeitsmarkt nicht adäquat verwertet werden
konnten? Mit welchen neuen Formen beruflicher Weiterbildung können bisher „Bildungsferne“
erreicht werden? Welche qualitativen Chancen bietet der nachlassende Bedarf in den Übergangssystemen für Jugendliche ohne Ausbildungsplatz?
Wir erbitten Vortragsangebote aus aktuellen wissenschaftlichen Arbeiten. Die Vorträge sollen
empirisch orientiert sein. International und/oder historisch vergleichende Studien sind besonders willkommen.
Die Vortragsangebote sollen nicht mehr als ca. 1,5 Seiten umfassen und bis zum 30.06.2015
bei [email protected] eingehen. Die Organisatoren informieren über die Auswahl bis zum
31.08.2015.