Vorwort von Paolo Baratta

la Biennale di Venezia
56. Internationale Kunstausstellung
Vorwort von Paolo Baratta
Präsident von la Biennale di Venezia
Die 56. Ausgabe der internationalen Kunstausstellung der Biennale von Venedig beginnt
am 9. Mai, einen Monat früher als die letzten Ausgaben. Mit ihr feiern wir das 120. Jahr
seit der ersten Ausstellung (1895).
Die Internationale Ausstellung des Kurators wird in dem Palazzo delle Esposizioni in den
Giardini (3.000 qm), in dem Arsenale (8000 qm) und darüber hinaus in den
Außenbereichen abgehalten.
Virtuell gesehen, dreht sich rund um die große Internationale Ausstellung unseres
Kurators die bedeutende Versammlung von ausländischen Teilnehmern (89, im Jahr 1997
waren es 58), von denen 30 in den historischen Pavillons in den Giardini, 30 in den
Räumlichkeiten des Arsenale (in denen die Restaurierungsarbeiten von Gebäuden aus
dem Sechzehnten Jahrhundert vorangebracht werden), und der Rest in venezianischen
Gebäuden, in denen auch 43 Kollateralveranstaltungen stattfinden werden, welche von
gemeinnützigen Organisationen vorgestellt und von unserem Kurator erlaubt wurden.
Die in der Pressemitteilung enthaltenen Seiten geben viele weitere nützliche
Informationen.
Sie enthalten auch die herzlichen Danksagungen, welche nicht nur an unseren Partner
Swatch ausgedrückt wurden, sondern auch an verschiedene öffentliche Institutionen,
Sponsoren, Spender und an die Vielzahl von Akteuren, die nach wie vor mit großem
Engagement zur Realisierung der Ausstellung und deren Verwaltung über die
sechseinhalb Monate, bis zum 22. November, beitragen.
--------------------------------Dies vorweggenommen, erlauben Sie mir ein paar Worte der Einleitung zu dieser
Ausstellung, wie sie vom Inneren der Biennale erscheint.
Es ist die 56. Ausgabe der Biennale, die 120 Jahre feiert, und Jahr für Jahr ihre eigene
Geschichte ausbaut: Eine Geschichte bestehend aus vielen Erinnerungen, aber
insbesondere auch aus einer langen Reihe von verschiedenen Sichtweisen vom Phänomen
des künstlerischen Schaffens in der heutigen Zeit.
Um uns auf die letzten zwei zu beschränken:
Bice Curiger brachte uns das Thema der Wahrnehmung, der ILLUMInation, d.h. des Lichts
als autonomes und belebendes Element, sowie das der Beziehung zwischen Künstler und
Betrachter. Dabei fokussierte sie sich auf einen künstlerischen Begriff, welcher das
intuitive Wissen und das aufgeklärte Denken als Mittel zum Verfeinern und Verbreitern
unserer Wahrnehmungsfähigkeit und daher unserer Fähigkeit des Dialogs mit der Kunst
hervorbrachte.
Massimiliano Gioni war daran interessiert, das Phänomen des künstlerischen Schaffens
von innen zu betrachten und widmete seine Aufmerksamkeit den inneren Kräften, welche
den Menschen und den Künstler dazu anhalten, Bilder und Darstellungen zu erschaffen,
die für sich selbst und für den Dialog mit anderen notwendig sind. Er untersuchte die
Utopien und die Ängste, welche den Menschen zum unumgänglichen Drang des
Schaffens verleiten. Die Ausstellung wurde von einem utopischen Enzyklopädischen
Palast und von dem Roten Buch von Jung eröffnet.
Heute erscheint uns die Welt durchquert von schweren Frakturen und Wunden, starken
Asymmetrien und Unsicherheiten über die Aussichten. Trotz der großen Fortschritte in
der Wissenschaft und der Technologie durchleben wir eine Art von „age of anxiety“. Und
die Biennale betrachtet erneut das Verhältnis von Kunst und Entwicklung der
menschlichen, sozialen, politischen Realität im Drang der äußeren Kräften und
Erscheinungen. Man versucht also zu untersuchen, wie sich die Spannungen der
Außenwelt auf die Empfindlichkeit, die Lebensenergien und die Ausdrucksart der
Künstler, sowie auf deren Wünsche und Gemütsbewegungen (deren inner song)
auswirken. Die Biennale hat sich an Okwui Enwezor gewendet, auch wegen seiner
besonderen Empfindlichkeit bezüglich dieser Aspekte.
Curiger, Gioni, Enwezor, fast eine Trilogie: Drei Kapitel einer Forschung von der Biennale
von Venedig über die Bezüge, welche zur Formulierung von ästhetischen Urteilen über
die Kunst der Gegenwart nutzen. Es geht um eine „kritische“ Fragestellung nach dem
Ende der Avantgarde und der „Nicht-Kunst“.
Und Okwui versucht nicht, Urteile zu fällen oder eine Prognose auszusprechen, sondern
er will die Kunst und Künstler aus der ganzen Welt und aus verschiedenen Disziplinen
zusammenführen: ein Parlament der Formen.
Eine globale Ausstellung, bei der wir die Künstler befragen können oder ihnen zumindest
zuhören.
Es wurden 135 Künstler aus 53 Ländern eingeladen. 88 unter ihnen sind zum ersten Mal
anwesend, und mehrere kommen aus verschiedenen geografischen Gebieten, welche wir
weiterhin beharrlich als Randgebiete bezeichnen. Unter den ausgestellten Werken sind 159
neu. Dies wird uns auch helfen, uns eine Idee über die Geographie und die Routen der
heutigen Künstler zu bilden - ein Thema, das Gegenstand eines besonderen Projekts sein
wird: das Projekt bezüglich der Curricula der Künstler, welche in der Welt tätig sind.
Das heißt, ein Parlament für eine Biennale mit vielfältiger und intensiver Vitalität.
Wir wissen, dass die Heraufbeschwörung von dramatischen Phänomenen, welche die
heutige Zeit charakterisieren, bedeutet, die Geschichte hereinzulassen. Die Gegenwart will
durch Zeichen, Symbole, Erinnerungen verstanden werden, welche die Geschichte uns
bietet, und aus denen wir etwas Verzweiflung aber auch Erleuchtung erlangen. Das
bedeutet ebenfalls, die Fragmente unserer auch früheren Vergangenheit ins Gedächtnis
zurückzurufen, welche wir nicht vergessen dürfen.
Sicherlich bietet die Biennale eine besondere Bühne für diese Darstellung. Was hier
ausgestellt wird, hat 120 Jahre Geschichte der Künste als Kulisse; die Fragmente der
Vergangenheit findet man in jeder Ecke und sie sind von verschiedener Natur, da die
Biennale in der Architektur, im Tanz, im Theater, in der Musik und im Filmgewerbe tätig
ist. Man findet sie im ihrem Archivio Storico, in den dort aufbewahrten Bildern, in ihren
Katalogen, in ihren Gebäuden. Auch die Pavillons der Länder, die in verschiedenen
Epochen und dank verschiedener Initiativen gebaut wurden, schaffen gerade deswegen
einen Ort, welcher sich stark von dem einer traditionellen Expo unterscheidet. Es ist der
Ort der „dialektischen Bilder“, um die Worte von Walter Benjamin zu verwenden.
Und apropos Benjamin, erinnert Okwui in seinem Programm an die Worte, mit denen er
sich über den „Angelus Novus“ von Paul Klee ausdrückte. Erinnern Sie sich? „... Er hat das
Antlitz der Vergangenheit zugewandt. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht
er eine einzige Katastrophe […] Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken […] Aber ein Sturm
[…] treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft“.
Ich kann nicht anders, als dieses Bild für einen Moment auf uns zu übertragen, und in
dem Ausdruck des Engels von Klee jenen von einem Besucher der Biennale zu sehen, der
hineinkommt und überrascht und erschrocken die Spuren der Vergangenheit betrachtet,
welche in diesem Ort hinterlegt sind, in dem Zeit und Raum zusammentreffen. Es tröstet
mich zu wissen, dass hier alle zwei Jahre ein neuer Sturm der Energie entsteht, der weht
und uns in die Zukunft treibt.
Und ich bin wieder einmal darüber erfreut, den traurigen Ansichten derjenigen kein
Gehör geschenkt zu haben, die mir im Jahr 1998 erzählten, dass die Ausstellung mit
ausländischen Pavillons veraltet war und eliminiert werden sollte, vielleicht mit der
Einführung an deren Stelle eines weißen Würfels, eines aseptischen Raums, in dem wir die
Geschichte löschen, unsere abstrakte Anmaßung ausüben, oder die Diktatur des Marktes
willkommen heißen können.
Gerade unsere artikulierte und komplexe Realität hilft uns, diese Gefahren zu vermeiden.
Der große Berg der Fragmente unserer Geschichte wächst jedes Jahr. Andererseits gibt es
einen noch größeren Berg, bestehend aus dem, was in der Vergangenheit nicht in der
Biennale gezeigt wurde.
In diesem Zusammenhang werden oft Aby Warburg und seine Methoden der
Interpretation zitiert. Um ein Werk besser zu verstehen, setzt man es neben andere und
umgibt es mit Werken, welche einen Bezug zu ihm haben. Mnemosyne – die Göttin der
Erinnerung – war der Name, den er für diese Übung verwendete (ja, man könnte sagen,
dass die Biennale eine der Lieblingsresidenzen für Mnemosyne ist).
In jeder Biennale trägt die Präsenz, neben unserem Kurator, der Stimmen der Kuratoren in
den verschiedenen Pavillons dazu bei, den wichtigen Wert des Pluralismus der Stimmen
zu realisieren.
„Parliament of Forms“. Nichts muss mehr als ein Parlament für Pluralismus der Stimmen
sorgen.
Was sowohl in den intimeren als auch in den dramaturgisch die Geschichte betreffenden
Biennalen zählt, ist dass die Ausstellung immer als Ort des freien Dialogs erlebt wird.
Paolo Baratta, Präsident von la Biennale di Venezia