Erecs Doppelweg und Zündels Abgang: Krisenerfahrungen als Kulturmuster in mittelalterlichen und modernen Texten Anette Sosna Ein ausgezeichneter Artusritter, der vrümekeit und saelden phlac (›Erec‹, v. 4), und das personifizierte »zeitgenössische Elend« als Gegenbild eines jeden »glücklichen Kämpfers« (›Zündels Abgang‹, S. 87 u. 93)1 – darf man Hartmanns ›Erec‹-Figur und Konrad Zündel, den zutiefst modernen Protagonisten von Markus Werners Roman ›Zündels Abgang‹ aus dem Jahr 1984, in einem Atemzug nennen, mehr noch: beide in einen vergleichenden Zusammenhang stellen? Wer dies verneint, wird auch Kritik an manch gängiger Praxis im Deutschunterricht üben und die eine oder andere Abiturkonzeption revidieren müssen. Dort sind diachrone Textvergleiche an der Tagesordnung, wenn auch in wenig reflektierter Form. Von diesem Befund ausgehend, der gleichzeitig ein Desiderat formuliert, votiert der vorliegende Beitrag für eine Stärkung und Ausdifferenzierung des bislang methodisch-didaktisch zu schwach akzentuierten Alteritätsbegriffs im Deutschunterricht, der hierfür einer dem Forschungsstand angemessenen Aufbereitung bedarf. Fiktionale Krisendarstellungen, so zeigt sich, bieten in diesem Zusammenhang ergiebige Anknüpfungspunkte für reflektierte Zugänge zu einem Phänomen, das gerade für Schülerinnen und Schüler in der Umbruchphase des Erwachsenwerdens von Interesse ist. I. Textvergleiche und Themenfeldorientierung im gymnasialen Deutschunterricht In der Praxis des Deutschunterrichts und seinen institutionalisierten Rahmenbedingungen ist der vergleichende Umgang mit literarischen Texten sowohl in Lernkontexten als auch in den aufgabengestützten Leistungskontexten von Klausuren und Abitur ein fester Bestandteil von methodisch-didaktisch initialisierten Textverstehensprozessen.2 Die von der Kultusministerkonferenz einge- 1 Die einleitenden Zitate sind grammatikalisch angepasst. 2 Verschiedene Aufgabentypen zum Beispiel des bayerischen oder baden-württembergischen Abiturs fordern Textvergleiche verbindlich ein, so z. B. Aufgabentyp I (Werk im Kontext) im baden-württembergischen Zentralabitur, der derzeit Georg Büchners Drama ›Dantons Tod‹, Max Frischs Roman ›Homo faber‹ und Peter Stamms ›Agnes‹ 226 Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2014, Jg. 61, ISSN 0418-9426 2014 V&R unipress GmbH, Gçttingen Erecs Doppelweg und Zündels Abgang setzten Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife fassen die auf diesen Wegen angestrebten und testierbaren Kompetenzen in Formulierungen, die unterschiedliche intra-, extra- und intertextuelle Bereiche ansprechen. So zielen beispielsweise die für Schülerinnen und Schüler definierten Oberstufen-Standards u. a. darauf ab, »relevante Motive, Themen und Strukturen literarischer Schriften, die auch über Barock und Mittelalter bis in die Antike zurückreichen können, vergleichen […]« (KMK-Bildungsstandards 2012, S. 20) zu können, »diachrone und synchrone Zusammenhänge zwischen literarischen Texten [zu] ermitteln und Bezüge zu weiteren Kontexten« (ebd., S. 21) herzustellen und »die in literarischen Werken enthaltenen Herausforderungen und Fremdheitserfahrungen kritisch zu eigenen Wertvorstellungen, Welt- und Selbstkonzepten in Beziehung [zu] setzen« (ebd.). Die Lektüreempfehlungen, die die einzelnen Bundesländer begleitend zu ihren Lehr- und Bildungsplänen erstellen und die in der Regel als Orientierungshilfe für die Auswahl von Texten in der Unterrichtspraxis der Sekundarstufen I und II zu verstehen sind, berücksichtigen den Aspekt der Kontextualisierung von Texten in Form von Textvergleichen dabei in unterschiedlicher Ausprägung; sie reicht von einer Systematisierung nach Textsorten (wie z. B. in Niedersachsen)3 bis hin zu einer Mischung von Textsorten, Epochen und Themenfeldern wie z. B. in Bayern oder Baden-Württemberg.4 Insbesondere BadenWürttemberg setzt dabei auf eine »Erschließung von Werken durch Themenfelder« wie auch umgekehrt auf eine »Erschließung von Themenfeldern durch Werke« (Brück 2010, S. 26 u. 30). Den Themenfeldern selbst, die »in aller Regel einem anthropologischen Klassifikationsschema (z. B. ›Wirklichkeit und Phantasie‹)«5 (ebd., S. 26) folgen, kommt dabei eine »Wegweiserfunktion« zu, indem sie »Schwerpunkte der Texterschließung, der Textinterpretation und des Werkvergleichs im Hinblick auf eine Gruppe von literarischen Werken« (ebd.) setzen. kontextualisiert. Zu Textvergleichen siehe weiterführend z. B. auch Spinner/Köster 2002, S. 5 – 6. 3 Vgl. http://db2.nibis.de/1db/cuvo/datei/kc_gym_deutsch_nib.pdf, eingesehen am 24. 02. 2014. 4 Vgl. für Bayern http://www.isb-gym8-lehrplan.de/contentserv/3.1.neu/g8.de/data/ media/26211/Lekt%FCrevorschl%E4ge%20Jg%2010.pdf ?PHPSESSID=900741089831711f6d2c7bc947cdb7f7 und für Baden-Württemberg http:// www.bildung-staerkt-menschen.de/service/downloads/Sonstiges/literatur/Lektuereverzeichnis_Deutsch_Gymnasium.pdf (2005) wie auch die kommentierten Lektüreempfehlungen für deutschsprachige und nicht deutschsprachige Literatur in Übersetzung unter http://www.bildung-staerkt-menschen.de/service/downloads/Sonstiges/literatur/ Kommentierte%20Listen.pdf (2009), zuletzt eingesehen am 24. 02. 2014. 5 Weitere in diesem Zusammenhang genannte Themenfelder sind z. B. ›Identität und Rolle‹, ›Heimat und Fremde‹ oder ›Schuld und Sühne: Grenzfälle menschlichen Verhaltens‹. Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2014, Jg. 61, ISSN 0418-9426 2014 V&R unipress GmbH, Gçttingen 227 Anette Sosna Dieser Systematisierung voraus gehen Ergebnisse des Marbacher Symposiums ›Literatur in der Schule‹, das bereits 2005 im Anschluss an die Bildungsplanreform von 2004 Autoren- und Lektüreempfehlungen für Baden-Württemberg auf der Basis einer Themenfeldorientierung zusammengestellt hat, um Schülerinnen und Schüler mit »Grundmustern menschlicher Erfahrung« vertraut zu machen und sie an »verschiedene[] Weltsichten« (Literatur in der Schule 2005, S. 3) heranzuführen. Themenfelder eröffnen dabei, so die Verfasser, »Möglichkeiten für eine kontextuelle Behandlung der im Lektüreverzeichnis aufgeführten Werke unter vorgegebenen Gesichtspunkten« (ebd., S. 19) wie auch »Einblicke in Gestaltungsmöglichkeiten menschlicher Erfahrungen und Lebensbereiche« (ebd., S. 20) unter Berücksichtigung intertextueller Bezüge. Der Bildungsplan BadenWürttemberg selbst differenziert unter dem Stichwort der »kulturellen Kompetenz« dahingehend, dass Schülerinnen und Schüler »Einsicht in die historische und kulturelle Bedingtheit von sprachlichen Äußerungen und Wertvorstellungen« gewinnen, um »Verständnis für fremde Sprach- und Denkmuster« (Bildungsplan Baden-Württemberg 2004, S. 76) auszubilden. Die KMK-Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife wiederum fassen den komplexen Zusammenhang von ›Fremdheits‹-Erfahrungen in synchronen und diachronen Kontextualisierungen in die folgende Formulierung: »Das Fach Deutsch trägt wesentlich dazu bei, die Fähigkeit zur Teilhabe am kulturellen und gesellschaftlichen Leben zu entwickeln und zu festigen, und vermittelt interkulturelle Kompetenz, die sich im verständigen und souveränen Umgang mit dem kulturell Anderen zeigt. Im Deutschunterricht erfahren die Schülerinnen und Schüler Alterität in vielfältiger Gestalt: in Texten und Sprachformen, die durch historische Distanz bestimmt sind, in Texten der Gegenwart, die offen oder verschlüsselt unterschiedliche kulturelle Perspektiven thematisieren oder durch Verfremdung Identifikation verhindern« (KMK-Bildungsstandards 2012, S. 10). II. Alterität als erkenntnisleitendes Konzept in der Literaturdidaktik Die prominente Verankerung diachroner Textvergleiche – ob mit oder ohne Verknüpfung zu Themenfeldern – steht in deutlichem Kontrast zur nachgeordneten Rolle, die das Konzept der Alterität in diesem Zusammenhang in den Bildungsplänen der Länder und in Lehrwerken spielt. In vielen Plänen der Länder erscheint der Begriff ›Alterität‹ nicht; auch im gymnasialen Deutschunterricht verbreitet eingesetzte Oberstufenlehrwerke wie ›Texte, Themen und Strukturen‹ (2009) oder ›P.A.U.L. D. Oberstufe‹ (2013) bieten weder das Stichwort ›Alterität‹ noch entsprechende inhaltliche Impulse oder gar, im Verbund mit den Lehrwerken vorausgehender Jahrgangsstufen, einen expliziten und ausgearbeiteten spiralcurricularen Kompetenzaufbau über die Sekundarstufen I und II hinweg an. 228 Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2014, Jg. 61, ISSN 0418-9426 2014 V&R unipress GmbH, Gçttingen Erecs Doppelweg und Zündels Abgang Für die differenzierte Durchführung von Textvergleichen – seien diese diachron oder synchron, intrakulturell oder interkulturell angelegt – bedarf es jedoch einer fundierten Reflexion von ›Alterität‹ im Deutschunterricht, soll es für die Schülerinnen und Schüler nicht bei einer metakognitiv unbedarften und versatzstückhaften Suche nach ›Gemeinsamkeiten‹ und ›Unterschieden‹ in und von Texten bleiben. Außer Acht gelassen werden soll dabei nicht, dass der Alteritätsbegriff zwar »[o]hne Zweifel […] inzwischen zum programmatischen Kernbestand der Sprache von Geistes- und Kulturwissenschaften« (Becker/Mohr 2012, S. 4) gehört, nach einer langen und lebhaften wissenschaftlichen Debatte – auch und gerade in der germanistischen Mediävistik – nach wie vor jedoch umstritten und uneinheitlich konturiert ist.6 Neuere wissenschaftliche Publikationen kritisieren dabei vor allem eine binäre und dadurch verkürzende Rede von Alterität in Doppelformeln wie »Alterität und Modernität«, »Alterität und Kontinuität« oder »Alterität und Aktualität« (ebd., S. 38), die den inhaltlichen wie auch methodologischen Einsatz von Alterität als erkenntnisleitendem Konzept erschweren. Stattdessen akzentuieren z. B. Becker/Mohr 2012 die relationalen Implikationen wie auch die Mehrdimensionalität der Alteritätskategorie, die den Blickwinkel auf das Betrachtete nicht dichotomisiert, sondern differenziert: »An Plausibilität verloren haben […] historiographische Großdarstellungen, die Zeitabschnitte als epochale Einheiten einander gegenüberstellen und so lediglich die scheinbare Alternative zwischen einem dominant ›alteritären‹ bzw. ›modernen‹ Mittelalter anbieten können. Stattdessen richtet sich die Aufmerksamkeit der deskriptiven Tätigkeit stärker auf die vielfältigen Formen der Durchmischung, der Überlagerung und des Nebeneinanders von Altem und Neuem, auf das Vertraute im Fremden und das Fremde im Vertrauten« (ebd., S. 39). An Bedeutung gewinnt dabei insbesondere der Einbezug des Beobachters in den Beobachtungs- und Beschreibungsprozess. Er ist nicht länger »unbeteiligte[r] Dritte[r]« (ebd., S. 42), der Alterität zu- und ausweist, sondern »selbst Teil seiner Zuschreibung, er spricht nicht nur aus der Beobachter-, sondern zugleich aus der Mitspielerperspektive« (ebd.). Indem eine so verstandene Alterität weder auf einer reinen Zuschreibungsebene noch auf einer reinen Eigenschaftsebene konturiert wird, »hält [sie] das Zusammenspiel von Beobachter- und Teilnehmerperspektive in einer spannungsvollen Schwebe« (ebd., S. 45) und differenziert den Erkenntnisprozess dahingehend, dass »Exotisierungen wie unkritische Aktualisierungen mittelalterlicher Literatur gleichermaßen« (ebd.) vermieden werden.7 6 Vgl. dazu den Forschungsbericht in Becker/Mohr 2012, S. 11 ff.; zur Differenzierung von Fremdheit, Andersheit und Alterität siehe ebd., S. 3. 7 Vgl. dazu auch Baisch 2013, S. 204 f. Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2014, Jg. 61, ISSN 0418-9426 2014 V&R unipress GmbH, Gçttingen 229 Anette Sosna Um diesen Schwebezustand näher auszuloten, schlägt Anja Becker in Anlehnung an Bernhard Waldenfels das Konzept des responsiven Interpretierens vor und exploriert dieses an Wirnts von Grafenberg ›Wigalois‹-Prolog (vgl. Becker 2012). Responsives Interpretieren folgt keiner gängigen Vorgehensweise bei Interpretationsprozessen, sondern stellt vielmehr Reaktionen des Lesers auf Texte in den Vordergrund, wie sie sich z. B. in Beunruhigung, Verstörung, Verwunderung oder Verängstigung äußern können (vgl. ebd., S. 90). »Ein solches ›responsives Interpretieren‹«, so Becker, »beginnt nicht bei bestimmten Fragen, die man an einen Text heranträgt, nicht bei den Handlungen oder Intentionen des Interpreten. Es soll vielmehr eine Blickwende weg von der Frage und hin zur Antwort vorgenommen werden: Worauf antwortet man eigentlich, wenn man einen Text interpretiert?« (ebd., S. 73 f.). Vermieden werden sollen damit die auch in der einschlägigen Forschungsliteratur zu beobachtenden »Überreaktionen«, die Becker einerseits in einer Überbetonung der Alterität mittelalterlicher Literatur sieht, andererseits in ihrer Kategorisierung zur literarischen »Vorform«, durch die »Fremdheit […] eingehegt« (ebd., S. 80 f.) werde. Da Fremdheit sich, so Becker mit Waldenfels, jedoch nicht einfach ›beantworten‹ oder ›lösen‹ lässt wie eine Frage oder ein Problem, zielt responsives Interpretieren darauf ab, »[…] der unmittelbaren Lektüreerfahrung wieder mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Statt die affektive Seite des Interpretierens ›Verwissenschaftlichungsbestrebungen‹ zu opfern, sollte man eine Offenheit entwickeln, in die hinein ein literarischer Text uns ansprechen kann. Gemeint ist eine Art der Achtsamkeit, die mit Achtung vor dem Anspruch des Fremden einhergeht. Gemeint ist zugleich eine Aufmerksamkeit dafür, worauf wir eigentlich antworten, wenn wir einer Textstelle Sinn zulegen« (Becker 2012, S. 91). Auch wenn die Herangehensweise, die Becker in ihrem Beitrag entwirft, auf ihre altersgerechte Umsetzbarkeit und Wirksamkeit im Unterricht geprüft werden muss, so lenkt sie doch den Blick auf die Möglichkeiten des Umgangs mit »kulturell-historisch alteritäre[r] Literatur« (ebd., S. 83) auf einer gängigen Interpretationstheorien oder -methoden vorgelagerten Ebene, die ansonsten weniger ausgeleuchtete Teilbereiche von Textverstehensprozessen in besonderer Weise transparent machen kann. Irritationserfahrungen als Ausgangspunkt von Textverstehensprozessen oder die Nutzung präreflexiver Textzugänge sind kein Novum in der fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Diskussion.8 Auch werden Alteritätserfah- 8 Siehe z. B. Frentz 2006, S. 277. In Anlehnung an Kaspar H. Spinner nimmt auch bei Frentz Interpretieren seinen Ausgang dabei, dass das Verstehen eines Textes als problematisch erlebt wird. Zur Annäherung an Texte vgl. z. B. Phasenmodelle wie das Jürgen Krefts, in dem eine erste vorreflexive Lesephase unter dem Begriff der »subjektiven Borniertheit« (Kämper-van den Boogaart 2003, S. 283) avancierte. Siehe auch Kreft 1977. Kreft unterscheidet sich vom hier skizzierten Vorgehen jedoch in grundlegenden 230 Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2014, Jg. 61, ISSN 0418-9426 2014 V&R unipress GmbH, Gçttingen Erecs Doppelweg und Zündels Abgang rungen in »okkasionell[er]« (Becker 2012, S. 85) sowie graduell und phänomenologisch unterschiedlicher Art und Weise letztlich im Umgang mit allen Texten wirksam; ein Text der Gegenwartsliteratur kann Schülerinnen und Schülern genauso ›fremd‹ sein wie ein Text aus größerer historischer oder kultureller Distanz. Doch mittelalterliche Texte erweisen sich in diesem Zusammenhang als besonders fruchtbar, da sie vermeintliches Erkennen oder Verstehen aufdecken. Am Anfang der Begegnung mit einem mittelalterlichen Text im Unterricht steht demzufolge die Frage, worauf die Schülerinnen und Schüler beim Lesen des Textes antworten, warum und wie dies erfolgt. Gerade in Anbetracht der Tatsache, dass sich Schülerinnen und Schüler oftmals in einem Netz unterschiedlichster medialer Rezeptionszusammenhänge eines in der Regel bereits ›vermittelten Mittelalters‹ konsumierend bewegen (z. B. Rollenspiele, historische Kinder- und Jugendliteratur u. a.), kann ein Reflektieren affektiver oder assoziativer Reaktionen auf einen mittelalterlichen Text Aneignungs- und Vereinnahmungsbewegungen (z. B. in Form von Stereotypen) im Zusammenhang mit Fremdheitserleben im Lektürevorgang und die Vordergründigkeit eines ›(Wieder-)Erkennens‹ von vermeintlich Bekanntem sichtbar machen. Ermöglicht wird damit nicht nur, »das Vertraute im Fremden und das Fremde im Vertrauten« (Becker/Mohr 2012, S. 39) zu erkennen und zu erleben, sondern auch, Verstehensprozesse an sich und ein Denken in vereinfachten, binären Strukturen grundlegend zu reflektieren und zu hinterfragen.9 Die vorangegangenen Überlegungen verdeutlichen das bislang nur in Ansätzen genutzte Potenzial des Alteritätsbegriffs im Deutschunterricht nicht nur im Bereich von Textvergleichen und Themenfelddidaktik. Um es auszuschöpfen, bedarf es einer jeweils altersgerechten Aufbereitung der Begriffsdimensionen und insbesondere der damit verbundenen Problemstellungen, deren Einbindung in Lehrwerke und Kompetenzmodelle sowie der Ausarbeitung von Anwendungsmöglichkeiten im Zusammenhang von Textverstehensprozessen. III. Krisenerfahrungen als Kulturmuster? Der ›alteritäre Schwebezustand‹, die damit verbundene »offene Suchbewegung« (Mohr 2013, S. 10) und die besondere Relevanz des Beobachterstandpunktes sind von Interesse auch in der Rezeption archetypischer literarischer Situationen, zu denen Krisensituationen zählen – denn »[i]mmer wieder neu erzählen Autoren Bereichen wie z. B. der Annahme eines fassbaren Textproblems (vgl. Kämper-van den Boogaart 2003, S. 284). 9 Nicht nur in seiner Ausrichtung auf reflektierte Fremdheitserfahrung, sondern auch in seiner Distanzierung von einem vermeintlich klar zu fassenden Textproblem unterscheidet sich das bei Becker skizzierte Vorgehen damit grundlegend von Phasenmodellen wie z. B. dem Jürgen Krefts (s. o.). Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2014, Jg. 61, ISSN 0418-9426 2014 V&R unipress GmbH, Gçttingen 231 Anette Sosna vom Einbruch des Unerwarteten in das Alltägliche, vom Zusammenbruch gewohnter Lebenswelten und vom Scheitern großer Erwartungen« (Becker 2012, S. 91). Ansgar Nünning erkennt in diesen unter dem Begriff der ›Krise‹ subsumierbaren literarischen Stoffen ein transdisziplinär »ubiquitäre[s] Phänomen« (Nünning 2013, S. 118) und ein »Kulturthema ersten Ranges« (ebd.), das sich jedoch insbesondere literatur- und kulturwissenschaftlich (laut Nünning vor allem narratologisch und metaphorologisch) noch weitgehend unerschlossen zeigt. Als gemeinsames Bedeutungssubstrat des Krisenbegriffs in unterschiedlichen Disziplinen10 kann ein als schwierig oder problematisch erlebtes »Veränderungsgeschehen« (Straub 2013, S. 33) angenommen werden, das sich in oder nach einem Ereignis, einer Zeitspanne oder in einer als bedrohlich oder destabilisierend erlebten Zuspitzung einer Entwicklung akut verdichtet. Deutlich wird darin »der temporale Sinn des Ausdrucks […], bezeichnet er doch eine strukturierte Situation, die eine zeitliche Differenz markiert, mithin ein Vorher von einem Nachher scheidet und die Aufmerksamkeit auf die entscheidende Funktion der intermediären kritischen Lage richtet« (ebd., S. 30). Meyer u. a. setzen für ihre transdisziplinäre Annäherung an den Krisenbegriff die Prämisse, »dass dem ›Verlauf der Krise‹ in der Darstellung stets eine (mehr oder minder feste) ›Plotstruktur‹ unterstellt wird, die den Krisenverlauf entweder im Niedergang kulminieren lässt oder zur Überwindung der Krise führt und in jedem Fall mit einem bestimmten Set an Bewertungen kombiniert ist« (Meyer u. a. 2013, S. 13). Dezidiert befürworten die Autoren den Krisenbegriff als geeigneten Terminus auch »für die begriffliche Fassung von Phänomenen vor dieser Epochenschwelle [i. e. vor 1750, Anm. d. Verf.] und außerhalb der westlich geprägten Welt« (ebd., S. 14), da zwar »heutige Formen der Krisenerzählung« (ebd.) ein spezifisch modernes Phänomen seien, nicht aber das Phänomen der Krise an sich. Die moderne Psychologie differenziert zwischen verschiedenen Arten von Krisen, wie zum Beispiel Interaktionskrisen, kognitiven Krisen oder existenziellen Krisen, die häufig mit intrapersonalen, interpersonalen oder sozialen Konflikten verbunden sind. Straub unterscheidet akzidentelle Krisen, die z. B. durch Unfälle oder Krankheiten ausgelöst werden können, und normative Krisen, wie sie für bestimmte biografische Entwicklungsphasen, beispielsweise die Adoleszenz, typisch sind (vgl. Straub 2013, S. 40). Emotionale Begleiterscheinungen von Krisen wie (Verlust-)Angst, Furcht, Niedergeschlagenheit oder Resignation deuten darauf hin, dass sie einhergehen mit »Beeinträchtigungen und Gefährdungen […] subjektiven Wohlbefindens« (ebd., S. 36) und Einschränkungen des »Erlebnis-, Orientierungs- und Handlungspotenzials« (ebd.), wobei in der krisenhaften Umbruchsituation gleichzeitig ein erhöhter Handlungs- oder Entscheidungsdruck wahrgenommen werden kann. Infrage gestellt werden das 10 Straub 2013, S. 33, merkt dazu an, dass trotz des theoretischen Interesses am Krisenbegriff eine allgemein anerkannte Definition desselben noch immer aussteht. 232 Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2014, Jg. 61, ISSN 0418-9426 2014 V&R unipress GmbH, Gçttingen Erecs Doppelweg und Zündels Abgang Selbstverständnis und die Identität einer Person im Rahmen eines interdependenten Wirkungszusammenhangs: »Der psychologische Begriff der Krise ist relational strukturiert, mit anderen Worten: Er ist ein mindestens dreistelliger Prädikator. Seine pragma-semantisch korrekte Verwendung setzt demnach unabdingbar voraus, dass jeweils angegeben werden kann, wer das Subjekt ist, welches etwas, mithin […] ein Objekt (eine Lage, einen Zustand nach einem Ereignis oder einer kumulativ wirksamen Serie von Ereignissen, ein bestimmtes Geschehen selbst), als Krise erlebt, und zwar in bestimmter Hinsicht« (ebd., S. 35). Grundlegend wird dabei davon ausgegangen, dass jeder Mensch im Laufe seines Lebens Krisen durchlebt, dies jedoch unter jeweils unterschiedlichen kulturellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erfolgt (vgl. ebd., S. 42) und damit individuellen, sozialen, historischen, kulturellen oder auch narrativen Einflussfaktoren unterliegt, die die jeweilige Erscheinungs- oder Darstellungsform von Krisen prägen.11 Als zentrale Merkmale von Krisen benennt Nünning folglich nicht nur deren Diskursivität und Konstruktivität, sondern auch ihre »kulturelle und historische Variabilität« (Nünning 2013, S. 125): »Die einer Epoche oder Kultur zur Verfügung stehenden Krisen-Plots sind ihrerseits Teil der jeweiligen Wirklichkeitsmodelle bzw. Kulturprogramme: Krisenerzählungen lassen sich somit konzeptualisieren als eine bestimmte Form von narrativen Ordnungs- und Sinnstiftungsmustern bzw. als ›Kulturbeschreibungen‹, die ihrerseits ›immer auf Beschreibungskulturen‹ verweisen« (ebd., S. 126).12 Bereits die Auswahl der Geschehensmomente, deren narrative Konfiguration und emplotment, so Nünning in Anlehnung an Hayden White, sind dabei bedeutungstragend und lassen einen Rückgriff auf »kulturell verfügbare (Krisen-)Plots erkennen« (ebd., S. 128). Narrativierte Krisenerfahrungen sind damit zwar – in Teilen dem Konzept von Fulda/Kerschbaumer 2011, S. 146, folgend – ›Kulturmuster‹ im weitesten Sinn, ist ihnen doch z. B. eine diagnostische Funktion hinsichtlich der in einer bestimmten Kultur zu einem bestimmten Zeitpunkt verhandelten Bedingungsfelder und Äußerungsformen von Krisen unterschiedlichster Provenienz zu eigen. Unter dem Leitgedanken des oben skizzierten Alteritätsverständnisses und der genannten Dimensionen des Krisenbegriffs erfolgt die Annäherung an Krisenbeschreibungen in der Literatur damit jedoch weniger in der Absicht, Muster,13 Denkfiguren, Universalien oder Konstanten zu erschließen, sondern eher mit 11 Fiktionale Krisendarstellungen unterliegen damit ähnlichen Einflussfaktoren wie Darstellungen fiktionaler Identität. Vgl. dazu Sosna 2003, S. 16 ff. 12 Nünning zitiert an dieser Stelle Schmidt 2003. 13 Fulda/Kerschbaumer 2011, S. 147, spezifizieren jedoch, dass ihr Verständnis des Kulturmuster-Begriffs keine »totalisierenden Prägungen« bezeichne, sondern dieser sich auf »veränderliche Einheiten mittlerer Größe« beziehe, die nebeneinander oder auch im Widerspruch zueinander stehen können. Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2014, Jg. 61, ISSN 0418-9426 2014 V&R unipress GmbH, Gçttingen 233 Anette Sosna dem Ziel, die der jeweiligen fiktionalisierten Krisendarstellung zu Grunde liegende Denkbewegung unter Berücksichtigung ihrer Literarizität und individuellen Dynamik zu skizzieren. IV. Hartmanns von Aue ›Erec‹ (um 1180) und Markus Werners ›Zündels Abgang‹ (1984): Eine Versuchsanordnung Eine solche Skizze, die in vielerlei Hinsicht weiter ausgearbeitet und vertieft werden müsste, wird im Rahmen dieses Beitrags anhand zweier Romane angedeutet, deren Krisendarstellungen eine ganze Reihe an Fremdheits- und Irritationserfahrungen für Rezipienten, hier Schülerinnen und Schüler, bereit halten. Mit Erec und Konrad Zündel treffen sie auf zwei Protagonisten, die in ihrer jeweiligen Charakteristik markant akzentuierte Krisen-Plots durchlaufen: Bei Hartmann ist es der Peitschenhieb eines Zwerges, der den jungen Artusritter vor den Augen seiner Königin diskreditiert und damit eine Kette wechselvoller Ereignisse bis hin zur vollständigen Rehabilitierung in Gang setzt; der 33-jährige Schweizer Geschichtslehrer Konrad Zündel hingegen ›verschwindet‹ nach einer (vordergründig) durch eine Ehekrise ausgelösten psychischen wie geografischen Irrfahrt, die ihren Höhepunkt darin findet, dass sich Zündel bewaffnet in einer Waldhütte verschanzt. Beide Texte bieten zum einen Möglichkeiten der Reflexion von Alteritätserfahrungen, zum anderen – gerade in einer vergleichenden Annäherung – fruchtbare Ansatzpunkte für einen diachronen Vergleich von fiktionalisierten Krisendarstellungen. Alterität als ›Suchbewegung‹ appliziert nicht ›mittelalterliche‹ und ›moderne‹ Zuschreibungen auf die Texte, sondern nimmt ihren Ausgangspunkt bei Irritations- und Fremdheitserfahrungen im Umgang mit beiden Texten. Wird eine präreflexive Lesephase (z. B. in Form eines Lesetagebuchs) einer historischen Kontextualisierung des mittelalterlichen Textes vorgeschaltet, dann erweisen sich beispielsweise Erecs verligen und seine Reaktion darauf häufig als ein solcher Kulminationspunkt von Irritations- und Fremdheitserfahrungen auf Seiten der Schülerinnen und Schüler.14 Sie ›antworten‹ auf Erecs unvermittelten Aufbruch (v. 3050 ff.) und das Schweigegebot, das er Enite auferlegt (v. 3094 ff.), u. a. mit Ablehnung und Unverständnis. Da Erec zu diesem Zeitpunkt der Handlung weder die Ereignisse noch sein Verhalten reflektiert, bleibt die Motivation für sein Verhalten eine Leerstelle im Text. Diese beispielsweise mit handlungs- und produktionsorientierten Verfahren zu füllen (z. B. über einen inneren Monolog) geschähe nun aber gerade nicht im Dienst einer intersubjektiven Einigung zur 14 Die hier geschilderten Eindrücke beziehen sich in Teilen auf Erfahrungen mit dem Einsatz des ›Erec‹-Romans im Deutschunterricht einer 11. Klasse (Gymnasium) im Rahmen des Proseminars ›Vermittlung mittelalterlicher Texte: Der ›Erec‹-Roman Hartmanns von Aue‹ im Wintersemester 2008/2009 an der Universität Tübingen. 234 Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2014, Jg. 61, ISSN 0418-9426 2014 V&R unipress GmbH, Gçttingen Erecs Doppelweg und Zündels Abgang ›Erklärung‹ dieses Verhaltens, sondern zur Reflexion jener (oftmals auch wertenden) Zuschreibungen, mit denen die Textstelle von modernen Rezipienten unterlegt wird (z. B. Dominanz, Willkür, Trotz des Protagonisten etc.). Alterität an dieser Textstelle exemplarisch transparent zu machen hieße, eben jene Zuschreibungen und Vereinnahmungen durch eine Kontextualisierung mit weiteren Textstellen oder textexternen Informationen dispersiv zu brechen, z. B. indem die Textstelle in Bezug gesetzt wird zu Erecs nachträglicher Erklärung seines Verhaltens in v. 6778 ff. oder zu den entsprechenden, komplementär angelegten Aufbruchs- und Versöhnungsszenen aus Chrtiens des Troyes Roman ›Erec et Enide‹. Auf diese Weise vereindeutigende Verstehensentwürfe in Frage zu stellen schafft Voraussetzungen dafür, die Frage nach den Grenzen und Möglichkeiten der Verstehbarkeit von Erecs Krise konsequent in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken und Alterität in ihrer Prozesshaftigkeit wie auch Perspektivgebundenheit für die Schülerinnen und Schüler erfahrbar zu machen. Ähnliches gilt für Konrad Zündels Desintegrationsprozess: Da letztlich nicht klärbar ist, ob der ›Auslöser‹ für Zündels akute Krise – die dieser zum Teil vorgelagerte Ehekrise – nicht wiederum selbst nur Ausdruck und Folge einer krisenhaften Grundverfassung des Protagonisten ist, entzieht sich auch dieses Geschehen vereindeutigenden Zuschreibungen. Mehr noch als das aber erlaubt ein genauer Blick auf die strukturelle Konfiguration der Krisenhandlung diagnostische Einsichten in die komplexen Wirkgefüge, die über den Fiktionalisierungsprozess Niederschlag in den Texten finden.15 In Hartmanns ›Erec‹ wird ein Übergriff aus der nicht-arthurischen Gegenwelt zum handlungsauslösenden Moment, zum akzidentellen Impuls, der das Heraustreten des Protagonisten aus seinem bisherigen Interaktionsrahmen provoziert. Ausgangspunkt für den Krisenplot ist damit eine soziale Dissonanzerfahrung, die sich vor dem Hintergrund des ›Normenhorizonts Artushof‹ in der Erfahrung von Scham und Schande manifestiert. Was darauf folgt, ist eine gestufte Kompensationsbewegung in Form eines Doppelwegs, der unterschiedliche 15 Vgl. dazu Sosna 2003, S. 33, hinsichtlich identitätstheoretischer Überlegungen, die jedoch in gleicher Weise auf Krisendarstellungen anwendbar sind: »Als wesentliches Moment in der Konfiguration von Identität erlaubt die Untersuchung der narrativen Organisation eines Textes bzw. einer Figurenkonzeption nicht nur Rückschlüsse auf textimmanente, fiktionalisierte Vorstellungen von Identität, sondern schafft überdies einen Zugang zur zeitgenössischen, vom Erzähler in der narrativen Organisation reflektierten Identitätsproblematik. […] Damit wird eine Annäherung an Identitätsproblematik auf zwei Ebenen möglich: Die Thematisierung von Identität im Text, also die Untersuchung fiktionaler Identität, erlaubt zunächst eine Annäherung auf literaturtheoretischer Ebene. Betrachtet man Literatur zudem als Ort der Sedimentierung kultureller Gegebenheiten, die Ricoeur in den Begriffen des Horizonts und der Referenz andeutet, wird überdies der Rückgriff auf dahinterstehende Identitätsvorstellungen möglich.« Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2014, Jg. 61, ISSN 0418-9426 2014 V&R unipress GmbH, Gçttingen 235 Anette Sosna Identitätsfaktoren und Interaktionsmodi nicht zuletzt über die ventiure als zentrale Ereigniskategorie für die Organisation und Reorganisation von Identität verhandelt: »Entscheidend ist dabei die Ordnungsleistung, die ein solches Verfahren darstellt. Sie bildet einerseits auf der Handlungsebene den thematischen Schwerpunkt, indem die Entwicklung eines Protagonisten im Spannungsfeld von Stabilität und Labilität, Ordnung und Unordnung, Handlungsmächtigkeit und Hilflosigkeit dargestellt wird. […] Die Ordnungsleistung auf der Handlungsebene findet ihre Entsprechung auf der Erzählebene: Dort wird die Entwicklung des Protagonisten nicht nur in einen chronologischen Zusammenhang gestellt, sondern auch durch strukturelle Oppositionen und Korrespondenzen innerhalb der jeweiligen Erzählung und zwischen Erec und Iwein narrativ organisiert« (Sosna 2003, S. 157). Dass Erec beide Krisen, sowohl die akzidentelle zu Beginn des Romans als auch die durch das verligen ausgelöste Interaktionskrise, bewältigt, findet seinen strukturellen Ausdruck in der konzentrischen Lösungsbewegung des Krisenplots, die am Ende des Doppelwegs zu einem stabilen Netz aus Identitätsfaktoren, wie z. B. einem reorganisierten Interaktionsverhalten, sozialer Anerkennung etc., gerinnt. Für Konrad Zündel hingegen bildet soziale Dissonanz den Grundton seines Lebensgefühls. Seine Existenz auf dem »Dreckgletscher Welt« (S. 21) ist nurmehr begleitet von einer »fatal kommentierenden« (S. 13) Lebenshaltung, die die Widrigkeiten der Welt wie durch ein Vergrößerungsglas überproportioniert wahrnimmt und entsprechend irreversibel unter ihnen leidet: »Jedes Sturmtief im so genannten Privat- oder Intimleben erhöht meine Empfindlichkeit für das Trübe schlechthin. Die Weltluft ist zwar objektiv unrein, aber nur als Privatversehrter wittere ich den Gestank. Und so kommt es, daß ich, statt über das Besondere, das heißt meine Ehekrise, zu meditieren, mich ablenken lasse durch die umfänglichere Schadhaftigkeit des Allgemeinen« (S. 26). Das tiefe Misstrauen dem Leben und den Mitmenschen gegenüber – an den vom Nachbarn erfundenen Liebhaber seiner Frau glaubt er unhinterfragt – verunmöglicht jede Form von Identitätsarbeit, um dem gesellschaftlichen »Identitätsfimmel« und »Ich-Schwindel« (S. 28) nicht auf den Leim zu gehen. Unaufhaltsam reibt sich Zündel an einer Welt auf, in der jeder Gedanke an produktive Krisenbewältigung obsolet ist. Seine Reisen und Begegnungen bleiben nicht nur unproduktiv, sondern verschärfen vielmehr die psychische Bewegung der Dezentrierung und Diffusion: Zündel wird beherrscht von einem »Gefühl endgültig besiegelter Unzugehörigkeit« (S. 45) in einer Welt, die ihn zum »erratischen Block« (S. 46) gemacht hat. Sein »Abgang« scheint die einzig folgerichtige Konsequenz daraus zu sein, entzieht er sich doch in seiner Rätselhaftigkeit und Offenheit jeder deutenden Integration in den Rahmen eines strukturierten Krisen-Plots und verweigert damit jede Kohärenz. Hartmanns ›Erec‹-Roman und Markus Werners ›Zündels Abgang‹ könnten im Rahmen einer Vergleichsdiskussion im Zusammenhang mit weiteren Konfigurationen von Krisendarstellungen in fiktionalen Texten betrachtet, sowohl intra- 236 Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2014, Jg. 61, ISSN 0418-9426 2014 V&R unipress GmbH, Gçttingen Erecs Doppelweg und Zündels Abgang wie auch extratextuell auf ihr kulturelles Wirkgefüge hin untersucht und in didaktische Zusammenhänge eingebettet werden. Krisen-Plots können unterschiedliche Modellierungen von Krisengeschehen zur gleichen Zeit oder ähnliche Modellierungen zu unterschiedlichen Zeiten anbieten. Immer aber ermöglichen sie nicht nur Einsicht in die zu einem bestimmten Zeitpunkt als relevant erachteten Krisenfaktoren und deren narratives Arrangement, sondern auch die Annäherung an ein reflexives Verständnis dieser komplexen Faktoren, das sich selbst auf Zuschreibungsprozesse hin überprüft. Unterrichtsimpulse, die dies aufgreifen und fortführen, verfolgen Fragestellungen wie »Wo und wie ist ein Text/ein Textelement mir fremd?«, »Welche Zuschreibungen trage ich an diese Textstellen heran und woher stammen sie?«, »Was sagt das über mich als Rezipienten aus?« oder auch – in Bezug auf Krisendarstellungen – »Welche Komponenten weist ein bestimmtes Krisengeschehen auf ?«, »Welche Rückschlüsse lässt dies zu auf den kulturellen Kontext eines Textes?« und nicht zuletzt »Inwieweit prägt der (seinerseits kulturell geprägte) Standpunkt des Rezipienten die Wahrnehmung des dargestellten Krisengeschehens?«. Gerade weil sich diese Fragen häufig nicht eindeutig beantworten lassen, tragen sie dazu bei, den »historisch variablen Bedingungen der Selbstdeutung« (Münkler 2002, S. 323) auf die Spur zu kommen. Primärliteratur Hartmann von Aue: Erec. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Volker Mertens. Stuttgart 2008. Werner, Markus: Zündels Abgang. Roman. 18. Auflage 2007. Salzburg/Wien 1984. Sekundärliteratur Baisch, Martin: Alterität und Selbstfremdheit. Zur Kritik eines zentralen Interpretationsparadigmas in der germanistischen Mediävistik. In: Die Aktualität der Vormoderne. Epochenentwürfe zwischen Alterität und Kontinuität. Hg. von Klaus Ridder und Steffen Patzold. Berlin 2013, S. 185 –206. Becker, Anja: Das Problem der Interpretation alteritärer Texte. Responsivität als Antwort? In: Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren. Hg. von Anja Becker und Jan Mohr. Berlin 2012, S. 73– 99. Dies./Mohr, Jan: Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren. Berlin 2012. Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 18.10.2012). Online unter: http://www.kmk.org/fileadmin/ veroeffentlichungen_beschluesse/2012/2012_10_18-Bildungsstandards-Deutsch-Abi.pdf, eingesehen am: 24.02.2014. Brück, Martin: Arbeit mit Themenfeldern im Deutschunterricht. Neue Aufgabenform im Abitur und kommentierte Empfehlungsliste nicht deutschsprachiger Literatur. Stuttgart 2010. Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2014, Jg. 61, ISSN 0418-9426 2014 V&R unipress GmbH, Gçttingen 237 Anette Sosna Diekhans, Johannes/Fuchs, Michael: P.A.U.L. D. Oberstufe. Erarbeitet von Markus Apel [u.a.]. Braunschweig [u.a.] 2013. Fingerhut, Margret/Schurf, Bernd: Texte, Themen und Strukturen. Deutschbuch für die Oberstufe. Erarbeitet von Karlheinz Fingerhut [u.a.]. Berlin 2009. Frentz, Hartmut: Interpretieren von Texten. In: Lexikon Deutschdidaktik. Band 1: A–L. Hg. von Heinz-Jürgen Kliewer und Inge Pohl. Baltmannsweiler 2006, S. 277. Fulda, Daniel/Kerschbaumer, Sandra: Aufklärungsforschung zwischen Leitideen und Praktiken: Aufgaben und Anschlussmöglichkeiten der Kulturmusterheuristik. In: Das achtzehnte Jahrhundert 35 (2011), S. 145– 153. Kämper-van den Boogaart, Michael: Unterrichtsplanung. In: Deutsch Didaktik. 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