SCHRIFTEN RETTEN - Kulturstiftung der Länder

Das Magazin der
Kulturstiftung der Länder
4 2015
SCHRIFTEN RETTEN
ERHALTUNG DES SCHRIFTLICHEN KULTURGUTS
PHILIPP FRANCK IN BRANDENBURG
MECKLENBURG- VORPOMMERN: DIE SAMMLUNGEN HENRY STOLL UND AUGUST SCHMIDT
EDITORIAL
Wettlauf gegen die Zeit
Isabel Pfeiffer-Poensgen,
Generalsekretärin der Kulturstiftung der Länder
Liebe Leserin, lieber Leser,
Prinz Karl war ständiger Begleiter
seiner Halbschwester Königin
Luise von Preußen.
Als Herzog nahm er 1813 an den
Befreiungskriegen teil und wurde
1816 zum kommandierenden General des preußischen Garde- und
Grenadierkorps ernannt.
Ab 1827 Präsident des Preußischen
Staatsrates, dem Beratungsgremium der Krone Preußens.
Karl Herzog zu Mecklenburg-Strelitz
(Hannove r 1 7 85- 1 83 7 )
Marm or
A lb er t Wo lff
(Neustre lit z 1 81 4 - 1 89 2 B e r l i n)
Rückseiti g sign ie r t : A : WO L F F fe c : 1 8 3 9
Höhe: 66 c m
G a l e r i e N e u s e Ku n s t h a n d e l G m b H , A c hi m N e u s e Vo l ke r Wurs ter
Co nt res c a rp e 1 4 , 28 2 0 3 B re m e n, Te l . : 04 2 1 3 2 56 4 2 , w w w. galerieneus e . co m
Papier ist geduldig, sagt der Volksmund. Und in der
Tat: Ein zweihundert Jahre altes Buch können Sie in
der Regel problemlos öffnen. Versuchen Sie das mal
mit einer zwanzig Jahre alten Computer-Diskette…
Aber dennoch: Papier ist nicht von unbegrenzter
Haltbarkeit. Wie alles Organische strebt auch Papier
dem Verfall zu. Und zwar im wahrsten Sinn des Wortes:
Papier zerfällt. Holzschliff und Harzleim sind es, deren
Säurebestandteile das Papier von innen heraus zerfressen. Und gerade die „modernen“ Papiere ab der Mitte
des 19. Jahrhunderts sind hiervon besonders betroffen,
Papiere, deren massenhafte Herstellung Zeugnis ablegt
von Beginn und Aufstieg des bürger­lichen Zeitalters
mit seiner neuen, öffentlichen Kommunikation. Nur
ein Beispiel: Gab es in Berlin um 1800 ganze zwei
Tageszeitungen (die übrigens mitnichten täglich erschienen), konkurrierten einhundert Jahre später schon
Dutzende Zeitungen, Zeitschriften und Magazine um
eine exponentiell gewachsene Leserschaft.
Kein Wunder also, dass Bibliotheken und Archive
als unsere kulturellen Gedächtnisse in besonderem
Maße Bestände aus dieser Zeit bewahren – und damit
vor dem gewaltigen Problem des Papierzerfalls stehen,
vor allem durch den „Säurefraß“. In der Dezemberausgabe von Arsprototo möchten wir Ihnen darum die
Initiative „KEK“ vorstellen, die „Koordinierungsstelle
für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts“, mit
welcher Bund und Länder gemeinsam versuchen
­wollen, die Zeugnisse unserer Geschichte in Biblio­
theken und Archiven koordiniert zu restaurieren und
so vor der Zerstörung zu bewahren. Ein Wettlauf gegen
die Zeit!
ARSPROTOTO 4 2015
Vorstellen möchten wir Ihnen mit diesem Heft auch
eine ganz besondere Partnerin der Kulturstiftung der
Länder seit vielen Jahren: die Ernst von Siemens Kunststiftung. Sicher haben Sie den Namen dieser wichtigen
Institution im Zusammenhang vieler Erwerbungen in
Arsprototo oft gelesen. Nicht von ungefähr: Denn die
Ernst von Siemens Kunststiftung hat zahl­reiche herausragende Ankäufe, aber auch Restaurierungen und
Ausstellungen in Deutschland unterstützt, die ohne
diese Hilfe nicht hätten realisiert werden können.
Wir freuen uns daher sehr, dass wir auch in Sachen
Arsprototo mit der Ernst von Siemens Kunststiftung
zusammenarbeiten werden. Künftig stellt die Stiftung
in jeder Ausgabe eine besondere Erwerbung für ein
Museum vor, in diesem Heft auf den Seiten 46/47 das
Gemälde „Achill empfängt die Gesandten Agamemnons“ von Gottlieb Schick für die Staatsgalerie
Stuttgart.
Mir bleibt, Ihnen und Ihren Familien eine schöne
Weihnachtszeit und einen geruhsamen Jahreswechsel
zu wünschen und Ihnen ab Seite 52 unser SammlerPorträt von Henry Stoll und August Schmidt in Neubrandenburg zu empfehlen, mit welchem wir das Land
Mecklenburg-Vorpommern würdigen möchten. Ein
gutes Jahr für die Kulturstiftung der Länder liegt hinter
uns. Bleiben Sie uns gewogen.
Ihre
Ein Band der „Ersch-Gruber“, der mehr­
bändigen „Allgemeinen Encyclopädie der
Wissenschaften und Künste“ (1818 –1889),
aus dem Jahr 1840; Staatsbibliothek zu
Berlin – Preußischer Kulturbesitz
3
AUTOREN
URSULA HARTWIEG
Im Studium schärfte die Arbeit für den
Buchwissenschaftler Bernhard Fabian und
sein „Handbuch der historischen Buch­
bestände in Deutschland“ Ursula Hartwiegs
Blick für die besondere Überlieferungssituation historischer Buchsammlungen. Als
Referentin in der Staatsbibliothek zu Berlin
stand für Hartwieg die kooperative Erschließung der historischen Drucke im Mittelpunkt. So fügte sich die ab 2010 anstehende
Etablierung und Leitung der Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen
Kulturguts (KEK) mehr als konsequent in
Hartwiegs Arbeitsfeld: Der Originalerhalt des
schriftlichen Kulturerbes, quer durch alle
Gedächtnisinstitutionen, erfordert eine
sparten- und trägerübergreifende Sicht. Mit
der KEK wurde unter Achtung der Kultur­
hoheit der Länder die Überlieferung des
Schrifterbes erstmals auf Bundesebene
verankert. Ursula Hartwieg erläutert im
Interview, wie dem schriftlichen Kulturgut
Deutschlands seine Stimme im europäischen
Konzert weiter garantiert werden kann.
––– Seite 20
IMPRESSUM
München war eine einzigartige, über 1.200
Seiten zählende und mit farbenprächtigen
Miniaturen versehene persische Handschrift
(siehe Arsprototo-Titel): Grüne Tusche
bedrohte die wertvolle Kalligraphie, die
Seiten begannen zu zerbrechen, weil kupferhaltige Farbe einen Abbauprozess im Papier
auslöst. Ein im Münchner Institut entwickeltes Verfahren stoppt nun die Migration der
gefährlichen Teilchen. Ein glücklich gelöster
Fall für das IBR, das als international renommiertes Kompetenzzentrum für Restaurierungsfragen agiert und sich für die Erhaltung
des schriftlichen Kulturerbes in den Bibliotheken des Freistaats Bayern einsetzt. Irmhild
Schäfer, an der Staatsbibliothek auch verantwortlich für die Weiterentwicklung von
Restaurierungstechniken, beschreibt in
Arsprototo die komplexe Rettung der Prachthandschrift aus dem 16. Jahrhundert.
––– Seite 26
4
3
EDITORIAL
4
AUTOREN / IMPRESSUM
8
Herausgeberin Isabel Pfeiffer-Poensgen,
Generalsekretärin der Kulturstiftung der Länder
Projektleitung Dr. Stephanie Tasch
Chefredakteurin Carolin Hilker-Möll
Geschäftsführender Redakteur Johannes Fellmann
Redaktionelle Mitarbeit Jenny Berg,
Elisa Kaiser, Maika Stobbe
Senior Editor Dieter E. Beuermann
Consulting Editor Dr. Philipp Demandt
Konzeption und Gestaltung Stan Hema mit
Vladimir Llovet Casademont, www.stanhema.com
Vertriebsleitung, Abonnement, Internet
Johannes Fellmann
Anzeigen Jenny Berg, Telefon 030 - 89 36 35-21
TEILARCHIV VON KURT JOOSS
INGEBORG BECKER
Als Direktorin des Bröhan-Museums in
Berlin hatte Ingeborg Becker dem Maler der
Berliner Secession Philipp Franck im Jahr
2010 den großen Auftritt verschafft: In
Kooperation mit Martin Großkinsky vom
Museum Giersch Frankfurt entstand die
umfangreiche Retrospektive „Vom Taunus
zum Wannsee – Der Maler Philipp Franck“.
Für Arsprototo entflieht Ingeborg Becker
der fortschreitenden Industrialisierung um
1900 auf einer imaginären Reise mit dem
Künstler Philipp Franck in den Spreewald:
Dort entdeckt sie das geheimnisvolle Licht
und die detailreichen Interieurs der länd­
lichen Stuben, in denen Franck die suggestive
Macht der Spinnkunst neu vor unseren
Augen entstehen lässt. ––– Seite 42
Titelbild: SchāhnāmeHandschrift, Bl. 297r:
Bankett anlässlich der
Thronbesteigung von
König Luhrasb (Detail),
um 1550 –1600, 1218
Seiten, 39 × 26 cm;
Bayerische Staats­
bibliothek München,
Cod.pers. 15
Nachdruck von Bildern und Artikeln, auch
auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung
der Redaktion.
Litho Mega-Satz-Service, Berlin
Herstellung Buch- und Offsetdruckerei
H. Heenemann GmbH & Co., Berlin
Vertrieb OML KG , Berlin
ISSN 1860 - 3327
20
ZERFALLENDE
BÜCHER
Thomas Prinzler im Gespräch mit Ursula
Hartwieg und Isabel Pfeiffer-Poensgen
über die nationale Initiative zur Rettung
des schriftlichen Kulturerbes
25
URAHN VON POWERPOINT Restaurierung, Rekontextualisierung und
Erschließung naturwissenschaftlicher Lehr­tafeln an der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg — von Frank D. Steinheimer
26
UPFER FRISST DAS
K
KÖNIGSBUCH Die Restaurierung einer persischen Prachthandschrift aus dem 16. Jahrhundert in der
Bayerischen Staatsbibliothek in München
— von Irmhild Schäfer
10
Arsprototo erscheint mit Unterstützung des
Freundeskreises der Kulturstiftung der Länder.
Kulturstiftung der Länder
Stiftung bürgerlichen Rechts
Lützowplatz 9, 10785 Berlin
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Internet www.kulturstiftung.de
Generalsekretärin Isabel Pfeiffer-Poensgen
Stellv. Generalsekretär Prof. Dr. Frank Druffner
Dezernenten Dr. Britta Kaiser-Schuster;
Dr. Stephanie Tasch
Leiterin der Verwaltung Erika Lancelle
Finanzbuchhalterin
Angela Neumann-Bauermeister
Sekretariat Gabriele Lorenz, Monika Michalak
Assistentin des Vorstands Jenny Berg
TITELTHEMA ERHALTUNG DES SCHRIFTLICHEN
KULTURGUTS
Abonnements Arsprototo – Abonnementservice,
Bessemerstraße 51, 12103 Berlin
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Jahresabonnement: 20 Euro
Erscheinungsweise Viermal jährlich
Erscheinungstermin dieser Ausgabe: 10.12.2015
Gedruckte Auflage dieser Ausgabe: 15.000
IRMHILD SCHÄFER
Die Kunsthistorikerin Irmhild Schäfer, 1994
mit einer Arbeit zu Technik und Material
frühmittelalterlicher Bucheinbände promoviert, entdeckte bereits während der Magisterarbeit ihre Begeisterung für kostbare
Handschriften. Ein besonderes Sorgenkind
der heutigen Direktorin des Instituts für
Bestandserhaltung und Restaurierung der
Bayerischen Staatsbibliothek (IBR) in
Arsprototo
Das Magazin der Kulturstiftung der Länder
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Redaktion 030 - 89 36 35-27
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INHALT
BÜSTE VON JOHANN JOACHIM WINCKELMANN von Salvatore de Carlis
12
T ANZMASKEN aus Neu-Britannien
VON BÖSEN DÄMONEN
UND SCHLIMMEN STUDENTEN 30
Die Farb- und Maltechnik der Naumburger
Chorbücher von 1504 — von Robert Fuchs
14SCHADOGRAPHIE von Christian Schad
15FRAU MIT SCHLEIER von Otto Dix
16
ERKÜNDIGUNG AN MARIA V
von Daniel Mauch
Informationsgemeinschaft zur Feststellung
der Verbreitung von Werbeträgern e.V.
ARSPROTOTO 4 2015
5
INHALT
EIN BESCHRIEBENES BLATT 36
Eine der weltweit ältesten indonesischen Handschriften muss vor dem Zerfall gerettet werden
— von Thoralf Hanstein
LÄNDERPORTRÄT MECKLENBURG-VORPOMMERN
IN DER TRADITION
DER BÜRGER­
LICHEN STIFTER 52
DIE MAPPEN DES MALERS 37
Die Korrespondenz des Künstlers Ernst MüllerScheeßel konnte für die Zukunft erhalten werden
— von Maria Elisabeth Müller
AUSGESCHNITTEN UND
EINGEKLEBT 38
Rettung für Hans Falladas Rezensions­­sammlung — von Erika Becker
40
MUTTER UND SOHN IN
NOT Helfen Sie mit: In der Kunsthalle Rostock
braucht ein Selbstporträt der Malerin
Kate Diehn-Bitt Unterstützung
MÄDCHEN UNTER DER
HAUBE 42
Ein Biomassekraftwerk in Südafrika +++ Verwandelt
Rinderdung in Energie +++ Und deckt so 30 Prozent
des Strombedarfs unserer Fabrik in Rosslyn +++ Die
BMW Group +++ Wegweisend bei erneuerbaren Energien
+++ Nachhaltig bei der Produktion von Fahrzeugen
Die Sammlungen Henry Stoll und August Schmidt
in Neubrandenburg — von Uta Baier
58
Der Freundeskreis der Kulturstiftung der Länder
unterstützte die Restaurierung des Porträts einer
Hallenser Prinzessin
48
F
ASSUNG BEWAHREN Mit Ihrer Hilfe konnte das Lübecker
St. Annen-Museum ein spätmittelalterliches
Relief restaurieren
50
NEUE BÜCHER
51
SPENDEN / ABONNIEREN / BILDNACHWEIS BMWGROUP.COM/WHATSNEXT
KUNST UND KULTUR IN DEN LÄNDERN
62 PRINZESSIN MIT STATUS­SYMBOLEN Die „Spreewälder Spinnerinnen“ von
Philipp Franck kommen ins Wendische
Museum in Cottbus — von Ingeborg Becker
Mehr erfahren im Film unter:
63IN
MODE Das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg
präsentiert die modische Vielfalt der Frühen Neuzeit
64
NACHRICHTEN
66
S
CHÖN IM DEPOT Bernd Lukasch über eine Fotomontage von Alex
Krajewsky im Otto-Lilienthal-Museum in Anklam
WARUM WIR FABRIKEN MIT
BIOMASSE BETREIBEN? UM KEINE
SPUREN ZU HINTERLASSEN.
PRODUKTION NUR MIT ERNEUERBARER ENERGIE.
FÜR UNS DER NÄCHSTE SCHRITT.
ERWERBUNGEN
RÜCKKEHR INS
RHEINLAND
Die zehn Männer scheinen heftig zu diskutieren. Im Scheinwerferlicht der Bühne
geben sich die befrackten Herren aufgeregt,
dann nachdenklich, dann gestikulieren sie
wieder wild durcheinander, ehe sie ihre
Köpfe konspirativ über den grünbezogenen
Konferenztisch beugen. Mit seinem 1932 in
Paris uraufgeführten Tanzdrama „Der Grüne
Tisch“ wurde Kurt Jooss (1901–1979) über
Nacht berühmt. In der stilprägenden Verbindung von klassischen und modernen Elementen entfaltete der Choreograph und Tänzer
einen bittersüßen „Totentanz in acht Bildern“; bis heute wird sein Stück in Theatern
weltweit aufgeführt. Mit der Gründung der
Folkwang-Bühne 1928 in Essen legte der
gebürtige Schwabe den Grundstein für die
Durchsetzung und Ausformung eines neuen
Tanztheaters. Seit der Uraufführung seines
Anti-Kriegs-Balletts als einer der innovativsten Köpfe der internationalen Szene bekannt,
kehrte der emigrierte Pädagoge 1949 ins
Rheinland zurück, um seine Arbeit an der
Folkwang-Schule, unter anderem als Lehrer
von Pina Bausch, wieder auf­zunehmen. Dem
Deutschen Tanzarchiv in Köln ist es nun
gelungen, ein bedeutendes Teilarchiv des
erfolgreichen Tanzkünstlers zu erwerben.
Anfang der 1970er Jahre hatte Jooss selbst
das umfangreiche Material – darunter persönliche Manuskripte, Korrespondenzen,
Notenschriften, Bühnenzeichnungen und
Fotografien bedeutender Ateliers der 1920er
und 1930er Jahre – für die Erarbeitung
seiner Biographie und einer Ausstellung nach
Stockholm geschickt, wo es verblieb. Die
vom Künstler ausge­wählten Dokumente
zeichnen nicht nur ein umfassendes Bild
seines Wirkens als Tänzer, Choreograph und
Pädagoge, sondern ermöglichen darüber
hinaus wertvolle Einblicke in die Kulturund Tanzgeschichte jener Zeit. Befindet sich
der umfangreiche Nachlass Jooss’ seit 2002
im Kölner Tanzarchiv, ist die glückliche
Wiedervereinigung jahrzehntelang ge­
trennter Bestände nicht nur für das Deutsche
Tanzarchiv ein wahrer Glücksfall, sondern
wird auch die Tanzforschung enorm be­
reichern.
Collage aus: Impressionen aus dem Programm „Zwei Tänzer“ von Kurt Jooss und
Sigurd Leeder (links oben); Materialien und
Dokumente zum Ballett „Der Grüne Tisch“
aus der Stockholmer Kurt Jooss-Sammlung
(rechts); Momentaufnahmen aus dem Unterricht an der Folkwangschule, um 1928 (links
unten); Deutsches Tanzarchiv Köln
Förderer dieser Erwerbung:
Kulturstiftung der Länder,
Kunststiftung NRW
9
ERWERBUNGEN
MANN AUS MARMOR
Die in Versalien gemeißelte Inschrift annonciert den Porträtierten: Johann Joachim
Winckelmann (1717–1768), Begründer der
wissenschaftlichen Archäologie und einer der
Leit­figuren des europäischen Klassizismus.
Rom war die ästhetische Inspirationsquelle,
Wahlheimat des Gelehrten und der Entstehungsort der Skulptur: Im Auftrag des bayerischen Kronprinzen Ludwig (I.) von Salvatore
de Carlis (1785 bis nach 1839) realisiert,
gehörte die Büste zu den ersten Kunstwerken,
welche die geplante Walhalla schmücken
sollten. 1812 nach München gelangt, fand sie
ihre Aufstellung bis 1837 im sogenannten
Saal der Neueren der 1830 vollendeten Glyptothek, um danach in eine der Wittelsbacher
Privatresidenzen überführt zu werden. So
erzählt die Geschichte ihrer Aufbewahrungsorte vom Bedeutungswandel der Skulptur
und dem Schicksal eines nur kurz vom Glanz
fürstlicher Patronage begünstigten Künstlers.
Den vom Kronprinzen präzise formulierten
Auftrag hatte de Carlis gewissenhaft erfüllt:
Aus Carrara-Marmor gefertigt, „ohne aller
Costume in einer einfachen gerade vor sich
hin sehenden Richtung“, in einer von Winckelmanns wahrscheinlich berühmtestem
Zitat inspirierten „stillen ruhigen
Seelengröße“. Dabei hatte de
Carlis eine entscheidende
Schwierigkeit zu überwinden:
ein posthumes Bildnis eines
ihm Unbekannten anzufertigen. Eine Porträtähnlichkeit
war angesichts der seit dem
Tod des Vorbilds vergangenen
Zeit nicht zu erwarten; für die
heutigen Betrachter stellt sich
daher die Frage nach dem Bild,
das sich die Nachwelt von
Winckelmann machte. Dieser
Frage kann nun in den Staat­
lichen Antikensammlungen und
Glyptothek, München, nachgegangen werden, denn die Büste
kehrt aus dem Kunsthandel an
ihren ersten Ausstellungsort
zurück.
Salvatore de Carlis, Büste von Johann
Joachim Winckelmann, 1808,
Höhe 68 cm; Staatliche Antikensammlungen und Glyptothek München;
bezeichnet vorne: IOHANN.WINKELMANN, signiert und datiert rückseitig:
SALVATOR DE CARLIS.BILDHAUER
VON.TRIENT AVSE TIRROL GEMACHT IN ROM.IM IAHR.j808
Förderer dieser Erwerbung:
Kulturstiftung der Länder, Ernst von
Siemens Kunststiftung, Freistaat Bayern
10
RESTAURIERUNGEN
Tanz der
Masken
Aus großen Augenringen blicken sie
dem Besucher entgegen – mythische
Wesen aus der Welt der Pflanzen und
Tiere: In der Ozeanien-Ausstellung
des Grassi Museums für Völkerkunde
zu Leipzig zeugen wertvolle Tanz­
masken von der Kultur der Baining,
einer Bevölkerungsgruppe der Gazelle-­
Halbinsel von Neu-Britannien im
Bismarck-Archipel. Die äußerst aufwendig hergestellten und nahezu
modern gestalteten Masken traten zu
besonderen Feierlichkeiten auf, die
dem Erhalt des Gleichgewichtes
zwischen der Jenseitigen und der
Welt der Menschen dienten. Nur den
­Männern war es erlaubt solche Masken
herzustellen und damit aufzutreten;
üblicherweise wurden die Masken nach
einmaligem Gebrauch zerstört. Die
Leipziger Masken wurden mehrheitlich 1913 von Phoebe Parkinson
erworben, der Witwe des Plantagen­
besitzers und Ethnologen Richard
Parkinson. Jedoch hatten die Ereignisse des letzten Jahrhunderts deut­
liche Spuren an den empfindlichen
Materialien hinter­lassen, so dass die
Stücke nicht mehr gezeigt werden
konnten. Dank des Restaurierungsbündnisses „Kunst auf Lager“ konnten
nun mit Unterstützung der Kultur­
stiftung der Länder sechs der wert­
vollen Tanzmasken umfassend
­restauriert werden. Frisch gereinigt,
mit Ergänzungen aus speziell bearbeitetem Rindenbaststoff / Tapa und mit
den wieder stabilisierten Unterbauten
aus Rattan kommen die charakte­
ristischen geometrischen Muster mit
ihren feinen schwarz-roten Linien
nun wieder intensiv zur Geltung. So
ist die einzigartige Wirkung dieser
auch für die Kunstgeschichte so wichtigen Masken in der Dauerausstellung
des Grassi Museums wieder erlebbar.
Tanzmasken aus Neu-Britannien,
vor 1913; Grassi Museum für
Völkerkunde zu Leipzig
13
ERWERBUNGEN
SCHLEIER- TANZ
Schads Schattenbild
Mystisch abstrakt formieren sich in einem
kristallen anmutenden Rahmen dunkle
Gebilde, scheinen sich geometrischen
Figuren anzunähern, nur um aufzubrechen, sich zu zergliedern und schließlich
der vollständigen Gegenstandslosigkeit zu
erliegen: Das Fotogramm des Künstlers
Christian Schad (1894 –1984), entstanden
1919, kurz nach Ende des Ersten Weltkrieges, steht für die radikale Abkehr von
der Gegenständlichkeit in der Kunst. Teil
der später durch den Dadaisten Tristan
Tzara als Schadographien bezeichneten
künstlerischen Experimente mit Foto­
papier, verbildlicht die Schattenkomposition eine – so Schad – „Auflehnung gegen
alles was bis dahin Bedeutung hatte“.
Zuvor setzte man das Fotogramm – eine
fotografische Technik ohne Kamera, die
lediglich auf dem Zusammenspiel von
Licht, Fotopapier und mehr oder weniger
lichtdurchlässigen Objekten basiert – vor14
rangig in der Naturwissenschaft ein, um
etwa die feingliedrige Struktur von Pflanzenblättern zu dokumentieren. Vom
Abstraktionspotenzial fasziniert, erhob
Schad das Verfahren zur künstlerischen
Ausdrucksform und schuf aus Papierschnipseln und Fundstückenl scherenschnittartige Schattenbilder wie die
Schado­graphie Nr. 11. Mit Hilfe der Kulturstiftung der Länder erwarb die Stadt
Aschaffenburg das guterhaltene Werk nun
für das im Entstehen begriffene Christian
Schad Museum und bringt im Zuge dessen
erstmals eine solch frühe Schadographie in
den Besitz einer deutschen Institution.
Förderer dieser Erwerbung:
Kulturstiftung der Länder, Beauftragte der
Bundesregierung für Kultur und Medien,
Ernst von Siemens Kunststiftung, Kulturstiftung des Bezirks Unterfranken, Kurt Gerd
Kunkel-Stiftung Aschaffenburg, Sparkasse
Aschaffenburg-Alzenau
Für die Wissenschaftler der Kunsthalle Mannheim war es ein überraschendes, ein elektrisierendes Wiedersehen mit einer alten Bekannten – fast
80 Jahre waren seit ihrem Verschwinden vergangen: Das Akt-Aquarell
„Frau mit Schleier“, das in einem
Londoner Auktionskatalog wieder
auftauchte, war seit 1922 eines der
graphischen Glanzstücke des Museums gewesen. Beschlagnahmt von den
Nationalsozialisten in der Aktion
„Entartete Kunst“ – der insgesamt
170 Gemälde und Skulpturen sowie
500 Graphiken der renommierten
Mannheimer Avantgarde-Sammlung
zum Opfer fielen –, verlor sich ab
1937 die Spur des frühen Dix-Werkes. Die „Tänzerin“ balanciert zwischen Verismus und Vision: Das
Aquarell markiert einen ersten künstlerischen Höhepunkt im frühen
Schaffen Otto Dix’ – so erweist sich
der 1918 aus dem Ersten Weltkrieg
heimgekehrte Maler hier bereits als
Virtuose der Farbschleier und extrem
dünnen Farbüberlagerungen. Vor
einem abstrakten, zwischen gelb-grün
und purpur-violett changierenden
Hintergrund posiert eine weibliche
Figur, deren Körper ein halbtrans­
parenter Spitzenschleier umspielt.
Ungewöhnlich unbestimmt ist der
Charakter des großformatigen Zeugnisses der „Neuen Sachlichkeit“: Die
Aktfigur scheint Dix – Zeichner des
großstädtischen Lebens und zeitgenössischer Milieustudien – einem
Varieté, gar einer erotischen Postkarte
entnommen zu haben. Doch die
Schleiertänzerin wirkt wie eine aus
dem kräftigen Kolorit entstiegene,
beinah geisterhafte Vision. Der Stadt
Mannheim gelang es, das Aquarell
noch vor der Versteigerung direkt aus
italienischem Privatbesitz zu erwerben. Die Papierarbeit, die noch bis
Januar 2016 in der Ausstellung
„Arche. Meisterwerke der Sammlung“
präsentiert wird, schließt nun eine
der schmerzhaften Lücken, die der
nationalsozialistische Bildersturm in
der Kunsthalle Mannheim hinterließ.
Otto Dix, Weiblicher Akt/Frau mit
Schleier, 1922, 48 × 38,5 cm; Kunsthalle Mannheim
Förderer dieser Erwerbung:
Kulturstiftung der Länder,
Ernst von Siemens Kunststiftung
ARSPROTOTO 4 2015
15
ERWERBUNGEN
HEIMGEKEHRTE
VERKÜNDIGUNG
Ergriffen sinkt Maria auf die Knie, die Arme
schützend vor ihrer Brust: Gerade eröffnete
ihr Erzengel Gabriel das Geheimnis – bald
wird sie den Sohn Gottes gebären. Ihr in
sich gekehrter Blick, das ihre Lippen umspielende Lächeln zeugen von ihrem inneren Aufruhr: Die Empfängnis durch den
Heiligen Geist steht kurz bevor. Halt suchend schmiegt sich Maria an das neben­
stehende Betpult, das lange, weite Gewand
legt sich schützend um die künftige Gottesmutter. Gabriel, der Bote Gottes, hat am
Ort der Verkündigung in Nazareth seine
Nachricht überbracht. Der geschnitzte
Erzengel büßte zwar über die Jahrhunderte rechte Hand und Zepter ein, doch
hat sich teilweise die originale Farbfassung
mit Spuren jüngerer Übermalungen erhalten. Die exquisite Arbeit mit
den tief ins Holz eingeschnittenen Falten,
den fein ausgearbeiteten Haaren
kann eindeutig der Hand Daniel Mauchs
(um 1477–1540) zugeschrieben werden.
Der Meister und seine Werkstatt erregten
im wirtschaftlich blühenden Ulm mit
originellen Altarretabeln Aufsehen. Nicht
nur Mauchs plastische Reliefs im Zentrum
des Schreins begeisterten die Zeitgenossen,
sondern auch die auf den Seitenflügeln.
Sowohl die geringe Tiefe der Verkündigung
als auch die frontal ausgerichtete Kompo­
sition deuten bei diesem Stück auf eine
Einbettung in die Innenseite eines Altar­
flügels hin. Nun feiert das Stück seine
Heimkehr: Im Ulmer Museum, wo man den
Meister bereits 2009 in einer großen Werkschau mit Leihgaben aus aller Welt präsentierte, gesellt sich nun das kostbare Relief
zu dem bisher einzigen anderen Werk
Mauchs der Sammlung.
Daniel Mauch, Verkündigung an Maria,
um 1510/15, 92 × 103 × 13,5 cm;
Ulmer Museum
Förderer dieser Erwerbung:
Kulturstiftung der Länder, Ernst von
Siemens Kunststiftung, Verein der
Freunde des Ulmer Museums,
Sparkasse Ulm, Stadt Ulm,
­anonymer Förderer
Doppelausstellung
REINHOLD
EWALD
1890–1974
noch bis 24. Januar 2016
Museum Giersch der Goethe-Universität
www.museum-giersch.de
Historisches Museum Hanau Schloss Philippsruhe
www.ewald.hanau.de
Die Doppelausstellung wird gefördert durch
den Kulturfonds Frankfurt RheinMain
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16
Getragen wird der gemeinnützige Fonds vom Land Hessen, von Frankfurt am Main, dem Hochtaunuskreis und dem Main-Taunus-Kreis, Darmstadt,
Wiesbaden und Hanau. Weitere herausragende Kunst- und Kulturprojekte finden Sie unter www.kulturfonds-frm.de / Facebook / Twitter
Thomas Prinzler im Gespräch mit
Ursula Hartwieg und Isabel PfeifferPoensgen über die Rettung des schrift­
lichen Kulturerbes — Seite 20
TITELTHEMA ERHALTUNG DES SCHRIFTLICHEN KULTURGUTS
Frank D. Steinheimer über die Restau­
rierung naturwissenschaftlicher Lehr­
tafeln an der Martin-Luther-Universität
Halle-Wittenberg — Seite 25
Irmhild Schäfer über die Restaurierung
einer persischen Prachthandschrift
in der Bayerischen Staatsbibliothek in
München — Seite 26
Robert Fuchs über die Farb- und Maltechnik der Naumburger Chorbücher
— Seite 30
Ernst Otto Bräunche über die erste
in Deutschland empfangene E-Mail
— Seite 34
IM ZEICHEN DER
SCHRIFT
Thoralf Hanstein über eine der weltweit
ältesten indonesischen Palmblatthandschriften — Seite 36
Maria Elisabeth Müller über den Nachlass des Künstlers Ernst Müller-Scheeßel
— Seite 37
Erika Becker über die Rezensions­
sammlung des Schriftstellers
Hans Fallada — Seite 38
Fünf Bände des „Bulletin de la Société de Géographie“
(1822 –1899), das von der ältesten Geographischen
Gesellschaft der Welt in Paris publiziert wurde; Staats­
bibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
18
ARSPROTOTO 4 2015
19
TITELTHEMA ERHALTUNG DES SCHRIFTLICHEN KULTURGUTS
ZERFALLENDE BÜCHER
Thomas Prinzler im Gespräch mit Ursula Hartwieg,
der Leiterin der Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts (KEK), und Isabel
Pfeiffer-Poensgen, der Generalsekretärin der Kulturstiftung der Länder, über die nationale Initiative zur
Rettung des schriftlichen Kulturerbes
S
chimmelpilze, Käfer, Tinten- und
Säurefraß – vielfältig sind die
Ursachen für die Zerstörung von
Büchern, Zeitungen, Handschriften,
Noten und Akten in den Archiven und
Bibliotheken. „Der leise Tod der Bücher“ hat das kürzlich eine Autorin
genannt. Was geschieht da in den
Regalen der Bibliotheken und Archive?
Ursula Hartwieg: Da geschieht das, was
wir selbst Tag für Tag erleben: Materie
zerfällt. Kein Material ist für die Ewigkeit bestimmt. Es ist einfach nicht selbstverständlich, dass ein Buch, das wir
heute im Regal haben, in 30 Jahren
unverändert ist – da läuft ein Abbauprozess.
Wenn ein Buch tausend oder tausendfünfhundert Jahre alt ist, kann man
sich vorstellen, dass da der Zahn der
Zeit nagt. Aber betroffen sind auch
jüngere Bücher?
Ursula Hartwieg: Richtig. Das sind
einfach Schäden, die im Material angelegt sind. Das Hauptproblem ist, dass
das Papier zerfällt. Säurefraß im Buch, in
der Akte, in allem, was aus dem Papier
hergestellt wurde, das es seit Mitte des
19. Jahrhunderts gibt. Damals wollte
man immer mehr Schriften immer
preiswerter herstellen und weiter ver­
breiten. Die Papierherstellung indus­tri­
alisierte sich: In das Papier, das vorher
vor allem aus Lumpen produziert wurde,
brachte man ab Mitte des 19. Jahrhunderts Holzschliff ein. Darin und in der
für dieses Papier erforderlichen Harz­
leimung sind Säurebestandteile enthalten, die das Papier auf die Dauer zersetzen. Papier­zerfall wird deshalb auch gern
als tickende Zeitbombe bezeichnet.
Zur schleichenden Katastrophe tragen
neben dem Säurefraß auch Schimmel
und Insekten bei. Über welches Ausmaß reden wir?
Isabel Pfeiffer-Poensgen: Alle sind betroffen, weil es Bibliotheken schon sehr
lange gibt, und Archive ebenso. Es wird
überall im Land versucht, allerdings mit
viel zu geringen Mitteln, dieses Problems
Herr zu werden. Denn in unseren Zeiten
steht das schriftliche Kulturgut nicht
unbedingt im Fokus, um das sich alle
Parlamente oder auch Gemeinderäte, die
Geld zur Verfügung stellen könnten, als
erstes kümmern.
Ursula Hartwieg, Isabel Pfeiffer-Poensgen und Thomas Prinzler beim Gespräch
20
Adressbuch der Dadaistin Hannah Höch
(1889–1979), 2011 durch KEK-Förderung vor
dem schleichenden Zerfall bewahrt; Berlinische
Galerie – Museum für Moderne Kunst, Berlin
Das Ulmer Münster oder der Kölner
Dom werden wahrgenommen, die
Handschrift in der Bibliothek, die
Akte im Archiv nicht. Es gibt 3,7 Mio.
laufende Meter Archivmaterial, das ist
etwa die Entfernung zwischen Berlin
und Grönland. In zehn Jahren wird es
die Entfernung von Berlin bis zum
Nordpol sein. Und 50 Prozent sind
dort betroffen.
Ursula Hartwieg: Maßgeblich ist das
Problem des Papierzerfalls – das ist
einfach flächendeckend in den Archiven
präsent. Wenn wir über das Ausmaß des
Problems in Bibliotheken sprechen,
können wir schon – zum Glück – ein
bisschen differenzieren. Bei Bibliotheken
sprechen wir zum großen Teil von Mehrfachbesitz. Derselbe Titel ist einfach
doch in vielen Bibliotheken vorhanden.
Das, was in Bibliotheken an Druckproduktion vorhanden ist, muss nicht 1:1,
kann auch gar nicht 1:1 gesichert wer-
ARSPROTOTO 4 2015
den. Dafür ist das Problem einfach zu
groß und das Verfahren der Massenentsäuerung zu teuer. Alles, was Archive
nach einer Bewertung in ihren Bestand
übernehmen, muss komplett den nachfolgenden Generationen überliefert
werden. Es ist insgesamt unikal. Was sich
in Bibliotheken befindet, ist nur zum
Teil unikal. Wenn wir über Handschriften sprechen oder auch über die frühe
Buchproduktion bis Mitte des 19. Jahrhunderts oder ein Buch, in das Günter
Grass eine Notiz hineingeschrieben hat,
ist das natürlich alles einzigartig und
unersetzbar. Das muss gerettet werden.
Isabel Pfeiffer-Poensgen: Als föderaler
Staat nehmen die einzelnen Länder die
Aufgabe mehr oder weniger intensiv
wahr. Das dokumentiert sich am Ende
immer ganz banal im Haushalt eines
Landes: Werden Mittel für eine Restaurierung bereitgestellt?
Ab wann hatten Sie eine Ahnung vom
Ausmaß der Schäden?
Ursula Hartwieg: Wenn Sie nach einem
speziellen Schreckmoment fragen, würde
ich tatsächlich sagen: die Ergebnisse
unserer bundesweiten Umfrage. Die
KEK alleine konnte natürlich nicht all
die Zahlen ermitteln, die jetzt in den
bundesweiten Handlungsempfehlungen
stehen. Wir haben uns über die Kultusministerkonferenz für jedes Land Expertinnen und Experten für die Bestands­
erhaltung benennen lassen, jeweils für
den Bereich Archiv und für den Bereich
Bibliothek. Mit diesem Expertenwissen
wurden die Bestände, der Schadens- und
der Gefährdungsgrad in den Einrichtungen beschrieben. Und diese Rückmeldungen fand ich schon erschreckend.
Denn es ist ja nicht nur das Problem,
dass Materie zerfällt, sondern es ist auch
das Problem, dass das Material, eben die
Archivalien, die Bücher vor Ort fach­
21
gerecht versorgt werden müssen. Dazu
brauchen wir Fachkompetenz und die ist
in den Einrichtungen nicht ausreichend
vorhanden.
Schadensfälle, dieser schleichende Zerfall
aufgrund von Säurefraß, Tintenfraß oder
Schimmel und was es da noch alles gibt,
sind die größeren Probleme.
Wer hätte gedacht, dass
im Koalitionsvertrag
ein nationales Bestands­
erhaltungskonzept angekündigt werden würde?
Offensichtlich braucht es dann genau
solche dramatischen Ereignisse wie es
der Brand in der Anna Amalia Bibliothek 2004 und der Einsturz des Kölner
Stadtarchivs 2009 waren, um die
Koordinierungsstelle für den Erhalt
des schriftlichen Kulturguts, KEK, zu
gründen.
Ursula Hartwieg: Ich würde es so auf den
Punkt bringen: Ohne den Einsturz kurz
vor Überreichung der Denkschrift „Zukunft bewahren“ der „Allianz Schrift­
liches Kulturgut Erhalten“ wäre der
politische Handlungsdruck nicht ausreichend hoch gewesen, um tatsächlich eine
Koordinierungsstelle zu gründen. Wer
hätte gedacht, dass man wirklich im
Herbst 2009 im Koalitionsvertrag die
Absicht formuliert, ein nationales Be-
Isabel Pfeiffer-Poensgen: Die wirklich
großen Schadensfälle, Stichwort Brand
der Herzogin Anna Amalia Bibliothek
oder der Einsturz des Historischen
Stadtarchivs in Köln, haben neben aller
Schrecklichkeit vielleicht mehr Menschen deutlich gemacht, was da verloren
gegangen ist. Trotzdem ist eine wesent­
liche Erkenntnis aus dieser Erhebung
und aus der ganzen Untersuchung ganz
deutlich: Die sich langsam ereignenden
Seit Oktober liegen die Handlungsempfehlungen der KEK vor mit dem
Titel „Die Erhaltung des schriftlichen
Kulturguts in Archiven und Biblio­
theken in Deutschland“. 2012 gab es
10,9 Millionen Euro für Maßnahmen
der Bestandserhaltung in Archiven
und Bibliotheken, ist da zu lesen.
Notwendig wären 63,2 Millionen
Euro. Da ist eine große Lücke. Und
nun?
Isabel Pfeiffer-Poensgen: Zum ersten Mal
haben wir belastbare Zahlen. Und Zahlen brauchen Sie immer, wenn Sie gegenüber der Politik Sachverhalte deutlich
machen wollen. Jedes Parlament wird Sie
zuerst fragen: Ja, schön, dieses Problem,
interessant, aber was brauchen wir dafür,
um es zu beheben? – Und diese Zahlen
sind nun in aller Brutalität aufgeschrieben. Unser Plädoyer ist ganz klar: Es
braucht Bundes- und Länderprogramme,
um zum Beispiel das Problem der Massenentsäuerung in einem Umfang anzugehen, dass wir langfristig auch Erfolge
damit haben.
Die KEK hat einen Jahresetat von
600.000 Euro. 63 Millionen wären
nötig. Was können Sie überhaupt
erreichen?
Isabel Pfeiffer-Poensgen: Wir haben uns
zu Beginn gesagt, der Hauptauftrag ist
es, die Handlungsempfehlungen wirklich
fundiert zu erarbeiten als eine Grundlage, um strategisch langfristig die Sicherung des schriftlichen Kulturerbes abzusichern. Gleichzeitig wollten wir von
Anfang an auch zeigen, wie sinnvoll das
ist. Das kann man nur, indem man sehr
konkrete Restaurierungsvorhaben landauf, landab fördert und so in jeder Kommune, in jedem Land sichtbar wird, dass
damit Schätze gehoben werden, für die
wir schönste Beispiele auch in dieser
Ausgabe von Arsprototo zeigen.
Sektionsprotokolle von
Rudolf Virchow (1821–1902),
dem Begründer der modernen
Pathologie. Mit Hilfe der KEK
konnte im Jahr 2012 ein Band
modellhaft restauriert werden
22
men, weil auch das Metall natürlich
einen Störfaktor darstellt, der beim
Rosten zu Verfärbungen führt. Beim
Adressbuch sollte aber alles drin bleiben,
weil da ein Kunstobjekt auf dem Tisch
der Restauratorin lag. Sie musste es Blatt
für Blatt behandeln, ohne die innere
Ordnung zu zerstören. Das war das
Spannende daran.
standserhaltungskonzept zu entwickeln,
um das gefährdete schriftliche Kulturgut
zu sichern?
Die KEK hat Projekte angeschoben
nicht nur in großen Bibliotheken,
nicht nur, um verblassende Schrift in
Archiven der Leopoldina wieder sicht-
Von Schimmelpilz befallene Bücher; Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
Die Kulturstiftung der Länder hilft ja
den einzelnen Einrichtungen auch
beim Ankauf – sei es ein wertvolles
August-Macke-Gemälde oder auch
der Nachlass des Berliner Wagenbach
Verlages. Wonach wählen Sie aus?
Isabel Pfeiffer-Poensgen: Wir fragen uns:
Ist es ein herausragendes Objekt oder
Konvolut? Ist es etwas, das von überregionaler oder historisch-regionaler Bedeutung ist? Wir lassen uns immer auch
extern von Gutachtern beraten. Wir
bar zu machen, sondern auch in Stadtarchiven wie Chemnitz, Karlsruhe
oder im Kreis Teltow-Fläming bei
Berlin.
Ursula Hartwieg: Ja, das ist richtig. Da
können wir jetzt auf eine relativ stattliche
Summe zurückblicken, 2,4 Mio. Euro
über die Jahre 2010 bis heute.
Isabel Pfeiffer-Poensgen: Und knapp
200 Projekte…
…wie das Notizbuch, das Telefonbuch
der Dadaistin Hannah Höch. Was war
da die besondere Herausforderung,
um es der Nachwelt zu erhalten?
Ursula Hartwieg: Da sprechen wir über
ein Kunstobjekt. Es ist eine Künstlerin,
die dort ihre Adressen in einer sehr
interessanten Form verzeichnete. Hannah Höch hat ja im Grunde nur Lagen
Papiers übereinander gelegt, eine stärkere
Pappe drumherum gefügt, mit einer
Kordel gebunden – das war’s. Sie hat
natürlich selber Adressen hineingeschrieben, aber auch mit einer Stecknadel
Adresszettelchen hineingeheftet und mit
Tesafilm, was man aus der Perspektive
der Restauratoren nie tun sollte, auch
reingeklebt. Üblicherweise würde man
bei einer Restaurierung das Objekt
‚enteisen‘, also alles Metall herausneh-
ARSPROTOTO 4 2015
Trockenreinigung eines chinesischen Schriftfragments aus der Oase von
Turfan/Ostturkestan
Digitalisate schonen das
Original. Doch der
Referenzcharakter des
Originals ist unersetzlich.
fragen: Gehört es wirklich an den Ort, in
den Kontext, für den es gekauft werden
soll? Wir fragen uns zudem: Ist die
Provenienz geklärt oder gibt es Frage­
zeichen? Und last but not least fragen
wir uns jedes Mal: Ist der Preis gerecht­
fertigt? Auch das lässt sich ja deutlich
überprüfen. – Das sind die Kriterien, mit
denen wir uns ausführlich beschäftigen,
bevor wir sagen, wir können uns vorstellen, eine solche Erwerbung für ein Museum beispielsweise oder eine Bibliothek,
ein Archiv in unseren Gremien zu be­fürworten.
23
„Bestandserhaltung beginnt im Kopf,
nicht im Geldbeutel“, hat Mario
Glauert vom Brandenburgischen
Landeshauptarchiv geschrieben. Das
heißt natürlich Priorisierung, Schwerpunktsetzung. Welche Kriterien legen
Sie an?
Ursula Hartwieg: Grundsätzlich wollen
wir natürlich alles retten, aber das ist
nicht möglich. Speziell im Bibliotheksbereich muss koordiniert werden. Und
im Archivbereich kann nicht alles auf
einen Schlag gerettet werden. Es braucht
Priorisierung. Damit sind wir bei dem,
was wir als schleichende Katastrophen
bezeichnen: Beim Schimmel und Papier­
zerfall. Das sind fortschreitende Schadensbilder, die haben Vorrang und
müssen zuerst behandelt werden. Im
zweiten Schritt muss nach der Bedeutung gefragt werden, auch da muss eine
Priorisierung erfolgen. Die Nutzung gibt
zusätzlich Orientierung. Allerdings
definiert sie sich immer wieder neu. Wir
wissen heute ja noch nicht, was in drei,
dreißig oder dreihundert Jahren den
Forscher oder den Bürger wirklich
interessiert, was wichtig wird.
„Alles, was entsteht, ist wert, dass es
zugrunde geht“, so Mephisto zu Faust.
Erhaltung kostet viel Geld. Wir haben
aber inzwischen eine hervorragende
Digitalisierungstechnik. Warum reicht
Digitalisieren nicht?
Isabel Pfeiffer-Poensgen: Man muss
beides machen! Wir wollen jetzt mal
nicht von der Aura des Originals sprechen, aber von der Faszination kann man
schon reden. Wenn eine Pianistin, ein
Geiger zum ersten Mal über der originalen Handschrift eines Werks von Beethoven im Archiv sitzt, mit dem sie oder er
sich seit Jahren beschäftigt, dann geht
etwas ganz Unglaubliches mit diesem
Künstler vor, weil eben diese Originalhandschrift anders aussieht als das, was
wir in einer gut edierten Ausgabe sehen.
Auf der anderen Seite ist das Digitalisieren einer solchen Handschrift natürlich
absolut sinnvoll, weil sie damit sehr
demokratisch weltweit im Netz zur
Verfügung steht, auch für die Menschen,
die weit weg sind von dem Original.
Außerdem schonen wir das Original
damit.
Ursula Hartwieg: Auf der anderen Seite
ist der Referenzcharakter des Originals
unersetzlich. Es stimmt einfach: Das
Ganze ist mehr als die Summe der einzelnen Teile. Blicken wir nach Berlin zur
Nofretete. Würde es uns denn reichen,
wenn wir da eine 3D-Simulation hätten?
Nie im Leben! Und auch, wenn es
inzwischen schon 3D-Scans von schriftlichem Kulturgut gibt, die berührungslos
und gestenbasiert bewegbar sind: Sie
ersetzen nicht das Original. Das digitale
Abbild ist manipulierbar. Als Referenz
muss immer das Original im Blick
gehalten werden. Und wir können uns
entspannt zurücklehnen, denn wir
wissen jetzt, was es kostet, die Originale
zu erhalten. Wer sagt uns denn, was es
kostet, all die Digitalisate, die es heute
gibt, noch in hundert Jahren abzurufen?
Massiver Schädlingsfraß an einer
deutschen Handschrift aus dem 15.
Jahrhundert; Staatsbibliothek zu
Berlin – Preußischer Kulturbesitz
24
Was erwarten Sie vom Bund oder von
der Politik ganz allgemein? 63 Millionen Euro?
Isabel Pfeiffer-Poensgen: Wir erwarten
jetzt eine ernsthafte Auseinandersetzung
mit diesen Handlungsempfehlungen auf
allen politischen Ebenen. Dann hoffen
wir als Kulturstiftung gemeinsam mit
den Ländern und dem Bund ein Programm auf den Weg zu bringen, das –
wir sind schließlich keine Traumtänzer
– uns vielleicht nicht ab morgen 63
Millionen pro Jahr auf den Tisch legt,
aber doch jedenfalls eine namhafte
Steigerung, die es über die Jahre erlaubt,
die Aufgaben anzugehen. Politik ist das
Bohren dicker Bretter, aber wir haben
jetzt eine belastbare Grundlage, um mit
diesem Bohren zu beginnen.
Ursula Hartwieg: Angelegt ist unsere
zentrale Empfehlung auf jährlich mindestens ein Prozent Sicherung des gefährdeten oder geschädigten schriftlichen
Kulturguts. Daraus resultieren die 63
Millionen. Das heißt, es ist eigentlich
ein Hundertjahresprojekt, aber wir
haben ein Phasenmodell für die konkrete
Umsetzung entwickelt. Denn es wäre
eine unerträgliche Vorstellung, wenn
bereitgestellte Gelder nicht abgerufen
würden. Das heißt, wir brauchen Infrastrukturen in den hauseigenen Werkstätten und in den Häusern selbst Fachpersonal. Dieser Betrag von 63 Millionen
Euro ist der prinzipielle Bedarf, den wir
aber für eine sofortige Umsetzung nicht
empfehlen können. Er lässt sich nur mit
bundesweit gestärkten Infrastrukturen
umsetzen. Wir wollen dahin kommen,
dass wir wirklich mindestens dieses eine
Prozent pro Jahr sichern. Das muss
erreichbar sein!
Herzlichen Dank für das Gespräch.
Thomas Prinzler ist Wissenschaftsredakteur
im rbb Inforadio in Berlin.
http://kek-spk.de/aufgaben-und-ziele/
bundesweite-handlungs-empfehlungen/
TITELTHEMA ERHALTUNG DES SCHRIFTLICHEN KULTURGUTS
URAHN VON POWERPOINT
Restaurierung, Rekontextualisierung und Erschließung
naturwissenschaftlicher Lehrtafeln an der
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
von Frank D. Steinheimer
Paul Pfurtscheller, Lehrtafel der Anatomie des Regenwurms, um 1920, im Originalzustand vor der Papierrestaurierung mit etlichen Klebestellen, Einrissen und
verbogener und ausharzender Bestäbung sowie einer
Kohlepatina auf Grund offener Unterbringung;
Zentralmagazin Naturwissenschaftlicher Sammlungen, Halle (Saale)
D
as Zentralmagazin Naturwissenschaftlicher Sammlungen (ZNS)
an der Martin-Luther-Universität
Halle-Wittenberg (MLU) besitzt eine
über 2.000 Objekte umfassende naturwissenschaftliche Lehrtafelsammlung.
Etwa mehr als die Hälfte der zurzeit
vom ZNS erfassten Lehrtafeln sind
Unikate, die eigens nach den Vorgaben
der Dozenten in den jeweiligen Instituten der MLU angefertigt wurden. Einige
Lehrtafeln wurden sogar von Dozenten
selbst gezeichnet, wie z. B. von Prof. Dr.
Ludwig Freund, der von 1950 bis 1953
als Ordinarius für Zoologie in Halle
(Saale) tätig war. Der andere Teil der
ARSPROTOTO 4 2015
Lehrtafeln stammt aus Manufakturen
verschiedener Hersteller, wie z. B. von
Paul Pfurtscheller in Wien, Theodor
Fischer in Kassel (herausgegeben von Dr.
R. Leuckart) oder von Jakob Ferdinand
Schreiber aus Esslingen, dessen Verlag
von 1878 bis 1893 in mehreren Auflagen den Dodel-Port-Atlas (AnatomischPhysiologischer Atlas der Botanik)
aufgelegt hatte.
Der Zustand der teilweise mehr als
100 Jahre alten Tafeln ist aufgrund
falscher Lagerung und schlechtem
Ausgangsmaterial oft miserabel. Die
Medien der Lehre haben sich zu digitalen Powerpoint-Präsentationen weiterentwickelt. Dennoch ist die Sammlung
eine einmalige Forschungs- und Lehr­
ressource, zeigt sie doch nicht nur die
Lehr- und Forschungsfragen unserer
Vorväter, sondern erklärt deren didak­
tische Ansprüche, kulturhistorische
Einbindung und Gespür für Ästhetik,
spiegelt soziopolitische Phänomene
ebenso wie die Illustration des Vergänglichen wider, macht Komposition und
verwendete Technik sichtbar, bringt
Hersteller und die Forscher dahinter
näher. Selten finden wir heute neue
Abbildungen, die eine halbe Vorlesungsstunde auf zwei Quadratmetern zu
illustrieren vermögen. Die Frage vieler
Dozenten, ob Lehrtafeln noch zeitgemäß seien, ist mit ja zu beantworten,
denn diese sind heute durch Rekontextualisierung zu einem eigenen Lehr- und
Forschungsobjekt zwischen Kultur- und
Wissenschaftsgeschichte, Didaktik und
Ästhetik geworden.
Daher beabsichtigt das ZNS, Lehrtafeln zukünftig web- und touchscreen-
basiert über eine digitale Plattform einer
breiten internationalen Forschung
verfügbar zu machen. Je nach Erkenntnisinteresse können unterschiedliche
Pfade an Information angesteuert werden, zu Herstellern, zu Themengruppen,
zur Darstellungsweise. Einige der Tafeln
gehen digital wieder in die fachspezifische Lehre ein, drei bis vier Kurse an der
MLU verwenden derzeit sogar noch die
Originale.
Mit hohem personellen Aufwand
ging daher das ZNS in Zusammenarbeit
mit einem professionellen Fotografen an
die Digitalisierung aller Lehrtafeln im
aktuellen Erhaltungszustand. Die hoch
auflösenden tif-Dateien wurden in einer
Bilddatenbank gespeichert. Diese Datenbank dient heute nicht nur zur
digitalen Sicherung der Lehrtafeln,
sondern sie dokumentiert den Ist-Zustand der Lehrtafeln vor jeglicher Konservierung und ist Arbeitsgrundlage für
alle weiteren Schritte der Aufarbeitung.
Für alle Lehrtafeln aus Papier, die stark
angegriffen und beschädigt sind, ist eine
komplette Restaurierung notwendig.
Erste Versuche, diese Aufgabe aus eigenen Kräften unter fachkundiger Anleitung zu bewerkstelligen, wurden wieder
aufgegeben. Es war eine Initialzündung
notwendig, um nun beispielhaft über
100 Tafeln restaurieren bzw. konservieren zu lassen. Angestoßen wurde dieses
Anliegen durch die finanzielle Unterstützung der Koordinierungsstelle für die
Erhaltung des schriftlichen Kulturguts
(KEK) an der Staatsbibliothek zu Berlin
– Preußischer Kulturbesitz. Seit nunmehr zwei Jahren kooperiert daher das
ZNS mit einer Restaurierungswerkstatt
in Berlin in der konservatorischen Stabilisierung und Papierrestaurierung der
Tafeln. Frank D. Steinheimer leitet das Zentralmagazin Naturwissenschaftlicher Sammlungen an der Martin-Luther-Universität
Halle-Wittenberg.
Zentralmagazin Naturwissenschaftlicher
Sammlungen
Domplatz 4, 06108 Halle (Saale)
Telefon 0345 - 55 21437
www.naturkundemuseum.uni-halle.de
25
TITELTHEMA ERHALTUNG DES SCHRIFTLICHEN KULTURGUTS
KUPFER FRISST DAS
KÖNIGSBUCH
Die Restaurierung einer persischen Prachthandschrift
aus dem 16. Jahrhundert in der
Bayerischen Staatsbibliothek in München
von Irmhild Schäfer
D
ie Prachthandschrift aus Persien
überliefert das „Königsbuch“, mit
dem der Dichter Abū l-Qāsim
Firdausī um das Jahr 1000 in nahezu
60.000 Versen die Geschichte Persiens
von den Anfängen bis zur islamischen
Eroberung im 7. Jahrhundert erzählt.
Das Königsbuch, persisch „Shāhnāma“,
stellt das Lebenswerk des Dichters dar,
für dessen Niederschrift er nach eigenen
Angaben 35 Jahre benötigte, und das
zum Nationalepos der persischsprachigen Welt – die heutigen Staaten Iran,
Afghanistan und Tadschikistan – avancierte. Das Königsbuch ist eines der
berühmtesten Werke der persischen
Literatur und der Weltliteratur.
Die Schāhnāme-Handschrift entstand um 1550 –1600 in der Hofschule
von Schiraz, einem bedeutenden Zentrum der Buchmalerei im Safavidenreich.
Die Qualität der 26 farbenprächtigen
Miniaturen und der Kalligraphie sowie
der Umfang von 1.218 Seiten im Format von 39 × 26 cm machen diese
Handschrift einzigartig. Die Bayerische
Staatsbibliothek erwarb sie im Jahr 1858
aus der Bibliothek des französischen
Orientalisten Etienne Quatremère für
ihre exzellente und reiche OrientaliaSammlung, die bis in die Zeit der
Bibliotheksgründung durch Herzog
Albrecht V. von Bayern im Jahr 1558
zurückreicht.
Aufgrund des extremen Farbschadens ist diese Schāhnāme-Handschrift
allerdings seit langem für die Öffentlichkeit und Forschung nicht zugänglich,
Schāhnāme-Handschrift, Bl. 296v/297r: Bankett anlässlich der Thronbesteigung von König Luhrasb,
um 1550 –1600, 1218 Seiten, 39 × 26 cm; Bayerische Staatsbibliothek München, Cod.pers. 15. Die
Titelabbildung dieser Arsprototo-Ausgabe zeigt einen Ausschnitt dieser Seiten
ARSPROTOTO 4 2015
denn der in persischer Kalligraphie
geschriebene Text droht beim Blättern
der Seiten spaltenweise auszubrechen.
Ursache ist die grüne, kupferhaltige
Tusche, mit der die Textspalten durchgängig fein umrahmt wurden. Sie katalysiert den Abbau der Cellulose, der das
Papier allmählich brüchig werden lässt.
Da die Textspalten auf Vorder- und
Rückseite eines Blattes an der exakt
gleichen Position angelegt sind, trifft die
Tusche zweifach und daher mit erhöhter
Schadwirkung auf das Papier. Der Farbschaden durchzieht den Buchblock in
unterschiedlicher Intensität von der
ersten bis zur letzten Seite und hat an
einigen Stellen bereits zum partiellen
Ausbrechen von Textfeldern geführt.
Angesichts des Schadenumfangs und
der Empfindlichkeit der Handschrift
mit ihrer Miniaturmalerei auf feinstem
polierten orientalischen Papier ist die
Restaurierung eine ganz besondere
Herausforderung. Das Konzept für die
Maßnahme zielt auf die mechanische
Stabilisierung der brüchigen und gebrochenen Spalten­rahmung ab, damit die
Handschrift mit der gebotenen Sorgfalt
wieder benutzt werden kann. Hierfür
wird das „Münchener Tissue“ verwendet, das im Institut für Bestandserhaltung und Restaurierung (IBR) der
Bayerischen Staatsbibliothek entwickelt
wurde und seit langem erprobt ist. Das
Münchener Tissue ist ein mit einer
speziellen Dispersion aus Acrylaten
beschichtetes, nahezu transparentes
Japanpapier mit einem Flächengewicht
27
Restaurierung der Schāhnāme-Handschrift: Sicherung der Bruch­
kanten mit dem sogenannten Münchener Tissue, einem thermisch
reaktivierbaren acrylatbeschichteten Japanpapier
von nur etwa 2,0 Gramm pro Quadratmeter. Das mit dem Heizspatel aktivierte
Acrylat verliert mit dem Aufbringen auf
dem Original seinen Glanz und wird
kaum sichtbar. Daher eignet sich dieses
dünne Tissue zur Applikation über
Schrift oder Malerei, ohne diese optisch
zu beeinträchtigen. Auch die schwer
zugänglichen Stellen etwa im Falz des
Buches können stabilisiert werden, da
das Acrylat erst auf dem Objekt reaktiviert wird.
Diese Restaurierungsmethode hat
den Vorteil, dass das Tissue wasserfrei
appliziert wird. Damit ist das Risiko
einer Migration von schädlichen MetallIonen in die umgebenden Partien sowie
in das Trägerpapier fast vollständig
ausgeschlossen. Die verwendeten
Acrylate besitzen eine hohe Alterungs­
beständigkeit. Tinten, Tuschen und
Farben, die mit aggressiven Bestand­
teilen das Papier schädigen, treten in der
ganzen Bandbreite des schriftlichen
Kulturerbes und daher relativ häufig auf,
z. B. bei mittelalterlichen und neuzeit­
lichen Handschriften oder Musikhandschriften, bei Atlanten, Karten oder
Briefen in Nachlässen. Die Erfahrung
des IBR mit Acrylaten reicht daher bis
in die 1970er Jahre zurück.
Derzeit wird die Schāhnāme-Handschrift mit einer Fördersumme im unteren fünfstelligen Bereich im Rahmen der
diesjährigen Modellprojekte der Koordinierungsstelle für die Erhaltung des
schriftlichen Kulturguts (KEK) restauriert. Die zugleich sehr aufwendige wie
anspruchsvolle Maßnahme wird auf der
Grundlage des vom IBR erstellten Konzepts mit einem Team aus drei freiberuflichen Restauratoren im IBR durchgeführt, die Erfahrung mit dem Münchener Tissue haben. Die Schäden und
Maßnahmen werden im Restaurierungsprotokoll des IBR detailliert dokumentiert.
Diese Kostbarkeit aus Persien mit
ihren farbenprächtigen Miniaturen und
ihrer exzellenten Kalligraphie bleibt
auch nach der Restaurierung besonders
schutzbedürftig, kann aber gemäß
konservatorischer Vorgaben in Ausstellungen präsentiert oder von Wissenschaftlern im Spezial-Lesesaal konsultiert
werden. Im direkten Anschluss an die
Restaurierung wird die Handschrift im
Scanzentrum der Bayerischen Staats­
bibliothek digitalisiert, damit sie in
verschiedenen Kontexten zeit- und
ortsunabhängig im Netz für die breite
Öffentlichkeit und die Wissenschaft
verfügbar ist. Bayerische Staatsbibliothek
Ludwigstraße 16, 80539 München
Telefon 089 - 286380
www.bsb-muenchen.de
Ausbruch des Textfeldes am rechten Rahmen der Schāhnāme-Handschrift
28
Schāhnāme-Handschrift, Bl. 343v: Rustam brät am Lagerfeuer einen Esel,
um 1550 –1600; Bayerische Staatsbibliothek München, Cod.pers. 15
29
TITELTHEMA ERHALTUNG DES SCHRIFTLICHEN KULTURGUTS
VON BÖSEN DÄMONEN UND SCHLIMMEN STUDENTEN Die Farb- und Maltechnik der Naumburger
Chorbücher von 1504
von Robert Fuchs
Dieses Faksimile eines Chorbuchs im Naumburger Dom demonstriert den
ursprünglichen Benutzungskontext auf einem speziell zugeschnittenen Pult
30
D
er Naumburger Dom besitzt eine
bedeutende Gruppe großformatiger illuminierter Chorbücher aus
dem späten Mittelalter. Die acht Handschriften wurden für das Domkapitel
von Meißen für das Officium in einem
nicht genau bekannten Skriptorium
gefertigt und können aufgrund von
Einträgen auf 1504 datiert werden. Sie
sind ca. 81 × 63 cm groß, zwischen 8
und 15 cm dick und wiegen jeweils
zwischen 30 und 40 kg.
In der Folge der Einführung der
Reformation im Hochstift Meißen ging
die Handschriftengruppe nach dem
Tod Herzog Georg des Bärtigen im Jahr
1539 in den landesherrlichen Besitz
über.
Im Jahr 1579 konkurrierten die
beiden nicht säkularisierten Domstifte
in Merseburg und Naumburg um den
Erwerb der wertvollen Chorbücher. Das
Naumburger Kapitel erhielt den Zuschlag und so wurden die Bücher 1580
in den Naumburger Dom überführt, wo
sie auf speziell auf ihre enorme Größe
und Gewicht zugeschnittenen Pulten
aufgelegt wurden.
Zu den außergewöhnlichen Besonderheiten der Naumburger ChorbuchGruppe gehört ihre lange Nutzung im
liturgischen Gebrauch. Die Einführung
der Reformation im Naumburger Hochstift in der Mitte des 16. Jahrhunderts
führte nicht zum Abbruch der überkommenen „römischen“ Liturgieformen
im Chordienst. So wurde – obwohl
sämtliche Naumburger Kanoniker seit
dem frühen 17. Jahrhundert persönlich
lutherischen Glaubens waren – an der
Tradition der lateinischen Horen im
Ostchor des Naumburger Domes bis in
das späte 19. Jahrhundert festgehalten.
Entsprechend blieben auch die acht
mittelalterlichen Chorbücher weiterhin
im Gebrauch. Erst im Rahmen einer
Neuordnung der Stiftsverhältnisse unter
der Aufsicht des preußischen Staates
wurden die alten Gesänge im Jahr 1874
ausgesetzt.
Trockenreinigung des Chorbuchs VIII
RESTAURIERUNG – MONI- TORING – DOKUMENTATION
Die acht Chorbücher wurden am CICS,
dem Cologne Institute of Conservation
Sciences der Technischen Hochschule
Köln, im Zuge einer Kooperation mit
den Vereinigten Domstiftern Naumburg
in einem von der KEK geförderten
Projekt detailliert dokumentiert und
untersucht. Band VIII wurde modellhaft
restauriert, um eine sinnvolle Kostenkalkulation für die anderen sieben Bände zu
ermöglichen. Die naturwissenschaft­
lichen Untersuchungen sollten den
Schadensverlauf ermitteln und zukünftige Schadenspotenziale aufzeigen. Diese
sollten dann in einem Monitoring über
die nächsten Jahre hinweg beobachtet
Detail aus dem Chorbuch IV, fol. 50r
ARSPROTOTO 4 2015
werden, um weitere konservatorische
Maßnahmen vorher planen zu können.
Für ein sinnvolles Monitoring möglicher
Schadenspotenziale muss eine ausführ­
liche Foto- und Beschreibdokumentation
angefertigt werden. Nur so können
zukünftige Schäden vorhergesehen und
rechtzeitig behoben werden. Jede Seite
wurde nach verschiedenen Kriterien
beschrieben und fotografisch dokumentiert.
Die Schwierigkeit bestand wiederum
in der Größe und dem Gewicht der
einzelnen Bände – allein, um sie zu
bewegen, braucht man mindestens vier
Hände und viel Kraft.
UNTERSUCHUNG DER MALTECHNIK, DER PIGMENTE UND
FARBSTOFFE
Die Malereien wurden zuerst mit einem
Metallgriffel vorgezeichnet, der aber
nur an wenigen Stellen sichtbar wird.
Die Maler haben die Vorzeichnung fast
immer mit den Farbschichten übermalt.
Dann erfolgte der Auftrag des Polier­
goldes, das auf rotem Bolus (einem
Erdpigment) und weißem Assis (einer
Grundierung aus Kreide oder Bleiweiß) ­
aufge­tragen und poliert wurde.
PROBLEME DER ANALYTIK
Die enorme Größe und das Gewicht
der Bände schränkte die Verwendung
der Analysegeräte stark ein. So war
die Röntgendiffraktionsanalyse nur
an einem durch Beschädigung frei im
Buch liegenden Blatt möglich. Die
anderen Spezialuntersuchungen (wie
z. B. die Röntgenfluoreszenzanalyse mit
einem Handmessgerät) konnten in der
gebundenen Handschrift erfolgen. Auch
die mikroskopischen Aufnahmen mit
der digitalen Mikroskopie waren stark
eingeschränkt, da unter der Verwendung
der vorhandenen Stative nicht jeder
Ort innerhalb der Handschrift erreicht
werden konnte.
Die Ergebnisse zeigen eine reichhaltige Farbpalette: Das Posjnakit (basisches
Kupfersulfat) ist ein typisches sekundäres
Mineral, das in den Kupferbergwerken
als Verwitterungsprodukt der Kupfererze
anfällt und das gerade in der Zeit der
Herstellung der Chorbücher auch in
Quellen (unter dem Namen „Schiffer
grün“) auftaucht. Typisch für ein sekundäres Vorkommen ist die Verunreinigung
mit anderen Kupferverbindungen, hier
Malachit. Unter den weiteren Farbmitteln sind vor allem die organischen
31
Farbmittel Brasilholz und Schildlausfarbe
(Kermes) zu erwähnen. Vor allem der
Schildlaus-„Purpur“ wurde wohl aus
Scherwollabfällen gewonnen – eine
Technik, die Anfang des 16. Jahrhunderts sehr gebräuchlich war.
Die zerstörungsfreien Techniken
können allerdings nicht zwischen den
verschiedenen Kermesarten (Mittelmeerkermes, Araratkermes) unterscheiden.
Als Blau kam nur Azurit zur Verwendung – allerdings vermischt mit Weißpigmenten für helleres Blau und mit
Rotfarbmitteln für die violetten Töne.
Sehr auffällig sind die Farbkombinationen beispielsweise von Orange mit Grün
und Silber.
FANTASIEREICHE DEKORATIONEN
Die Chorbücher sind mit detailfreudigen
Illustrationen aus der Pflanzen- und
Tierwelt verziert. In die farbenprächtigen
Voluten sind Blumen und Tierdarstellungen eingestreut, manchmal auch kleine
Szenen zur Jagd und verspielte Putten.
Die Malereien sind von verschiedenen
Malern gefertigt und von großer Qualität. Leider ist die Werkstatt unbekannt.
HÄNDESCHEIDUNG DER MALEREIEN
Zwei der Maler unterscheiden sich sehr
eindeutig in ihrem Malstil. Während der
Eine sehr voluminös und kleinteilig
modelliert, malt der Andere flach und
zurückhaltend. In einigen Malereien
könnte noch ein dritter Maler mit einem
zwar voluminösen, aber schlichten und
einfachen Stil zu unterscheiden sein.
SPUREN DER NUTZUNG Aufgrund ihrer langen Nutzung bis weit
in das 19. Jahrhundert hinein weisen die
Chorbücher starke Gebrauchsspuren auf.
Gelegentlich verewigten sich sogar
Choralisten mit ihren Namen oder
Monogrammen in den kostbaren Handschriften. Unter den zwölf Choralisten,
die als Sänger an der Ausgestaltung der
Liturgie im Chor beteiligt waren, befanden sich jeweils sechs geeignete Schüler
der Domschule.
Wie in jedem Unterricht dürfte auch
im Naumburger Dom die Aufmerksamkeit der Schüler beim Üben gelegentlich
abgenommen haben: Manch einer
scheint eine Pause oder die Unachtsamkeit des Kantors dazu genutzt zu haben,
sich in den imposanten und nicht durchweg beliebten Riesenbüchern zu verewigen. Über ein ganzes Jahrhundert hinweg, von 1616 bis 1711, haben Einzelne
die Handschriften ihrerseits handschriftlich verändert: Mit Tinte oder Rötelstift
haben sie sich in der Art von datierten
Monogrammen in den überlieferten
Bücherschatz eingeschrieben – ganz so,
wie wir es von Bauwerken her kennen.
Subtileren Einträgen stehen dick aufgetragene Signaturen oder gar Einritzungen
in Blattvergoldungen gegenüber.
Detail aus dem Chorbuch VI, fol. 32r
Graffiti mit Initialen und Jahreszahl,
Detail aus dem Chorbuch III, fol. 177r
DÄMONEN
Auch einer der spätmittelalterlichen
Buchmaler schrieb sich als Individuum
in die Chorbücher ein. Noch ganz der
Bildtradition des Mittelalters verhaftet,
fügte er in Initialen und Ranken Fabelwesen, Dämonen und Monstren ein.
Man wird vermuten dürfen, dass er sich
dabei vielleicht an ältere Bestiarien
erinnert hat, die über vielfältige Ungeheuer berichteten. Im Mittelalter wurde
ihrer bildlichen Darstellung eine apotropäische, das heißt abwehrende Wirkung
zugesprochen: Was gezeigt wird, schien
durch die malerische Fixierung gleichsam
gebannt.
Die acht Chorbücher aus dem Naumburger Dom konnten durch das von der
KEK geförderte Projekt detailliert dokumentiert und untersucht werden. Die
modellhafte Restaurierung des Bandes
VIII am CICS erleichtert die sinnvolle
Kostenkalkulation für die anderen sieben
Bände und macht es möglich, die Mittel
dafür einzuwerben. Prof. Dr. Robert Fuchs ist Leiter der Studienrichtung Restaurierung und Konservierung von Schriftgut, Grafik, Foto und
Buchmalerei an der Technischen Hochschule Köln.
Cologne Institute of Conservation
Sciences (CICS), TH Köln
Ubierring 40, 50678 Köln
www.th-koeln.de
Chorbuch VIII, fol. 19r, Epiphanias (Erscheinung des Herrn)
32
33
Der Originalausdruck der
ersten E-Mail Deutschlands vom
3. August 1984, 90 × 30 cm;
Stadtarchiv Karlsruhe
TITELTHEMA ERHALTUNG DES SCHRIFTLICHEN KULTURGUTS
SIE HABEN EINE NEUE
NACHRICHT!
In Karlsruhe bedrohte Säurefraß die erste
in Deutschland empfangene E-Mail
von Ernst Otto Bräunche
A
m 3. August 1984 um 10.14 Uhr
war es so weit, auch Deutschland
nahm teil an einer der revolutionärsten Entwicklungen in der mensch­
lichen Kommunikation: Professor
Michael Rotert, der damalige Leiter der
Informatikrechnerabteilung der Universität Karlsruhe, heute Karlsruher Institut
für Technologie (KIT), empfing mit
dem Betreff „Willkommen im CSNET!“
die erste Mail auf einem deutschen
Rechner. „This is your official welcome
to CSNET. We are glad to have you
aboard“, begrüßte Laura Breeden vom
berühmten Massachusetts Institute of
Technology (MIT) in Boston den deutschen Kollegen im Kreis der an das
CSNET angeschlossenen Rechner. Die
erste E-Mail, die der Empfänger dem
Stadtarchiv Karlsruhe 2009 im historischen Ausdruck überlassen hat, markiert
damit einen Meilenstein in der Entwicklung des deutschen Internets und des
elektronischen Nachrichtenverkehrs.
Umso bedauerlicher ist es, dass das
elektronische Original der ersten deutschen Internet E-Mail nicht mehr existiert. Nichts könnte besser die Flüchtigkeit digitaler Unterlagen belegen. Die
Archive müssen sich deshalb einer
weiteren gewaltigen und auch kostenintensiven Herausforderung stellen. Der
dauerhafte Erhalt solcher in zunehmendem Maße auch in den öffentlichen
Verwaltungen anfallenden digitalen
Daten ist die derzeit wohl komplexeste
archivische Aufgabe.
Die erste E-Mail steht aber auch für
ein weiteres gravierendes aktuelles Problem: Sie ist heute nur noch in Form
eines 90 × 30 cm großen Ausdrucks
34
überliefert. Die Information hat auf
diese Weise zwar bis heute überdauert,
ihr Erhalt ist aber in hohem Maße
gefährdet, da sie auf säurehaltigem
Papier ausgedruckt wurde. Archive
fordern deshalb aus gutem Grund den
unbedingten Einsatz alterungsbeständiger Papiere (nach DIN EN ISO 9706),
Druckfarben und Schreibstoffe für die
Unterlagen, die von ihnen archiviert
werden.
Als von der Koordinierungsstelle für
die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts (KEK) gefördertes Modellprojekt
hat das Stadtarchiv Karlsruhe nun alle
derzeit möglichen konservatorischen
und restauratorischen Maßnahmen zur
Rettung dieses einmaligen Dokuments
ergriffen. Die Selbstklebe­folie wurde
entfernt, Risse wurden geschlossen. Die
Entsäuerung des Papiers erfolgte mit
einem wässrigen Verfahren (Papierentsäuerung mit dem „Bückeburger Verfahren“). Für eine künftig sichere Aufbewahrung erstellten die Restauratoren ein
maßgenaues Schutzbehältnis. Um Schäden im Rahmen der Nutzung oder
Präsentation zu verhüten, wurde die
erste E-Mail digitalisiert und drei Fak­
similes angefertigt. Damit wird eine
möglichst lange Lebensdauer dieses
einmaligen historischen Dokuments
unter optimalen klimatischen Lagerungsbedingungen im Stadtarchiv
Karlsruhe gewährleistet. Dr. Ernst Otto Bräunche ist Leiter des
Stadtarchivs Karlsruhe.
Stadtarchiv Karlsruhe
Markgrafenstraße 29, 76133 Karlsruhe
Telefon 0721-1334225
www.karlsruhe.de
35
TITELTHEMA ERHALTUNG DES SCHRIFTLICHEN KULTURGUTS
Gebang-Palmblatthandschrift, 15. Jh., 89 Palmblätter, Schriftbild 35 × 3 cm, 4 Zeilen pro
Blattseite, altjavanische quadratische Schrift; Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer
Kulturbesitz, Signatur: Schoemann I 21
EIN BESCHRIEBENES BLATT Eine der weltweit ältesten indonesischen Handschriften
muss vor dem Zerfall gerettet werden
von Thoralf Hanstein
S
eit Mitte des 19. Jahrhunderts gehört eine der ältesten Gebang-Palmblatthandschriften Südostasiens zum
Bestand der Sammlung der Staats­
bibliothek zu Berlin. Es handelt sich um
einen religiösen Text in der bereits von
Wilhelm von Humboldt untersuchten
altjavanischen Kawi-Schrift. Sie ist in
einem für Java typischen hölzernen
Kasten aufbewahrt. In den Sammlungen
weltweit haben nur wenige Dutzend
Gebang-Handschriften die Zeit überdauert. Lange ging man davon aus, dass es
sich bei den wenigen ältesten erhaltenen
Exemplaren um Handschriften aus den
Blättern der Nipah-Palme (Nypa fruticans) handelte, aber nach neuesten
Erkenntnissen wurden Blätter der Gebang-Palme (Corypha gebanga) verwendet. Sie stellen den Übergang von Steinund Metallinschriften zum portablen
Schriftträger dar und wurden direkt mit
Rußtusche beschrieben. Später wurde
dieses Material recht schnell von Blättern
der Lontar-Palme verdrängt, die dicker
und stabiler sind, so dass der Text in den
36
Schriftträger eingeritzt werden konnte.
Gebang-Handschriften sind also unikale
Objekte aus einer ganz besonderen
Epoche der frühen Schriftlichkeit, deren
Bestand und Erforschung unbedingt
gesichert werden muss. Die Berliner
Handschrift ist auf 1407 oder 1467
datiert – je nach Lesung. Damit gehört
sie zu den ältesten Exemplaren weltweit.
In der Sammlung der Staatsbibliothek zu
Berlin gibt es über 3.500 Palmblatthandschriften, aber nur diese eine GebangPalmblatthandschrift.
Nicht nur Alter und Material der
Handschrift sind ungewöhnlich, sondern
auch der Text ist unikal, von dem keine
weitere Kopie bekannt ist. Es ist ein
shivaitischer Text auf Sanskrit mit alt­
javanischen Erläuterungen mit dem Titel
Darma Pātañjala. Im Text werden u. a.
die Kosmologie des Shivaismus und das
Konzept von Yoga und Karma behandelt,
und zwar in Form eines Frage-AntwortDialogs zwischen der Hindu-Gottheit
Bhattara und seinem Sohn Kumara.
Die Aufbewahrung der Handschrift in
dem hölzernen Kasten hat zwar den
Verlust loser Teile verhindern können, da
aber die Maße des Kastens zu knapp
bemessen wurden sind, leiden die einzelnen Blätter bei jeder Nutzung. Hinzu
kommt, dass durch den Faden im
Schnurloch in der Mitte der Blätter
Feuchtigkeit eingedrungen und das
Material an diesen Stellen spröde und
brüchig geworden ist. Die einzelnen
Palmblätter sind an diesen Stellen durch
Brüche so destabilisiert, dass eine Digitalisierung oder gar Nutzung durch die
Forschung ohne eine grundlegende
konservatorische Sicherung und Neukonzeption der Aufbewahrung ausgeschlossen ist. Dieses Objekt ist für die
Benutzung zurzeit gesperrt.
Mit Fördermitteln aus der Koordinierungsstelle für die Erhaltung des
schriftlichen Kulturguts wird diese
Zimelie jetzt vom Berliner DiplomRestaurator Dirk Schönbohm aus dem
verordneten Dornröschenschlaf geholt.
Hauptziel der Maßnahmen ist die nachhaltige, konservatorische Sicherung des
unersetzbaren Originals für die Zukunft.
Das neue Aufbewahrungskonzept soll die
Nutzung des Originals durch Handschriftenexperten ermöglichen, ohne dass
das Palmblatt selbst angefasst werden
muss. Nach erfolgter Konservierung und
Umsetzung des neuen Konzepts steht
diese Handschrift der Wissenschaft
wieder zur Verfügung. Gerade für die
Forschung sind neben dem Text die
physischen Aspekte des Objekts von
Bedeutung, die nur am Original angemessen untersucht werden können. Das
Risiko weiterer Schäden ist durch diese
Maßnahme und durch die Lagerung in
dem der DIN-Norm entsprechend
klimatisierten Tresormagazin weitgehend
minimiert. Nach der Digitalisierung
werden die Scans in hoher Qualität in
der Online-Datenbank www.orientdigital.de frei verfügbar sein. Dr. Thoralf Hanstein ist Mitarbeiter der
Orientabteilung der Staatsbibliothek zu
Berlin.
Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer
Kulturbesitz
Potsdamer Str. 33, 10785 Berlin
Telefon 030 - 266 435851
www.sbb.spk-berlin.de
TITELTHEMA ERHALTUNG DES SCHRIFTLICHEN KULTURGUTS
DIE MAPPEN DES MALERS Die Korrespondenz des Künstlers Ernst Müller-Scheeßel
konnte für die Zukunft erhalten werden
von Maria Elisabeth Müller
D
er Begründer des „Bremer Künstlerbundes“ Ernst Müller-Scheeßel
(1863 –1936) ist als Maler und
Gestalter des Roselius-Hauses in der
Bremer Böttcherstraße bekannt. 1903
hatte er eine Schwester des Mäzens und
Kaffee-HAG-Produzenten Ludwig
Roselius (1874 –1943) geheiratet, für
dessen Sammlung er das Haus in der
Böttcherstraße umgestaltete und wo er
sich ein Atelier einrichtete. Beide verband ein starkes Interesse an niederdeutscher Kunst und Volkskultur. Die Anbindung an die Heimat(-kunst)bewegung
erklärt auch Müller-Scheeßels Motivund Formwahl im malerischen, graphischen und kunstgewerblichen Werk.
1908 eröffnete er auf dem Meyerhof
in Scheeßel das sogenannte Kunstgewer-
Geschäfts- und Privatkorres­
pondenz Ernst Müller-Scheeßels;
Staats- und Universitäts­
bibliothek Bremen
ARSPROTOTO 4 2015
behaus, in dem Möbel nach seinen Entwürfen ausgestellt und verkauft wurden.
In einer Synthese aus Jugendstil und
niedersächsischer Volkskunst wurden sie
im Auftrag Müller-Scheeßels von ortsansässigen Tischlereibetrieben gefertigt. In
betuchten bürgerlichen Haushalten war
es en vogue, sich mit Mobiliar von
Müller-Scheeßel einzurichten. Ähnlich
wie bei Heinrich Vogeler und Bernhard
Hoetger war diese Tätigkeit Resultat
eines umfassenden Kunstverständnisses,
zugleich sicherte sie dem späteren Professor an der Hochschule für Künste in
Bremen auch ein zuverlässiges Einkommen.
Aus dieser Zeit übernahm die Staatsund Universitätsbibliothek (SuUB)
Bremen im Juli 2011 durch eine Schen-
kung der Erben die Geschäftskorrespondenz Müller-Scheeßels in ihren Bestand.
Weiterhin befinden sich darunter Briefe,
Zeitungsausschnitte, Plakate, Kataloge,
Fotos und Klischees. Diese Materialien
verstehen sich als wertvolle Ergänzung
zu dem im Heimatmuseum in Scheeßel
verwahrten Nachlass.
Die übernommene Korrespondenz
befand sich jedoch in physisch schlechtem Zustand. Eine konservatorische
Bearbeitung war unerlässlich, da ein
Verlust zumindest von Teilen des Bestandes drohte. In der Restaurierungswerkstatt der SuUB Bremen wurde die Geschäftskorrespondenz, die in Aktenordnern abgeheftet war, Blatt für Blatt
gereinigt und geglättet. Einrisse an den
Blattkanten wurden mit Japanpapier
geschlossen. Anschließend wurden die
Papiere in transparente Archivhüllen aus
Pergamin mit seitlicher Ablochheftung
eingelegt. Dadurch ließ sich das von
Müller-Scheeßel selbst praktizierte
Ablagesystem in Ordnern beibehalten.
In diesen Zustand wurden auch die mit
Bindfäden grob zu Stapeln gebündelten
Korrespondenzen aus den späteren
Geschäftsjahren überführt.
Briefe, Zeitungsausschnitte und
Kataloge, die unsortiert in Mappen oder
Postumschlägen beilagen, wurden – nach
Themen und Jahrgängen geordnet – mit
alterungsbeständigen Schutzverpackungen versehen. Fotografien und Plakate
erhielten Passepartouts.
Durch diese Maßnahmen, die von
der Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts (KEK)
und dem Freundeskreis der SuUB Bremen finanziell unterstützt wurden,
konnte der Nachlass für die Zukunft
bewahrt und eine Nutzung für die wissenschaftliche Öffentlichkeit im Handschriftenlesesaal der Bibliothek ermöglicht werden. Maria Elisabeth Müller ist Direktorin der
Staats- und Universitätsbibliothek Bremen.
Staats- und Universitätsbibliothek Bremen
Bibliothekstraße, 28359 Bremen
Telefon 0421- 218 594 00
www.suub.uni-bremen.de
37
TITELTHEMA ERHALTUNG DES SCHRIFTLICHEN KULTURGUTS
AUSGESCHNITTEN UND
EINGEKLEBT
Rettung für Hans Falladas Rezensionssammlung
von Erika Becker
D
as Literaturzentrum Neubrandenburg führt seit über 30 Jahren ein
regionales Literaturarchiv, dessen
wichtigster Bestand der Nachlass von
Hans Fallada (1893 –1947) ist. Falladas
Bücher werden seit einigen Jahren weltweit neu übersetzt und verlegt. Das
Forschungs- und Medieninteresse im
In- und Ausland wächst seitdem deutlich, was zu einer stärkeren Nutzung der
Archivbestände führt. Die Dokumente
geben Einblicke in die Lebens- und
Schaffensumstände dieses populären
Schriftstellers und spiegeln ein Stück
Zeit- und Verlagsgeschichte des 20.
Jahrhunderts. Es ist daher wichtig, sie
für zukünftige Forschungsvorhaben zu
erhalten und zu sichern. Einen bedeutenden Beitrag dazu leistet die Projektförderung der Koordinierungsstelle für
die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts (KEK) für die Restaurierung stark
gefährdeter Teile der Rezensions- und
Briefsammlung Hans Falladas aus den
1930er und 40er Jahren.
Zu Beginn des Jahres 1930 wurde
Hans Fallada Mitarbeiter im Ernst
Rowohlt Verlag in Berlin. Bis dahin hatte
er sich seinen Lebensunterhalt als Lokalreporter und Annoncenwerber in Neumünster verdient. In seinem Erinnerungsbuch „Heute bei uns zu Haus“
(1943) schreibt er darüber: „Kommt in
einem Verlag ein neues Buch heraus,
so werden Besprechungsexemplare an
Zeitungen und Zeitschriften versandt.
[…] Mein Amt sollte es nun sein, übersichtliche Listen über den Versand dieser
Besprechungsexemplare anzulegen, aus
denen auf einen Blick zu ersehen war,
wer wann was erhalten hatte. Weiter
38
musste ich dann die von zwei Ausschnittbüros übersandten Kritiken
ordnen und in ebendiesen Listen abbuchen. […] Worauf ich mich auf wahre
Berge von Zeitungsausschnitten stürzte.
Ich las, ordnete, klebte ein, buchte –
kurz, aus dem Straßenläufer war ein
Bürositzling geworden. Mir gefiel das
ausgezeichnet.“
Falladas Angestellten-Dasein im
Verlag währte nur kurz bis 1931, aber
das Sammeln, Ordnen und Bewahren
der Rezensionen zu seinen Büchern hat
er weiter akribisch betrieben. Im Nachlass haben sie sich erhalten, geordnet
nach Büchern und Erscheinungsorten,
darüber hinaus eine große Anzahl von
Briefen von und an den Schriftsteller,
die er ebenfalls nach Briefpartnern und
Jahrgängen abgelegt hatte.
Im Laufe der Jahre haben diese alten
Papiere stark gelitten. Das holzhaltige
Papier zerfällt langsam. Die säurehaltigen
Klebstoffe fingen an, die aufgeklebten
Zeitungsartikel zu zersetzen und die
Schrift verblassen zu lassen. Mechanische
Beschädigungen wie Risse oder Knicke
waren aufgetreten. Mit Hilfe der Förderung durch die KEK können diese
Papiere nun vor weiterem Zerfall geschützt werden. Dazu werden die alten
Verklebungen gelöst, Zeitungsausschnitte
und Trägerpapiere getrennt, beides wird
entsäuert und anschließend mit neuen
Klebern in archivgerechter Qualität
wieder zusammengefügt. Bei mechanischen Beschädigungen werden die Blätter mit neuem Trägerpapier hinterlegt
und so stabilisiert. Die Restaurierungs­
arbeiten werden von der Papierwerkstatt
des Neubrandenburger Regionalmuseums durchgeführt. Erika Becker ist Leiterin des
Hans-Fallada-Archivs.
Hans-Fallada-Stiftung
c/o Literaturzentrum Neubrandenburg e.V.
Brigitte-Reimann-Literaturhaus
Gartenstraße 6, 17033 Neubrandenburg
Telefon 0395 - 5719180
Der Schriftsteller Hans
Fallada an seiner
Schreibmaschine in
Carwitz, 12.3.1934;
Hans-Fallada-Archiv,
Neubrandenburg
Rezension der Heilbronner Neckar-Zeitung zu Hans Falladas Roman „Bauern, Bonzen und
Bomben“ von 1931 aus dem Nachlass Falladas; Hans-Fallada-Archiv, Neubrandenburg
39
HELFEN SIE MIT:
MUTTER UND SOHN IN NOT
In der Kunst­halle
Rostock braucht
ein Selbstporträt
der Malerin Kate
Diehn-Bitt Ihre
Unterstützung
von Stephanie Tasch
Kate Diehn-Bitt, Selbstbildnis mit Sohn, um 1930,
99 × 74 cm; Kunsthalle Rostock
40
M
utter, „Neue Frau“, Arbeiterin?
Frontal schaut die junge Frau in
Schwarz, mit hellblondem garçonne-Schnitt auffallend mondän vor
einer Naturkulisse im Hintergrund, auf
den Betrachter. Sie umfasst einen Knaben in Unterhemd und Mütze, der sich
uns ebenfalls zuwendet. Mutter und
Sohn halten unseren Blicken mit weit
geöffneten Augen stand, sie sind in ihrer
Umarmung ganz für sich. Das rote
Halstuch der Malerin mag ein Wink in
Richtung ihrer – der bürgerlichen Herkunft zuwiderlaufenden – politischen
Überzeugungen sein. Das Bild ist auf
Holz gemalt, die Malweise glatt, kühl,
ein wenig konstruktivistisch, vor allem
aber an der „Neuen Sachlichkeit“ der
Weimarer Republik orientiert. Kate
Diehn-Bitts „Selbstbildnis mit Sohn“,
um 1933 entstanden, ist ein Schlüsselwerk der Malerin.
1900 in Schöneberg bei Berlin
geboren, war Kate (ursprünglich: Käthe)
Diehn-Bitt eine Tochter aus bürgerlichem Hause. Ihre Ausbildung erfolgte
ausschließlich in verschiedenen privaten
Kunstschulen; nach der frühen Heirat
und der Geburt des Sohnes im Jahre
1920 nahm sie 1929 –31 ein Studium
an der – wiederum – privaten Kunstaka­
demie Dresden auf, an der Woldemar
Winkler (1902–2004) ihr Lehrer wurde,
der sie später als „eine sehr kluge, sehr
selbstbewusste, emanzipierte Persönlichkeit“ beschrieb. Die Dresdner Kunstszene um Otto Dix, Otto Griebel und
andere dürfte für Diehn-Bitt so eindrücklich gewesen sein wie die politische
Stimmung in der Stadt. Zurück in
Rostock richtet sie 1933 ihr erstes Atelier
ein; 1935 stellt sie zusammen mit der
Bildhauerin Hertha von Guttenberg in
der Galerie von Wolfgang Gurlitt in
Berlin aus – es wird bis 1948 dauern, bis
ihr in Schwerin wieder eine Ausstellung
gewidmet wird. Während der NS-Zeit
wird Kate Diehn-Bitts Stiefvater Dr. Leo
Glaser als Jude verfolgt; sie selbst und ihr
Werk werden als „artfremd“ diffamiert.
Nach Kriegsende engagiert sich DiehnBitt in der neu gegründeten DDR zunächst kulturpolitisch, zieht sich aber
nach dem Verdikt, „nicht zukunftweisend und optimistisch“ zu malen, in den
ARSPROTOTO 4 2015
Kate Diehn-Bitt, Kirchenruine in Rostock, nach 1942,
99 × 74 cm; Kunsthalle Rostock
1950er Jahren aus allen Funktionen
zurück und stirbt 1978 in Rostock.
Sämtliche politisch-historischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts in Deutschland lassen sich an Biographie und Werk
ablesen. Der Kunsthalle Rostock ist es zu
verdanken, Teile ihres fast vergessenen
Œuvres zusammengeführt und 2002 in
einer Retrospektive gewürdigt zu haben.
Inzwischen gibt es Interesse auch aus der
Gegenwartskunst: Im vergangenen Jahr
integrierte die in Berlin lebende Künstlerin Michaela Meise Werke Diehn-Bitts
in ihre Ausstellung im Künstlerhaus
Bethanien.
Die Rückseite des in der Kunsthalle
Rostock aufbewahrten Selbstporträts
offenbart die Konsequenzen des Zweiten
Weltkriegs für die Stadt: Nach 1942
gemalt, sieht man über einer Wand aus
Trümmern emporragend die Ruine der
Ende April 1942 teilweise zerstörten
St. Nikolai-Kirche in Rostock mit den
charakteristischen Fensteröffnungen des
Turms. Vorder- und Rückseite stehen in
einer mehr als nur inhaltlichen Spannung
zueinander: Von der Aufbruchsstimmung
der am Beginn eines Erfolges stehenden
Künstlerin ist nichts übrig geblieben, und
die Wiederverwendung des Bildträgers
spricht deutlich von der Materialknappheit der Kriegs- oder unmittelbaren
Nachkriegszeit. Später setzten dem
Gemälde weitere Faktoren zu; nach
Auskunft der Kunsthalle müssen Spannungsrisse im Holz beseitigt, Fehlstellen
der Malschicht ausgeglichen und der alte
Firnis abgetragen und erneuert werden.
Mit Hilfe der Arsprototo-Leser hofft
die Kunsthalle Rostock, das Gemälde
restaurieren zu können, ist doch „Selbstbildnis mit Sohn“ von zentraler Bedeutung für das Verständnis einer Künstlerin, deren Werk es in seinen sämtlichen
Facetten wiederzuentdecken gilt.
Dr. Stephanie Tasch ist Dezernentin der
Kulturstiftung der Länder. Kunsthalle Rostock
Hamburger Straße 40, 18069 Rostock
Telefon 0381-3817000
www.kunsthallerostock.de
Wir bitten Sie herzlich, liebe Leserin
und lieber Leser, um Unterstützung für
die Kunsthalle Rostock. Spenden Sie
für die Restaurierung des Gemäldes
„Selbstbildnis mit Sohn“ von Kate
Diehn-Bitt und überweisen Sie bitte
unter dem Stichwort „Kunsthalle
Rostock“ auf eines der Konten der
Kulturstiftung der Länder. Überweisungsträger finden Sie im Heft nach der
Seite 66. Vielen Dank!
41
ERWERBUNGEN
MÄDCHEN UNTER DER HAUBE
Die „Spreewälder Spinnerinnen“ von Philipp Franck
kommen ins Wendische Museum in Cottbus
von Ingeborg Becker
E
ffektvoll im Hell-Dunkel einer abendlichen Raumbeleuchtung inszeniert, erscheinen zwei Mädchen
am Spinnrad mit Spindel und Rocken (altdeutsch
Kunkel), die der Berliner Maler Philipp Franck 1907
während einer seiner zahlreichen Reisen in den Spreewald porträtierte.
Zwar mit Verspätung zu Vorgängern wie den Malern Paul Gauguin, Vincent van Gogh oder dann Max
Liebermann, die bretonische oder holländische Frauen
und Mädchen in ihrer charakteristischen Tracht als
Bildsujet wählten, fand auch Philipp Franck (1860
Frankfurt a. M. – 1944 Berlin) im Spreewald jene Exotik im Nahen, eine nahezu unberührte Landschaft mit
autochthonen Bewohnern, die Brauchtum und Tracht
bewahrt hatten und ein malerisch reizvolles Gegenbild
zum städtischen Leben verkörperten.
Der Spreewald, mythisch durch die Ursprungs­
bevölkerung der Wenden und Sorben, mit einer eigenen Sprache und der malerischen Tracht seiner Bewohner, den zahllosen Wasserwegen und der gewissen
Melancholie der Landschaft, war durch Ausflügler aus
der nahegelegenen Großstadt Berlin zunehmend tou­
ristisch erkundet worden. Graphische Mappen mit
romantischen Ansichten zirkulierten und verhalfen
der abgeschiedenen Gegend seit den 1880er Jahren
zu Popularität. Francks Hinwendung zur SpreewaldRegion entsprang jedoch nicht einem Interesse an der
Eigentümlichkeit dieser Landschaft, sondern es entstand hier eine kleine Reihe von Gemälden, intime
Interieurs, die Frauen und Mädchen in ihren dekora­
tiven Trachten bei häuslichen Arbeiten zeigen.
Die sukzessive Stadtflucht des seit 1892 in Berlin
lebenden Malers hatte mit seiner Übersiedlung ins
Wannseedörfchen Stolpe begonnen, einem Ort, der
noch durch eine bäuerliche Bevölkerung geprägt war
und sich erst allmählich mit der Villenkolonie Alsen zu
42
Philipp Franck in seinem Atelier, 1920
einer städtischen Sommerresidenz der prosperierenden
Reichshauptstadt entwickelte. Auch in den Genrebildern aus Stolpe stand für Franck zunächst die Faszination der einfachen Arbeit, wie es die Kartoffelernte oder
Feldarbeit war, die zumeist von Frauen ausgeführt
wurde, im Vordergrund. Das große Vorbild Liebermann
hatte den Weg frei gemacht für solche Motive.
Denn je stärker die Industrialisierung fortschritt,
desto mehr rückte die nicht entfremdete Arbeit der
Landbevölkerung auch in der modernen Malerei in den
Mittelpunkt. Diese Darstellungen avancierten zum
Sinnbild eines traditionellen sozialen Gefüges, das noch
intakt zu sein schien und ein mentales und ideologisches Gegengewicht zu dem Topos ‚Stadt‘ darstellte.
Im Gegensatz zu der Vereinzelung des Städters, seiner
Wurzellosigkeit und Individualisierung, erkannte man
im Menschen auf dem Lande einen Typus, dessen
Philipp Franck, Spreewälder Spinnerinnen, 1907, 68 × 53 cm;
Wendisches Museum, Cottbus
ARSPROTOTO 4 2015
43
Max Liebermann, Amsterdamer Waisenmädchen im Garten, 1885, 116,5 × 95,5 cm;
Hamburger Kunsthalle
Herkunft feststand. Ein sichtbarer Indikator dieser
Bindung war die jeweilige regionale Tracht.
Im Gegensatz zu der städtischen, bürgerlichen
Kleidung, die als gekünstelt und von der Mode abhängig gesehen wurde, verkörperte die Tracht mit ihrem
festgelegten Regelwerk ein Gegenbild. Die Trachtenkleidung ist seit Jahrhunderten entwicklungslos und
bedeutete damit eine Konstante innerhalb einer sich
stetig wandelnden Welt. Sie gab darüber hinaus auch
Auskunft über den sozialen Stand, besonders seiner
Trägerin: Das unverheiratete Mädchen, die ehrbare
Ehefrau und die Witwe waren leicht zu erkennen.
In der Malerei des 19. Jahrhunderts hatte sich mit
der Frau in volkstümlicher Tracht ein reizvolles Bild­
sujet entwickelt. Sind es zunächst die schönen, idealischen und exotischen Südländerinnen, die das Repertoire bestimmen, verschiebt sich gegen Ende des
Jahrhunderts zunehmend das Interesse der modernen
Künstler zu einem Frauentyp, welcher einem näheren
Umfeld entstammt.
So malte Max Liebermann die holländischen Waisenmädchen und sein Freund, der schwedische Maler
Anders Zorn, seit 1898 Frauen und Mädchen in Tracht
aus seiner Heimatregion Mora in Mittelschweden.
Die Faszination dieses Frauentypus lässt sich nur
zum Teil auf das Malerische der Ausstattung zurückf­
ühren. Es ist auch „die Frau unter der Haube“, die ein
traditionelles Rollenbild erfüllte. Die Haube war in
einer regulierten Kleiderordnung das weithin sichtbare
Zeichen der Unterwerfung unter eine höhere Ordnung,
ob es sich um Nonnen, Kommunikantinnen, Waisenmädchen, Ammen, Dienstmägde oder Frauen in einer
ländlich strukturierten, patriarchalisch ausgerichteten
44
Gesellschaft handelte. Im Zeichen einer neuen Kodierung der Geschlechter um 1900, angesichts von
Frauen­emanzipation und Gleichberechtigung erschien
ein solches Frauenbild wie ein Stabilitätsfaktor innerhalb eines sich wandelnden Sozialgefüges.
Die malerische Spreewälder-Tracht mit den großen
Hauben, Schürzen und vielen übereinander getragenen
Röcken der Frauen und Mädchen interessierte Franck
vordringlich. Es war ein Bildsujet, das sich auch in
Berlin großer Popularität erfreute, da die Spreewälder
Amme als Kindermädchen der reichen Familien fast ein
unabdingbarer, zudem pittoresker Bestandteil im Kaleidoskop der unterschiedlichen Berufstypen der Hauptstadt war – Franck konnte mit diesem Motiv also
durchaus auf Resonanz hoffen.
In der Neuerwerbung für das Wendische Museum
in Cottbus zeigt Franck eine einfühlsame Interieurdarstellung, bei der die geheimnisvolle Lichtführung eine
große Rolle spielt und die weißen, kunstvoll gebundenen Hauben und bunten Trachtentücher besonders gut
zur Geltung kommen. Die beiden Spreewälder Spinnerinnen sind zudem im Kontext einer tradierten Bildüberlieferung zu sehen. Als eine der ältesten Kulturtechniken der Menschheit, speziell der Frauen, gilt das
Spinnen als das archaische Sinnbild der Frauenarbeit
schlechthin. In Mythos, Sage und Märchen spielen
Rocken und Spindel sowie die spinnende Frau eine
schicksalshafte, oftmals dämonische, manchmal sogar
hexenhafte Rolle. Selbst Arachne, Gattungsname der
Spinne, ist dem antiken Mythos nach die Metamorphose einer (unbotsamen) Frau. Die tanzende Spindel,
die wie durch Zauberhand sich von allein zu bewegen
scheint und nicht gleich den Antrieb durch das fußbetriebene Spinnrad erkennen lässt, gibt der Spinnkunst
der Frauen eine eigentümliche suggestive Macht. Die
Spinnerinnen in Francks Gemälde sind durchaus als
Nachfahren der Moiren oder Parzen, Schicksalsgöttinnen, die den Lebensfaden spinnen, abmessen und
durchschneiden, anzusehen.
Franck gibt mit diesem Interieur Einblick in eine
Spinnstube, eine Einrichtung, die seit dem frühen
Mittelalter überliefert ist, geselliger Treffpunkt der
Frauen, die sich hier in den dunklen Herbst- und
Wintermonaten zusammenfanden. In den Licht- oder
Kunkelstuben (Spinnstuben) schienen sich frauliche
Tugend und Häuslichkeit zu manifestieren. Oftmals
waren sie aber auch als Kernzelle weiblicher Macht und
Verschwörung gefürchtet – der sprachlich pejorative,
etymologisch verwandte Begriff der „Kungelei“ verweist
noch darauf. Das Gegenbild der häuslichen, vorbildhaften Frau, war die nicht gezähmte, auch sexuell unangepasste Frau. Oftmals als Prostituierte im gesellschaftlichen Abseits lebend, war für sie eine übliche Strafe das
Verbringen in das öffentliche Spinn- und Arbeitshaus.
Emblematisch für die christliche Todsünde der Acedia,
der Trägheit, wird die eingeschlafene Spinnerin in der
Bildkunst verwandt.
Die beiden Spreewälder Spinnerinnen in Francks
Gemälde geben uns aber auch ein kleines Fragezeichen
auf: Während die im Vordergrund sitzende junge Frau
tugendhaft die Augen niedergeschlagen hat, schaut ihre
Nachbarin fragend oder fast sogar trotzig aus dem
Bild auf den Betrachter. Sind hier vielleicht die beiden
„Schwestern“ gemeint: Das gute und das schlechte
Mädchen? Bahnt sich hier Rebellion an, ein Bruch mit
Tradition und Konvention?
Philipp Franck gehört einer Generation an, die für
die Kunst der Jahrhundertwende bedeutend werden
sollte, eine Generation, die zudem mit einer Fülle von
„Ismen“ innerhalb des Kunstgeschehens konfrontiert
wurde: Dem Salon-Idealismus der Gründerzeit, dem
sozialen Naturalismus der 1880er Jahre, dem scheinbar
neutralen Realismus, sowie sich dem daraus wenig
später entwickelnden Impressionismus deutscher Ausprägung. Nach einer profunden Ausbildung als Maler
am Frankfurter Städelschen Kunstinstitut war Franck
Mitglied der Künstlerkolonie Kronberg geworden und
betrieb weiterhin Studien an der Kunstakademie in
Düsseldorf. Seit 1892 lebte er in Berlin, 1898 schloss
er sich als Mitbegründer der Künstlervereinigung
„Ber­liner Secession“ an. Mit den Gemälden, die um
1900 bis 1910 entstanden, gilt er als einer der bedeutenden Vertreter des deutschen Impressionismus.
Nicht mit solchen materiellen Gütern ausgestattet
wie sein Freund, Künstlerkollege und Nachbar am
Wannsee, Max Liebermann, übte Franck, neben seiner
rein künstlerischen Profession für Jahrzehnte den Beruf
als Kunstpädagoge und Zeichenlehrer an der Berliner
Königlichen Kunstschule aus. Seine Reisen in den
Spreewald waren für ihn die „kleinen Fluchten“. In
seiner 1920 erschienenen Autobiographie „Vom Taunus
zum Wannsee“ schrieb Philipp Franck über diese Zeit:
„Unmittelbar nach dem Unterricht fuhr ich aus der
Kunstschule weg über Cottbus nach Burg [Bórkowy],
wo ich kurz vor 12 in der Nacht ankam […] am nächsten Morgen wartete das Modell schon auf die Sitzung.
Sommers wie winters hatte ich regelmäßig diese Fahrten in den Spreewald fast zwei Jahre lang unternommen
und oft blieb ich gleich eine halbe Woche dort.“
Mit den „Spreewälder Spinnerinnen“ gelangt nun
ein Hauptwerk dieser Schaffensphase Francks, der
wenige Jahre nach seiner Serie der Genrebilder in Berlin
zum Direktor der Königlichen Kunstschule ernannt
wurde, in das Wendische Museum in Cottbus. Die
Kulturstiftung der Länder unterstützte den Ankauf: In
der Cottbusser Sammlung, die sich der Darstellung und
Bewahrung der wendischen /sorbischen Kultur verschrieben hat, zeugt es – inmitten der reichen Kollektion niedersorbischer Trachten des Museums – von erst
vor Kurzem verschwundenen Kulturpraktiken der
einstigen Bevölkerung.
Wendisches Museum Cottbus
Mühlenstr. 12, 03046 Cottbus
Telefon 0355 – 794930
Öffnungszeiten: Mi – Fr 10 –17 Uhr
Sa, So und feiertags 13 –17 Uhr
www.wendisches-museum.de
Förderer dieser Erwerbung:
Kulturstiftung der Länder, Stiftung für das Sorbische Volk,
Sparkasse Spree-Neiße, Spenden der Bevölkerung
Anders Zorn, Auf der Bodentreppe, 1898, 138 × 79 cm; Kunstmuseum Göteborg
ARSPROTOTO 4 2015
45
Heiliger Zorn
Die Ernst von Siemens Kunststiftung erwirbt für die
Staatsgalerie Stuttgart ein lange verschollenes Frühwerk
von Gottlieb Schick
Gottlieb Schick, Achill empfängt die Gesandten Agamemnons, 1801,
Öl auf Leinwand, 108,5 ×142 cm; Staatsgalerie Stuttgart.
Leihgabe der Ernst von Siemens Kunststiftung
Ähnlich wie heute New York oder Berlin waren im 18. und
frühen 19. Jahrhundert Paris und Rom die beiden zentralen
Orte für Kunststudenten, die sich zeitgemäß ausbilden und
Chancen auf dem auch damals schon heiß umkämpften
Kunstmarkt sichern wollten. In Paris zog besonders das
Atelier des führenden Porträt- und Historienmalers der
Revolutionszeit, Jacques-Louis David, Studenten aus dem
In- und Ausland an. Zu diesen zählte ab 1798 auch der
Stuttgarter Gottlieb Schick (1776 –1812). Mit seinem
Wunsch, seine Ausbildung zunächst in Paris und danach in
Rom zu vervollkommnen und in beiden Städten Inspiration
und Aufträge zu finden, folgte er dem Vorbild seiner Stuttgarter Lehrer, dem Maler Philipp Friedrich Hetsch und dem
Bildhauer Johann Heinrich Dannecker, die beide in Paris
und Rom studiert und gearbeitet hatten. 1799 und erneut
1801 bewarb sich Schick um den „Prix de Rome“, den die
Pariser Académie des Beaux-Arts alljährlich auslobte und
der seinem Gewinner einen fünfjährigen Aufenthalt in der
Ewigen Stadt ermöglichte. Das jetzt in die Staatsgalerie
gelangte Gemälde, das seit 1914 als verschollen galt und
erst vor wenigen Jahren in Privatbesitz identifiziert wurde,
war Schicks Wettbewerbsbeitrag um den Rompreis des
Jahres 1801. Am Ende des dreistufigen Auswahlverfahrens,
an dem unter anderen auch Schicks jüngerer Mitschüler
Jean-Auguste-Dominique Ingres teilnahm, musste für den
„concours définitif“ innerhalb von 72 Tagen ein Ölgemälde
fertiggestellt werden. Die Akademie hatte eine zentrale
Episode aus dem 9. Buch von Homers Illias als Preisaufgabe
vorgegeben: Die Boten Agamemnons – der listenreiche
Odysseus, der Hühne Ajas, Achills Ziehvater Phönix sowie
die Herolde Odios und Eurybates – sollen den zürnenden
Achill mit dem Versprechen reicher Sühnegaben dazu
bewegen, wieder am Kampf um Troja teilzunehmen. Achill
bleibt dem Kampfgeschehen demonstrativ fern, seit ihm
der Führer der Griechen, Agamemnon, wichtige Teile der
Beute aus den Kämpfen um Troja, vor allem jedoch die
Sklavin Briseïs entzogen und ihn dadurch tief in seiner
Heldenehre gekränkt hat.
Der Wunsch des ehrgeizigen jungen Stuttgarters, den
Wettbewerb um den prestigeträchtigsten französischen
Förderpreis für sich zu entscheiden, lässt ihn folgerichtig
sein am deutlichsten von der französischen Tradition geprägtes Bild malen: Die friesartige, nahsichtige Anordnung
der groß gesehenen Figuren im Vordergrund der Raumbühne geht letztlich auf das Vorbild der Historien Nicolas
Poussins zurück, während die nachdrückliche physische
Präsenz und Gespanntheit der Körper auf Davids malerische Neuinterpretation der französischen Meister des 17.
Jahrhunderts wie auch der klassischen römischen Skulptur
der Antike verweist. Auch die theatralische Gestik der Figuren sowie die Vielzahl der sich in Gesichtern und Körpersprache der Boten spiegelnden Affekte verraten das Vorbild
Davids. Im Sinne seines verehrten Lehrers lässt Schick die
Bildhandlung in der Konfrontation Achills mit den Boten
kulminieren: Achill, der sich und seinen Freund und Waffenbruder Patroklos mit Heldenliedern unterhalten hat, zu
denen er sich selbst auf der Leier begleitete, tritt den Boten
mit raumgreifendem Willkommensgestus entgegen, dessen Ausladung durch seinen lang nachschleppenden Umhang noch verstärkt wird. Der Kontrast der je nach Person
und Charakter argumentierend, trotzig, demütig bittend
und zagend sich annähernden Boten zu den beiden idealen
Jünglingsgestalten Achill und Patroklos – dieser als Halbakt
gegeben, um den Juroren der Académie Schicks Befähigung
zur Aktmalerei zu demonstrieren – könnte kaum größer
sein. So wird das bei Homer später geschilderte Scheitern
} www.ernst-von-siemens-kunststiftung.de
der Mission im Bild vorweggenommen: Achill wird sich von
den Reden der Boten und den ihm versprochenen Sühne­
gaben nicht zur erneuten Teilnahme am Kampf um Troja
bewegen lassen. Obwohl sterblich, ist Achill durch seine
Mutter, die Nereide Thetis, göttlicher Abkunft. Diese manifestiert sich im übermenschlichen, eben göttlichen Zorn
Achills, den keine irdische Wiedergutmachung lindern
kann. Schick macht die göttliche Überhöhung des gekränkten Helden anschaulich, indem er ihn als apollinischen
Sänger mit Leier, exaltierter Gestik und demonstrativ
unkriegerisch in Szene setzt. Auch Achills Zelt mit Marmorfußboden, thronartigem Greifen-Sessel und von einer
baldachinartigen Draperie beschattet, wird als Ort der
göttlichen Inspiration nachdrücklich vom übrigen Bildraum abgegrenzt. Hier definieren Mauerfragmente rechts
und ein Schiff im Mittelgrund kulissenartig den Ort der
Handlung. Im Himmel über den Häuptern der Boten setzt
ein Geier zum Sturzflug auf die belagerte Stadt an. Der
Aasfresser steuert auf den Ort zu, wo andauernde todbringende Kämpfe reiche Beute für ihn erwarten lassen.
Im Wettbewerb um den Rompreis sollte sich schließlich nicht Gottlieb Schick, sondern sein Mitschüler Ingres
durchsetzen, dessen Aufnahmestück sich in der Sammlung
der Pariser Académie des Beaux-Arts erhalten hat. Schick
scheint sich deswegen nicht gekränkt gefühlt zu haben.
Dank eines durch Herzog Friedrich II. von Württemberg
gewährten Reisestipendiums reiste er nach kurzem Zwi-
Gottlieb Schick: Selbstbildnis, um 1800,
Aquarell auf Elfenbein, 7,5 × 6 cm;
Staatsgalerie Stuttgart
schenaufenthalt in Stuttgart 1802 nach Rom. In seinen
dort entstandenen Hauptwerken „David spielt vor Saul“
(1802–1803) und „Apoll unter den Hirten“ (1806 –1808,
beide Staatsgalerie Stuttgart) werden göttlich überhöhte
Sterb­liche – der musizierende David beziehungsweise der
die Menschen lehrende Gott Apoll selbst – im Mittelpunkt
stehen. Die Gestalt Achills aus Schicks Pariser Frühwerk
darf als erste Manifestation dieser idealen Jünglings­ge­stalten angesehen werden.
Dr. Christofer Conrad
Staatsgalerie Stuttgart
NEUE ERFOLGE
FASSUNG BEWAHREN
Mit Ihrer Hilfe konnte das
Lübecker St. AnnenMuseum ein spätmittel­
alterliches Relief
restaurieren
von Jan Friedrich Richter
In einer Sammlung mittelalterlicher
Kunst, wie sie das Lübecker St. AnnenMuseum besitzt, hat die Formulierung
„Fassung bewahren“ einen tieferen Sinn.
Viele Arbeiten müssen aufgrund von
Personalmangel und beschränkten
Finanzmitteln zurückgestellt werden,
eine mitunter aufreibende Verzögerung,
die den zuständigen Kollegen einiges an
Nervenstärke abverlangt. „Fassung bewahren“ betrifft aber auch den Kern
musealer Denkmalpflege, sind es doch
gerade die Farbfassungen auf den mittelalterlichen Skulpturen, die den Restauratoren aufgrund ihres hohen Alters viel
Arbeit und Kopfzerbrechen bereiten.
Umso erfreulicher sind die seltenen
Gelegenheiten, bei denen derartige
Arbeiten durch äußere Hilfe ermöglicht
werden. In Arsprototo 3/2014 hatten
wir uns mit dem Aufruf an Sie gewendet,
uns bei der Restaurierung eines Reliefs
zu unterstützen, auf dem die Anbetung
der Heiligen Drei Könige dargestellt ist.
Das Relief entstand um 1500 in einer
unbekannten Werkstatt in den nörd­
lichen Niederlanden und befand sich
ursprünglich in der Predella, also dem
Unterbau eines Altaraufsatzes, der für die
Lübecker Jakobikirche bestimmt war.
Von diesem Altaraufsatz hat sich als
einziger Rest dieses Relief erhalten, Teil
einer ursprünglich größeren Szene, die
sich rechts an den in Anbetung knienden
König anschloss. Die hohe künstlerische
Qualität der Arbeit zeigt sich nicht
zuletzt in der zu großen Teilen original
erhaltenen Farbfassung. Sie hatte in
weiten Bereichen den Kontakt zum Holz
verloren und lag nur noch als lose und
damit höchst gefährdete Schicht auf dem
Relief auf. Mit Ihrer Hilfe ist es gelungen, diese Fassung zu sichern und das
Relief wieder dauerhaft in der Ausstellung präsentieren zu können.
Neben seiner künstlerischen Qualität
nimmt das kleine Fragment auch kunsthistorisch einen besonderen Stellenwert
in Lübeck ein. Werke wie dieses stehen
beispielhaft für eine heute aufgrund der
Bilderstürme in den Niederlanden kaum
noch nachweisbare Kunstform, die im
europäischen Kontext eine nicht zu
unterschätzende Bedeutung besaß. Dies
gilt auch für das Lübecker Relief. Obwohl
die Hansestadt um 1500 zu den bedeutendsten Kunstmetropolen im Ostseeraum
gehörte, vergaben viele Lübecker Stifter
ihre Aufträge an auswärtige, bevorzugt
niederländische Werkstätten. Verantwortlich dafür war ein veränderter Zeitgeschmack, der es diesen Werkstätten ermöglichte, im Ostseeraum neue Märkte zu
erschließen. Der bis dato von Lübeck
dominierte Absatzmarkt geriet unter
starken Druck und reagierte mit künstlerischen Veränderungen auf die Konkurrenz.
Das Lübecker Relief steht beispielhaft für
eine alles umwälzende Entwicklung. Die
Darstellung einer über die gesamte Breite
der Predella reichenden Szene war aus
Lübecker Sicht völlig neuartig, wurde aber
sofort von einheimischen Künstlern für
ihre eigenen Werke übernommen. Das lässt
sich an einem der teuersten Werke nachweisen, die zu Beginn des 16. Jahrhunderts
in Lübeck entstanden sind, dem 1512
fertig gestellten Hochaltarretabel der
Marienkirche in Prenzlau. Der dort in der
Predella dargestellten Anbetung der Könige
diente das Lübecker Fragment als unmittelbares Vorbild, wie sich an der von seinem Pferd steigenden Figur des jüngsten
Königs zeigt. Dass der Lübecker Bildschnitzer dabei seine künstlerischen Eigenarten durchaus bewahren konnte, lässt sich
jetzt im St. Annen-Museum überprüfen.
Beide Werke sind für einen begrenzten
Zeitraum zusammen zu sehen, als Teil der
Sonderausstellung „Lübeck 1500 – Kunstmetropole im Ostseeraum“, eine Gegenüberstellung, die nicht zuletzt durch Ihre
großzügige Spende ermöglicht worden
ist, für die wir uns herzlich bedanken
möchten.
Dr. Jan Friedrich Richter arbeitet als freier
Kurator am Lübecker St. Annen-Museum,
verantwortlich für die Sonderausstellung
„Lübeck 1500 – Kunstmetropole im
­Ostseeraum“ (noch bis zum 10. 1. 2016,
www.luebeck1500.de).
St. Annen-Museum
St. Annen-Straße 15, 23552 Lübeck
Telefon 0451-122 41 34
Öffnungszeiten: Di – So 10 –17 Uhr
www.st-annen-museum.de
Relief der Heiligen Drei Könige, um 1500, 50 × 70 × 18 cm;
St. Annen-Museum, Lübeck
48
Der digitale
Kunstführer
für das
Ruhrgebiet
www.kunstgebiet.ruhr
gefördert durch die
ARSPROTOTO 4 2015
NEUE BÜCHER
EINBLICKE /
DURCHBLICKE
In dieser Hommage an die Vielfalt der eigenen
Sammlung stellt das Grassi Museum unkonventionelle Zusammenhänge zwischen Objekten der
angewandten Kunst her: So wird auf den Seiten
des Buchs ein Handstaubsauger, entworfen in
den 1960ern von Wolfgang Dyroff, mit einem
vergoldeten Leuchter der Jahrhundertwende
verkuppelt; ein zarter Spitzenvolant aus Frankreich verpaart sich dort mit den Ranken eines
schmiedeeisernen Tors, gefertigt im Leipzig des
17. Jahrhunderts. Die Bezüge – mal überraschend, mal provokant, dabei immer inspirierend
– entstehen nicht wie gewohnt über Chronologie
oder Kategorie, sondern über raffinierte Umwege
und Durchblicke. Abgebildet in außergewöhnlichen Ausschnitten und extremen Vergrößerungen, treten die Sammlungsobjekte wie eigenständige Persönlichkeiten auf und können so vom
üblichen Kontext losgelöst wahrgenommen
werden. Auf dieser neuen Wahrnehmungsebene
offenbaren sich unverhoffte Qualitäten und
Parallelen unter den Objektpaaren. Eine visuelle
Delikatesse in Buchform, die großes Vergnügen
bereitet und von der Faszination der Museumssammlung zeugt.
Eva Maria Hoyer (Hg.), Einblicke / Durch­
blicke. Grassi Museum für Angewandte Kunst
Leipzig. Ein Parcours durch die Sammlungen.
Arnoldsche Art Publishers, Stuttgart. 294 Seiten, 275 Abbildungen in Farbe, 39,80 Euro
50
TEMPEL DER KUNST – DIE GEBURT DES ÖFFENTLICHEN MUSEUMS IN
DEUTSCHLAND
Dieser Band ist „dem großen und fruchtbaren
Durcheinander“ (Thomas Gaethgens) gewidmet, in dem sich die Institution des Museums
in Deutschland seit der zweiten Hälfte des 18.
Jahrhunderts entwickelte. Genauer gesagt, in
jenen kleinstaatlichen Strukturen des Reiches,
deren Erbe das heutige föderative System mit
seiner reichen Kunst- und Museumslandschaft
ist. Ausgehend von zeitgenössischen Quellen, wie
dem 1807 erschienenen „Taschenbuch für junge
Reisende um Kunstgalerien, Museen und Bibliotheken mit Nutzen zu besuchen“ konzentrieren
sich die Aufsätze nach einem einleitenden Teil,
der sich dem historischen Entstehungskontext
widmet, auf zwei Museumstypen: Bildergalerien und Antikensammlungen. Die Leser sind auf
eine Reise durch die Sammlungen eingeladen,
die durch zeitgenössische Stimmen und weitere
Abbildungen auf der dem Buch beigelegten CDROM um eine inhaltliche Dimension erweitert
wird: Den Stimmen der heutigen Autoren, die
die Galerien von Düsseldorf, Dresden, Kassel
oder Braunschweig vorstellen, antworten die
historischen Besucher dieser Museen. Ein Reise­
führer durch die Museumsgeschichte, der die
„Tempel der Kunst“ in ihrer ganzen Vielfalt entdecken lässt.
Bénédicte Savoy
(Hg.), Tempel der
Kunst. Die Geburt
des öffentlichen
Museums in
Deutschland 1701–
1815. Böhlau
Verlag, Köln. 592
Seiten, ca. 100
Abbildungen sowie
eine CD-ROM mit
200 Abbildungen,
44,90 Euro
DIE ZEIT IN KARTEN
Ist es heute selbstverständlich, mit einem einfachen Liniendiagramm komplexe Zusammenhänge und Abläufe graphisch darzustellen, so
verlangte die Visualisierung zeitlicher Ereignisse
bis vor einigen hundert Jahren noch viel Kreativität. Dargestellt als Baum mit weit verzweigten
Ästen oder gleichsam einem Fluss mit zahllosen
Nebenarmen, in Form einer Weltkarte oder in
Kombination mit figürlichen Darstellungen – die
Reise durch die Zeit ist abwechslungsreich. Beim
Blättern entdeckt man immer wieder Außergewöhnliches wie das Spiel der Universalgeschichte
und Chronologie von John Walis von 1840, auf
dem jedes Feld ein historisches Ereignis zeigt,
oder die Weltgeschichte von Johannes Buno aus
dem Jahr 1672, bei der sich u.a. über den Körper
eines Bären einprägsame Figuren und kuriose
Details in Kombination mit einer Jahreszahl
verteilen. Daniel Rosenberg und Anthony
Grafton – zwei Experten der Wissenschaftsgeschichte – versammeln in dieser eindrucksvollen
Bilderreise zum Teil bislang unveröffentlichtes
Material. Neben den beeindruckenden Abbildungen wird in einem wissenschaftlich fundierten
Text die Geschichte der Darstellung der Zeit von
der Antike bis in die jüngste Vergangenheit
beleuchtet.
Daniel Rosenberg,
Anthony Grafton,
Die Zeit in Karten.
Eine Bilderreise
durch die Geschichte. Verlag
Philipp von Zabern,
Darmstadt. 301
Seiten mit 268 farbigen und 40 Abbildungen in Schwarzweiß, 79,95 Euro
KANDINSKYS BRIEFE
Was als ein geschäftlicher Kontakt begann, sollte
sich zu einer engen Freundschaft entwickeln:
Wassily Kandinsky stand zwischen 1923 und
1943 postalisch im intensiven Austausch mit
dem Kunstkritiker und Ausstellungsmacher Will
Grohmann. Die Briefe und Postkarten des
Künstlers an seinen Vertrauten – anfangs handschriftlich verfasst, ab 1925 auf der Schreibmaschine – zeugen lebhaft von den beruflichen und
persönlichen Umständen Kandinskys während
der Weimarer Zeit, seiner Jahre als Lehrer am
Bauhaus und während des einschneidenden Exils
in Paris. In den intellektuellen Dialog, in dem
sich die Freunde insbesondere über Kandinskys
Kunsttheorie austauschten und der als wichtige
Quelle für das Œuvre des Malers fungiert,
mischen sich Anekdoten über Künstlerkollegen
wie Paul Klee und Oskar Schlemmer oder
Berichte von Reiseerlebnissen. Die 250 vorwiegend noch nicht publizierten Schriftstücke des
Malers an Grohmann offenbaren die rege,
konstruktive Zusammenarbeit der Männer.
Ergänzt durch hilfreiche Kommentare der
Herausgeber, vermitteln sie dem Leser ein
umfangreiches Verständnis von der Person
Kandiskys und seinem Wirken.
Barbara Wörwag
(Hg.), Wassily
Kandinsky. Briefe
an Will Grohmann
1923 –1943. Hirmer
Verlag, München.
544 Seiten, 39,90
Euro
UNTERSTÜTZEN SIE UNS
RETTEN SIE KUNST
Unterstützen Sie die Spendenaufrufe
von Arsprototo. Spenden Sie unter
dem Stichwort „Kunsthalle Rostock“
und helfen Sie bei der Restaurierung von Kate Diehn-Bitts Gemälde
„Selbstbildnis mit Sohn“.
––– Siehe Seite 40
Haben Sie weitere Fragen zu den Projekten?
Rufen Sie die Redaktion unter 030 - 89 36 35 27 an.
DIE KULTURSTIFTUNG
DER LÄNDER
Die Kulturstiftung der Länder ist eine Stiftung bürger­
lichen Rechts und verfolgt ausschließlich gemeinnützige
Zwecke. Sie hat die Berechtigung, steuerlich wirksame
Spendenbescheinigungen auszustellen. Spenden an die
Kulturstiftung der Länder sind steuerlich abzugsfähig.
Die Kulturstiftung der Länder wurde 1987 von den
Ländern der Bundes­republik Deutschland gegründet
und nahm am 1. April 1988 in Berlin ihre Arbeit auf.
Im Oktober 1991 traten die neuen Bundesländer bei.
Die Kulturstiftung der Länder unterstützt und
berät deutsche Museen, Bibliotheken und Archive bei
der Erwerbung und Bewahrung von national wertvollem Kulturgut. Darüber hinaus widmet sie
sich wichtigen kulturpolitischen Themen wie dem
„Deutsch-Russischen Museumsdialog“ und hat mit
„Kinder zum Olymp!“ eine erfolgreiche Bildungs­
initiative für Kinder und Jugendliche ins Leben
gerufen. ––– www.kulturstiftung.de
BILDNACHWEIS
Titel: © Bayerische Staatsbibliothek; S. 3 o.: © Oliver Helbig; S. 3 u.: © Jörg F. Müller; S. 4 l.o.: © Staatsbibliothek
zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz; S. 4 l.u.: © Bayerische Staatsbibliothek / I. Schäfer; S. 4 r.: © Urbschat;
S. 5 l.: © Deutsches Tanzarchiv Köln / Foto: Susanne Fern; S. 5 r.: © Vereinigte Domstifter / Universitätsbibliothek
Leipzig; S. 6 l.: © Wendisches Museum, Cottbus / Foto: Bernd Choritz, Eichow/Dubje; S. 6 r.: © Bernd Kuhnert,
Berlin; S. 8-9: © Deutsches Tanzarchiv Köln / Foto: Susanne Fern; S. 10-11: © Staatliche Antikensammlungen und
Glyptothek München / Foto: Renate Kühling; S. 12-13: © Kaspar & Lauterwald GbR Leipzig, GRASSI Museum für
Völkerkunde zu Leipzig; S. 14: © Christian-Schad-Stiftung Aschaffenburg / Foto: Ines Otschik (Museen der Stadt
Aschaffenburg) / VG Bild-Kunst, Bonn 2015; S. 15: © VG Bild-Kunst, Bonn 2015 / Foto: Cem Yucetas, Kunsthalle
Mannheim; S. 16: © Ulmer Museum / Foto: Oleg Kuchar, Ulm; S. 18-19: © Jörg F. Müller; S. 20: © Stefan Gloede;
S. 21: © Berlinische Galerie, Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur, Hannah Höch-Archiv /
Kai-Annett Becker / VG Bild-Kunst, Bonn 2015; S. 22: © Berliner Medizinhistorisches Museum der Charité / Foto:
Christa Scholz; S. 23 o.: © Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts; S. 23 u.: © Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz; S. 24: © Jörg F. Müller; S. 25: © Restaurierungswerkstatt Claus Schade;
S. 26-29: © Bayerische Staatsbibliothek; S. 30-32: © Vereinigte Domstifter / CICS Cologne Institute of Conservation
Sciences / Fotos: Robert Fuchs; S. 33: © Vereinigte Domstifter / Universitätsbibliothek Leipzig / Foto: Robert Fuchs;
S. 34: © Stadtarchiv Karlsruhe; S. 36: © Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz; S. 37: © Staats- und
Universitätsbibliothek Bremen / Foto: Thomas Steinle; S. 38: © Hans-Fallada-Archiv; S. 39: © Literaturzentrum
ARSPROTOTO 4 2015
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im Internet: www.kulturstiftung.de
Auch vorangegangene Hefte von Arsprototo sind bei
der Kulturstiftung der Länder bestellbar – folgende
Ausgaben sind jedoch vergriffen:
2/2005, 1/2007, 2/2007, 4/2007, 2/2009, 3/2009,
2 – 4/2010, 1– 4/2011, 1– 4/2012, 1/2014, 4/2014
PATRIMONIA
Die Kulturstiftung der Länder gibt seit 1988 die
Schriftenreihe PATRIMONIA heraus, in der sie ihre
wichtigsten Förderungen ediert. Bislang sind über
350 Bände erschienen. Einzelhefte können Sie – soweit
nicht vergriffen – bei der Kulturstiftung der Länder
bestellen. Eine Liste mit Kurzbeschreibungen der einzelnen Bände und Preisangaben finden Sie auf unserer
Webseite.
Neubrandenburg / Winfried Braun; S. 40-41: © Kunsthalle Rostock; S. 42: © Galerie Mutter Fourage, Berlin; S. 43:
© Wendisches Museum, Cottbus / Foto: Bernd Choritz, Eichow/Dubje; S. 44: © bpk / Hamburger Kunsthalle; S. 45:
© Foto: Hossein Sehatlou – Göteborgs konstmuseum – 2015; S. 48: © St. Annen-Museum, Lübeck / Foto: Annette
Henning; S. 50: © bei den Verlagen; S. 52: aus: Neubrandenburg und Umgebung, 1913, S. 32; S. 53 o.: aus: Katalog
Grosse Berliner Kunstausstellung, 1897, S. 96; S. 53 u.-54: © Amtsgericht Neubrandenburg, Nachlassakten Henry
Stoll; S. 55-56 o., 57: © Bernd Kuhnert, Berlin; S. 56 u.: © Marg. Brauer, in: Schriftenreihe des Karbe-Wagner-­
Archivs, 1972, Heft 10, S. 15; S. 58 l.: © Estate of George Grosz, Princeton, N.J. / VG Bild-Kunst, Bonn 2015; S. 58
2.v.l.: © Bayerische Staatsgemäldesammlungen / Foto: Sibylle Forster; S. 58 3.v.l.: © VG Bild-Kunst, Bonn 2015;
S. 58 r.: © Stiftung Gerhard Altenbourg, Altenburg / VG Bild-Kunst, Bonn 2015; S. 59 l.: © Kunsthalle Bremen –
Der Kunstverein in Bremen, Kupferstichkabinett; S. 59 2.v.l.: © bpk, Hamburger Kunsthalle / Foto: Elke Walford;
S. 59 3.v.l.: © Nationalmuseum, Stockholm; S. 59 r.: © VG Bild-Kunst Bonn 2015 / Foto: Gabriele Bröcker; S. 60 l.:
© Mang Chen; S. 60 2.v.l.: © LWL-MKuK Münster / Foto: Hanna Neander; S. 60 3.v.l.: © Künstlerin; S. 60 r.:
© Weltkulturerbe Völklinger Hütte / Hans-Georg Merkel / Franz Mörscher / Glas AG; S. 61 l.: © VG Bild-Kunst,
Bonn 2015 / Foto: Kunstsammlungen Chemnitz / May Voigt; S. 61 2.v.l.: © LDA Sachsen-Anhalt / Foto: Juraj Lipták;
S. 61 3.v.l.: © VG Bild-Kunst, Bonn 2015 / Foto: Jörg Schanze, Düsseldorf; S. 61 r.: © Lindenau-Museum Altenburg,
Jens Paul Taubert; S. 62: Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg / Foto: Wolfgang Pfauder;
S. 63 o.: © Verlag des Germanischen Nationalmuseums; S. 63: © Lippisches Landesmuseum, Detmold; S. 64:
© Stefan Gloede; S. 66: © Oliver Mark
51
LÄNDERPORTRÄT MECKLENBURG-VORPOMMERN
Die Sammlungen Henry Stoll
und August Schmidt
IN DER TRADITION DER
BÜRGERLICHEN STIFTER
Die alten Kunstsammlungen der Stadt Neubrandenburg
sind seit 1945 verschollen
von Uta Baier
Die Innenräume der Städtischen Kunstsammlung in der Alten Mädchenschule,
Badstüberstraße, 1913
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Carl Ludwig, Hohenzollern. Frühlingsmorgen, o. J., 1897 erworben auf
der „Grossen Berliner Kunst-Ausstellung“
E
s ist an der Zeit, den kinderlosen unverheirateten
Mann und seine Bedeutung für die deutsche
Museumslandschaft ins rechte Licht zu rücken.
An dieser Stelle war bereits von Hermann
Roemer und Wilhelm Pelizaeus die Rede, deren
Stiftungen zur Gründung des Roemer- und PelizaeusMuseums in Hildesheim führten. Nun soll es um
Henry Stoll und August Schmidt gehen. Auch sie waren
ledige und kinderlose Kunstsammler und Kunststifter
und ermöglichten es ihrer Heimatstadt Neubrandenburg, ein Museum zu gründen und auszubauen.
Wer allerdings heute in der Kunstsammlung Neubrandenburg nach dem Erbe dieser beiden Männer
sucht, findet nur einige Bruchstücke. Denn die Neubrandenburger Sammlungen sind seit 1945 komplett
verschollen. Allein ein Berg Porzellanscherben wurde
2006 bei Bauarbeiten gefunden. Insgesamt vermisst das
Museum 10.000 bis 20.000 Kunstwerke. 1.151 Verluste hat man in die Datenbank von www.lostart.de
eingegeben, denn nur die sind genauer beschreib- und
nachweisbar. Fundmeldungen gibt es – bisher – keine.
Weder in Auktionen noch in Nachlässen oder in Depots anderer Museen ist etwas aufgetaucht.
„Die Recherche ist so schwierig, weil mit den
Sammlungen auch alle Unterlagen verschwunden sind“,
sagt Museumsmitarbeiterin Elke Pretzel. Pretzel begann
1998 aus eigenem Interesse und ganz allein, die alte
Sammlung zu erforschen. Bis dahin hatte sich niemand
um diesen Teil der Stadtgeschichte gekümmert. Ihr
äußerst informatives Buch „Die Geschichte einer verlo-
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renen Sammlung“ erzählt von diesen Recherchen, ihren
Schwierigkeiten, Ergebnissen und Fehlstellen. Denn als
sie mit der Recherche begann, waren auch die Erinnerungen der meisten Augenzeugen nur noch undeutlich.
Viele waren 1945 Kinder, als sie das letzte Mal die
Sammlungen sahen. Erschwerend kommt hinzu, dass
die Stadt Ende April 1945 zu 80 Prozent zerstört
wurde. Auch das Stadtarchiv ist verbrannt. Viele Bürger
verließen die Stadt für immer. „Es heißt, Ende April
1945 wurden die Museumsbestände auf einen LKW
geladen, der Richtung Schwerin fuhr“, erzählt Pretzel.
Da muss die Sammlung noch vollständig gewesen sein,
denn unter der Aktion „Entartete Kunst“ hatte das
Museum nicht zu leiden – es hatte keine „entartete“
Kunst. Mehr ist nach Elke Pretzels Forschungen über
den Verbleib der Sammlung bisher nicht bekannt.
Wie beim Bernsteinzimmer gebe es zwar immer
wieder Gerüchte, wo die Sammlung sein könnte, doch
gefunden wurde nichts – bis auf einige Porzellane.
Diese Stücke waren offenbar nicht evakuiert worden,
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denn der Scherbenhaufen befand sich dort, wo einst das
Kunstmuseum im Südflügel des ehemaligen Herzog­
lichen Palais’ seine Ausstellungsräume hatte. Außerdem
konnten an einigen der gefundenen Scherben Anhaftungen von geschmolzenem Glas nachgewiesen werden,
so dass die Annahme, eine komplett gefüllte Ausstellungsvitrine sei beim Brand des Museums zerstört
worden, naheliegt. Auch für eine Befragung des zwischen 1934 und 1945 amtierenden Museumsverwalters
Walter Günteritz war es 1998 zu spät. Günteritz, 1888
geboren, starb bereits 1962. Allerdings profitiert das
heutige Museum von einer Stiftung seiner Witwe, die
dem Haus vor einigen Jahren ihr Vermögen vererbte, so
dass man von den Zinsen regelmäßig neue Werke für
die Sammlung kaufen kann. Doch über die vermutlich
evakuierten Kunstwerke erfuhr Elke Pretzel auch von
der Witwe des letzten Museumsdirektors nichts Neues.
So viel ist immerhin klar: Die Geschichte der ersten
Sammlung, die nach heutigem Forschungsstand 1945
endet, begann 1890 mit dem Testament von Henry
Stoll. Stoll (1828 –1890) war ein in Neubrandenburg
geborener und in Berlin lebender Maler und Sammler.
Der kinderlose, unverheiratete Stoll war außerdem ein
weitblickender Mann. Sein Testament bestimmte nicht
nur seine Kunstsammlung für Neubrandenburg. Er
stellte darüber hinaus Bedingungen: „Für gute Beleuchtung der Gemälde (Nordlicht) ist vornehmlich zu
sorgen“, schrieb er und mahnte außerdem eine öffent­
liche Ausstellung und die kontinuierliche Erweiterung
der Sammlung an. Ähnliches wünschen sich Stifter
heute auch. Zum Kauf neuer Werke hatte Stoll der
Stadt sogar Kapital vererbt. „Die Zinsen dieses auf die
Erbnehmerin eigenthümlich übergehenden Vermögens
sollen lediglich zur Erweiterung der Sammlung durch
Ankauf gediegener Werke der Malerei und Bildhauerei,
vornehmlich aber der Ersteren für alle Zukunft dienen“, heißt es im Testament. Sollten diese Vorgaben
nicht erfüllbar sein, hätte das benachbarte Neustrelitz
Stolls Kunstbesitz geerbt. Das wollten die Neubrandenburger Stadtväter unbedingt verhindern. Daher war der
Magistrat der Stadt sofort bereit, diesen Bedingungen
zu folgen. Er kümmerte sich um eine Versicherung und
die dazu nötige Inventarisierung der Sammlung, er
mietete die Wohnräume des Sammlers an, um die
Kunstwerke der Öffentlichkeit sofort zugänglich zu
machen. Für die Bestandsaufnahme konnte der Direktor des Großherzoglichen Museums in Schwerin, Friedrich Schlie, gewonnen werden. Schlie erstellte ein erstes
Nachlassinventar, das 671 Gemälde auflistete, allerdings
ohne sie abzubilden. Darunter waren zugeschriebene
Bilder von Karl Blechen, Anthonis van Dyck und
Esteban Murillo. Andere identifizierte er als Arbeiten
holländischer, französischer und italienischer Schule,
zwei Drittel waren Kopien nach berühmten Gemälden
– viele von Henry Stoll selbst gemalt. Dazu kamen
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Christian Gottfried Jüchtzer,
Die Glückseligkeit des
Schlafes, Modell: 1786,
Ausformung: 1786 –1817,
37,5 × 19 × 18 cm; Kunstsammlung Neubrandenburg
Handschriftliches Verzeichnis von Lithographien der
Henry Stollschen Kunstsammlung, vor 1890; Amtsgericht
Neubrandenburg
Graphik, eine kunstwissenschaftliche Bibliothek und
kunstgewerbliche Gegenstände.
Für die Präsentation empfahl der Schweriner
Museums­direktor Schlie, jeweils um ein größeres
Hauptbild motivisch passende kleinere Bilder zu hängen. „Das ist weniger schwer als es scheint, verlangt nur
etwas Geschmack. Eine kunstsinnige Dame Ihrer Stadt
würde sich vielleicht dazu finden, wenn unter den, mit
den rauheren Mächten des Lebens kämpfenden Herren,
niemand sein sollte.“ Letztlich fand sich dann doch ein
Senator, der die Erstpräsentation verantwortete.
Bald danach konnten neue Räume in der ehemaligen Mädchenschule bezogen werden, um die Sammlung angemessen zu präsentieren. Ein Foto-Blick in die
Ausstellung in der Alten Mädchenschule zeigt, wie wohl
geordnet und voller Stolz die Stadt ihren Kunstbesitz
dort herzeigte. Es ist das einzige Foto, das einen Eindruck von der Sammlungsausstellung gibt (siehe S. 52).
Das Beispiel von Henry Stoll imponierte offenbar
dem ebenfalls unverheirateten und kinderlosen August
Schmidt (1825 –1911). Auch dieser Neubrandenburger
Kunsthändler vererbte der Stadt seine schon damals für
ihre Porzellane berühmte Sammlung. Zu ihr gehörten
neben mindestens 100 Meissener Porzellanen auch
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Bernd Hahn, Ohne Titel, 1994, 100 × 150 cm; Kunstsammlung Neubrandenburg
antike Bronzen, Terrakotta-Objekte, Gemälde und
Graphiken – vor allem Kupferstiche. Was die Sammlung Schmidt genau enthielt und wie umfangreich sie
war, ist nicht im Einzelnen überliefert. Fest steht, die
Sammlung war weit über die Grenzen der Stadt hinaus
bekannt.
Nach dem Tod Schmidts zeigte die Stadt ihr neues
Erbe erst in dessen privaten Räumen, doch nach der
Abschaffung der Monarchie und damit auch des Großherzogtums fiel das Palais des Großherzogs von Mecklenburg-Strelitz an die Stadt. Nun hatte sie einen repräsentativen innerstädtischen Ort, um die Kunstschätze
von Stoll und Schmidt zu vereinen. Die Kunstsammlung eröffnete 1920 im Palais „mit einer Feuerlöscheinrichtung und einer Klingelleitungsanlage mit Alarm­
glocken“, wie in der Neubrandenburger Zeitung
berichtet wurde. Ihr Leiter wurde der Maler Josef
Alterdinger (1874 –1934), der auch eine Wohnung im
Palais bekam. Das war ein cleveres Arrangement für
beide Seiten: Der Künstler kümmerte sich um die
Sammlung und machte Führungen, dafür wohnte er
kostenlos im Museum.
Die Bürgerschaft übernahm nun tatkräftig die
Aufgabe, das Interesse für Kunst zu fördern und das
Museum zu stärken. 1920 konstatierte der frisch gegründete Kunstverein: „Unsere Stadt besitzt in ihrer
Kunstsammlung einen reicheren Schatz von Kunst­
werken als mancher je geahnt hat. Diesen Schatz allen
denen zu erschließen, die die Kunst als Gemüts- und
Lebensbedürfnis empfinden – das soll vornehmlich der
Zweck des Kunstvereins sein.“ Und weiter: „Keiner soll
sich dem Irrtum hingeben, dass sein Geschmack nicht
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noch bildungsfähig wäre in der Beurteilung von künstlerischen Dingen.“ Der Verein warb geschickt, man
kann sogar sagen: absolut modern. Von der Bedeutung
der Kunst als „weichem Standortfaktor“ war er, im
Gegensatz zu Neubrandenburger Geschäftsleuten,
überzeugt: „Je mehr Anziehungskraft unsere Stadt
durch Förderung der Künste ausübt, desto reger der
Verkehr und mit ihm der Handel“, hieß es in einem
1921 in der Neubrandenburger Zeitung erschienenen
Text des Kunstvereinsvorstandes. Dessen Arbeit ist bis
1934 dokumentiert. In diesem Jahr werden auch Por­
träts von Heinrich Stoll in einer Bilderausstellung in
Rostock gezeigt. Elke Pretzel vermutet, dass der Verein
seine Arbeit nach dem Wahlsieg der Nationalsozialisten
einstellte, denn verschiedene Neubrandenburger Bürger
gaben ihre Vereinsarbeit angesichts der Gleichschaltung
nach 1933 auf und traten aus.
Palais, Südflügel, Eingang zur Städtischen Kunst­
sammlung, dort 1920 –1945
Es wäre schön, wenn man sagen könnte, dass das Wissen um die alte Sammlung und der Stolz auf die Tradition die Neugründung des Neubrandenburger Museums 1982 befördert habe. Doch dem war nicht so. Die
Neugründung des Museums war allein eine Entscheidung der DDR-Kulturpolitik. „Neubrandenburg wurde
Bezirksstadt, die Einwohnerzahl stieg, und da sollte es
auch ein Museum geben“, sagt seine heutige Leiterin
Merete Cobarg. Gesammelt wurde, was in der DDR
entstand: zeitgenössische Malerei, Graphik und Plastik,
anfangs insbesondere von Künstlern aus dem damaligen
Bezirk Neubrandenburg und von Dresdner und Ber­
liner Künstlern, seit 1989 von Künstlern aus ganz
Deutschland, mit einem Fokus auf den Norden. Doch
auch die Geschichte der Kunstsammlungen in der
DDR ist eine Geschichte der Verletzungen, der Un­
sicherheiten, der Auslagerung und des Kampfes um
einen angemessenen Platz für die Kunst. Dieser Kampf
dauerte von der Gründung 1982 bis zur Eröffnung des
heutigen Museums 2003 in einem historischen Fachwerkhaus mit modernem Anbau in der Großen Wollweberstraße. Erst seit dieser Zeit besitzt Neubrandenburg wieder einen würdigen Ort für seine Kunstsammlung.
Museumsleiterin Merete Cobarg ist trotz fehlender alter
Kunstsammlung überzeugt: Ohne das Erbe von Henry
Stoll und August Schmidt gäbe es heute kein Museum.
„Wir sehen uns in der Tradition der bürger­lichen
Sammler und Stifter“, sagt Cobarg, deren Museum von
einem wachsenden Freundeskreis unterstützt wird.
Bürgerliches Engagement und das Wissen um die lange
Sammeltradition in Neubrandenburg halfen dem
Museum immer dann, wenn es in den vergangenen
Jahren aus politischen und Kostengründen um seine
Existenz fürchten musste.
Um dieses neue bürgerliche Bewusstsein weiter zu
fördern, restauriert das Museum die wiedergefundenen
Porzellane durch Spenden aus der Bevölkerung – auch
wenn das länger dauert als eine Restaurierung mit
Fördergeld. Doch seit die Scherben gefunden und
einige Stücke restauriert wurden, kann das Museum in
einem eigenen Ausstellungsraum die Geschichte der
alten verschollenen Sammlung erzählen. Dieses Ausstellungskabinett zieht Besucher in die Kunstsammlungen,
die sich eigentlich „nur“ für die Geschichte ihrer Stadt
interessieren. Doch oft bleiben sie, um die neue Sammlung mit zeitgenössischer Kunst kennenzulernen.
Uta Baier ist Kunsthistorikerin und Journalistin in Berlin.
Otto Möhwald, Akt, 1977, 57,5 × 70,5 cm;
Kunstsammlung Neubrandenburg
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KUNST UND KULTUR IN DEN LÄNDERN
BREMEN
HAMBURG
HESSEN
MECKLENBURG-VORPOMMERN
François Boucher, Leda und der Schwan, 1742
Angela Hampel, Paar, 1988/89
GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN — DIE KUNST DES
FRANZÖSISCHEN ROKOKO
AUSSER KONTROLLE ! — FARBIGE GRAPHIK UND MAIL ART IN DER DDR
Losgelöst von schablonenhaften
Vorgaben für Gefühlsdarstellungen
zeigten Künstler um 1750 individuelle Gefühlswelten. Zerstörerische
Götter- und Heldenleidenschaften wandelten sich zu Genreszenen
mit Schäfern und Gärtnern, in denen die Liebenden durch verwunschene Gärten und Parklandschaften streifen und sich ihre zärtliche
Zuneigung offenbaren. Die Verführungskraft des Rokoko wird mit
Skulpturen, Biskuitporzellanstatuetten, Gemälden, Graphiken sowie Kunsthandwerk in den Fokus
gerückt.
Künstlerische Vielfalt und Experimentierfreude zeichnet die Graphik in der DDR aus: Besonders in
den graphischen Künsten eröffneten
sich Freiräume, die es den Künstlern ermöglichten, unkonventionelle
Drucktechniken zu entwickeln. Neben der farbigen Graphik in Schwerin werden auf Schloss Güstrow
grenzüberschreitende Kunstformen
wie Mail Art, experimentelle Happenings und Performances gezeigt.
von Carolin Hilker-Möll
BADEN-WÜRTTEMBERG
BAYERN
BERLIN
BRANDENBURG
Gjon Mili, Pablo Picasso making a space drawing
using a flashlight, 1949
Adolf Ziegler, Die Vier Elemente, vor 1937
George Grosz, Karpfen vor Winterlandschaft,
1929
POESIE DER FARBE
„3 Farben Blau Gelb Rot. Parallelerscheinung Traurig heiter brutal“:
Mit diesen Worten erklärte August Macke in einem Brief an Franz
Marc im Dezember 1910 die ästhetische Bedeutung der Primärfarben.
Nach diesen drei Kategorien – Melancholie, Heiterkeit, Brutalität – ist
die Ausstellung „Poesie der Farbe“
geordnet. Gezeigt werden Gemälde,
Zeichnungen und Druckgraphik
der Klassischen Moderne aus dem
Bestand der Staatsgalerie Stuttgart.
Viele bedeutende Künstler sind vertreten, darunter Max Beckmann,
Lyonel Feininger, Wassily Kandinsky, Paul Klee sowie die Freunde
August Macke und Franz Marc.
Staatsgalerie Stuttgart
www.staatsgalerie.de
bis 14.2.2016
MAX PECHSTEIN — KÖRPER,
FARBE, LICHT
Inspiriert vom Fauvismus setzte Max
Pechstein (1881–1955) kräftige,
reine Farben ein, um ausdrucksstarke Körper zu schaffen und Emotionen auf die Leinwand zu bannen.
Das Thema Körper nimmt im Werk
des Künstlers einen zentralen Platz
ein und wird nun erstmals in einer
Ausstellung in den Mittelpunkt gestellt: Das gerade vom Internationalen Kunstkritikerverein AICA zum
Museum des Jahres 2015 gekürte
Kunstmuseum Ravensburg präsentiert Pechsteins Frühwerk, seine expressionistischen Akte, seine aus der
Erinnerung geschaffenen Menschendarstellungen seines Südsee-Aufenthaltes in Palau sowie die Porträts der
1920er Jahre bis hin zum Spätwerk.
Kunstmuseum Ravensburg
www.kunstmuseum-ravensburg.de
bis 10.4.2016
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GEGENKUNST — „ENTARTETE
KUNST“ — NS-KUNST — SAMMELN NACH ’45
Am Ort der 1937 parallel veranstalteten ersten „Großen Deutschen
Kunstausstellung“ und der FemeAusstellung „Entartete Kunst“ werden in München Kunstwerke der
als „entartet“ diffamierten Künstler
Max Beckmann und Otto Freundlich den NS-Künstlern Adolf Ziegler
und Josef Thorak gegenübergestellt.
Die Ausstellung will Rahmenbedingungen schaffen, jenseits von Dämonisierung und Verharmlosung,
unter denen NS-Kunst auch im
Kunstmuseum präsentiert und diskutiert werden kann.
Pinakothek der Moderne, München
www.pinakothek.de
bis 31.1.2016
PICASSO — MANN UND FRAU
Eine bislang noch nie im Museum gezeigte Farbkreidezeichnung
Picassos bildet das Zentrum der
Ausstellung im Buchheim-Museum:
Das Bildnis mit dem rauchenden Mann im blau-weiß gestreiften Fischerhemd, mit Schirmmütze
und Dreitagebart verwirrt auf den
ersten Blick am meisten mit der gebogenen Relingkordel, an die sich
der Raucher lehnt, die wie ein üppiges Dekolleté anmutet. Selten
hat Picasso die beiden Geschlechter
derart eng miteinander verwoben,
wenngleich das Verhältnis zwischen
Mann und Frau ein Leitmotiv seines
Schaffens ist. Die Ausstellung konzentriert sich auf den späten Picasso
und zeigt 150 Werke des Künstlers
sowie Fotografien von ihm und seinen Frauen.
Buchheim-Museum, Bernried
www.buchheimmuseum.de
bis 8.3.2016
Georg Tappert, Zwei Mädchen im Profil, 1918
ZEITENWENDE — VON DER
BERLINER SECESSION ZUR
NOVEMBERGRUPPE
An der Wende vom 19. zum 20.
Jahrhundert kam es in Berlin in einem Zeitraum von nur 20 Jahren
zu diversen künstlerischen Umwälzungen: vom Impressionismus zum
Expressionismus, Kubismus und
Futurismus zur Neuen Sachlichkeit
und dem Konstruktivismus. Die
großbürgerliche Welt des Kaiserreichs wandelte sich in kurzer Zeit
zu einer aufgewühlten Welt im Umbruch nach der Novemberrevolution
1918. Das Bröhan-Museum macht
diese Zeit der Wendepunkte zwischen 1898 und 1918 mit rund 250
Werken erlebbar.
Bröhan-Museum, Berlin
www.broehan-museum.de
bis 3.4.2016
MAX BECKMANN UND
BERLIN
Alles dreht sich um Berlin: Anlässlich ihres 40-jährigen Bestehens
zeigt die Berlinische Galerie Werke
Max Beckmanns, die in der Stadt
entstanden und mit ihr verknüpft
sind oder in großen Ausstellungen in Berlin vertreten waren und
die städtische Kunstszene mitgeformt haben. Deutlich wird dabei
der große Einfluss, den die Stadt auf
den Künstler hatte. Zwei Mal lebte
Beckmann in Berlin – von 1904 bis
1914 und von 1933 bis 1937 –, war
der Stadt jedoch auch sonst immer
eng verbunden. Werke von Zeitgenossen ergänzen die Schau und beleuchten beispielhaft die vielfältige
Kunstszene Berlins der 1910er bis
frühen 1930er Jahre.
Berlinische Galerie – Museum für
Moderne Kunst, Berlin
www.berlinischegalerie.de
bis 15.2.2016
Gerhard Altenbourg, Hoch die Hacken,
Philinchen, o. J.
GERHARD ALTENBOURG — ARBEITEN AUF PAPIER
Selten der Öffentlichkeit präsentierte Werke aus der privaten Sammlung Brusberg eröffnen in Cottbus
neue Einblicke in das Werk Gerhard
Altenbourgs (1926 –1989). Mit ausgewählten Papierarbeiten wird seine
künstlerische Entwicklung seit den
1950er Jahren erfahrbar. Alle Schaffensphasen sind vertreten: die vom
Trauma des Zweiten Weltkriegs
und der Orientierung an Paul Klee
geprägten frühen Werke ebenso
wie die enigmatischen Ich-Bilder
und Seelenlandschaften des späten
Schaffens.
Kunstmuseum Dieselkraftwerk
Cottbus
www.museum-dkw.de
30.1. – 3.4.2016
KÜNSTLERINNEN DER
MODERNE — MAGDA
LANGENSTRASS-UHLIG UND IHRE ZEIT
Wenn im 20. Jahrhundert Künstler zu neuen Ufern aufbrachen, war
meist auch Magda Langenstraß-Uhlig (1888 –1965) nicht weit – immer zog es sie an den Ort des Geschehens. Sie war vertreten in der
„Sturm“-Galerie, Mitglied in diversen Künstlergruppen und gestaltete
die Kunstszenen in Berlin, Weimar,
Dessau und Jena mit. Werke weiterer Malerinnen, mit denen Langenstraß-Uhlig in direktem oder
indirektem Kontakt stand und mit
denen sie gemeinsam Themen, Stile
und Techniken der Moderne prägte,
werden ebenfalls in Potsdam gezeigt.
REGISSEURE DES LICHTS — VON REMBRANDT BIS
TURRELL
Werke der unterschiedlichsten
Künstler aus vier Jahrhunderten
werden in Bremen versammelt,
denn sie alle haben etwas gemeinsam: Licht. Ob Kerzen-, Fackel-,
Feuerschein oder doch elektrische
Bühnenbeleuchtung – das Licht
dient der Dramatisierung und inhaltlichen Aufladung der Sujets,
wird schließlich sogar selbst zum
Zeichenmittel. Nebeneinander werden unterschiedliche Werke in unterschiedlichen Medien unter anderem von Henri de Toulouse-Lautrec,
Karl Blechen, Olafur Eliasson und
den Bremer Künstlern Constantin
Jaxy und Norman Sandler gezeigt.
Kunsthalle Bremen
www.kunsthalle-bremen.de
bis 14.2.2016
TER HELL — WERKE AUS DER
SAMMLUNG BÖCKMANN
Malerei gepaart mit Graffiti, ungegenständliche Farben und Formen
kombiniert mit Satzfragmenten und
Sprachzeichen: Die Kunst des in
Berlin lebenden Künstlers ter Hell
(*1954) ist spannungsreich. In seinen Werken bleibt der Anspruch des
Widerständigen, die Kritik gegenüber bestehenden Verhältnissen und
damit auch eine politische Haltung
des Künstlers spürbar und lesbar.
Die Ausstellung zeigt etwa 40 Werke
aus der Sammlung Böckmann: eine
Kollektion, die seit den Anfängen
von ter Hells Schaffen über drei
Jahrzehnte stetig gewachsen ist und
einen umfassenden Überblick über
sein Werk gibt.
Stiftung Neues Museum Weserburg
www.weserburg.de
bis 10.4.2016
Gabriel Charles Rossetti, Helena von Troja,
1863
JUGENDSTIL — DIE GROSSE
UTOPIE
Mit der aktuellen Sonderausstellung
feiert das Museum für Kunst und
Gewerbe die Neupräsentation der
Sammlung Jugendstil und eine Epoche, die weit mehr hervorbrachte als
verspieltes Dekor. Die Neueinrichtung der Dauerausstellung orientiert sich an der ersten Präsentation,
die Museumsgründer Justus Brinckmann 1900 mit seinen Ankäufen
auf der Pariser Weltausstellung einrichtete. Gezeigt werden über 350
Werke, von Malerei, Skulptur und
Fotografie bis zu Mode, Textilkunst
sowie naturwissenschaftlichen und
medizinhistorischen Apparaturen.
Museum für Kunst und Gewerbe,
Hamburg
www.mkg-hamburg.de
bis 7.2.2016
Liebieghaus, Frankfurt a. M.
www.liebieghaus.de
bis 28.3.2016
STURM-FRAUEN — KÜNSTLERINNEN DER AVANTGARDE
LICHTE FINSTERNIS — ALFRED IN BERLIN 1910 –1932
KUBIN UND ERNST BARLACH Herwarth Walden gründete 1910
Obwohl sie sich nie begegnet sind,
lassen sich im Werk des deutschen Bildhauers Ernst Barlach
(1870 –1938) und des österreichischen Zeichners Alfred Kubin
(1877–1959) Parallelen entdecken.
Ähnliche Interessen sowie künstlerische Intentionen führten zu einer
wechselseitigen Sympathie und zu
stilistischen wie motivischen Gemeinsamkeiten. Beide erkundeten in ihrer Kunst das Unbewusste,
Abgründige und Groteske sowie
die Licht- und Schattenseiten des
Menschseins. Die Ausstellung geht
mit 80 teils selten gezeigten Blättern
in 13 Kapiteln dem „Geheimnis der
graphischen Sprache“ (Kubin) nach.
die Zeitschrift „Der Sturm“ zur
Förderung der expressionistischen
Kunst. Waldens Ziel: die Rund­um­
erneuerung der Kunst und Kultur.
Er traf einen Nerv und eröffnete
kurz darauf die „Sturm“-Galerie.
Neben Marc Chagall und Paul Klee
stammte rund ein Viertel der präsentierten Werke von Künstlerinnen. Die „Sturm“-Frauen leisteten
einen erheblichen Beitrag zur Entwicklung der Moderne, der in der
Frankfurter Ausstellung erstmals gewürdigt wird. Die Schau versammelt
eindrucksvolle Werke des Expressionismus, Futurismus, Dadaismus,
Konstruktivismus und der Neuen
Sachlichkeit.
Ernst-Barlach-Haus, Hamburg
www.ernst-barlach-haus.de
bis 10.1.2016
Schirn Kunsthalle Frankfurt a. M.
www.schirn.de
bis 7.2.2016
Staatliches Museum Schwerin /
Ludwigslust / Güstrow
www.museum-schwerin.de
bis 14.2.2016
DAS STILLLEBEN UND DIE
ENTDECKUNG DER WELT
Schmetterlinge und Schnecken,
Reptilien und Raupen bevölkern das
„Blumenstillleben mit Insekten“ von
Rachel Ruysch (1664 –1750), das
den Mittelpunkt der Rostocker Ausstellung bildet. Als erste Frau wurde
sie 1701 in eine Malergilde aufgenommen. Schon zu Lebzeiten waren
ihre Stillleben begehrt und gelangten in Museen auf der ganzen Welt.
Insgesamt haben sich nur 100 von
der Künstlerin signierte Gemälde
erhalten – eines davon in Rostock.
Weitere Stillleben anderer Künstler
vom 17. bis 19. Jahrhundert werden
in der Ausstellung zoologischen und
botanischen Präparaten an die Seite
gestellt und lassen die Faszination
der Entdeckung der eigenen und
exotischen Welt nachempfinden.
Kulturhistorisches Museum Rostock
www.kulturhistorisches-museumrostock.de
bis 17.1.2016
Potsdam Museum – Forum für
Kunst und Geschichte
www.potsdam-museum.de
bis 31.1.2016
ARSPROTOTO 4 2015
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NIEDERSACHSEN
NORDRHEIN-WESTFALEN
RHEINLAND-PFALZ
SAARLAND
SACHSEN-ANHALT
SACHSEN
SCHLESWIG-HOLSTEIN
Vera Mercer, The Bass, 2014
Zwei Elefanten mit Deckelvasen auf dem
Rücken, Qing-Dynastie, 18. Jahrhundert
Die Ausstellung in Hildesheim ist
eine faszinierende kleine Reise in
einen kaiserlichen Palast: Verschiedene Gemächer des Kaisers und
seines Hofstaates können entdeckt
werden – seien es die Thronhalle
oder ein Gelehrtenzimmer. Zusätzlich gibt die neueröffnete Dauerausstellung einen Einblick in Gesellschaft, Religion und Kultur des
Alten China. Einen dritten Schwerpunkt bildet der Blick in die Sammlung Ohlmer, ab 1888 von Ernst
Ohlmer (1847–1927) gestiftet, die
mit ihren prachtvollen Porzellanen
heute zu den bedeutendsten ihrer
Art in Europa zählt.
Roemer- und Pelizaeus-Museum,
Hildesheim
www.rpmuseum.de
bis 4.12.2016
UNSERE SAMMLER, UNSERE STIFTER
Das Sprengel Museum in Hannover
ehrt die Sammler und Stifter, die das
Museum unterstützt und die Sammlung bereichert haben. Schon den
Ausgangspunkt für die Gründung
des Museums bildete die Schenkung
von Margrit und Bernhard Sprengel 1969 an die Stadt Hannover.
Die engen Verbindungen zwischen
weiteren Sammlern, Leihgebern und
Stiftern, die eine lebendige und aktive Museumsarbeit gewährleisten,
sollen nun Beachtung finden. Dabei präsentiert die Ausstellung einen
Weg durch die moderne Kunst bis
ins 21. Jahrhundert, mit Werken
von Pablo Picasso, Gerhard Richter,
Ilya Kabakov u.v.m.
Sprengel Museum Hannover
www.sprengel-museum.de
bis 31.1.2016
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Conrad Felixmüller, Raoul Hausmann oder
Der Dadasoph, 1920
VERA MERCER — STILLLEBEN
SCHÄTZE FÜR DEN KAISER — Wilhelm Morgner, Ornamentale Komposition VI, 1912
MEISTERWERKE WILHELM MORGNER UND
CHINESISCHER KUNST
DIE MODERNE
Anlässlich seines 125. Geburtstags erinnert das LWL-Museum für
Kunst und Kultur an den expressionistischen Künstler Wilhelm Morgner (1891–1917) und zeigt ihn erstmals im Kontext seiner Zeit. Seine
Werke werden anhand gezielter Vergleiche mit Zeitgenossen betrachtet,
darunter Vincent van Gogh, Oskar
Kokoschka und Wassily Kandinsky.
Neben interessanten Einblicken in
Morgners Gesamtwerk steht dabei
die Frage im Fokus, inwieweit sein
künstlerisches Umfeld und die vielfachen Anregungen – er war unter anderem involviert in Künstlerkreise wie „Brücke“ und „Der Blaue
­Reiter“ – zu seinem ganz eigenen
Stil geführt haben.
LWL-Museum für Kunst und
Kultur, Münster
www.lwl-museum-kunst-kultur.de
bis 6.3.2016
ZURBARÁN — MEISTER DER DETAILS
Lange galt er als Geheimtipp, nun
wird ihm erstmals eine umfassende
Retrospektive im deutschsprachigen Raum gewidmet: Francisco de
Zurbarán (1598 –1664). Gemeinsam mit Velázquez zählt er zu den
herausragenden Malern des Goldenen Zeitalters Spaniens. Spezialisiert
auf religiöse Themen und christliche Motive, gelang ihm eine subtile
Synthese von Realismus und Mystizismus. Seine Werke bestechen vor
allem mit ihrer großen Detailgenauigkeit: Sowohl Schafsfell als auch
Seide oder Brokat stellte Zurbarán
virtuos und überzeugend dar.
Museum Kunstpalast Düsseldorf
www.smkp.de
bis 31.1.2016
Gemälde vom 17. bis 19. Jahrhundert werden den Fotoarbeiten von
Vera Mercer (*1936) entgegenstellt
und bilden trotz der gleichen Sujets
starke Kontraste: Während die niederländischen Stillleben u. a. von
Peter van Boucle (etwa 1610 –1673)
mit Arrangements von Blumen,
Früchten und erlegten Tieren auf
die Vergänglichkeit aller Dinge oft
nur subtil hinweisen, sprechen die
fotografierten Stillleben Vera Mercers eine deutlichere Sprache. So
gesellen sich zum Silberbesteck abgetrennte Schweinefüße, oder ein
gehäuteter Hase wird kunstvoll auf
Gläsern drapiert – realistische Details zwischen Vasen und Kerzen,
die gleichermaßen faszinieren wie
schockieren.
Museum Pfalzgalerie Kaiserslautern
www.mpk.de
bis 3.4.2016
WIE LEBEN? — ZUKUNFTS- BILDER VON MALEWITSCH
BIS FUJIMOTO
Die Welt von morgen – wie wird sie
aussehen? Diese Frage beschäftigt
die Menschen seit jeher. Zukunftsvisionen der letzten 100 Jahre werden
nun in Ludwigshafen ins Blickfeld
gerückt. Ideen und Entwürfe aus
Kunst, Architektur und Design versuchen Antworten auf die Fragen zu
geben: Wie wollen wir leben? Wie
wollen wir arbeiten? Wie gestalten
wir die Welt? In Werken und Entwürfen von El Lissitzky, Buckminster Fuller, Bernd und Hilla Becher
und Verner Panton wird diesen Fragen nachgegangen.
Wilhelm-Hack-Museum,
Ludwigshafen
www.wilhelmhack.museum
5.12.2015 –28.2.2016
THÜRINGEN
Karl Schmidt-Rottluff, Heuernte, 1921
Schädel aus Bergkristall, 21. Jahrhundert
(Fotomontage)
SCHÄDEL — IKONE, MYTHOS,
KULT
Spektakuläre Geschichten von Kopfjägern, Voodoo-Zaubern und hochverehrten Schädelreliquien erzählt
die Ausstellung im Saarland. Als
wahrscheinlich wichtigster Teil unseres Körpers – dort sitzen der Geist,
die Erinnerungen, die Gefühle,
die Persönlichkeit – faszinierte der
Schädel die Menschheit schon immer, sei es als Trophäe, Kultobjekt oder Briefbeschwerer. Schädel und Köpfe von der Eiszeit bis
zur Gegenwart und von fast allen
Kontinenten vergegenwärtigen die
jahrtausendealte Geschichte dieses
Kulturphänomens.
Völklinger Hütte, Völklingen
www.voelklinger-huette.org
bis 3.4.2016
GREGOR HILDEBRANDT — STERNE STREIFEN DIE
FLUTEN
Gregor Hildebrandt (*1974) arbeitet fast ausschließlich mit Kassetten, Ton- und Videobändern sowie
Schallplatten und verwandelt die
analogen Datenträger in Kunstobjekte. Dabei schafft er Skulpturen
und Installationen oder klebt Bänder – meist mit Liedern seiner Lieblingsmusiker – minutiös auf Leinwände. Mit unter anderem über
eintausend Schallplatten lässt der
Künstler in Saarbrücken einen Kosmos analoger Datenträger entstehen. Dabei fügt er seinen Werken
eine unsichtbare Dimension hinzu,
indem der Betrachter das Werk in
seinem Kopf mit den Klängen der
Lieder und damit verbundenen Erinnerungen vervollständigt.
Saarlandmuseum, Moderne Galerie,
Saarbrücken
www.kulturbesitz.de
bis 24.4.2016
KARL SCHMIDT-ROTTLUFF — 490 WERKE IN DEN
KUNSTSAMMLUNGEN CHEMNITZ
Mit 15 Jahren zeichnete der Gymnasiast Karl Schmidt-Rottluff
(1884 –1976) einen Baum – streng
nach der Natur, wie er vermerkte.
Zwischen diesem frühesten Zeugnis
seiner künstlerischen Auseinandersetzung und dem am spätesten datierten Werk im Bestand der Kunstsammlungen Chemnitz liegen über
70 Jahre. Die Arbeiten des Künstlers bilden heute das Kernstück der
Sammlung, in der Ausstellung sind
alle Schaffensperioden vertreten.
Damit wird in Chemnitz die bisher
umfangreichste Schau mit Werken
des Künstlers präsentiert.
Kunstsammlungen Chemnitz
www.kunstsammlungenchemnitz.de
13.12.15 – 10.4.2016
DISEGNO — ZEICHENKUNST
FÜR DAS 21. JAHRHUNDERT
Ausgehend von der italienischen
Renaissance erfuhr die Zeichnung
hohe Wertschätzung als Ausdruck
der direkten schöpferischen Idee.
Der „Disegno“ war den weiteren bildenden Künsten als geistige Quelle
übergeordnet. Die Ausstellung in
Dresden belebt diese Idee neu und
betrachtet die Zeichnung als Impulsgeber für die Gegenwartskunst.
Zeichnerische Konzepte und die daraus resultierenden Kunstwerke eröffnen dem Besucher einen Einblick
in den aktuellen Dialog der Zeichnung mit anderen Künsten. Dabei
entstehen einzelne Werke zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler
exklusiv für die Ausstellung.
Staatliche Kunstsammlungen
Dresden, Kupferstich-Kabinett
www.skd.museum
bis 29.3.2016
ARSPROTOTO 4 2015
Das Massengrab von Lützen (Ausschnitt)
KRIEG — EINE ARCHÄOLOGISCHE SPURENSUCHE
47 Tote in einem Massengrab:
Dies sind die einzigen Zeugen der
Schlacht von Lützen vom 6. November 1632 – mit mehr als 6.500
Gefallenen eine der blutigsten
Schlachten des gesamten 30-jährigen Krieges. Als sogenannte Blockbergung im Ganzen (3,5 × 4,5 m)
gesichert, bildet das Massengrab das
Herzstück der Ausstellung. Originale wie die mit Einschuss- und
Einstichlöchern versehene elchlederne Reitjacke des in Lützen gefallenen Schwedenkönigs Gustav II.
Adolf sind ein besonderer Höhepunkt. In einem zweiten Ausstellungsteil werden das Phänomen
„Krieg“ sowie die Geschichte seines
Ursprungs beleuchtet.
Landesmuseum für Vorgeschichte,
Halle (Saale)
www.lda-lsa.de
bis 22.5.2016
BAUHAUS MUSEUM DESSAU
— INTERNATIONALER ARCHITEKTURWETTBEWERB
831 Entwürfe wurden beim offenen, internationalen Wettbewerb
für den Neubau des Bauhaus Museums zum 100-jährigen Jubiläum im
Jahr 2019 eingereicht. Die Jury hat
bereits getagt und gleich zwei Gewinner gekürt, die gegensätzlicher
kaum sein könnten: zum einen ein
schlichter quadratischer Baukörper
in Schwarz, zum anderen eine bunte
Mischung aus organischen Formen
und Pastellfarben. Die Sieger sowie
die weiteren prämierten Entwürfe
sind mit Plänen und Modellen noch
bis Ende Januar 2016 im Bauhaus
in Dessau ausgestellt.
Bauhaus Dessau
www.bauhaus-dessau.de
bis 31.1.2016
Hannah Höch, Die Puppe Balsamine, 1927
VORHANG AUF FÜR HANNAH HÖCH
Vorhang auf für die Grande Dame
des Dada: Als einzige Frau im Berliner Dadakreis gilt Hannah Höch
(1889–1978) heute als eine der
wichtigsten Vertreterinnen dieser
internationalen Künstlerbewegung.
Dada stellt seit seinen Anfängen
1916 alles auf den Kopf, provoziert, sprengt Konventionen und
stellt den Kunstbegriff radikal in
Frage. Die Ausstellung anlässlich des
100. Jubiläums setzt ihren Schwerpunkt auf Collagen von Hannah
Höch. Gemeinsam mit Zeichnungen und Gemälden sind Werke aus
allen Schaffensphasen vertreten, die
die Theaterbühne thematisch in den
Mittelpunkt rücken – eine bisher
wenig beachtete Facette im Werk
der Künstlerin.
IN SZENE GESETZT — AUS
PORTRÄTS WERDEN KLEIDER
Wenn Raoul Hausmann aus seinem
Gemälde heraustritt und im Lindenau-Museum strammsteht, ist das
das Werk von Studierenden des Studiengangs Theaterausstattung der
Hochschule für Bildende Künste in
Dresden. Von zahlreichen Porträts
aus der Sammlung des LindenauMuseums ab dem 15. Jahrhundert
haben die Studierenden die Kostüme historisch genau nachempfunden und hergestellt sowie oft kleine
Theaterszenen geschaffen. Im gesamten Museum wird der Besucher
auf eine Zeitreise durch die Welt der
Kleider und Kostüme entführt. Ergänzt wird die Schau durch Werke
des Altenburger Künstlers Tilman
Kuhrt und des Berliner Photographen Oliver Mark.
Lindenau-Museum, Altenburg
www.lindenau-museum.de
bis 3.4.2016
Kunsthaus Stade
www.museen-stade.de
bis 21.2.2016
SAFET ZEC — SINNBILDER
DES SCHICKSALS
DAS MEER — VON DER
ROMANTIK BIS ZUR GEGENWART
Vom Stillleben über die Landschaft
bis zur Figur: Das Werk von Safet
Zec (*1943 in Bosnien-Herzegowina) umfasst alle klassischen Techniken und Genres. Stilistisch verknüpft er die realistische Malweise
der Alten Meister mit den Errungenschaften der neueren Kunstentwicklung. Thematisch sind seine
Werke geprägt von den traumatischen Erfahrungen seiner Familie
während des Zweiten Weltkriegs
und der Flucht vor dem Bosnienkrieg nach Italien. Die Ausstellung
ist die erste große Überblicksschau
im deutschsprachigen Raum.
Aufgepeitschte Wellen mit weißer
Gischt oder eine leicht gekräuselte
Wasseroberfläche, in der sich die
Wolken spiegeln: Das Meer kennt
viele Facetten, und die überzeugende Darstellung der unterschiedlichen Stimmungsbilder des Wassers
galt schon immer als Herausforderung. Mit Werken von Johan Christian Dahl, Emil Nolde und Yinka
Shonibare gibt die Ausstellung einen
Überblick über die Geschichte des
Seestücks in der norwegischen, dänischen, deutschen und niederländischen Kunst vom frühen 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart.
Panorama Museum, Bad
Frankenhausen
www.panorama-museum.de
bis 21.2.2016
Museum Kunst der Westküste,
Alkersum/Föhr
www.mkdw.de
bis 10.1.2016
61
FREUNDESKREIS
Unbekannter Maler, Eine
Tochter des Herzogs August
von Sachsen-Weißenfels
(Prinzessin Katharina von
Sachsen-Weißenfels? (1655–
1663)), um 1665, 68 × 55 cm;
Museum Schloss Neu-Augustusburg Weißenfels
PRINZESSIN MIT
STATUS- SYMBOLEN
Der Freundeskreis der
Kulturstiftung der Länder
unterstützte die Restaurierung des Porträts einer
Hallenser Prinzessin
62
IN MODE
Das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg präsentiert die modische Vielfalt der Frühen Neuzeit
von Jenny Berg
von Frank Druffner
„Ist nicht die Menge der fürstlichen
Höfe ein herrliches Mittel dadurch sich
soviel Leute hervor thun können, so
sonst im Staube liegen müsten?“ Diese
rhetorische Frage stellte Gottfried Wilhelm Leibniz 1683 in seiner „Ermahnung an die Teutsch[n]“. Der große
Universalgelehrte hatte den Wesenskern
des Alten Reiches scharfsinnig erfasst
und ins Positive gewendet. Souverän
erkannte er das kulturelle Potenzial der
später despektierlich „Kleinstaaten“ oder
„Duodezfürstentümer“ genannten Territorien. Tatsächlich befanden sich die
vielfältigen Glieder des Reichs, die
weltlichen und geistlichen Fürsten, die
katholischen und protestantischen
Stände, die Reichs- und Hansestädte, in
einem kontinuierlichen Wettstreit. Vom
Herzog bis hinunter zum Grafen und zur
Fürstäbtissin bemühten sich alle Machthaber, ihre Position durch die Zurschaustellung von Prunk und Luxus zu legitimieren und zu stärken. Folgerichtig
florierte nicht nur die Baukunst, sondern
auch die Luxus­industrie – Möbelkunst,
Porträtmalerei, Textilkunst, Gold- und
Silberschmiedekunst, Porzellanmanufakturen. Letztlich spiegelt die Vielfalt der
heutigen Museums-, Theater- und
Opernlandschaft Deutschlands noch
immer die Verhältnisse vor dem Ende
der Monarchien.
Das Porträt, das dank der Förderung
des Freundeskreises der Kulturstiftung
der Länder restauriert werden konnte,
AUSSTELLUNGEN
veranschaulicht das Gesagte auf schönste
Weise. Es befindet sich im Besitz der
Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg, geht aber als
Dauerleihgabe nach Schloss Weißenfels.
Denn es entstand für einen jüngeren
Zweig der sächsischen Wettiner, der
durch August, den protestantischen
Administrator des Erzstiftes Magdeburg,
begründet wurde und zunächst in Halle
residierte, bis 1694 das Schloss NeuAugustusburg in Weißenfels bezugsfertig
war. Das Residenzleben in Halle geriet
danach weitgehend in Vergessenheit. Die
dargestellte Prinzessin könnte Augusts
Tochter Katharina sein, die 1663 mit
noch nicht einmal acht Jahren verstarb.
Auf jeden Fall entstand das Gemälde für
die Hofhaltung in Halle, die in der
dortigen ehemals erzbischöflichen Residenz untergebracht war. Es wurde beim
Umzug nach Weißenfels sicherlich
mitgeführt, zumal sein Erinnerungswert
aufgrund des frühen Todes der Dargestellten sehr hoch war.
Der Maler, dessen Identität noch
umstritten ist, erfasste die Züge der
zarten Prinzessin mit den großen Augen,
dem kleinen roten Mund und dem an
den Seiten locker herabfallenden Haar
mit einfühlsamen Pinselstrichen. Doch
auch wenn uns hier ein kindliches Individuum entgegen tritt, wird gleichzeitig
unmissverständlich die Angehörige eines
alten Fürstengeschlechts inszeniert. Das
verdeutlicht der äußere Apparat, in den
das Konterfei eingefügt wurde, ohne
auch nur ein einziges architektonisches
Versatzstück zu verwenden: Bunte, von
einer edelsteinbesetzten Agraffe gehaltene
Bänder im Haar, eine delikat gegebene
zweireihige Perlenkette, die üppige
Brosche auf der Brust dienen der Repräsentation am Körper und korrespondieren mit dem aus verschiedenen wertvollen Materialien gefertigten raffinierten
Kleid. Brokat, Spitze, Seide sind Statussympole auch am Kinderkörper.
Farbkorrespondenzen zwischen den
Haarbändern, Ohrgehängen und Ärmelschleifen und die auf eine Linie gesetzte
dreiteilige Schmuckgarnitur mit Gold
und Schwarzblau demonstrieren das
ästhetische Vermögen des Künstlers, der
sein ganzes Augenmerk auf die Wiedergabe des Gesichts und der Körperhülle
richtet. Nach Reinigung und Restaurierung wird sein gemaltes Schmuckstück
nun in neuem Glanz auf Schloss NeuAugustusburg die Hofkultur einer weitgehend vergessenen Epoche sächsischer
Landesgeschichte beleuchten. Prof. Dr. Frank Druffner ist stellvertretender Generalsekretär der Kulturstiftung der
Länder und Geschäftsführer des
Freundeskreises.
Geschlitzte Wämser, geschmückte Federbaretts, dekorative Stiefelstulpen: Dies
sind nur einige der modischen Raffinessen, die zur frühneuzeitlichen Garderobe
gehörten. Je nach Stand und Geschlecht
reichte die Kleidung von Leinen bis
Samt, von einem schlichten Grau bis hin
zum kostbar aus Schnecken gewonnenen
Purpur, vom einfachen Alltagsgewand bis
zum reich verzierten Schnabelschuh.
Doch wie wurde ein geschlitztes Wams
um 1600 überhaupt hergestellt? Wie
pflegte man seinen filzenen Radmantel
und bei welchen Anlässen gehörte eine
üppige Halskrause zum verpflichtenden
Dresscode? Im Germanischen Nationalmuseum kann man diesen Fragen ab
sofort auf den Grund gehen und in einer
Sonderausstellung die Vielseitigkeit der
Mode des 16. und 17. Jahrhunderts als
Teil der materiellen Kultur erfahren.
Als größtes kulturhistorisches Museum des deutschen Sprachraums verfügt
das 1852 gegründete Nürnberger Museum über eine herausragende Sammlung frühneuzeitlicher Kleidung in
Europa. Bisher wurde diese nur in einem
Teilkatalog von Walter Fries aus dem
Jahr 1926 publiziert. Eine 1990 erschienene Publikation von Jutta Zander-Seidel, Kuratorin der Ausstellung und
Leiterin der Sammlungen Textilien und
Schmuck, ist mittlerweile vergriffen.
Grund genug für ein vierjähriges Forschungsprojekt, bei dem der Bestand
nicht nur sorgfältig im hauseigenen
Institut für Kunsttechnik und Konservierung restauriert, sondern auch wissenschaftlich neu bearbeitet wurde. In der
Ausstellung zeigt das Museum Objekte
dieser einzigartigen Sammlung nun
Grabkleid der 6-jährigen Katharina Gräfin zur Lippe, 1600;
Lippisches Landesmuseum, Detmold
ARSPROTOTO 4 2015
In Mode. Kleider
und Bilder aus
Renaissance und
Frühbarock, Verlag
des Germanischen
Nationalmuseums,
Nürnberg. 300
Seiten mit ca. 300
meist farbigen
Abbildungen,
38,50 Euro
erstmals öffentlich und stellt die wichtigsten Ergebnisse der Forschungsarbeiten vor.
Neben der Präsentation von rund 50
Originalkostümen aus den Jahren 1530
bis 1650 ergänzen rare Objekte und
Funde zur Herstellung und Pflege von
Kleidung die von der Kulturstiftung der
Länder geförderte Schau. Historische
Handwerksutensilien wie Nadeln, Scheren und Fingerhüte vermitteln einen
Eindruck von der täglichen Arbeit des
Schneiders, während Kleiderbürsten oder
Wäschetafeln von der frühneuzeitlichen
Reinigungspraxis erzählen. Die Zusammenführung der erhaltenen Zeugnisse
mit zeitgenössischen Porträts – darunter
Leihgaben aus New York, Wien und
Stockholm – thematisiert darüber hinaus
die Lesbarkeit von Kleidung im Bild und
greift damit die aktuelle Diskussion der
Kleiderkunde auf. Während die textilen
Originale Nahsichten auf Formen,
Materialien und Macharten zulassen,
vermitteln die Bildnisse Wirkung und
ursprüngliche Trageweise. Anhand von
modekritischen Flugblättern und Trachtenbüchern wird allerdings schnell deutlich, dass die Kunstwerke nicht als Abbild der Realität zu begreifen sind,
sondern vielmehr der Inszenierung von
Persönlichkeit und Status des Auftrag­
gebers dienten. Die Publikation zur
Ausstellung erfasst den kostbaren Bestand frühneuzeitlicher Kleidung des
Germanischen Nationalmuseums und
stellt die Ergebnisse des Forschungs­
projektes dauerhaft zur Verfügung.
Jenny Berg ist Assistentin des Vorstands
der Kulturstiftung der Länder.
In Mode
Kleider und Bilder aus Renaissance
und Frühbarock
Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg
3.12.2015 – 6.3.2016
www.gnm.de
63
NACHRICHTEN
2015/16
10 JAHRE DEUTSCHRUSSISCHER MUSEUMSDIALOG
DER
WETTBEWERB
Festveranstaltung im
Berliner Bode-Museum
und Kolloquium in der
Akademie der Künste
Aus Anlass des 10-jährigen Jubiläums
des Deutsch-Russischen Museums­dialogs
(DRMD) trafen sich in Berlin am 16.
und 17. November auf Einladung der
Kulturstiftung der Länder und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz rund zweihundert Direktorinnen und Direktoren
sowie Kuratorinnen und Kuratoren der
von Kriegsverlusten betroffenen russischen und deutschen Museen, um ihre
langjährige Zusammenarbeit zu vertiefen
und neue Projekte zu erörtern. Bei einer Festveranstaltung im Bode-Museum
und einem Kolloquium in der Akademie der Künste berichteten renommierte
­Expertinnen und Experten von ihren
neuesten Forschungser­gebnissen in
Bezug auf kriegsbedingt verlagerte
Kulturgüter.
http://www.kulturstiftung.de/
initiativen/deutsch-russischermuseumsdialog/
Die Festveranstaltung im Berliner Bode-Museum
Feierliche Übergabe eines
Kurzschwertes aus deutschem Privatbesitz durch
Veronika Ellert an Natalja
Grigorjewa, Direktorin
des Staatlichen Museums
­Nowgorod
Rückgabe eines Gemäldes
aus dem Stadtmuseum
Dresden an die Kunstsammlung der Akademie der
Künste. 1946 aus Berlin
nach Moskau verbracht,
kehrte das „Bildnis des
Schauspielers J. F. Reinecke“
von Anton Graff bereits 1958
aus der Sowjetunion in die
DDR zurück, gelangte
irrtümlich aber nach Dresden. Recherchen des DRMD
ermöglichten nun seine
Rückkehr nach Berlin.
Feierliche Übergabe eines
Messbuches von 1651,
kirchenslawisches Sluzebnik,
mit Nowgoroder Stempel
durch Barbara SchneiderKempf, Generaldirektorin
der Staatsbibliothek zu
Berlin – Preußischer Kulturbesitz, an Natalja Grigorjewa, Direktorin des Staat­
lichen Museums Nowgorod
64
DER OLYMP
ZUKUNFTSPREIS FÜR KULTURBILDUNG
Der Wettbewerb der
Kulturstiftung der Länder
in Zusammenarbeit mit der
Deutsche Bank Stiftung
Informationen unter
www.kulturstiftung.de/kinder-zum-olymp
Anmeldung zum Wettbewerb
bis zum 31. Dezember über die Webseite
JETZT
BEWERB
EN
!
SCHÖN IM DEPOT
Was verbergen Sie eigentlich vor uns, Herr Lukasch?
Eineinviertel Jahrhunderte nach den
sensationellen Flügen Otto Lilienthals
(1848 –1896) verdanken wir unser Wissen
zu Details seiner Flugtechnik einer großen
Zahl von Fotografien. Es war ein
glückliches Zusammentreffen zweier
technischer Pionierleistungen: die ersten
freien Flüge eines Menschen und der
Beginn der sogenannten Augenblicksfotografie.
Lilienthal ließ sich regelmäßig von
Fotografen begleiten und benutzte die
Bilder in Vorträgen und Artikeln. Die
Sammlung von Vintage-Prints im
Otto-Lilienthal-Museum, großenteils
66
Albumin- und Kollodiumpapierabzüge,
geht auf Lilienthals eigene Sammlung
zurück. Einem Foto der Sammlung jedoch
fehlte jeder geschichtliche Kontext: Ein
großformatiger Kollodiumpapierabzug auf
Schmuckkarton von 1893 zeigt Lilienthal
im Flug hoch über einer Stadtsilhouette.
Die Vorbereitung einer Hochstapelei?
Der Schmuckkarton ist dem Berliner
Hoffotografen Alex Krajewsky zuzuordnen.
Erst jüngst wurde das Bild als Blick über
die Havel von der Zitadelle Spandau aus
identifiziert. Krajewsky kombinierte es mit
einer seiner 1893 entstandenen LilienthalAufnahmen. Die aktuelle Interpretation
sieht das Bild als persönliches ironisches
Geschenk des Fotografen an Lilienthal, mit
dem er nebenbei seine fototechnischen
Fähigkeiten dokumentieren wollte.
Die Fotosammlung wird dauerhaft ein
Depotschatz bleiben. Die Ausstellung zeigt
Motive in großformatigen Reproduktionen
und erfüllt damit ihren Zweck, Schaufenster in die verborgenen Sammlungen des
Museums zu sein.
Dr. Bernd Lukasch, Direktor des OttoLilienthal-Museums in Anklam, mit einer
Fotomontage von Alex Krajewsky aus der
Sammlung von Otto Lilienthal im Depot des
Museums, fotografiert von Oliver Mark
Karl Schmidt-rottluff
490 Werke in den Kunstsammlungen Chemnitz
13.12.2015 – 10.4.2016
Kunstsammlungen Chemnitz
theaterplatz 1 | 09111 Chemnitz | www.kunstsammlungen-chemnitz.de
Karl Schmidt-Rottluff, Seehofallee, 1956, Öl auf Hartfaser, 88,3 x 102,3 cm, Kunstsammlungen Chemnitz, Foto: bpk/Kunstsammlungen Chemnitz/May Voigt © VG Bild-Kunst, Bonn 2015
Sparkassen-Finanzgruppe
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Berliner Sparkasse
DekaBank Deutsche Girozentrale
Sparkassen-Kulturfonds des
Deutschen Sparkassen- und
Giroverbandes
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zu Berlin
n Museen
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Wann ist ein Geldinstitut gut
für Deutschland?
Wenn es nicht nur die Tore zu Berlins besten Museen öffnet.
Sondern auch deren Vielfalt fördert.
Als größter nichtstaatlicher Kulturförderer wenden die Sparkassen jährlich über 144 Mio. € auf, um unter
anderem die Qualität und die Vielfalt der deutschen Museumslandschaft zu stärken und bedeutende
Institutionen wie die Staatlichen Museen zu Berlin zu unterstützen. Das ist gut für die Kultur und gut für
Deutschland. www.gut-fuer-deutschland.de
Sparkassen. Gut für Deutschland.