Gottfrieds »Tristan« und Wagners »Tristan und Isolde«

Hauptseminar:
Gender, Sexualität, Liebe, Ehe, Familie,
soziale Netzwerke in der höfischen Epik
WS 1999/2000
Leitung: Prof. Dr. Ursula Liebertz-Grün
Gottfrieds »Tristan«
und
Wagners »Tristan und Isolde«
Liebesvorstellung
und
Liebesverwirklichung
Matthias Eitelmann
5. Sem. LAG,
Germanistik, Anglistik
Mina-Karcher-Platz 42
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Gottfrieds „Tristan“ und Wagners „Tristan und Isolde“
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67227 Frankenthal
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Gottfrieds „Tristan“ und Wagners „Tristan und Isolde“
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Inhaltsverzeichnis
I.
Einleitung
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II. Rundumvergleich
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III.
Tristan im Badezuber: Rache für Morold
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III.1. „zorn unde wîpheit“
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III.2. Tristans Blick
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IV.
„ein tranc von minnen“ – der Liebestrank
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IV.1. Funktion des Liebestrankes allgemein 9
IV.2. Tristans und Isoldes Verhältnis zueinander vor dem 10
Liebestrank bei Gottfried
IV.3. „endelôze herzenôt“ 11
IV.4. Wagner: Psychologisierung des Liebestrankes
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V.
Liebesideal
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V.1. Gottfried: Liebesleid
16
V.2. Wagner: „Nacht-Geweihte“
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V.3. Zusammenfassung
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VI.
Isoldes Beziehung zu König Marke
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VI.1. „wîp alse wîp”
21
VI.2. „Der mein Wille nie zu nahen wagte…”
22
VII. Entdeckung im Baumgarten und Trennung der Liebenden 24
VII.1. Personentausch
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VII.2. „Wohin nun Tristan scheidet...“
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Gottfrieds „Tristan“ und Wagners „Tristan und Isolde“
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VIII. Liebestod
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VIII.1. Üblicher Ausgang des Tristan-Stoffes
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VIII.2. Auslassung der Isolde Weißhand bei Wagner
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VIII.3. Liebestod: „Unbewußt – höchste Lust“
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IX. Schluß
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Bibliographie
I. Einleitung
„Die Geschichte von Tristan und Isolde ist die legendäre Erzählung von zwei
Menschen, die exemplarisch gelebt haben im Streben nach der unio mystica der
Minne und dafür das Martyrium des Daseins in einer ihrer vollkommenen Minne
feindlich entgegengestellten Welt auf sich genommen haben“, so faßt de Boor den
Inhalt des Tristan-Stoffes zusammen. Gottfried von Straßburg schuf mit seinem
Fragment gebliebenen Roman von 19548 Versen, das um etwa 1210 entstanden ist,
die wohl bekannteste Bearbeitung des Tristan-Stoffes im Mittelalter. Knapp 650
Jahre später wagte sich Richard Wagner an den Tristan-Stoff und arbeitete ihn zu
seiner längsten Oper um, die 1859 vollendet wurde. Wagner kannte die Gottfriedsche
Tristan-Version in Hermann Kurzens moderner hochdeutscher Fassung; zudem war
er über viele Varianten der Geschichte vertraut. Mit Gottfried und Wagner stehen
sich zwei Bearbeiter gegenüber, die sehr unterschiedlich an den Tristan-Stoff
herangehen.
Richard
Wagner
leistete
„zweifellos
die
bedeutendste
und
zugleich
wirkungsvollste Neudichtung“ von Gottfrieds Tristan; allerdings leistete er
gleichzeitig eine radikale Um- und Neudeutung des Tristan-Stoffes. Weber und
Hoffmann finden, daß Wagner den Zugang zu Gottfrieds Werk verstelle, da
Gottfrieds Tristan nicht von Wagners Oper her gesehen werden darf. Wapnewski
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Gottfrieds „Tristan“ und Wagners „Tristan und Isolde“
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betont, daß die „Dominanz des Wagner-Werkes (...) andere Rezeptionsmöglichkeiten
verhindert“ habe. Nach Volker Mertens hat die Tristan-Forschung Schwierigkeiten,
an Wagner vorbeizudenken und sich nicht einseitig auf das Liebesmysterium zu
konzentrieren.
Inwiefern stehen sich nun Gottfried und Wagner gegenüber? Dies zu untersuchen
wird Gegenstand der vorliegenden Hausarbeit sein, wobei der Hauptaugenmerk auf
der Liebesvorstellung der beiden Bearbeiter liegen wird. Zunächst werden in einem
Rundumvergleich die beiden Version oberflächlich verglichen, um die groben
Unterschiede herauszustellen. Danach werden die Szenen, die direkt nebeneinander
gestellt werden können, auf die Liebesvorstellung hin miteinander verglichen: Isoldes
Entdeckung, daß Tantris Tristan ist, und die Abwendung ihrer Rachepläne, als
Tristan schutzlos im Badezuber sitzt, und die Diskussion des Beginns ihrer beider
Liebe; der Liebestrank auf dem Schiff und dessen Bedeutung; die Entdeckung der
Liebenden im Baumgarten und die Konsequenz daraus für ihre weitere
Liebesverwirklichung. Besonders wird das Liebesideal der beiden Bearbeiter
herausgestellt. Auch wird die Figur des König Marke aus den beiden Versionen
kontrastierend gegenübergestellt, um die Art seiner Liebe zu Isolde zu analysieren.
Abschließend werde ich den Liebestod in Wagners Oper näher untersuchen, auch
wenn dieser in Gottfrieds Version nicht mehr behandelt wird, da der Roman vorher
abbricht. Dazu werde ich kurz den gewöhnlichen Ausgang der Handlung referieren,
um diesen dann mit dem Ausgang von Wagners Oper vergleichen zu können.
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Gottfrieds „Tristan“ und Wagners „Tristan und Isolde“
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II. Rundumvergleich
Gottfried von Straßburg wie auch Richard Wagner sind beide Bearbeiter des
Tristan-Stoffes. Gottfrieds Versfragment beruht auf der Version von Thomas von
Britannien, die heute nur in wenigen Fragmenten übermittelt ist und wiederum auf
die sogenannte „Estoire“ zurückgeht; Gottfried selbst sagt von Thomas, daß er uns
eine authentische Version gebe und zählt ihn somit zu den seltenen Beispielen derer,
„die von im rehte haben gelesen“ (GT, 134).
Gottfried von Straßburg erzählt in erster Linie nach; er führt zahlreiche Episoden
aus dem Leben Tristans auf, um seinen Helden näher zu charakterisieren; die
Geschichte seiner Eltern, Riwalin und Blancheflur, wird vorangestellt, um ein
weiteres Beispiel der Tristan-Minne zu präsentieren, die so charakteristisch Liebe mit
Leid im „Liebesleid“ verbindet. Allerdings geht Gottfrieds Werk über eine bloße
Nacherzählung hinaus: Gleichzeitig kommentiert und deutet er seine Erzählung,
nicht zuletzt in seinen zahlreichen Exkursen.
Wagners Tristan hingegen konzentriert sich auf drei Szenen. Der erste Aufzug,
der auf dem Schiff auf der Reise nach Cornwall spielt, behandelt die
„Liebesfindung“; der zweite Aufzug im Burggarten Markes schildert die
Liebesverwirklichung in der einzigen Nacht, die Tristan und Isolde beschert ist; und
der dritte Aufzug schließlich im Burghof Tristans ist ganz dem „Liebestod“
gewidmet. Wagner hat mit seinem Tristan eine dreiaktige Handlung geschaffen, die
auf drei „Grundsituationen“ beschränkt ist; die Vorgeschichte, die Gottfried
ausführlich schildert, wird höchstens anspielungshaft eingebracht, nur erkennbar für
diejenigen, denen andere – ausführlichere – Tristan-Versionen bekannt sind. Für
Wagner waren die Episoden nur „abliegende[s] Beiwerk“; für ihn waren nur der
Mann und die Frau wichtig, die Liebesgeschichte. Die Konzentrierung auf drei
Szenen bringt aber mit sich, daß die Psychologie der Hauptcharaktere in den
Vordergrund rückt: „Der Schrumpfungsprozeß im Äußerlichen aber wurde zum
Intensivierungsprozeß im Inneren“, merkt hierzu Kurt Pahlen an. Überhaupt
„geschieht“ wenig in Wagners Tristan-Oper: Während in Gottfrieds Tristan die
Liebenden ständig zu Intrige und Gegenintrige herausgefordert sind, ist die Handlung
– sofern man denn dann überhaupt von einer „Handlung“ sprechen kann - bis auf
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Gottfrieds „Tristan“ und Wagners „Tristan und Isolde“
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wenige handlungs-, bzw. geschehnisreiche Einschnitte (Einnehmen des Liebestrankes
im ersten Akt, auf das aber auch wieder sofort eine Verlagerung ins Innere erfolgt;
die Entdeckung im Liebesgarten im zweiten Akt und das Eintreffen der Schiffe aus
Cornwall im dritten Akt) auf das Innere der Liebenden beschränkt. Interessanterweise
bezeichnet Richard Wagner seine Oper im Untertitel gerade als „Handlung in drei
Aufzügen“.
Ein weiterer Unterschied von Wagners Oper zu Gottfrieds Roman ist der von
Anfang an auf beide gerichtete Fokus – schon der Titel zeigt, daß es Wagner um
„Tristan und Isolde“ ging, während Gottfrieds Werk Tristan in den Mittelpunkt rückt,
der zwar, wie immer wieder angedeutet wird, prädestiniert für Isolde ist, diese aber
erst spät im Roman trifft (genaugenommen in Vers 7720), nachdem die Leser Tristan
von Geburt an begleitet haben. Wagner hingegen läßt seine Oper sogar mit Isolde
beginnen; Tristan bleibt zunächst im Hintergrund und tritt erst am Ende der zweiten
Szene auf. Überhaupt ist Isolde in der Wagner-Oper die aktivere: Zwar ist sie,
ähnlich wie Tristan, tiefsinnend und verschreckt, doch ergreift sie die Initiative, wird
aktiv, indem sie den Plan mit dem Todestrank faßt und dadurch erst den Anstoß zur
Offenbarung ihrer gegenseitigen Liebe gibt, wie noch unter Punkt IV. näher
ausgeführt wird. Tristan, der zwar ebenso längst in Isolde verliebt ist, unterdrückt
seine Liebe erfolgreich; er bleibt passiv. Als Isolde ihm den Todestrank reicht, nimmt
er diesen, ist es für ihn schließlich eine Möglichkeit, seine Liebe weiterhin zu
verheimlichen, weiterhin passiv zu bleiben und nicht aktiv werden zu müssen. Von
der Heldenhaftigkeit, die Tristan bei Gottfried von Anfang an zutage legt, ist bei
Wagner selten etwas zu spüren – allenfalls in Rückblicken wird Tristan als der Held
präsentiert, der er einst war: „kühn und wonnig, / was sich da Glanzes, / Glückes und
Ehren / Tristan, mein Held, hehr ertrotzt!“ (WT, 56). Zum überwiegenden Teil wirkt
Wagners Tristan-Figur schwach, verletzlich und bereits zutiefst seelisch leidend.
Bei Gottfried ist das Verhältnis zwischen Tristan und Isolde ausgewogener; sie ist
die ideale Partnerin für ihn – ihre Begierde ist der seinen gleichberechtigt, sie ist
listenreich im Falle der Entdeckung, was zahlreiche Episoden zeigen, und schnell
entflammt. Doch letztendlich geht die Initiative von beiden Seiten aus, keiner von
beiden ist aktiver als der andere, sie ergänzen sich ideal und ausgewogen.
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Gottfrieds „Tristan“ und Wagners „Tristan und Isolde“
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III. Tristan im Badezuber: Rache für Morold
III.1. „zorn unde wîpheit“
Tristan erschlägt im Kampf Morold, Isoldes Onkel bzw. den Bruder von Isolde der
Älteren. Nachdem Tristan bereits das zweite Mal – unter dem falschen Namen
Tantris – nach Irland gereist ist und zum zweiten Mal durch Isoldes Zauberkünste
geheilt wurde, entdeckt Isolde, daß der Mann vor ihr der Mörder ihres Onkels ist. Die
Scharte in Tristans Schwert verrät ihn, und indem Isolde mit dem vermeintlichen
Namen „Tantris“ spielt, deckt sie die wahre Identität Tantris’ auf: „vür sich sô las si
Tristan, / her wider sô las si Tantris; / hie mite was sî des namen gewis.“ (GT,
10124-10126)
Isolde verspürt den Wunsch nach Rache und möchte Tristan, der schutzlos im
Badezuber sitzt – ihr also waffenlos ausgeliefert -, mit seinem eigenen Schwert
erschlagen. Allerdings werden im folgenden mehrere Gründe aufgeführt und
überdacht, die letztlich dazu führen, daß Isolde Tristan nicht tötet. Tristan, der merkt,
was Isolde vorhat, versucht, sich mit sprachlichen Mitteln zu wehren, indem er an
Isoldes Ehre und Ansehen appelliert: „gedenket iuwers namen an mir: / ir sît ein
frouwe und ein maget. / swâ man den mort von iu gesaget, / dâ ist diu wunneclîche
Isôt / iemer an den êren tôt.“ (GT, 10160-10164, Hervorhebungen von mir)
Gleichzeitig schindet er dadurch Zeit, und Isoldes Mutter kommt hinzu, entsetzt, ihre
Tochter so zu sehen – in einer Situation, die dermaßen den „schœne frouwen site“
widerspricht (GT, 10174). Auch nachdem Isolde ihre Mutter über Tantris’ wahre
Identität aufgeklärt hat, ist diese zu Rache nicht bereit: Auch die Mutter appelliert an
die Ehre, die mit dem Mord an Tristan verspielt wäre; schließlich habe sie ihm
umfassend Schutz und Schirm gewährt und müßte ihr Ehrenwort brechen, wenn sie
den Mord zulasse.
Des weiteren wäre Isolde gar nicht zu einem Mord fähig – „óuch wære er zuo den
stunden / in daz bad gebunden / und Îsôt eine dâ gewesen, / er wære doch vor ir
genesen“ (GT, 10237-10240) – aufgrund ihrer Weiblichkeit, der allgemeinen
Befindlichkeit der Frau: „diu süeze wîpheit lag ir an / unde zucte sî dâ van“ (GT,
10259f).
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Gottfrieds „Tristan“ und Wagners „Tristan und Isolde“
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Isoldes Mutter führt schließlich noch ein ausschlaggebendes Argument an, indem
sie auf die prekäre Situation mit dem Truchseß, der fälschlicherweise Anspruch auf
die Hand Isoldes erhebt, anspielt. Auch hier spielt die Ehre wieder eine große Rolle:
Denn wenn Isolde den Truchseß heirate, werden alle Beteiligten – Isolde selbst wie
auch deren Eltern – das Ansehen, die Ehre für alle Zeit verloren haben: „wir haben
iemer mêre / verloren unser êre / und werden niemer mêre frô“ (GT, 10311-10313).
Auch Brangaine, die am Ende noch hinzutritt, gemahnt an die Ehre; nach ihrem
Rat gefragt, gewichtet sie die Ehre stärker als die Rache an dem Blutsverwandten:
„soltet ir iuwer êre geben / umbe keines iuwers vîndes leben?“ (GT, 10407f).
Außerdem sei immerhin mit Tristans Hilfe der beleidigende Anspruch des
Truchsessen abzuweisen, wofür man Gott zu danken habe.
III.2. Tristans Blick
Diese Szene im Badezuber wird bei Wagner nur im Rückblick erzählt. Das Ganze
ereignete sich bei Wagner nach der ersten Irland-Fahrt – bei Gottfried ist Tristan
bereits zum zweiten Mal nach Irland gefahren -, als Tristan, sich als Tantris
ausgebend, die Zauberkünste der Isolde aufsuchte, um die von Morold beigebrachte
Wunde zu heilen. Morold ist bei Wagner nicht Isoldes Onkel, sondern deren
Verlobter; Wagner veränderte wohl die Beziehung Isolde – Morold von einer
Blutsverwandtschaft zu einer unglücklich endenden Liebesbeziehung, um Isoldes
Rachegedanken verständlicher zu machen. Isolde greift zum Schwert, um Tristan zu
erschlagen, doch anders als bei Gottfried verteidigt sich Tristan nicht wortreich, und
auch eine Intervention von außen durch die Königin oder Brangäne erfolgt nicht. In
dem Moment, als Isolde ihren Verlobten rächen will, „blickt’ [Tristan] her“, und sie
kann nicht anders, als dafür Sorge zu tragen, daß „er gesunde / und heim nach Hause
kehre, / mit dem Blick [sie] nicht mehr beschwere“ (WT, 14, Hervorhebungen von
mir). Tristans Blick ist es bei Wagner, der Isolde von dem Mord abhält, da sie sich in
dem Moment in ihn verliebt. Da die Geschichte mit dem Truchseß bei Wagner
ausgespart ist, spielt dieses äußere Argument für die Verschonung Tristans keine
Rolle. Die wahre Identität Tantris’ hält Isolde geheim, ebenso wie ihre wahren
Gefühle gegenüber Tristan; erst auf dem Schiff auf dem Weg nach Cornwall
offenbart sie sich Brangäne, die zuvor von all dem nichts wußte. Daran zeigt sich,
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Gottfrieds „Tristan“ und Wagners „Tristan und Isolde“
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daß Brangäne keinesfalls in dem Maße Isoldes Vertraute ist, wie sie es bei Gottfried
ist; Isolde bleibt mit ihren Gedanken allein, eine Einmischung von außen und damit
eine potentielle Beeinflussung ihrer Gefühle findet nicht statt.
Während bei Gottfried zahlreiche Argumente für die Verschonung Tristans
gegeneinander abgewogen werden, ist bei Wagner allein ein Argument gewichtig:
Tristans Blick, mit dem die Liebe der beiden beginnt. Dies zeigt einmal mehr, daß in
der Wagner-Oper eine Verlagerung von außen nach innen stattfindet: Die
Abwendung der Rache an Tristan geschieht allein durch einen inneren Prozeß,
äußerliche Gründe spielen keine Rolle.
IV. „ein tranc von minnen“ – der Liebestrank
IV.1. Funktion des Liebestranks allgemein
Der Liebestrank, dessen Einnehmen dazu führt, daß Tristan und Isolde von nun an in
Liebe verbunden sind, ist ein unentbehrliches Element aller Tristan-Versionen.
Zunächst hatte der Liebestrank in den frühesten Versionen, noch vor Gottfried, eine
magisch-mechanische Wirkung, die einer bannhaften Minne, die den Menschen
willenlos beherrscht: So entsprang beispielsweise bei Eilhart von Oberg und Heinrich
von Veldeke die alles beherrschende Minne dem Zwang des Trankes und nicht der
Kraft der Liebe, wie es bei Gottfried der Fall ist. Bei Gottfried hat der Liebestrank
eine rein instrumentale Funktion: Er will die Zwanghaftigkeit der Liebe mit dem
Einverständnis der Liebenden in Einklang bringen und gesteht ihnen durchaus noch
eine persönliche Entscheidung zu.
Vor Gottfried entschuldigte der Trank alles: Durch den Liebestrank „wurden die
Schuldigen schuldlos“; „gegen ihren Willen“ wurden sie „in Schuld verstrickt“. Mit
Gottfrieds Interpretation des Trankes, der nach de Boor von seiner „seelenlosen
Zaubermechanik entkleidet“ wurde, werden die Liebenden jedoch nicht mehr
entschuldigt – nun erscheint der Trank als „schicksalhafte Gewalt, die von beiden
Liebenden bewußt angenommen wird als die ihr Leben (und Sterben) bestimmende
höchste Macht“.
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IV.2. Tristans und Isoldes Verhältnis zueinander vor dem Liebestrank bei Gottfried
Forscher streiten sich, ob das Einnehmen des Minnetrankes die Liebe erst entstehen
läßt oder ob er eine vorher schon entstandene Liebe erst bewußt macht. Heutzutage
ist man sich eher einig, daß die Liebe erst mit dem Trank beginnt; vorher ist keine
Liebe erkennbar. Weber und Hoffmann gestehen ein, daß beide zumindest
prädisponiert für einander sind; Tristans höfisches Auftreten und sein einzigartiges
Wesen paßt zu der überaus schönen und ebenso einzigartigen Isolde. Gottfried läßt
bei dem ersten Auftreten von Isolde Kommentare einfließen, die besagen, daß die
beiden später in Liebe verbunden sein werden: „[Îsôt] daz wâre insigel der minne, /
mit dem sîn herze sider wart / versigelt unde vor verspart / aller der werlt gemeiner /
niuwan ir al einer“ (GT, 7816-7820) Jedoch lassen einige Textstellen daran zweifeln,
daß Tristan und Isolde schon vor dem Liebestrank von Liebe erfüllt sein sollen. Nach
der Entdeckung, daß Tantris Tristan ist, und der anschließenden Aussprache und
„Versöhnung“ mit Mutter und Tochter Isolde schreibt Gottfried, daß sie zur
Besiegelung der Versöhnung Tristan einen Kuß geben; „doch tet ez Îsôt diu junge mit
langer widerunge“ (GT, 10539f). Auch Isoldes Äußerung auf dem Weg nach
Cornwall, um ihrem neuen Ehemann Marke zugeführt zu werden, lassen nicht gerade
auf eine überschwengliche Sympathie gegenüber Tristan schließen:
„»des wirt iu spâte«, sprach diu maget,
»von mir iemer danc gesaget;
wan lôstet ir mich von im dô,
ir habet mich aber sider sô
verklüteret mit swære,
daz mir noch lieber wære
der truhsæze ze manne genomen,
dan ich mit iu wære ûz komen«“ (GT, 11623-11629)
Tristan zeigt ebenso keine besonderen Anzeichen eines Verliebten gegenüber Isolde;
nach seinem ersten Irlandaufenthalt verläßt er Isolde mit der Ausrede, daß er
verheiratet sei, und wenn auch überaus schwärmend, so schlägt er doch immerhin
auch ohne Zögern Isolde seinem Onkel vor, als über eine geeignete Ehefrau für den
König gesprochen wird.
IV.3. „endelôze herzenôt“
Die Umstände, unter denen Tristan und Isolde den Liebestrank einnehmen, hören
sich zunächst recht harmlos an: Als das Schiff in einem Hafen anlegt, ging Tristan
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Gottfrieds „Tristan“ und Wagners „Tristan und Isolde“
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„begrüezen unde beschouwen / die liehten sîne frouwen; / und alse er zuo ir nider
gesaz / und redeten diz unde daz / von ir beider dingen, / er bat im trinken bringen“
(GT, 11665-11670). Tristan handelt hier nur im höfischen Rahmen. Eine Dienerin,
ein „kleiniu juncfröuwelîn“, vertauscht allerdings den gewünschten Wein mit dem
Liebestrank, von dem es gleich heißt, daß es „diu wernde swære, / diu endelôse
herzenôt, / von der si beide lâgen tôt“ (GT, 11678-11680), auch wenn sie das nicht
sofort erkennen: Erst Brangaine ist es, die den Trank erkennt und sogleich erschrickt,
„daz ez ir alle ir kraft benam“ (GT, 11694). Sie kann die Folgen abschätzen und
voraussehen: Der Trank bestimmt der beiden Tod voraus, führt unweigerlich in deren
Untergang, ist „daz leide veige vaz“ (GT, 11697).
Auf das Trinken des Trankes folgt die allmähliche Bewußtwerdung der Liebe,
wie Christoph Huber darlegt: Zunächst werden sich Tristan und Isolde jeder für sich
ihrer Liebe bewußt („Offenbarung in sich selbst“): „er (=Tristan) nam sîn herze und
sînen sin / und suochte anderunge in in, / sone was ie niht dar inne / wan Îsôt unde
minne“ (GT, 11789-11792) und „dô sî (=Isolde) den lîm erkande / der gespensitigen
minne (...) / Îsôt swar sî gedâhte, / swaz gedanke sî vür brâhte, / sone was ie diz noch
daz dar an / wan minne unde Tristan“ (GT, 11796ff). Danach offenbaren sie sich ihre
Liebe gegenseitig („Offenbarung dem anderen“): „Minne diu verwærinne, / die
endûhte es niht dâ mite genuoc, / daz mans in edelen herzen truoc / verholne unde
tougen, / sine wolte under ougen / ouch offenbæren ir gewalt“ (GT, 11912-11917);
und können sodann die Liebe ausleben, sexuell praktizieren („Vollzug der Minne“):
„Do die gelieben under in / beide erkanden einen sin, / ein herze und einen willen, /
ez begunde in beidiu stillen / und offenen ir ungemach“ (GT, 12033-12037) und „er
kuste sî und sî kust in / lieplîchen unde suoze. das was der minnen huoze / ein
sæleclîcher anevanc“ (GT, 12042-12045). Gerade in diesem allmählichen,
schrittweise ablaufenden Bewußtwerden der Liebe zeigt sich, daß mit Gottfried die
frühere Mechanik des Liebestrankes überholt ist.
Dadurch aber, daß die Entdeckung der Liebe und deren Auslebung zeitlich
unmittelbar miteinander gekoppelt sind, wird der spätere Brautunterschub mit Hilfe
Brangaines notwendig. Da Isolde in ihrer Hochzeitsnacht keine Jungfrau mehr ist,
sind die Liebenden genötigt, König Marke zu täuschen, indem sie Isolde mit
Brangaine vertauschen. Vorausgeschickt sei hier bereits vor der Analyse des
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Wagner-Textes, daß Wagner die Episode des Braut-Unterschubs umgeht, indem er
die unmittelbare sexuelle Hingabe vom Trank löst – die gemeinsame Liebe wird erst
im zweiten Akt während der Liebesnacht im Garten praktiziert. Einerseits ist dies
eine dramaturgische Entscheidung, da die sofortige Praktizierung der Liebe die
Brangäne-Episode notwendig gemacht hätte; andererseits sind Schwerpunkte von
Wagners Oper „Entstehen, Erfüllung und Transzendierung der Liebe“
– die
Innerlichkeit der Liebe eben. Die Episode des Brautunterschubs ist jedoch eine
äußere Handlung, deren Vorkommen Wagner bis auf wenige Ausnahmen reduzieren
wollte, wie bereits dargelegt, wodurch diese Episode dem Prinzip der Reduktion zum
Opfer gefallen ist.
IV.4. Wagner: Psychologisierung des Liebestrankes
Wagner psychologisierte den Liebestrank. Wagners Trank kommt von innen, wie
Tristan auch später zugibt: „Ich selbst habe ihn gebraut“ (WT, 63). Isolde ist, wie bei
der Besprechung der Badezuber-Szene unter Punkt III. dargelegt wurde, bereits in
Tristan verliebt: ihr „Mir erkoren / mir verloren“ (WT, 8) bezieht sich allein auf
Tristan; da es, wie sie glaubt, ein gemeinsames Leben für sie jedoch nicht geben
kann, zieht sie zumindest den gemeinsamen Tod vor. „Ungeminnt / den hehrsten
Mann / stets mir nah zu sehen! / Wie könnt’ ich die Qual bestehen?“ sagt Isolde
gegenüber Brangäne (WT, 17), womit sie meint, daß sie es unmöglich ertragen
könnte, Tristan neben sich zu wissen und sich seiner Liebe nicht sicher sein zu
können. Brangäne mißdeutet dies: Sie meint, Isolde spiele auf ihre arrangierte Ehe
mit Marke an und daß sie es nicht ertragen könne, mit einem Mann
zusammenzuleben, den sie nicht liebt. Für diese leidvolle Situation bietet sie sogleich
einen Ausweg an, indem sie auf die Zauberkünste von Isoldes Mutter anspielt:
„Doch, der dir erkoren, / wär’ er so kalt, / zög’ ihn von dir / ein Zauber ab“ (ebd.).
Isolde hat ihren Entschluß längst gefaßt: „Rache! Tod! / Tod uns beiden!“ (WT,
16). Isoldes Mutter hat mehrere Tränke mit auf die Reise gegeben, und darunter ist
neben dem Liebestrank auch ein Todestrank. Isolde befiehlt Brangäne, den
Todestrank bereit zu machen, ebenso an der Mutter Künste gemahnend: „Für tiefstes
Weh, / für höchstes Leid / gab sie den Todestrank. / Der Tod nun sag ihr Dank!“
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Gottfrieds „Tristan“ und Wagners „Tristan und Isolde“
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(WT, 21). Ihrer Meinung nach kann es erst im Tod wieder Beruhigung dieses derzeit
so leidvollen und unruhigen Zustandes geben.
Brangäne jedoch vertauscht eigenwillig die Giftstoffe Tod gegen Liebe; indem
die beiden den Liebestrank trinken, führen sie sich dem zu, was die ganze Zeit ihre
Bestimmung war, wodurch sie vollkommen entschuldet werden – schließlich war
beider ursprünglicher Wille der zum Tod. Während es sich bei Gottfried um eine
banale Verwechslung durch irgendeine Dienerin handelt, geschieht bei Wagner diese
Verwechslung absichtlich durch Brangäne. Doch der eine wie der andere Trank führt
jeweils auf das selbe hinaus: Denn eben Tod wird die Liebe für beide bringen.
Isolde läßt nach Tristan unter dem Vorwand schicken, daß sie mit ihm noch
Sühne trinken will, bevor sie ihren zukünftigen Ehemann empfängt. Als Tristan sie
aufsucht, möchte sie zornerfüllt wissen, weshalb er nicht früher zu ihr gekommen sei
und mehrere Bitten eines Besuches abgeschlagen habe. Daraufhin legt Tristan
zunächst die Grenzen ihrer beider Beziehung fest; er begegnet Isolde voller
„Ehrfurcht“, jedoch „Gehorsam“ gegenüber seinem Herrn Marke hindert ihn daran,
ihr zu nahe zu kommen; und zuletzt schreibt die „Sitte“ vor, daß „der Brautwerber
meide fern die Braut“ (WT, 22). Mit diesen drei Aspekten weicht Tristan Isolde aus –
denn auch er hat sich bereits in Isolde verliebt, nur ist er noch der höfischen Welt, der
Sitte, dem Gehorsamsprinzip Marke gegenüber zu sehr verhaftet, als daß er seine
Liebe offenbar machen könnte.
Auch Isolde benutzt noch Ausflüchte, um ihre Empfindungen gegenüber Tristan
zu verheimlichen: Sie möchte mit Tristan Sühne trinken, Sühne für den Mord an
ihrem Verlobten Morold; daß sie es einst nicht schaffte, Tristan zu erschlagen, als er
schutzlos im Badezuber saß, sei nur aufgeschoben gewesen, da sie sich an einem
gesunden Tristan hätte rächen wollen und ihn dafür zuerst heilen mußte. Dies ist
aber, wie sie Brangäne gegenüber bereits eingestanden hat, eine Lüge: Denn längst
geht es nicht mehr um Rache für Morold, sondern darum, daß sie es nicht länger
ertragen kann, sich von Tristan ungeliebt zu wähnen. Daß Tristan Isolde seinem
Herrn als potentielle Ehefrau vorgeschlagen hat, gilt für sie als eindeutiger Beweis,
daß er sie nicht liebt, und wird von ihr als Hohn und Schmach empfunden, nach
allem, was sie für ihn getan hat: „Die schweigend ihm / das Leben gab, / vor Feindes
Rache / ihn schweigend barg; / (...) mit ihr gab er es preis! / Wie siegprangend / heil
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Gottfrieds „Tristan“ und Wagners „Tristan und Isolde“
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und hehr, / laut und hell / wies er auf mich: / »Das wär’ ein Schatz, / mein Herr und
Ohm: / wie dünkt euch die zur Eh’?«“ (WT, 15).
Tristan seinerseits ist bereit, Sühne zu empfangen, indem er es einwilligt, sich
von Isolde erschlagen zu lassen; bezeichnenderweise wendet er zuvor seinen Blick
ab, denn er ist sich durchaus bewußt, welche Macht sein Blick hatte und immer noch
hat – sein Blick war es einst, der Isolde daran hinderte, ihn zu töten. Isolde jedoch
weigert sich, Tristan mit dem Schwert zu erschlagen („was würde König Marke
sagen, (...)“ [WT, 24]), und reicht statt dessen den vermeintlichen Todestrank („Das
Schwert – da ließ ich’s sinken. / Nun laß uns Sühne trinken!“ [ebd.]), da sie
schließlich mit ihm gemeinsam sterben will: „Mein die Hälfte!“ (WT, 26f).
Bezeichnend ist, wie Tristan den vermeintlichen Todesbecher entgegennimmt:
„Den Balsam nützt’ ich, / den sie bot: / den Becher nehm ich nun, / daß ganz ich
heut’ genese“ (WT, 26, Hervorhebungen von mir); kurz bevor er trinkt, sagt er:
„Vergessens güt’ger Trank, / dich trink ich sonder Wank!“ (ebd.). Daran merkt man,
daß er ebensosehr in Isolde verliebt wie sie in ihn – auch für ihn wäre ein Leben ohne
Isolde eine Qual, die erst mit dem Tod zu lindern wäre. Der Liebestrank macht nur
das sichtbar, was ohnehin vorhanden war: die Situation, in die Tristan verstrickt ist,
der Konflikt zwischen Ehre und Liebe, hat anscheinend keine Lösung, doch mit dem
Liebestrank verändert sich die Situation grundlegend.
Beide trinken den Trank in dem Glauben, daß er tödlich sei; ein Umstand, der die
gegenseitige Liebe offenbar macht. Tristan und Isolde faßten bereits vor dem Trank
den Entschluß zur Gemeinsamkeit, indem sie sich entschieden, gemeinsam in den
Tod zu gehen. Der Trank hat bei Wagner, anders als bei Gottfried, offenbarende
Funktion; die Liebe, die bisher von beiden unterdrückt wurde, kommt durch ihn an
die Oberfläche. Jetzt, da Tristan und Isolde in ihrer Liebe eins geworden sind, läßt
Wagner sie auch gemeinsam singen – nach dem Einnehmen des Liebestrankes singen
die beiden das erste Mal eine gemeinsame Melodie sowie gleichzeitig im Duett, um
ihre Liebe füreinander zu bekunden:
Beide:
Wie sich die Herzen
wogend erheben!
Wie alle Sinne
wonnig erbeben!
Sehnender Minne
schwellendes Blühen,
schmachtender Liebe
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Gottfrieds „Tristan“ und Wagners „Tristan und Isolde“
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seliges Glühen!
Jach in der Brust
jauchzende Lust!
(WT, 28)
Mit dem Liebestrank und dem gegenseitigen Eingestehen ihrer Liebe entrückt
jedoch ihrer beider Sicht auf das bisherige Leben – Tristans Pochen auf seine Ehre,
Isoldes Beharren auf die von Tristan zugefügte Schmach erscheinen beiden wie ein
Traum, aus dem sie nun endlich erwacht sind:
Tristan (verwirrt):
Isolde:
Was träumte mir
von Tristans Ehre?
Was träumte mir
von Isoldes Schmach?
(WT, 27)
Während man bei Gottfried sagen kann, daß der Trank die Liebenden in einen
traumähnlichen Zustand versetzt, erheben die Liebenden bei Wagner den Anspruch,
nun endlich aus dem Traum erwacht zu sein und sich erst jetzt in der Wirklichkeit zu
befinden. Und doch sind sie gleichzeitig der Wirklichkeit entrückt, da sie, wie Isolde
zugibt, sich „welten-entronnen“ gewonnen haben (WT, 28), der Welt an sich nicht
mehr angehörig sind. Tristan scheint ebenfalls jegliche weltliche Verbindungen
verloren zu haben, wenn er später, als Kurwenal ihm die Ankunft des Königs
verkündet, verwirrt nachfragen muß: „Welcher König?“ (WT, 29) – er hat seinen
König vergessen, dem er zuvor so treu ergeben war und den er stets so erpicht
vorgeschoben hatte, um seine Liebe zu Isolde zu leugnen.
Allerdings wird das Erwachen wie aus einem Traum durch den Liebestrank von
Tristan und Isolde nicht positiv gedeutet. Das, was sie wollten, das, was sie brauchten
für die Verwirklichung ihrer Liebe, war der Tod, und dieser bleibt ihnen verwehrt.
Obwohl sie „welten-entronnen“ sind, bleiben sie in der ihnen so verhaßten Welt
verhaftet. „Muß ich leben?“ klagt Isolde (WT, 29, Hervorhebung von mir) und sinkt
ohnmächtig an Tristans Brust, und Tristan interpretiert die neugewonnene Einsicht
durch den Liebestrank als „Wonne voller Tücke“ und „truggeweihtes Glücke“ (ebd.).
Was im zweiten Akt während der Liebesnacht immer deutlicher wird – der Wunsch
nach der ewigen gemeinsamen Nacht als endgültige Verwirklichung ihrer Liebe –
wird hier bereits angedeutet.
V. Liebesideal
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Gottfrieds „Tristan“ und Wagners „Tristan und Isolde“
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V.1. Gottfried: Liebesleid
Gottfried sieht die wahre Minne als notwendigerweise mit Liebe und Leid
verbunden; so definiert er sie in seinem Prolog, in dem er die „edelen herzen“
anspricht, deren Leben „ir süeze sûr, ir liebez leit, / ir herzeliep, ir senede nôt, / ir
liebez leben, ir leiden tôt, / ir lieben tôt, ir leidez leben“einschließt (GT, 60-63). Des
weiteren schreibt Gottfried zu dem „Liebesleid“:
„Wen nie die Liebe leiden ließ,
dem schenkte Liebe niemals Glück.
Glück und Leid, sie waren stets
unzertrennlich in der Liebe.“
(GT, 204-207)
Gerade diese Spannung von Liebe und Leid ist es, die den Wert der wahren Minne
existentiell ausmacht. Zu diesem Liebesideal bekennt sich auch Tristan nach dem
Liebestrank, wenn er sagt: „ez wære tôt oder leben: / ez hât mir sanfte vergeben. / ine
weiz, wie jener werden sol: / dirre tôt der tuot mir wol. / solte Îsôt iemer alsus sîn
mîn tôt, / sô wolte ich gerne werben / umbe ein êweclîchez sterben“ (GT,
12499-12506).
„Edel[e] senedæren, / die reine sene wol tâten schîn“ (GT, 126f) sind Tristan und
Isolde, ein beispielhaftes Paar für dieses Liebesideal; Tristan und Isolde sind
„einzigartig in der Liebesqualität: in Partnerschaft, Gemeinsamkeit, in Leid, in
Zärtlichkeit und der gegenseitigen Hingabe“.
Tristan erwirbt Isoldes Liebe nicht durch tätige Bewährung, nicht durch einen
Dienst, wie es in der höfischen Epik ansonsten üblich war, bspw. im „Parzival“, und
Isoldes Liebe ist auch nicht kein zugesprochener, verdienter Lohn. Vielmehr sind
Tristan und Isolde die füreinander geschaffenen Menschen, sie sind füreinander
prädestiniert, und da sie zu wahrer Minne fähig sind, finden sie zueinander. Gottfried
sieht Minne, bzw. die Fähigkeit zu Minne als höchste Qualität des Menschen, die
nicht durch Erprobung oder Bewährung zu erreichen ist.
Neu ist auch an Gottfrieds Minneideal, daß die Sinnesseite vollkommen bejaht
wird. Dadurch, daß Minne absolute Geltung hat, löst sie den Menschen aus der
gültigen Welt heraus, ja stellt ihn sogar gegen sie und bringt ihn somit in Leiden:
Dies ist die eigentliche Ursache des Leidens, daß der Mensch nicht mehr in der
bisher gültigen Welt leben kann, da er nur noch für die Minne lebt. Genau das macht
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Gottfrieds „Tristan“ und Wagners „Tristan und Isolde“
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die Tristan-Minne aus: Das Leiden wird bejaht; der „Welt der Freude“, der höfischen
Weltfreude, hingegen wird abgesagt.
Während im Artus-Roman Minne notwendig ist, um sich in die Gesellschaft zu
integrieren, ist im Tristan-Roman diese Integration gar nicht mehr möglich: Die
Tristan-Minne kennt keine Schranken der Ehe und mündet auch nicht in diese. Die
absolute Minne sprengt alle Konventionen und moralischen Kategorien; sie bedeutet
nunmehr die „Ganzheit zweier zum Leben aufeinander angewiesene[n] Menschen“.
Liebe ist deshalb unmöglich, weil die Liebe in der Gesellschaft nicht ausgelebt
werden darf: Bei Gottfried können die Liebenden ihre Liebe in der Gesellschaft, in
der sie leben, nicht ausleben, und dennoch können sie auch nicht ohne die
Gesellschaft existieren, wie die Minnegrotten-Episode zeigt. „Sine hæten umbe ein
bezzer leben / niht eine bône gegeben / wan eine umbe ir êre“, schreibt Gottfried
(GT, 16879-16881); trotz höchster Erfüllung in der Minnegrotte ist ihnen immer
noch das Ansehen und die Ehre wichtig. Zudem bleiben sie über Kurwenal in
ständiger Verbindung mit dem Hof und kehren am Ende auch allzu bereit in die
höfische Welt zurück. Die Unmöglichkeit, die Liebe in der Gesellschaft zu leben,
und gleichzeitig die Unmöglichkeit, ohne Gesellschaft zu leben, macht gerade den
tragischen Kern von Gottfrieds Tristan aus.
V.2. Wagner: „Nacht-Geweihte“
Anders ist das Liebesideal bei Wagner gedeutet. Bei Wagner ist es unmöglich, die
Liebe zu leben, „weil sie größer ist als die Kräfte der Menschen“; dieses Wissen um
die Unmöglichkeit führt zu Sehnsuchtsqual und endet im Liebestod. Um die
Unmöglichkeit, ihre Liebe in der Gesellschaft auszuleben, geht es in Wagners Tristan
nicht; während Gottfried diesseitsgerichtet ist, negiert Wagners Tristan sämtliche
gesellschaftlichen Werte.
Auffällig ist an Wagners Tristan die Lichtsymbolik. Der Tag, das Sonnenlicht
wird als negativ angesehen; allein die Nacht bietet Schutz und wird sehnsüchtig
erwartet. Die ewige Nacht anzustreben, Liebeserfüllung im Tode, ist höchstes Ziel
der Liebenden. Diese Struktur, die Verherrlichung der Nacht unter Abweisung des
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Gottfrieds „Tristan“ und Wagners „Tristan und Isolde“
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Tages – der Wunsch, daß der Tag ruhig noch länger fernbleiben könnte – erinnert an
ein mittelalterliches „Tagelied“, wie z.B. Wolfram von Eschenbachs „Sîne klâwen“.
Isolde erwartet Tristan im zweiten Akt voller Sehnsucht im Garten; wenn sie die
letzte Fackel gelöscht hat, ist dies ein Zeichen für Tristan, daß er unbesorgt zu ihr
kommen kann. Die Freude bei ihrem Wiedersehen schließt neben „Freudejauchzen“
und „Lustentzücken“ gleichzeitig „himmelhöchstes Weltentrücken“ mit ein (WT,
35f); sie sind der Welt ent-rückt, sehen sich außerhalb der Welt stehend, fernab der
Gesellschaft.
Solange es noch Tag war, konnten sich die Liebenden nicht nahe sein; statt
dessen regierten Neid und Zweifel: „O dieses Licht, / wie lang verlosch es nicht! /
(...) der Tag verging, / doch seinen Neid / erstickt’ er nicht“, singt Tristan (WT, 36).
Bei Tageslicht kommen Zweifel in Tristan auf, daß Isolde ihn möglicherweise nicht
liebt: „Der Tag, / (...) in höchster Ehren / Glanz und Licht / Isolden mir entrückt’! /
(...) in lichtem Tages Schein / wie war Isolde mein?“ (WT, 37). Doch Isolde wendet
sogleich jeglichen Zweifel ab; bei Nacht wird alles wieder ins „rechte Licht“ gerückt:
„Was log der böse / Tag dir vor, / daß, die für dich beschieden, / die Traute du
verrietest?“ (WT, 37f, Hervorhebung von mir).
Indem sie beide über den Liebestrank reflektieren, benutzen sie abermals die
Tag-Nacht-Symbolik: Der Todestrank hätte die ersehnte Nacht über sie beide
herbeigebracht; der Liebestrank jedoch brachte den verhaßten Tag zurück. „Doch
ach, dich täuschte / der falsche Trank, / daß dir von neuem / die Nacht versank; / dem
einzig am Tode lag, / den gab er wieder dem Tag!“, kommentiert Isolde (WT, 40).
Auch Tristan wird später, wenn er tödlich verwundet den Liebestrank verflucht, ihn
nicht deshalb verfluchen, weil er die Liebe offenbar werden ließ, sondern weil er die
herbeigesehnte Nacht hinauszögerte, weil das verlängerte Fernsein der beiden eine
verlängerte Lebensqual mit sich bringt.
Nachdem sie nach dem Liebestrank weiterleben mußten und sich mehr und mehr
nach der ewigen Nacht sehnten, waren sie „Nacht-Geweihte“ (WT, 41). Tristan und
Isolde liebten sich bereits vor dem Trank, doch waren sie noch getrennt durch den
„tückische[n] Tag“, der sie durch seinen „Lug“ (ebd.) täuschte. Mit der Offenbarung
durch den Liebestrank jedoch konnte der Tag sie nicht mehr täuschen, und einzig
Todessehnsucht erfüllte sie fortan, da nur im Tode die Liebe wahrhaftig zu erfüllen
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Gottfrieds „Tristan“ und Wagners „Tristan und Isolde“
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sei: „In des Tages eitlem Wähnen / bleibt ihm ein einzig Sehnen - / das Sehnen hin /
zur heil’gen Nacht, / wo urewig, / einzig wahr / Liebeswonne ihm lacht!“ (WT, 41).
Damit beginnt der zweite Teil des zweiten Aktes, in dem die Weltverlorenheit
des Liebespaares zum Ausdruck kommt. Indem sie sich von der Welt lossagen, bitten
sie die ewige Nacht herbei:
„O sink hernieder,
Nacht der Liebe,
gib Vergessen,
daß ich lebe:
(...)
löse von
der Welt mich los!
(...)
heil’ger Dämmrung
hehres Ahnen
löscht des Wähnens Graus
welterlösend aus.
(...)
bricht mein Blick sich
wonnerblindet
erbleicht die Welt
mit ihren Blenden
(...)
liebeheiligstes Leben,
Nie-Wieder-Erwachens
wahnlos
holdbewußter Wunsch“
(WT, 41f, Hervorhebungen von mir).
Hierbei sind die kursiv gesetzten Wörter Schlagwörter, die den Wunsch nach dem
Tod, nach der ewigen Einheit, nach dem Ausgelöschtsein ausdrücken.
Mit dem dritten Teil des zweiten Aktes wird der Wunsch zu sterben endgültig auf
den Punkt gebracht; nie mehr soll ein Tag diese Nacht ablösen. „Laß mich sterben“,
fordert Tristan (WT, 43), und „laß den Tag / dem Tode weichen!“ (ebd.). Der Tod
kann ihre Liebe nicht bedrohen; im Gegenteil, mit ihrer Liebe würden sie den Tod
überwinden: „Stünd’ er vor mir, / der mächt’ge Tod, / (...) wie wäre seinen Streichen
/ die Liebe selbst zu erreichen?“ (WT, 44). Mit dem Tod sterben nur die Hindernisse,
all die Schranken, die sie bisher trennten, womit der Tod sogar wünschenswert wäre:
„Was stürbe dem Tod, / als was uns stört, / was Tristan wehrt, / Isolde immer zu
lieben, / ewig ihr nur zu leben?“ (ebd.). Der Tod bietet ihnen die Aussicht, „ewig
einig / ohne End’, / ohn’ Erwachen, / ohn’ Erbangen, / namenlos / in Lieb’ umfangen,
/ ganz uns selbst gegeben, / der Liebe nur zu leben“ (WT, 45); das Bangen hätte dann
ein Ende.
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Gottfrieds „Tristan“ und Wagners „Tristan und Isolde“
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Dabei würden beide ihre Individualität aufgeben – endgültig „welten-entrückt“
sein und die Welt vergessen, hinter sich gelassen haben; im Tod wären sie eins, was
die letzte Ekstase der Leidenschaft bedeuten würde:
„Ewig! Endlos,
ewig ein-bewußt:
Endlos
ewig ein-bewußt:
heiß erglühter Brust
höchste Liebeslust“
(WT, 47)
V.3. Zusammenfassung
Vergleicht man nochmals Gottfrieds und Wagners Liebesvorstellungen miteinander,
stellt man fest, daß sie in zwei vollkommen unterschiedliche Richtungen laufen.
Während Gottfrieds Vorstellung von Liebe diesseits gerichtet ist – seine
Liebesvorstellung ist unbedingt mit „êre“ verknüpft –, negiert Wagner alle diesseits
gerichteten Werte: Seine Liebe wird erst im Tode, im Jenseits verwirklicht; Wagners
Ideal ist weltverneinend. Bei Gottfried respektieren Tristan und Isolde noch die
Ansprüche, die von der Gesellschaft an sie gestellt werden; sie wissen, daß ihre Liebe
nicht legal ist, und versuchen deshalb, in der Heimlichkeit ihre Liebe auszuleben.
Wagners Paar setzt sich hingegen als „Absolutum“ in der Gesellschaft. Während bei
Gottfried Tristan und Isolde eine körperliche und geistige Einheit eingehen – sie sind
prädestiniert füreinander, sind geistig perfekt füreinander geschaffen und nutzen
gleichzeitig jede Gelegenheit, ihre Liebe auch körperlich auszuleben -, empfinden
Wagners Tristan und Isolde die Leidenschaft eher ausschließlich geistig-erotisch; das
Sexuelle ist in eine Randstellung abgedrängt. Auf dem Schiff haben Tristan und
Isolde keine Gelegenheit, ihre Liebe körperlich auszuleben, und danach ist ihnen nur
eine einzige Nacht gemeinsam beschert – doch ob sie diese nutzen, ist eher der
jeweiligen Inszenierung des Regisseurs vorbehalten.
VI. Isoldes Beziehung zu König Marke
VI. „wîp alse wîp”
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Gottfrieds „Tristan“ und Wagners „Tristan und Isolde“
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Das Bild König Markes vor Gottfried war das eines rächenden, ja fast sadistischen
Königs: In dem Moment, als er von Tristans und Isoldes Betrug an ihm erfährt,
möchte er sich an beiden rächen, indem er sich drakonische Strafen ausdenkt, so zum
Beispiel noch bei Eilhart. Bei Gottfried hingegen wird Marke zum Repräsentanten
einer zuchtvoll gebändigten, höfisch-humanen Lebensform: So verzichtet Marke
beispielsweise, nachdem sich das Liebesverhältnis der beiden nicht mehr geheim
halten läßt, auf sein Recht, sie zu bestrafen, und verbannt sie statt dessen, worauf die
Minnegrotten-Episode folgt: „ouch enwil ich mich durch diese geschiht / an iu sô
sêre rechen niht, / als ich von rehte sollte, / ob ich mich rechen wolte.“ (GT,
16587-16590).
Marke hat an sich bei Gottfried ein hohes Ansehen; er ist ein entschlossener und
energischer Herrscher, bis er Isolde trifft – dann beginnt die „Demaskierung“ . Auf
der einen Seite repräsentiert er vorbildliche höfische Eigenschaften. Gleichzeitig
macht ihn das aber auch zu einem passivem, schwachen Herrscher, wie Werner
Hoffmann in seiner Abhandlung über König Marke darlegt: Er neigt dazu, das
Höfische
zu
ästhetisieren,
ist
ein
empfindsamer
Herrscher,
was
seine
Herrscherpflichten beeinträchtigt, wie beispielsweise sein schwächliches Verhalten
bei der Tributforderung durch Morold zeigt oder die Entführung Isoldes durch
Gandin.
Noch eindeutiger negativ wird Marke in seinem Umgang mit Isolde beschrieben.
In seiner Hochzeitsnacht wird ihm Brangaine untergeschoben, um den Verlust der
Jungfräulichkeit zu verheimlichen; Marke fällt die Vertauschung nicht auf, denn „in
dûhte wîp alse wîp“ (GT, 12670) – für ihn war Frau gleich Frau. Er hat nicht das
Gespür für die Individualität der Frau, was eine „unabdingbare Voraussetzung für
eine wahrhafte Liebe“ ist; er gehört nicht zu den „edelen herzen“ (vgl. GT, 47ff), wie
von Gottfried in seinem Prolog beschrieben. Anders als Tristan und Isolde, die eine
beispielhafte Liebe ausleben, ist er zu wahrer Liebe gar nicht fähig. Marke hat Isolde
und Frauen im allgemeinen nur zu seinem physischen Liebesgenuß („ze lîbe“), aber
nicht sittlich und seelisch („ze êre“). Markes seelische Unzulänglichkeit zu wahrer
Minne macht ihn auch zum eigentlichen Sünder des Romans, während Tristan und
Isolde Minneheilige sind.
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Gottfrieds „Tristan“ und Wagners „Tristan und Isolde“
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VI.2. „Der mein Wille nie zu nahen wagte...“
Wagners König Marke hingegen ist das genaue Gegenbild zu Gottfrieds
Marke-Figur. Während bei Gottfried Marke selbst schuld ist an dem Betrug („în
dûhte wîp alse wîp“), ist Marke bei Wagner entsagungsvoll – er hat die Ehe mit
Isolde nie vollzogen: „Der mein Wille / nie zu nahen wagte, / der mein Wunsch /
ehrfurchtsscheu entsagte“ (WT, 50), statt dessen mußte sie ihm „die Seele (...) laben“
(ebd.). Wagners Marke erfreut ausschließlich seinen Geist, nicht aber seinen Körper
an Isolde. Bei Gottfried ist Isolde Geliebte von Tristan ebenso wie von Marke, und
auch wenn sie Tristan weitaus mehr verbunden ist, hat sie keinerlei Bedenken, die
Ehe mit Marke zu vollziehen – sie sucht etwa keine Ausflüchte, um Marke aus dem
Weg zu gehen. Durch das festeste Gesetz der Welt, die Ehe, ist Isolde an Marke
gebunden; das höhere Gesetz der Minne verbindet sie jedoch mit Tristan.
Überhaupt ist Wagners Marke weitaus mehr davon getroffen, daß Tristan ihn
betrogen hat; Tristans Treuebruch reut ihn bedeutend mehr. Nach der Entdeckung im
Baumgarten, die durch Melot inszeniert wurde, gilt sein erstes Augenmerk Tristan:
„Tatest du’s wirklich? / Wähnst du das?“ (WT, 48). Tristan bezeichnet er als „den
treusten aller Treuen“ und als Ersatz für einen leiblichen Sohn, der ihm von der früh
verstorbenen Ehefrau verwehrt geblieben ist: „Da kinderlos einst / schwand sein
Weib, / so liebt’ er [ihn]“ (WT, 49). Der Treuebruch gegenüber seinem König,
Freund und Ersatz-Vater trifft „sein Herz / mit feindlichstem Verrat“ (WT, 48). Erst
spät rückt Isolde, seine Frau, in sein Blickfeld, aber auch dann nur kurz; als
besonderen Treuedienst betrachte er es, daß Tristan ihm „dies wundervolle Weib“
gefreit habe, das er „mit Stolze / sein (...)“ genannt hätte; mit diesem Geschenk, der
dargebotenen Isolde, mit „solche[m] Besitz“ habe Tristan Markes Herz „fühlsamer“
gemacht, und ihn unsäglich getroffen, indem er ihm diese wieder genommen hätte
(WT, 50). Hier geht es nicht um Isolde im eigentlichen Sinne, sondern auch wieder
um den Treuebruch Tristans; einen Freund hat er nun verloren, Isolde war lediglich
sein Besitz.
Am Ende der Oper, nachdem Tristan bereits gestorben ist und König Marke zu
dem Toten stößt, ist es wieder in erster Linie Tristan, um den es ihm geht: „Mein
Held, mein Tristan! / Trautester Freund, / (...)“ (WT, 72). In der Zwischenzeit hat
Brangäne ihn über den Liebestrank und seine Folgen aufgeklärt, und Marke bereut es
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Gottfrieds „Tristan“ und Wagners „Tristan und Isolde“
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zutiefst, daß er nicht eher davon erfahren hat, da er so dem Freund viel früher
verziehen hätte. In einer letzten Anklage fragt er Isolde, „Warum, Isolde, / warum
mir das?“, als läge es an ihr, daß er nicht früher von allem in Kenntnis gesetzt
worden ist – als wäre es an ihr gewesen, ihn aufzuklären, den Freund ins rechte Licht
zu rücken. Es geht ihm vielmehr darum, „den Freund (...) frei von Schuld“ zu finden
(WT, 73), was ihn „selig“ gemacht hat, als darum, sich mit beiden, Tristan und Isolde
auszusöhnen. Markes viel festere Bindung an den Freund als an die Frau wird hier
abermals deutlich.
VII. Entdeckung im Baumgarten und Trennung der Liebenden
VII.1. Personentausch
Gottfrieds Tristan schildert zahlreiche Episoden, in denen Tristan und Isolde immer
wieder heimlich ihre Liebe auszuleben suchen, beinahe erwischt werden und jedes
Mal mit viel List und Tücke ihre Entdeckung abwenden können. Das Versteckspiel
endet jedoch, als Marke die beiden sozusagen auf frischer Tat ertappt; nun gibt es
keinen Zweifel mehr, Marke kann sich nicht mehr selbst täuschen, auch wenn
Gottfried in einem Kommentar andeutet, dies wäre ihm sicher lieber gewesen:
„entriuwen, ez ist aber mîn wân, / im hæte dô vil baz getân / ein wænen danne ein
wizzen“ (GT, 18229-18231). Da man ihm jedoch ohne Zeugen nicht glaubt, geht er,
um welche zu holen, und diese Zeit nutzt Tristan, um Isolde (auf immer) zu
verlassen. Als König Marke schließlich später mit Zeugen zurückkehrt, ist Tristan
bereits verschwunden, wodurch die Liebenden seinem Racheakt entgehen.
Mit dem Wunsch, daß Isolde „iemer in Tristandes herzen sîn“ möge (GT,
18282f), verabschiedet sich Tristan, und Isolde schwört in ihrem Abschiedsmonolog:
„ir sît mir verre oder bî, / so ensol doch in dem herzen mîn / niht lebenes noch niht
lebendes sîn / wan Tristan, mîn lîp und mîn leben“ (GT, 18298-18301) Hier
bezeichnet sie Tristan als „ihren Leib“, genauso wie sie sein Leben ist: „swelch
enden landes ir gevart, / daz ir iuch, mînen lîp, bewart“ (GT, 18339f). Sich selbst
möchte sie nur um seinetwillen schützen: „wan swenne ich des verwîset bin, / sô bin
ich, iuwer lîp, dâ hin: / mir, iuwerm lîbe, dem will ich / durch iuwern willen, nicht
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Gottfrieds „Tristan“ und Wagners „Tristan und Isolde“
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durch mich, / flîz unde schœne huote geben“ (GT, 18341-18345). Diese
Abschiedsszene besiegelt die höchste Form der Tristan-Minne; nun sind sie „ein lîp,
ein leben“, in der „Entselbstung“ verwirklichen sie ihre Liebe in der höchsten Form.
Dabei ist aber nicht ein solcher Verlust der Individualität gemeint, wie er bei Wagner
einhergeht; bei Wagner lösen sich Tristans und Isoldes Individualität in der
Transzendenz der Liebe auf, während bei Gottfried Isolde ihr Selbst um das Selbst
des anderen willen aufgibt. Fortan sind sie „ein ding âne unterscheide“ (GT, 18358),
„niwan ein Tristan und ein Îsôt“ (GT, 18362). Wagner greift diesen Gedanken
allenfalls auf, wenn er diesen „Personentausch“ ebenso einführt:
Isolde:
Tristan:
Du Isolde,
Tristan ich,
nicht mehr Isolde!
Tristan du,
ich Isolde,
nicht mehr Tristan!
(WT, 47)
Doch bei Wagner bleibt es nicht bei diesem Personentausch, er geht noch weiter: Der
Personentausch, die Aufgabe der eigenen Individualität zur Verschmelzung mit dem
jeweilig anderen ist die Vorstufe für die vollkommene Aufgabe dieser Einheit in der
ewigen Nacht, wie unter der Besprechung des Wagner-Textes noch näher
auszuführen sein wird.
VII.2. „Wohin nun Tristan scheidet...“
Bei Wagner werden alle Verrätergeschichten in einer zusammengefaßt: Die
Liebenden werden von Marke, anders als bei Gottfried, zusammen mit den zur
Stellung notwendigen Zeugen erwischt – Melot hat Tristan verraten und die
Liebenden in einer eindeutigen Situation gestellt. Damit ist ihr beider Liebestraum
unterbrochen; die einzige Nacht, die ihnen beiden gegönnt war, ist zu Ende
gegangen, der Tag ist von neuem angebrochen: „Der öde Tag / zum letztenmal!“
(WT, 48). Tristan benutzt nochmals diese Lichtsymbolik, wenn er das Einbrechen
Markes und seiner Gefolgschaft als „Tagsgespenster! / Morgenträume!“ bezeichnet
(WT, ebd.). Was in den vorherigen Tristan-Versionen erst nach weiteren Abenteuern
erst passiert, geschieht bei Wagner gleich bei der Entdeckung im Baumgarten:
Tristan wird verwundet, doch die Verwundung wird von Tristan selbst herbeigeführt.
Für beide ist bei der Entdeckung klar, daß nun die Zeit für ihrer beider Tod
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Gottfrieds „Tristan“ und Wagners „Tristan und Isolde“
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gekommen ist, doch ist ihr Tod, wie unter Punkt V. bei der Besprechung des
Liebesideals bei Wagner dargelegt wurde, gewünscht und höchst ersehnt. Die
Entdeckung durch Marke beschleunigt nur die Erfüllung des Liebesideals. „Wohin
nun Tristan scheidet, / willst du, Isold’, ihm folgen?“ fragt Tristan (WT, 51), womit
mit diesem „Land“ nichts anderes als der Tod gemeint ist, und Isolde erklärt
bereitwillig: „Wo Tristans Haus und Heim, / da kehr’ Isolde ein“ und bittet, sie in
den Tod mitzunehmen: „den Weg nun zeig Isold’!“ (WT, 52). Beide sind von dem
Augenblick, da sie im Baumgarten gestellt wurden, bereit, in den Tod zu gehen, um
ihr Liebesideal endgültig zu erfüllen. Von dem Trennungsschmerz, den Gottfrieds
Tristan und Isolde empfinden, dem Versprechen, sich um des anderen willen zu
schützen – ja, sein Leben eben auf jeden Fall zu verlängern und nicht miteinander zu
beenden – ist bei Wagner nichts zu spüren. Bei Wagner beabsichtigen die Liebenden
ein Loslösen von sämtlichen weltlichen Werten und dazugehörend das Aufgeben
ihrer jeweiligen Persönlichkeit; bei Gottfried handelt es sich hingegen um ein
Auflösen der eigenen Person in dem jeweilig anderen zur Schaffung einer Einheit,
wobei damit aber nicht notwendigerweise eine Loslösung von den weltlichen Werten
einhergeht, geschweige denn ihr beider Tod ins Auge gefaßt wird. Dieser soll, ganz
im Gegenteil, unter allen Umständen verhindert werden zum Wohl des anderen. Daß
es mit dieser Bitte um das Wohl des anderen geht, zeigt allein die Tatsache, daß
Isolde am Ende aus eigenem Willen stirbt, nachdem Tristan gestorben ist – ihr
Liebestod ist die logische Konsequenz aus der vorher gestellten Forderung, das
eigene Leben zum Wohl des anderen zu erhalten; mit Tristans Tod ist sie, die ja sein
Leib ist, wie sie zuvor erklärt hat, ebenso bereits gestorben.
VIII. Liebestod
VIII.1. Üblicher Ausgang des Tristan-Stoffes
Gottfrieds Roman bricht kurz nach der Entdeckung im Liebesgarten ab: Nachdem
Tristan Cornwall verlassen hat, lernt er Kâedîn und dessen Schwester Isolde – Isolde
Weißhand, „Isôt, diu mit den wizen handen“ (GT, 18961) – kennen. Tristan verliebt
sich allmählich in die zweite Isolde, doch mehr und mehr gerät er dabei in
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Gefühlsverwirrungen: Auf der einen Seite liebt er immer noch Isolde aus Irland, auf
der anderen Seite ist er immer stärker von Isolde Weißhand angezogen; an dieser
Stelle bricht Gottfrieds Roman ab. Ob dies so gewollt war, oder ob äußere Umstände
ihn daran hinderten, den Roman zu Ende zu bringen, ist bis heute nicht vollends
geklärt. Im folgenden soll kurz skizziert werden, wie der Tristan-Stoff normalerweise
endet – so zum Beispiel auch von den beiden Tristan-Fortsetzern Ulrich von Türheim
und Heinrich von Freiberg so zu Ende gebracht: Tristan heiratet Isolde Weißhand,
vollzieht jedoch nie die Ehe mit ihr, da er sich immer noch zu stark Isolde aus Irland
verbunden fühlt. Weiterhin besteht er zahlreiche Abenteuer und findet dabei immer
wieder Zeit für heimliche Treffen mit Isolde aus Irland. Schließlich wird Tristan in
einem Kampf zufällig verwundet, und wie an bereits zwei anderen Stellen im Roman
ist Isolde aus Irland die einzige, die ihn heilen könnte. Ein Bote wird nach Irland
geschickt, um Isolde zu holen; ist ein weißes Segel gesetzt, ist sie mit an Bord, bei
schwarzem Segel ist sie Tristans Ruf nicht gefolgt. Als ein Schiff herannaht, meldet
Isolde Weißhand auf Tristans Bitte hin, der zu schwach ist, sich selbst zu
vergewissern, aus Eifersucht eine Lüge gebrauchend, ein schwarzes Segel, und
Tristan stirbt. Isolde, zu spät gekommen, stirbt gleichfalls aus Kummer.
Gerade diese Wendung, daß Isolde mit der Kraft ihres Willens stirbt, ist
stoffsignifikant; ihr Tod ist „Garant der einzigartigen Liebe“. Erst der Tod der
Liebenden bringt schließlich die Aussöhnung zwischen dem Individuum und der
Gesellschaft, die zu Lebzeiten der Liebenden nicht möglich war.
VIII.2. Auslassung der Isolde Weißhand bei Wagner
Ursprünglich plante Wagner eine Isolde-Weißhand-Handlung bzw. die Täuschung
Tristans durch die falsche Farbe der Flagge. „Erst müßtet ihr auch meinen »Tristan«
verdaut haben, namentlich seinen dritten Akt mit der schwarzen und weißen Flagge“,
schrieb er an Liszt; dieses Motiv mit der schwarzen und weißen Flagge spielt
deutlich auf Isolde Weißhand an, obwohl es in der vollendeten Oper ausgearbeitet
nicht vorkommt. Nur Spuren im Libretto, die Wagner nicht gelöscht hat, spielen noch
darauf an, daß eventuell eine Isolde-Weißhand-Handlung vorgesehen war, mit der
damit verbundenen Täuschung durch die Farbe der Flagge: „Sie weht, sie weht – die
Flagge am Mast!“ betont Tristan (WT, 61), und bei der Ankunft des Schiffes will
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Gottfrieds „Tristan“ und Wagners „Tristan und Isolde“
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Tristan genau wissen, welche Flagge gehißt ist, worauf Kurwenal jedoch
wahrheitsgetreu antwortet: „Der Freude Flagge / am Wimpel lustig und hell!“ (WT,
66). Dadurch, daß Isolde Weißhand ausgelassen wird, wird die Konzentration auf das
Liebespaar Tristan und Isolde verschärft.
An die Stelle des Flaggenmotivs aus dem Ur-Tristan tritt die „traurige“ und
„lustige Weise“ des Hirten; erst als der Hirte die lustige Weise auf seiner Flöte
anstimmt, weiß Tristan, daß Isolde da ist.
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Gottfrieds „Tristan“ und Wagners „Tristan und Isolde“
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VIII.3. Liebestod: „Unbewußt – höchste Lust“
Die Wunde, an der Tristan stirbt, ist keine zufällige wie im Ur-Tristan, sondern eine,
die er sich selbst beigebracht hat: „Als Melot ihm das Schwert entgegenstreckt, läßt
Tristan das seinige fallen und sinkt verwundet in Kurwenals Arme“, heißt es in der
Bühnenanweisung am Ende des zweiten Aktes (WT, 53). Tristan möchte gar nicht
heil aus der Situation herauskommen, er sucht keinen Ausweg, sondern nur noch die
ewige Nacht, die die ewige Vereinigung mit der Geliebten mit sich bringt. Kurwenal
hat Tristan jedoch auf seine Burg gerettet, und dort wartet er auf Isolde – weniger
darauf, daß sie ihn heilt, sondern vielmehr darauf, daß sie kommt, um mit ihm
gemeinsam in die ewige Nacht einzugehen. Der dritte Akt zeigt Tristan in seiner
entsetzlichen Einsamkeit; er kann es nicht ertragen, daß Isolde ohne ihn ist, noch
lebt, während er allein in den Tod geht: „Isolde noch / im Reich der Sonne! Im
Tagesschimmer / noch Isolde!“ (WT, 58). Auch ist es eine entsetzliche Vorstellung
für ihn, daß er immer noch lebt; sein Fortleben ist für ihn nur verlängerte
Sehnsuchtsqual: „Im Sterben mich sehnen, / vor Sehnsucht nicht zu sterben!“ (WT,
62).
Mit der freudigen Nachricht, daß Isoldes Schiff anlegt, kommt auch keine wahre
Rettung; Tristans Geist gerät vollkommen außer sich, er gerät in Ekstase – den
Gedanken zu sterben vergißt er hierbei keinen Augenblick: „Kurwenal, / treuester
Freund! / All mein Hab und Gut / vererb ich noch heute.“ (WT, 67, Hervorhebung
von mir). Während Tristan zuvor kraftlos auf seinem Lager gelegen hat, rafft er sich
nun auf, Isolde zu empfangen; sich an frühere Heldentaten erinnernd, reißt er sich
den Verband der Wunde auf: „Mit blutender Wunde / bekämpft’ ich einst Morolden,
/ mit blutender Wunde / erjag ich mir heut Isolden!“ (WT, 68). Indem er sich an die
einzige Liebesnacht, die ihm mit Isolde vergönnt war, erinnert – diesen
Glücksmoment, als Isolde die Fackel löschte und somit der Tag endgültig der Nacht
wich, stirbt er in Isoldes Armen: „Die Leuchte, ha! / Die Leuchte verlischt! / Zu ihr,
zu ihr!“ (ebd.). Tristans Tod erfolgt bei Wagner in höchstem Jubel, nicht in
Verzweiflung, wohingegen er in früheren Tristan-Versionen aus Enttäuschung über
das schwarze Segel – Isoldes vermeintliche Abwesenheit – stirbt.
Auch Isoldes einzige Absicht war es, mit Tristan gemeinsam zu sterben: „Isolde
kam, / mit Tristan treu zu sterben“, sagt sie (WT, 68f), jedoch ist sie zu spät
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Gottfrieds „Tristan“ und Wagners „Tristan und Isolde“
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gekommen. Isolde ist nun mit „letzten Weltgedanken“ erfüllt, „Flehen um das
Liebesglück einer einzigen Stunde, um dann gemeinsam zu sterben“: „Nur eine
Stunde, / nur eine Stunde / bleibe mir wach! So bange Tage / wachte sie sehnend, /
um eine Stunde / mit dir noch zu wachen“ (WT, 69). Doch ihr Flehen um eine
weitere irdische Stunde mit ihm vor dem Tod ist vergebens. Die Wunde hätte sie nur
heilen wollen, damit sie die letzte Stunde gemeinsam erlebt hätten: „Die Wunde?
Wo? / Laß sie mich heilen! / Daß wonnig und hehr / die Nacht wir teilen; / nicht an
der Wunde, / an der Wunde stirb mir nicht: / uns beiden vereint / erlösche das
Lebenslicht!“ (ebd.). Daß Tristan vor ihr gestorben ist und sie allein zurückgelassen
hat, empfindet sie als Betrug: „Zu spät! / Trotziger Mann! / Strafst du mich so / mit
härtestem Bann?“ (ebd.). Mit der Halluzination, daß Tristan sie erhört habe und noch
lebe, sinkt sie bewußtlos über der Leiche zusammen.
In Isoldes letztem Gesang, dem sogenannten „Liebestod“, faßt sie das gesamte
Drama noch einmal zusammen, präsentiert den Tod als einzige Möglichkeit der
Vereinigung. Mit Tristans Blick hat alles begonnen: „Mild und leise / wie er lächelt, /
wie das Auge / hold er öffnet“ (WT, 73). Nun sinkt die Nacht für sie beide hernieder,
die Stunde der letzten – ewigen – Vereinigung ist gekommen; mit Isoldes Liebestod
– ihrem Tod Tristan zuliebe – geht sie, abstrakt ausgedrückt,, auf in „einer
impersonalen Objektivationsstufe des einen und selben Willenswesens“, in der
Transzendenz der Liebe: Sämtliche weltliche Schranken abwerfend, ihre getrennten
Persönlichkeiten im Tod überwindend, drücken sie nur noch einen Willen aus. Im
„Weltenmeer“ ertrinken sie gemeinsam, in der Ewigkeit untergehend:
„Soll ich schlürfen,
untertauchen?
Süß in Düften
mich verhauchen?
In dem wogenden Schwall,
in dem tönenden Schall,
in des Welt-Atems
wehendem All –
ertrinken,
versinken –
unbewußt –
höchste Lust!“
(WT, 74)
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Gottfrieds „Tristan“ und Wagners „Tristan und Isolde“
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Mit diesem Schluß kommt auch das Sehnsuchtsmotiv zur Ruhe, der berühmte
Tristan-Akkord wird endlich aufgelöst: Die Sehnsucht der Liebenden wird im Tode
auf immer gestillt, wie sie es sich gewünscht hatten.
Gottfried sieht den absehbaren Tod der Liebenden, der sich mit dem Liebestrank
bereits ankündigt, wenn von „endelôse herzenôt, / von der si beide lâgen tôt“
(11679f) die Rede ist, als die bloße Konsequenz des Liebestrankes; eine
Transzendierung der Liebe findet nicht statt, sondern lediglich die „schon biblische
Gleichsetzung der existentiellen Liebe mit der Todeserfahrung“: Stark wie der Tod
ist die Liebe. Bei Wagner ist hingegen der Liebestod das höchste Ziel, nach dem die
Liebenden die ganze Zeit streben: die gemeinsame Selbstauflösung – das Aufgeben
der Individualität, die die beiden bisher noch getrennt hatte -, „das Versinken in den
fließenden Fluten der Weltseele, das Ertrinken und Vergehen im Meer des Nichts“
verschafft ihnen größtmögliche Seligkeit, läßt ihre Liebe transzendent werden.
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Gottfrieds „Tristan“ und Wagners „Tristan und Isolde“
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IX. Schluß
„Da ich nun aber doch im Leben nie das eigentliche Glück der Liebe genossen habe,
so will ich diesem schönsten aller Träume noch ein Denkmal setzen, in dem von
Anfang bis zum Ende diese Liebe sich einmal so recht sättigen soll: ich habe im
Kopfe einen Tristan und Isolde entworfen, (...); mit der »schwarzen Flagge«, die am
Ende weht, will ich mich dann zudecken, um – zu sterben –“
So äußerte sich Richard Wagner über seine Tristan-Oper vor der Vollendung. Ob
er nun der Liebe tatsächlich ein Denkmal gesetzt hat, bleibt wohl jedem einzelnen
überlassen zu entscheiden; ob aber, wie er auch von sich behauptete, erst er „den
wesentlichen, den mythischen Gehalt der mittelalterlichen Geschichten herausgeholt
und dargestellt habe“, ist schon strittiger. Was die Liebesvorstellung und
Liebesverwirklichung betrifft, laufen Gottfrieds Roman und Wagners Oper in sehr
unterschiedliche Richtungen, wie bei der Besprechung der vergleichbaren Szenen
dargelegt wurde. Aus unterschiedlichen Motiven wird die Rache an Tristan vereitelt;
der Beginn ihrer beider Liebe ist einmal bei Gottfried im Liebestrank zu suchen, bei
Wagner hingegen in den Charakteren selbst, die sich längst ineinander verliebt haben
und erst mit dem Liebestrank, am Rande des Todes stehend, ihre Liebe offenbaren
können. Auch die Liebesvorstellung König Markes läuft in den beiden Werken in
unterschiedliche Richtungen. Am deutlichsten sind jedoch die Unterschiede zu
erkennen, wenn man gezielt das Liebesideal in den beiden Werken untersucht; hier
steht Gottfrieds diesseits gerichtetes Ideal vollkommen gegenüber Wagners zum
Tode hinstrebendes Ideal, das schließlich im Liebestod vervollkommnet wird.
Einig kann man sich sein, daß Wagners Oper wohl die „wichtigste Version des
Tristan-Stoffes der neueren Zeit“ ist, wie die Metzler-Literatur-Chronik feststellt; sie
bezeichnet Wagners Oper als „romantisches Nachtstück über Liebe und Tod“ – und
das ist Wagners „Tristan und Isolde“ auch: eine der Romantik entstammende Oper
über Liebe und Tod.
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Gottfrieds „Tristan“ und Wagners „Tristan und Isolde“
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