Ursprung und Wesen des Rechts

11
Kapitel 1
Ursprung und Wesen des Rechts
«Ene, Mene, Mischt und Du bisch!»
Conni (4) wird zur «blinden Kuh» bestimmt, Dani (3),
Michèlle und Tom (beide 5) sind die weiteren Mitwirkenden.
Das Spiel beginnt und alle haben ihren Spass daran.
Es ist doch erstaunlich, dass sich bereits kleine Kinder
draussen treffen, selbstständig Regeln vereinbaren und ein
Spiel miteinander veranstalten.
In der Erwachsenenwelt sind die Verhältnisse natürlich unendlich
viel komplizierter. Es besteht aber offenbar ein gesellschaftliches
Ur-Bedürfnis, ja geradezu die Notwendigkeit, einen bestimmten
Rahmen zu setzen und «Spielregeln» zu bestimmen, die
den Einzelnen wie auch der Gemeinschaft als Ganzes gerecht
werden und ein Zusammenleben ermöglichen.
Im eingangs erwähnten Spiel gibt es Sehende und «Blinde»,
die ganz selbstverständlich miteinander umgehen. Trotz der
Unterschiede funktioniert das Spiel.
Übersetzt auf eine Gesellschaft bedeutet dies, dass nicht alle
genau gleich sein müssen, um sich in der gültigen Ordnung zu
bewegen. Die einzelnen Menschen können sich ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen entsprechend am gesellschaftlichen,
wirtschaftlichen und politischen Geschehen beteiligen.
Ob Jurist, Anwalt, Richter, Geschäftsfrau oder als Mann von der
Strasse: Die von der Gemeinschaft aufgestellten, gültigen Regeln
müssen verständlich sein und allgemein akzeptiert werden.
Das Recht war aber nicht einfach eines schönen Tages da,
sondern hat sich entwickelt. Es wurde immer von den
Menschen und ihren Vorstellungen geprägt. Bis vor zweihundert
Jahren ging es praktisch überall mit der politischen Macht im
Staat einher. Erst die Vorstellung von der Trennung der Gewalten
und die Entwicklung der Menschenrechte führten zu Rechtsordnungen, welche die bis dahin bevormundeten Menschen in
Freiheit und Eigenverantwortung entliessen. Wo dies der Fall ist,
sind heute die Bürger und Bürgerinnen an der Gestaltung des
Rechts aktiv beteiligt und geniessen dessen Schutz.
In diesem Kapitel ist die Rede davon, wie sich das Recht
entwickelt hat und durch welche grundlegenden Merkmale es
sich in der Schweiz auszeichnet.
Ursprung und Wesen des Rechts – Panoptikum
Panoptikum
Einteilung des Rechts
13
Ein Fall für Sie – Eine Einführung in die Rechtskunde
14
1.1
Rechtsordnungen
gab es seit jeher
Recht und Staat
waren lange
identisch
Menschenrechte,
Bürgerrechte und
Gewaltentrennung
Sicherheit, Gesundheit und Ausbildung. Zu ihrer Sicherung
forderten verschiedene Zeitgenossen, dass das Volk auch
politische Rechte oder Bürgerrechte erhalten sollte. Europa
stand damals unter dem Eindruck des Sonnenkönigs Ludwig XIV.,
der alle Macht in seiner Hand vereint hatte und unter seinem
Leitspruch «Der Staat bin ich» nach Belieben schaltete und
waltete. Um die Menschen vor solcher Tyrannei zu schützen,
schlugen einige Gelehrte die Gewaltentrennung im Staat vor.
Erst die Aufteilung der Macht auf verschiedene Institutionen
versprach den Rechtsstaat.
Was ist «Recht» und wie hat es
sich entwickelt?
Es gilt als gesichert, dass zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte das Leben der Völker und Volksgruppen geordnet
war. Unabhängig davon, wann und wo auf unserem Planeten
die Menschen eine Gemeinschaft gebildet hatten, bestimmten
sie, was zum «recht»mässigen Handeln gehörte und was nicht.
Wer dies nicht respektierte und dagegen verstiess, begab sich
unweigerlich ins Unrecht und wurde meistens dafür bestraft.
Unterschiedliche Vorstellungen darüber, was «Recht» ist,
existierten sehr wohl. Doch nie bezweifelte man, dass es eine
Rechtsordnung an sich geben musste. Streit entstand lediglich
darüber, wie die Rechtsordnung aussehen sollte. Ohne sie
wollte und konnte niemand auskommen. Dies lag daran, dass
das geltende Recht eines der wichtigsten Erkennungsmerkmale
einer Gemeinschaft überhaupt darstellte. Recht und Staat waren
praktisch gleichbedeutende Begriffe, denn das Recht bestand
im Wesentlichen darin, das Gebilde «Staat» zu definieren.
Bedeutungsvoll war dabei, dass das Recht die Frage klärte,
wer regierte und damit für das Wohl der Gemeinschaft die
Verantwortung trug. In der Regel konnten die Herrschenden
Vorrechte (Privilegien) für sich in Anspruch nehmen, weshalb
immer ein grosses Interesse bestand, zur Führungsschicht zu gehören. Dies erklärt auch die zahllosen Kämpfe und Kriege,
bei denen es um die Rechte einzelner Gruppen oder ganzer
Zweck und Ziele der
Völker ging. Doch meist profitierten von den Machtkämpfen nur
Eidgenossenschaft
die Eliten, das Leben der grossen Masse blieb davon mehr oder
(BV Art. 2)
weniger unberührt.
Grundsätze (BV Art. 5)
Das begann sich erst im 17. und 18. Jahrhundert zu ändern, als
in England und später in Frankreich eine neue Vorstellung von
«Recht» aufkam. Nicht der Staat – genauer, die Führungsschicht,
die die Geschicke des Staates lenkte – sollte darüber befinden,
was «Recht» sei. Vielmehr besitze der Einzelne, das Individuum,
von Natur aus bestimmte Rechte, die ihm niemand wegnehmen
Grund- oder Freiheitsrechte (BV Art. 7 ff.)
könne, wurde argumentiert.
Dies war die Geburtsstunde der Universal- oder Menschenrechte, wie sie schon damals hiessen. Als elementare Rechte
der Menschen galten unter anderem die Rechte auf Freiheit,
Staatsbürgerliche und
politische Rechte
(BV Art. 24; 25, 34 ff.,
138 ff.)
Die Dreiteilung in die «gesetzgebende», die «richterliche» und
die «ausführende» Gewalt (Legislative, Judikative und Exekutive)
wurde zu einer unabdingbaren Voraussetzung, dass die Bürger
ihre verfassungsmässig garantierten Grund- und Bürgerrechte
durchsetzen konnten. Dies verhinderte die Vormachtstellung
einer bestimmten Elite, die den Wohlstand des Landes vor allem
für sich beanspruchte. Bei der Gründung der Vereinigten Staaten
von Amerika nach dem Unabhängigkeitskrieg mit dem Mutterland
England (1771), während der Französischen Revolution (1789)
und bei der Bildung des Schweizerischen Bundesstaates im
Jahre 1848 gelang es, dass die Menschen- und Bürgerrechte
nicht nur auf dem Papier bestanden. Dank der Gewaltenteilung
wurden sie für alle Bürger Realität.
In der Schweizerischen Bundesverfassung sind die Grundpfeiler
unseres Rechtsstaates festgelegt. Darin heisst es unter anderem:
Freiheit, Unabhängigkeit, gemeinsame Wohlfahrt innerer
Zusammenhalt, nachhaltige Entwicklung, kulturelle Vielfalt
1. Grundlage staatlichen Handelns ist das Recht
(Legalitätsprizip, Willkürverbot)
2. Staatliches Handeln muss im öffentlichen Interesse liegen
und verhältnismässig sein.
3. Staatliche Organe und Private handeln nach Treu und Glauben.
4. Bund und Kantone beachten das Völkerrecht
Recht auf Leben, Recht auf Menschenwürde, Ehefreiheit, Rechtsgleichheit, Diskriminierungsverbot, Meinungs- und Versammlungsfreiheit, Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit usw.
Niederlassungsfreiheit, Recht auf Staatszugehörigkeit, Schutz
vor Ausweisung, Auslieferung und Ausschaffung, Stimm- und
Wahlrecht, Referendumsrecht, Initiativrecht
Ursprung und Wesen des Rechts – 1.2 Formen des Zusammenlebens
15
1.2
Das Recht im
Umfeld weiterer
Regeln
Die aufgezählten Verhaltensweisen sind zufällig ausgewählt. Sie
sind aber Teil eines ganzen Systems von Regeln, das sich über
ungezählte Generationen hinweg entwickelt hat. Die Regeln
passten sich der jeweiligen Zeit an und waren immer ein Spiegelbild der Menschen, die sie erschaffen und befolgt hatten.
Dadurch wissen wir heute, wie diese Menschen dachten, welche
Bedürfnisse sie hatten, und wie sie untereinander Umgang
pflegten.
Formen des Zusammenlebens
In einer Gemeinschaft ist nicht nur das Recht für das Verhalten des Einzelnen bedeutsam. Je nachdem, wo der
Mensch aufwächst, prägt ihn vorerst seine Umgebung, und
zwar nachhaltig. Schon bald nach der Geburt werden ihm
die gängigen Umgangsformen nahegelegt. Er erfährt, was sich
gehört, wie er sich zu benehmen hat, was als «gut» und was
als «schlecht» gilt. Diese Regeln sind, lange bevor der Mensch
selbstständig zu denken beginnt, verinnerlicht. Er handelt
bewusst und unbewusst danach.
Einige Beispiele, wie wir Menschen heute zusammenleben:
a. Wenn wir hungrig sind, gehen wir in ein Lebensmittelgeschäft,
nehmen die gewünschte Ware vom Regal und zahlen an der Kasse.
Es kommt uns nicht in den Sinn, die Ware zu stehlen.
b. Wenn wir ein Büro betreten, grüssen wir zuerst die Anwesenden
und nicht umgekehrt.
c. Wenn wir auf der Strasse am Steuer eines Autos sitzen, fahren wir
auf der rechten Strassenseite, beachten den Rechtsvortritt auf einer
Kreuzung und lassen Passanten auf einem Fussgängerstreifen den
Vortritt usw.
d. Wir trösten ein kleines Kind, das seine Mutter aus den Augen
verloren hat, und helfen ihm, sie wieder zu finden.
e. Im Zug fragen wir, ob noch ein Platz im zum Teil besetzten Abteil
frei ist.
f. Wenn wir einen anderen Menschen absichtlich verletzen oder
töten, wenn wir zu schnell mit dem Auto fahren oder etwas stehlen,
werden wir bestraft.
Höhlenbemalung
in der libyschen
Wüste, aus den
Anfängen der
Menschheitsgeschichte
Die Entstehung von
Sitte, Sittlichkeit
und Recht
Aufgrund von Funden geht die Forschung davon aus, dass die
ersten Menschen in Afrika beheimatet waren. Es lebten jeweils
mehrere Familien in losen Gruppen zusammen, wobei die
Männer einzeln oder gemeinsam zur Jagd gingen und die Frauen
die Kinderbetreuung übernahmen und als Sammlerinnen tätig
waren. Der frühe Mensch war vielen Tieren und den Naturgewalten völlig ausgeliefert. Die Natur machte ihm Angst. Er
glaubte, dass Dämonen die Welt erschaffen hatten und diese
beherrschten. Der Mensch wollte aber frei sein und versuchte
mittels Zauberei, die Unabhängigkeit zu erlangen. Die Religion,
und später das Recht, halfen diese Urängste einzudämmen und
zu überwinden. Für das tägliche Leben bildeten sich je nach
Lebensbedingungen viele unterschiedliche Gewohnheiten
(Kulturen) heraus – die Sitten und Gebräuche (Regeln für den
Umgang miteinander).
Je mehr Menschen zusammenlebten, desto mehr Regeln
wurden für die Aufrechterhaltung der Ordnung nötig. Nur
dadurch war es einigermassen möglich, ohne Streit und Missgunst auszukommen. Mit dem Ackerbau als Nahrungsgrundlage
begannen die Menschen sesshaft zu werden. Eigentum an
Boden und Vieh war die Voraussetzung dafür. Da immer mehr
Menschen auf zunehmend engerem Raum zusammenleben
mussten, nahmen die Konflikte zu. Es wurden Verfahren nötig,
die in Streitfällen vermitteln konnten. Erste rechtliche Normen
waren unumgänglich.
Ein Fall für Sie – Eine Einführung in die Rechtskunde
16
Sitte
Handeln aus…
Anstand, Brauch,
Umgangsformen
Unter Sitte verstehen wir alle Regeln, welche von den Menschen
als Anstand, Höflichkeit, Brauch oder als üblich bezeichnet
werden. Der Begriff «allgemeine Umgangsformen» wird oft
gleichbedeutend verwendet, obschon er nicht ganz identisch ist.
Recht
Recht=Ordnungsregeln und Verhaltensvorschriften
Beispiel:
Beispiel:
Wenn wir mit dem Tram unterwegs sind, besitzen wir einen
gültigen Fahrschein (auch wenn keine Kontrolle stattfindet).
Bevor wir ein Tram oder einen Bus betreten, lassen wir den
aussteigenden Personen den Vortritt.
Das Recht regelt das äussere Verhalten und ist im Unterschied
zu Sitte und Sittlichkeit erzwingbar. Wer sich nicht an die
Vorschriften hält, wird bestraft (z. B. 50 Franken Busse
fürs Schwarzfahren im Tram).
Die Sitte regelt das äussere Verhalten und ist nicht erzwingbar.
Sittlichkeit (Moral/Ethik)
…oder aus
innerer Gesinnung,
religiöser/ethischer
Überzeugung
Sittlich oder moralisch handelt, wer aus einer inneren Haltung heraus etwas tut oder unterlässt. Es kann sich dabei um
eine bestimmte Gesinnung (z. B. Samariter- oder Pfadfindergedanke) handeln, aus religiösen Gründen geschehen oder
auf der Grundlage ethischer Überzeugungen (Werte wie Liebe,
Freundschaft, Pflichtbewusstsein, das «gute» Gewissen, Schutz
des Lebens und der Umwelt usw.) erfolgen.
Beispiel:
Im voll besetzten Tram überlassen wir einem am Stock gehenden
Fahrgast unseren Sitzplatz.
Sittliches Verhalten kommt von innen her und ist ebenso wenig
erzwingbar, wie es Anstand und Höflichkeit sind. Ein wichtiger
Unterschied besteht allerdings darin, dass die Gesellschaft es
mit den Umgangsformen ziemlich genau nimmt. Sie werden von
den meisten erwartet, während moralisches Verhalten davon
abhängt, ob man die ensprechende innere Einstellung hat oder
eben nicht. Daher kann man moralisches Handeln nicht allgemein
voraussetzen. Kommt hinzu, dass es meist auch verschiedene
Auffassungen darüber gibt, was «richtig» oder «unangebracht»
ist.
Das Recht umfasst alle Ordnungsregeln und Verhaltensvorschriften, die innerhalb eines bestimmten Gebiets von
allen einzuhalten sind.
Von den zuvor erwähnten Ausschnitten des Zusammenlebens
einer Gemeinschaft betreffen die Beispiele b und e den Anstand (Sitte), d ist der Sittlichkeit zuzuordnen und alle übrigen
Verhaltensweisen erfolgen aus rechtlichen Gründen.
Sitte, Sittlichkeit
und Recht sind oft
gemeinsam im Spiel
Im alltäglichen Zusammenleben wirken diese Regeln immer
gleichzeitig.
Beispiel:
Bei einem Besuch stösst Claudia im Hause der Eltern ihrer
Freundin Ruth versehentlich eine Kaffeekanne um. Auf dem
kostbaren Perserteppich entsteht ein hässlicher Fleck. Claudia
lässt den Teppich auf ihre Kosten reinigen.
Warum tut sie das?
Zuerst einmal finden wir es völlig «normal», dass Claudia den
Schaden behebt. Dies wäre also mehr auf der Ebene der Sitte
gehandelt.
Es ist ihr aber auch wichtig, also ein inneres (moralisches)
Bedürfnis, einen Schaden, den sie einem anderen Menschen
zugefügt hat, wieder gutzumachen.
Die Eltern von Ruth haben aber auch einen gesetzlichen Anspruch darauf, dass ihnen der Schaden ersetzt wird.
Recht und Ethik
Darf man einem Sterbenskranken
helfen, sich selber umzubringen, um so
sein Leiden zu beenden?
Dürfen Eltern oder sogar der Staat das
Recht haben, eine Schwangerschaft abzubrechen, wenn der Arzt eine schwere
Missbildung oder eine starke geistige
Behinderung beim Kind im Mutterleib festgestellt hat?
Sind Tierversuche in der medizinischen
Forschung vertretbar, selbst wenn dies
Tierquälerei bedeutet?
Soll es in der Schweiz erlaubt sein, das
Klonen (Vervielfältigen) von Tieren und
Menschen zu erforschen?
Dürfen gentechnisch veränderte Pflanzen
in der Schweiz angebaut und genmanipulierte Tiere in der Natur ausgesetzt
werden?
Soll man einem Unternehmen eine riesige
Fläche in einer noch intakten Naturlandschaft für den Bau einer Fabrik überlassen, weil dabei viele dringend benötigte
Arbeitsplätze entstehen können?
Wer oder was hilft uns, brennend aktuelle
Gegenwartsfragen wie diese zu lösen?
In immer kürzeren Abständen wird unsere
Gesellschaft mit neuen Situationen konfrontiert, für die das gültige Recht noch
keine oder nur ungenügende Regelungen
kennt. Zentral ist bei den erwähnten
Gegenwartsfragen, dass sie Grundsatzentscheide erfordern, die weitreichende
Folgen haben oder haben können.
Wenn eine Gesellschaft es zulässt,
menschliches Leben zu verhindern oder
vorzeitig zu beenden, will dies gut überlegt sein. Genauso muss sie darüber
wachen, dass Eingriffe in die Natur und
den Bauplan des Lebens nur dann erlaubt
sind, wenn daraus keine irreparable
Schäden für die Menschheit erfolgen.
Viele dieser Fragen sind nicht nur sehr
komplex, sie rufen auch ein ganzes Heer
an Spezialisten unterschiedlichster Fachrichtungen auf den Plan. Nur durch die
Vernetzung unterschiedlichster Fachgebiete ist einigermassen Gewähr dafür
gegeben, dass die Antworten und letztlich
die rechtlichen Regelungen zu brisanten
Fragen die Gemeinschaft stärken und
nicht das Gegenteil
eintrifft. Vor diesem
Hintergrund entstand
gegen Ende des
20. Jahrhunderts die
interdisziplinäre Wissenschaft der Ethik,
der auch die Rechtslehre angehört.
Die Ethik (altgriech.
«ethos = Sittenlehre») befasst sich
mit der in den Gesellschaften tief verankerten Moralvorstellungen und den
daraus entstandenen Rechtsordnungen.
Moral entsteht aus den kulturellen Werten
einer Gemeinschaft und ist stark von religiösen Grundsätzen geprägt. Die Ethik
beleuchtet und hinterfragt diese moralischen Grundsätze kritisch und damit auch
die gültige Rechtsordnung. Die Ethik
treibt die dringlich erforderliche Modernisierung des Rechts voran und stellt diese
auf eine neue Grundlage.
In einer Zeit, in der die religiöse Verwurzelung der Menschen schwindet und
andererseits neue globale Herausforderungen und Bedrohungslagen für Mensch,
Natur und Umwelt stetig zunehmen, ist
eine Besinnung auf die zentralen Werte
einer Gemeinschaft dringend vonnöten.
Die Ethik leistet diesen Beitrag und stellt
den vielfältigen Gegenwartsproblemen
drei Ansatzpunkte zu deren Lösung zur
Verfügung (vgl. Spalte ganz rechts).
Ethische Entscheide sind nötig, wenn
rechtliche Lösungen gefunden werden
müssen, bei denen Grundwerte (Grundrechte) betroffen sind. Denn üblicherweise
stehen bei ethischen Problemen mindestens zwei so genannte Rechtsgüter auf
dem Prüfstand. Der Gesetzgeber steckt in
einer Dilemma-Situation. Bei der Sterbehilfe
beispielsweise gilt es,
sich zwischen den beiden Rechtsgütern
«Schutz des Lebens»
und dem «Recht auf
Selbstbestimmung» zu
entscheiden. «Welches
ist das höhere Rechtsgut?», lautet dann eine
der zentralen Fragen.
Falls ein Anliegen nicht
auf völlige Ablehnung
stösst, sehen ethische Lösungen – in
Rechtsvorschriften gegossen – dann meist
so aus, dass eine Reihe von Bedingungen
oder Auflagen formuliert wird, unter welchen die Betroffenen zu handeln haben.
Die vom Bundesrat 2001 ins Leben gerufene Nationale Ethikkommission (NEK)
prüft regelmässig die anstehenden,
ethisch sensiblen Gesetzesvorlagen im
Bereich der Humanmedizin und formuliert Lösungsansätze zuhanden des
Bundesrates, des Parlamentes und des
Volkes (www.nek-cne.ch).
In der Ethik sind regelmässig Konfliktsituationen (Dilemmata) zu bewältigen.
Die drei ethischen Grundfragen liefern
einen allgemeinen Bezugsrahmen, um
die Rechtsgüterabwägung zielgerichtet
voranzutreiben.
1. Die Frage nach dem guten Leben
In der Ethik ist es unbestritten, dass jeder
Mensch frei, selbst bestimmend und entsprechend seines Beitrags/seiner Leistung
in der Gemeinschaft für sich ein gutes
Leben anstreben darf, so lange er dies im
Rahmen der gültigen Rechtsordnung tut.
2. Die Frage nach dem gerechten
Zusammenleben
Im seinem tagtäglichen Streben nach
Glück und persönlicher Erfüllung soll der
Mensch auch über die gültige Rechtsordnung hinaus allen Mitmenschen dieselben
Bedingungen und Möglichkeiten der Entfaltung zubilligen, die er für sich selbst als
legitim erachtet und in Anspruch nimmt.
Dabei verzichtet er auf jegliche Vorrechte,
respektiert den unschätzbaren Wert einer
intakten Umwelt und er gesteht auch den
Schwächeren in der Gemeinschaft zu, ihr
Recht auf ein gutes Leben durchzusetzen.
3. Die Frage nach dem verantwortungsvollen Handeln
Der ethisch handelnde Mensch nimmt
Rücksicht auf die elementaren Bedürfnisse
seiner Mitmenschen wie auch der Umwelt
gegenüber. Er trägt Sorge zu den begrenzten Ressourcen der Welt, die er nachhaltig
und mit Rücksicht auf kommende Generationen nutzt. Insbesondere ist er darauf bedacht, dass sein Handeln anderen Menschen nicht der freie Zugang zu lebensnotwendigen Gütern versperrt oder eine
andere gesundheitsschädigende oder lebensbedrohliche Folge daraus entsteht.
Ein Fall für Sie – Eine Einführung in die Rechtskunde
18
Was früher tabu war,
ist heute «völlig normal»
Veränderung der
Badesitten: Obenohne-Szene heute
Bevor im 19. Jahrhundert das Schwimmen langsam in Mode kam,
wurde eigens dazu der Badewagen erfunden, mit dem ein paar
Unentwegte in vollständiger Bekleidung bis ins Wasser fuhren und
sich so vergnügten. Erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts
suchten zur Sommerzeit an den Küsten der Nord- und der Ostsee
und am Mittelmeer die ersten noblen Sommergäste in den
entsprechenden Anzügen das kühle Nass auf. Was für Kinder und
Männer bald die Regel war, blieb
den Frauen noch eine Zeitlang
verwehrt. Erst Badekleider und die
Gewöhnung an diese neue Sitte
ebneten ihnen den Weg dazu.
Kein Wunder also, sorgte 1946 die
Erfindung des Bikinis weltweit für
fast ebenso viele Schlagzeilen, wie
kurz zuvor die Zündung der
ersten Nachkriegs-Atombombe
auf dem Südseeatoll, von dem
sich das frivole Fetzchen Stoff den Namen geliehen hatte. Trotz
geharnischter Proteste und Verbote in öffentlichen Badeanstalten
setzte sich der Zweiteiler schliesslich durch.
1964 erneuter Skandal: Ein deutscher Modeschöpfer lancierte den
«Monokini», ein Höschen, dessen V-förmige Träger just zwischen
den nackten Brüsten hindurchführten. Als die neue Modewelle mit
der üblichen Verspätung in die Schweiz – genauer: ins Berner
Marzilibad – kam, rief dies alsbald jene auf den Plan, die darin
wieder einmal den Untergang des Abendlandes witterten. Es hagelte
Beschwerden beim Bademeister, und in Leserbriefen machte sich
Empörung Luft. Bis zum Ende der 70er-Jahre galt in den Bädern
der Bundeshauptstadt das «ganze oder teilweise Entblössen der
weiblichen Brüste in öffentlichen Badeanstalten» als strafbar. Dann
wurde das Badereglement gelockert. Doch noch 1980 sammelte
ein Berner 14 000 Unterschriften für eine Initiative «gegen die
Verwilderung der Badesitten». Ohne Erfolg allerdings, der Grosse
Rat schickte das Volksbegehren bachab.
Wer heute die Leute darauf anspricht, erhält fast durchwegs dieselbe
Antwort: «Sie kommen viel zu spät. Mittlerweile ist barbusiges Baden
doch völlig normal. Ganz natürlich. Niemand schaut mehr hin.»
«Weltwoche»-Bericht aus den 1990er Jahren
Veränderung der
Lebensgewohnheiten
dank materieller
Unabhängigkeit
und Fortschritt
Während sich das Recht und die ethischen und moralischen
Vorstellungen (Sittlichkeit) im Verlaufe des 20. Jahrhunderts in
überschaubarem Masse verändert haben, erlebten die Regeln
zur Sitte erdrutschartige Verschiebungen.
Von den Kleiderordnungen über die Tischgewohnheiten zum
Freizeitverhalten: Die westlichen Gesellschaften legen zu
Beginn des dritten Jahrtausends ein Verhalten an den Tag, das
die Bürger und Bürgerinnen, die das vorige Jahrhundert einläuteten, mehrheitlich in Angst und Schrecken versetzt hätte.
Die Regeln des Zusammenlebens veränderten sich zu allen
Zeiten, doch nie mit dem Tempo der vergangenen Jahrzehnte.
Ständig steigende Einkommen machten die Menschen der
westlichen Ländern in der Vergangenheit immer unabhängiger,
das Auto, die öffentlichen Verkehrsmittel und die Flugzeuge
ermöglichen inzwischen eine beinahe grenzenlose Bewegungsfreiheit, und die ungezählten technischen Erfindungen schaffen
ein vielfältiges Angebot, das Leben individuell zu gestalten.
Ende der 60er-Jahre gab es die «Hippies», die gegen die
materielle Leistungsgesellschaft waren.
Ihnen folgten die «Alternativen», die für den weltweiten Frieden
und gegen die Atomkraft demonstrierten. Zuerst in England,
dann in ganz Europa, schreckten die «Punks» mit ihrem auffälligen Äusseren und der lauten, aufschreienden Musik, die
sie in der Öffentlichkeit verbreiteten, die Menschen auf. Heftige
Diskussionen über die Verwahrlosung der Jugend machten die
Runde. Etwa zur gleichen Zeit schlugen die Berner und Zürcher
«Autonomen» starke Wellen in der Bevölkerung.
Sie sind inzwischen zu «Chaoten» verkommen, während die
«Techno-Szene» der 90er-Jahre inzwischen niemanden mehr
an eine Staatskrise denken lässt.
Offenbar haben sich die Bürger und Bürgerinnen langsam damit
abgefunden, dass in einem Kulturkreis viele Variationen der
Lebensgestaltung denkbar sind.
Für das Recht besteht die Schwierigkeit, mit der Veränderung
Schritt zu halten, da hier auf vielen Ebenen zuerst die
Voraussetzungen dafür gegeben sein müssen.
Ursprung und Wesen des Rechts – 1.3/1.4 Aufgaben und Eigenschaften des Rechts
19
1.3
Aufgaben des Rechts
Die Hauptaufgaben des Rechts bestehen darin, die Grundlagen
für ein friedliches Zusammenleben zu schaffen und in Streitfällen
einen Interessensausgleich herbeizuführen.
Recht als «Friedensordnung»
In jeder Gesellschaft kommt es zu Konflikten. Daraus entsteht
das Bedürfnis nach Verfahren zur Lösung und eine Ordnung zur
Vermeidung derselben. Das Strassenverkehrsgesetz beispielsweise sichert einen reibungslosen und konfliktfreien Verkehr,
wenn es eingehalten wird. Kommt es trotzdem zu einem Konflikt
zwischen zwei Verkehrsteilnehmern, hilft das Recht, diesen zu
lösen. Insofern sichert es den Frieden unter den Menschen.
Recht und Gerechtigkeit
Dass das Recht auch gerecht sein muss, ist eine verbreitete
Auffassung. In einem demokratischen Staat entspricht das
Recht zwar weitgehend den Gerechtigkeitsvorstellungen seiner
Bürgerinnen und Bürger, da diese im Gesetzgebungsprozess
mitwirken.
Doch in vielen Fällen kann ein Gericht gar keine Gerechtigkeit
erzielen, auch wenn es dies möchte. Wenn beispielsweise in
einem Scheidungsprozess Vater und Mutter das Sorgerecht für
das gemeinsame Kind beantragen, gibt es im Normalfall keine
«gerechte» Lösung. Deshalb sprechen die Anwälte und Richter
statt «vom Herbeiführen einer gerechten Lösung» eher von der
«Erwirkung eines Interessenausgleichs». Damit ist gemeint, dass
in Fällen wie dem elterlichen Sorgerecht die abgewiesene Partei
in anderen strittigen Fragen während des Prozesses einen
Ausgleich erhalten soll. Der Begriff «Gerechtigkeit» ist aber nicht
grundlegend falsch.
Das Recht eines modernen demokratischen Staates sichert die
meisten der grundlegenden UNO-Menschenrechte (vgl. nächste
Seite). Dazu zählt auch, dass das einzelne, schwächere Glied
einer Gesellschaft vor Unterdrückung und Willkür geschützt wird.
Beispielsweise gibt es im Miet- und Arbeitsvertragsrecht des
Obligationenrechts viele Bestimmungen, die nicht zu Ungunsten
des Mieters oder des Arbeitnehmers abgeändert werden dürfen.
1.4
Eigenschaften des Rechts
Das Recht weist mehrere Merkmale auf, damit es den Bedürfnissen des Einzelnen, der Gesellschaft und der politischen
Ordnung (Staat) gewachsen ist.
Recht ist erzwingbar
Es macht keinen Sinn, Rechtsnormen auszuarbeiten, die
unverbindlich sind. Erst wenn das Recht von den staatlichen
Organen durchgesetzt werden kann, entsteht eine gesellschaftliche Ordnung. Wer absichtlich dagegen verstösst, riskiert daher
Strafe wie Busse und Gefängnis oder wird zu Schadenersatzleistungen verpflichtet.
Sitten werden nicht unter Zwang eingehalten, sondern weil
«man» etwas Bestimmtes tut oder nicht tut. Moralisches Handeln
(Sittlichkeit) geschieht aus Gewissensgründen.
Recht ist veränderlich
Die Rechtsordnung bildet einen wichtigen Teil der Umwelt.
Die Menschen leben jedoch nicht nur im gesellschaftlichen
Bezugsnetz in der sozialen Umwelt, sondern auch in einer ökonomischen (wirtschaftlichen) und technisch-wissenschaftlichen.
Wenn sich die Vorstellungen der Menschen zu einer rechtlichen
Frage oder etwas Grundlegendes in anderen Teilen dieses
System verändern, muss auch das Recht angepasst werden.
Beispiele:
a. Unsere Vorfahren waren vorwiegend Ackerbauern und Handwerker; aus den Bauern wurden Industriearbeiter; heute arbeitet
die Mehrheit in Dienstleistungsbetrieben.
b. Als das ZGB 1912 in Kraft gesetzt wurde, bestimmte es:
«Der Ehemann ist das Haupt der Familie.» Inzwischen ist dieser
Grundsatz der zeitgemässen Auffassung gewichen, dass beide
Ehepartner gemeinsam die Verantwortung für die Familie tragen.
c. Das international organisierte Verbrechen machte in jüngster Zeit
eine Strafrechtsnorm gegen Geldwäscherei nötig.
d. Die Gentechnologie ruft nach völlig neuen Rechtsnormen zum
Schutz der Menschenwürde, der Gesundheit und der Natur.
Die UNO-Menschenrechtserklärung
Artikel 1
Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und
Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen
begabt und sollen einander im Geist der Geschwisterlichkeit begegnen.
Artikel 2
1 Jede Person hat Anspruch auf die in dieser Erklärung
verkündeten Rechte und Freiheiten ohne irgendeinen
Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht,
Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen,
Geburt oder sonstigem Stand.
2 Des weiteren darf kein Unterschied gemacht werden
auf Grund der politischen, rechtlichen oder internationalen Stellung des Landes oder Gebiets, dem eine Person
angehört, gleichgültig ob dieses unabhängig ist, unter
Treuhandschaft steht, keine Selbstregierung besitzt
oder sonst in seiner Souveränität eingeschränkt ist.
Artikel 3
Jede Person hat das Recht auf Leben, Freiheit und
Sicherheit.
Artikel 4
Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten
werden; Sklaverei und Sklavenhandel sind in all ihren
Formen verboten.
Artikel 5
Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher
oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen
werden.
Artikel 6
Jede Person hat das Recht, überall als rechtsfähig
anerkannt zu werden.
Artikel 7
Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich und haben
ohne Unterschied Anspruch auf gleichen Schutz durch
das Gesetz. Alle haben Anspruch auf gleichen Schutz
gegen jede Diskriminierung, die gegen diese Erklärung
verstösst, und gegen jede Aufhetzung zu einer derartigen
Diskriminierung.
Artikel 8
Jede Person hat Anspruch darauf, von den zuständigen
innerstaatlichen Gerichten wirksam gegen Handlungen
geschützt zu werden, durch die ihre Grundrechte verletzt
werden, die ihr nach der Verfassung oder nach dem
Gesetz zustehenen.
Artikel 9
Niemand darf willkürlich festgenommen, in Haft gehalten
oder des Landes verwiesen werden.
Artikel 10
Jede Person hat bei der Feststellung ihrer Rechte und
Pflichten sowie bei einer gegen sie erhobenen strafrechtlichen Beschuldigung in voller Gleichheit Anspruch
auf ein gerechtes und öffentliches Verfahren vor einem
unabhängigen und unparteiischen Gericht.
Artikel 11
1 Jede Person, die wegen einer strafbaren Handlung
beschuldigt wird, hat das Recht, als unschuldig zu
gelten, solange ihre Schuld nicht in einem öffentlichen
Verfahren, in dem sie alle für ihre Verteidigung notwendigen Garantien gehabt hat, gemäss dem Gesetz
nachgewiesen ist.
2 Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung
nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht
strafbar war. Ebenso darf keine schwerere Strafe als
die zum Zeitpunkt der Begehung der strafbaren
Handlung angedrohte Strafe verhängt werden.
Artikel 12
Niemand darf willkürlichen Eingriffen in sein Privatleben,
seine Familie, seine Wohnung und seinen Schriftverkehr
oder Beeinträchtigungen seiner Ehre und seines Rufes
ausgesetzt werden. Jede Person hat Anspruch auf rechtlichen Schutz gegen solche Eingriffe oder Beeinträchtigungen.
Artikel 13
1 Jede Person hat das Recht, sich innerhalb eines
Staates frei zu bewegen und ihren Aufenthaltsort frei
zu wählen.
2 Jede Person hat das Recht, jedes Land, inklusive ihres
eigenen, zu verlassen und in ihr Land zurückzukehren.
Artikel 14
1 Jede Person hat das Recht, in anderen Ländern Asyl
vor Verfolgung zu suchen und zu geniessen.
2 Dieses Recht kann nicht in Anspruch genommen
werden im Falle einer Strafverfolgung, die tatsächlich
auf Grund von Verbrechen nichtpolitischer Art oder auf
Grund von Handlungen erfolgt, die gegen die Ziele und
Grundsätze der Vereinten Nationen verstossen.
Artikel 15
1 Jede Person hat das Recht auf eine Staatsangehörigkeit.
2 Niemandem darf seine Staatsangehörigkeit willkürlich
entzogen noch das Recht versagt werden, seine
Staatsanghörigkeit zu wechseln.
Artikel 16
1 Erwachsene Frauen und Männer haben ohne Beschränkung auf Grund der Rasse, der Staatsangehörigkeit oder der Religion das Recht, zu heiraten und
eine Familie zu gründen. Sie haben bei der Eheschliessung, während der Ehe und bei deren Auflösung
gleiche Rechte.
2 Eine Ehe darf nur mit der freien und uneingeschränkten Zustimmung beider künftigen Ehegatten geschlossen werden.
3 Die Familie ist die natürliche Grundeinheit der Gesellschaft und hat Anspruch auf Schutz durch Gesellschaft
und Staat.
Artikel 17
1 Jede Person hat das Recht, sowohl allein als auch in
Gemeinschaft mit anderen Eigentum innezuhaben.
2 Niemand darf willkürlich seines Eigentums beraubt
werden.
Artikel 18
Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissensund Religionsfreiheit; dieses Recht schliesst die Freiheit
ein, ihre Religion oder Weltanschauung zu wechseln, sowie die Freiheit, ihre Religion oder Weltanschauung allein
oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat
durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Kulthandlungen auszudrücken.
Artikel 19
Jede Person hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie
Meinungsäusserung; dieses Recht schliesst die Freiheit
ein, Meinungen ungehindert anzuhangen, sowie über
Medien jeder Art und ungeachtet von Landesgrenzen
Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.
Artikel 20
1 Alle Menschen haben das Recht, sich friedlich zu versammeln und zu Vereinigungen zusammenzuschliessen.
2 Niemand darf gezwungen werden, einer Vereinigung
anzugehören.
Artikel 21
1 Jede Person hat das Recht, an der Gestaltung der
öffentlichen Angelegenheiten seines Landes unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter mitzuwirken.
2 Jede Person hat das Recht auf gleichen Zugang zu
öffentlichen Ämtern in seinem Lande.
3 Der Wille des Volkes bildet die Grundlage für die
Autorität der öffentlichen Gewalt; dieser Wille muss
durch regelmässige, nicht manipulierte, allgemeine
und gleiche Wahlen mit geheimer Stimmabgabe oder
in einem gleichwertigen freien Wahlverfahren zum
Ausdruck kommen.
Artikel 22
Jede Person hat als Mitglied der Gesellschaft das Recht
auf soziale Sicherheit und Anspruch darauf, durch
innerstaatliche Massnahmen und internationale Zusammenarbeit sowie unter Berücksichtigung der Organisation
und der Mittel jedes Staates in den Genuss der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen, die für ihre Würde und die freie Entwicklung ihrer
Persönlichkeit unentbehrlich sind.
Artikel 23
1 Jede Person hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf gerechte und günstige Arbeitsbedingungen
sowie auf Schutz vor Arbeitslosigkeit.
2 Jede Person, ohne Unterschied, hat das Recht auf
gleichen Lohn für gleiche Arbeit.
3 Jede Person, die arbeitet, hat das Recht auf gerechte
und befriedigende Entlöhnung, die ihr und ihrer Familie
eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz
sichert, gegebenenfalls ergänzt durch andere soziale
Schutzmassnahmen.
4 Jede Person hat das Recht, zum Schutz ihrer Interessen Gewerkschaften zu bilden und solchen beizutreten.
Artikel 24
Jede Person hat das Recht auf Erholung und Freizeit und
insbesondere auf eine vernünftige Begrenzung der
Arbeitszeit und regelmässige bezahlte Ferien.
Artikel 25
1 Jede Person hat das Recht auf einen Lebensstandard,
der ihr und ihrer Familie Gesundheit und Wohlergehen
gewährleistet, inklusive Nahrung, Kleidung, Wohnung,
medizinische Versorgung und notwendige soziale
Leistungen sowie das Recht auf Sicherheit im Falle
von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Behinderung oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust
ihres Lebensunterhalts durch Umstände, die sie keinen
Einfluss hat.
2 Mütter und Kinder haben Anspruch auf besondere
Fürsorge und Unterstützung. Alle Kinder, eheliche wie
aussereheliche, geniessen den gleichen sozialen
Schutz.
Artikel 26
1 Jede Person hat das Recht auf Bildung. Die Bildung
soll unentgeltlich sein, wenigstens auf der Primar- und
Sekundarschulstufe. Der Grundschulunterricht ist obligatorisch. Fach- und Berufsausbildung müssen allgemein zugänglich gemacht werden, und der Hochschulunterricht muss allen gleichermassen entsprechend
ihren Fähigkeiten offenstehen.
2 Die Bildung muss auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und auf die Stärkung der Achtung
vor den Menschenrechten und der grundlegenden
Freiheiten ausgerichtet sein. Sie muss zu Verständnis,
Toleranz und Freundschaft zwischen allen Völkern und
allen rassischen oder religiösen Gruppen beitragen
und die Tätigkeit der Vereinten Nationen für die
Erhaltung des Friedens fördern.
3 Die Eltern haben ein vorrangiges Recht, die Art der
Bildung zu wählen, die ihre Kindern erhalten sollen.
Artikel 27
1 Jede Person hat das Recht, am kulturellen Leben der
Gemeinschaft frei teilzunehmen, sich an den Künsten
zu erfreuen und am wissenschaftlichen Fortschritt und
dessen Errungenschaften teilzuhaben.
2 Jede Person hat das Recht auf Schutz der geistigen
und materiellen Interessen, die ihr als Urheber von
Werken der Wissenschaft, Literatur oder Kunst
erwachsen.
Artikel 28
Jede Person hat Anspruch auf eine soziale und
internationale Ordnung, in der die in dieser Erklärung
verkündeten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht
werden können.
Artikel 29
1 Jede Person hat Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, in der allein die freie und volle Entfaltung ihrer
Persönlichkeit möglich ist.
2 Bei der Ausübung ihrer Rechte und Freiheiten darf jede
Person nur solchen Beschränkungen unterworfen
werden, die das Gesetz ausschliesslich zu dem Zweck
vorsieht, die Anerkennung und Achtung der Rechte
und Freiheiten anderer zu sichern und den gerechtfertigten Anforderungen der Moral, der öffentlichen Ordnung und der allgemeinen Wohlfahrt in einer demokratischen Gesellschaft zu genügen.
3 Diese Rechte und Freiheiten dürfen in keinem Fall im
Widerspruch zu den Zielen und Grundsätzen der
Vereinten Nationen ausgeübt werden.
Artikel 30
Keine Bestimmung dieser Erklärung darf so ausgelegt
werden, dass sie für einen Staat, eine Gruppe oder eine
Person irgendein Recht begründet, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung zu begehen, welche die
Beseitigung der in dieser Erklärung verkündeten Rechte
und Freiheiten zum Ziel hat.
Ursprung und Wesen des Rechts – 1.4 Eigenschaften des Rechts
21
Die Rechtsordnung steht daher in einer ständigen und starken
Wechselwirkung mit der wirtschaftlichen, sozialen und technologischen Umwelt, um mit der Entwicklung Schritt zu halten.
Die Veränderbarkeit des Rechts hat allerdings ihre Grenzen
in der Rechtssicherheit. Wäre das Recht unbeschränkt
veränderbar, wüssten die Bürger bald nicht mehr, welche
Gesetze zu befolgen sind. Daher ist eine Änderung der
Verfassung nur möglich, wenn ihr auch Volk und Stände
zugestimmt haben.
Noch bedeutungsvoller ist die Tatsache, dass Änderungswünsche,
die gegen eine oder mehrere Verfassungsnormen verstossen,
erst gar nicht zur Abstimmung zugelassen sind. Die Forderung
beispielsweise, religiös ausgerichtete Gemeinschaften (Sekten)
ausserhalb der offiziellen Kirchen zu verbieten, ist zwecklos, weil
eine Vielzahl von Grundrechten damit in Frage gestellt wären,
unter ihnen die Meinungs- und Äusserungsfreiheit, die freie Wahl
der Religionszugehörigkeit und die Vereinsfreiheit.
Recht ist kulturell verschieden
Das Recht ist dann das richtige Recht, wenn es den Wertvorstellungen der betroffenen Menschen entspricht. Insofern
kann das Recht, das wir heute in unserem Land als richtig und
gut beurteilen, nicht einfach auf frühere Zeiten oder andere
Kulturkreise übertragen werden. Das mittelalterliche Rechtssystem, das wir heute zum Teil als grausam empfinden, hatte
eine völlig andere Umwelt als die heutige.
Recht bedarf korrekter Form
Schliesslich legt das Recht fest, wie es geschaffen und
angewendet wird. Gesetzgebungs- und Gerichtsverfahren
sind geregelt und können nicht willkürlich verändert werden.
Das Recht garantiert damit den betroffenen Personen die
rechtliche Gleichbehandlung und einen fairen Prozess.
Meilensteine zur Entwicklung der
schweizerischen Rechtsordnung (Auszug)
Antike
vor 1291
1291
14.–19.Jh.
Die Römer haben im Altertum bereits für das alltägliche Leben eine
Rechtsordnung und Rechtsgrundsätze entwickelt, welche heute noch
gültig sind (z. B. PACTA SUNT SERVANDA – Verträge müssen erfüllt
werden, oder: IN DUBIO PRO REO – im Zweifel für den Angeklagten).
Die heutige Schweiz ist Teil des Heiligen Römischen Reiches Deutscher
Nation. Die Gerichtsbarkeit wird von kaiserlichen Beamten (Grafen,
Vögte) ausgeübt. In reichsunmittelbar erklärten Gebieten, gewährleistet
durch Freibrief, sitzt der einheimische Landammann zu Gericht.
Aus dem Bundesbrief: «… Wir haben beschlossen, dass wir in unseren
Tälern keinen Richter annehmen oder anerkennen wollen, der nicht
unser Landsmann ist.»
Nach dem 14. Jahrhundert bis ins 19. Jahrhundert zersplittert sich
das Recht anfänglich in zahlreiche Land- und Stadtrechte, später in
kantonale Rechtsordnungen.
1848
Entstehung des Bundesstaates mit Zentralgewalt, aber noch keine
Vereinheitlichung des Rechts.
1874
Totalrevision der Bundesverfassung. Der Bund erhält die Kompetenz
zur Schaffung eines einheitlichen Obligationenrechts und Schuldbetreibungs- und Konkursrechts.
1883
Das Obligationenrecht (OR) tritt in Kraft.
1889
Das Schuldbetreibungs- und Konkursgesetz (SchKG) tritt in Kraft.
1898
Teilrevision der Bundesverfassung. Der Bund erhält die Kompetenz zur
Gesetzgebung auf dem Gebiet des ganzen Privat- und des Strafrechts.
1912
Das Zivilgesetzbuch (ZGB) tritt in Kraft.
1942
Das Strafgesetzbuch (StGB) tritt in Kraft.
1948
Die Schweiz führt die Alters- und Hinterbliebenenversicherung (AHV) ein.
1966
Das Arbeitsgesetz tritt in Kraft.
1971
Einführung des Frauenstimm- und -Wahlrechts auf Bundesebene.
1999
Die bilateralen Vertäge I mit der EU treten in Kraft.
2000
Revision des 1988 revidierten Eheschliessungs- und Scheidungsrechts.
2000
Die neue Bundesverfassung tritt in Kraft.
2002
Die Schweiz tritt als 190. Mitglied der UNO bei.
2004
Die bilateralen Verträge II mit der EU treten in Kraft.
2008
Als Mitglied des «Schengen-Abkommens» hebt die Schweiz
die sytematischen Personenkontrollen an den Grenzen auf.
Ein Fall für Sie – Eine Einführung in die Rechtskunde
22
1.5
Die Rechtsquellen
Mit den Rechtsquellen werden die Fundorte des Rechts
bezeichnet. Zu ihnen gehören:
Neben dem Bund haben auch alle Kantone ihre eigene Rechtsordnung mit Kantonsverfassung, Gesetzen und Verordnungen.
Für das Verhältnis des Bundesrechts zum kantonalen Recht
gelten folgende Regeln:
Das geschriebene Recht
Verhältnis Bundesrecht und kantonales Recht
Die Schweiz kennt drei Stufen des geschriebenen Rechts:
1.
Bundesrecht bricht kantonales Recht, d. h. Bundesrecht geht dem kantonalen Recht vor.
2.
Die Kantone sind souverän (unabhängig), soweit
ihre Souveränität durch die Bundesverfassung nicht
eingeschränkt ist (Art. 3 der Bundesverfassung).
3.
Die Kantone werden in ihren öffentlich-rechtlichen
Befugnissen durch das Bundeszivilrecht nicht
beschränkt.
Verfassungsrecht
Die Bundesverfassung (BV) enthält die grundlegenden Regeln,
wie der Staat aufgebaut und organisiert ist. Im Weiteren regelt
sie das Verhältnis des Staates zu den Bürgern und Bürgerinnen
und deren Grundrechte. Eine Verfassungsänderung ist nur gültig,
wenn ihr eine Mehrheit des Volkes und der Stände (Kantone)
zustimmen (obligatorisches Referendum). Die Anregung dazu
kann von National- und Ständerat (parlamentarische Initiative),
von den Kantonen (Standesinitiative) oder von der Bevölkerung
(Volksinitiative) ausgehen.
Gesetzesrecht
Viele Verfassungsartikel können nicht unmittelbar angewendet,
sondern müssen in Gesetzen genauer ausgeführt werden.
Unter einem «Gesetz» ist eine Sammlung von Gesetzesartikeln
zu einem bestimmten Rechtsbereich zu verstehen. Gesetze
brauchen immer eine Verfassungsgrundlage. Änderungen
benötigen die Zustimmung des Parlamentes (gesetzgebende Behörde oder Legislative). Das Volk kann mit dem fakultativen
(= freiwilligen) Referendum eine Abstimmung verlangen.
Verordnungsrecht
Die Verordnungen enthalten konkrete, ins Detail gehende
Bestimmungen zur Anwendung der Gesetze. Verordnungen
werden durch die Behörden (Exekutive) erlassen und können
von diesen ohne Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger auch
abgeändert oder ausser Kraft gesetzt werden.
Das Gewohnheitsrecht
Gewohnheitsrecht beruht auf althergebrachten, langgeübten
Bräuchen. Noch heute gelten unter Flumser Bauern alte Tretund Weidrechte. Sobald im Winter der Boden gefriert, ist es den
Bauern erlaubt, ihre Holzstämme über die Nachbargrundstücke
zu führen, auch gegen den Willen eines Ferienhausbesitzers.
Auf solches Gewohnheitsrecht verweist ZGB 695. Die Regeln
sind, weil oft sehr alt, nicht schriftlich fixiert, aber sehr wohl von
der Gemeinschaft erzwingbar.
Im Rechtsalltag wird der Begriff «Gewohnheitsrecht» ab und
zu in Anspruch genommen. Tatsächlich hat aber diese Form von
Recht durch die zunehmend schriftliche Festlegung von Rechtsnormen ihren früheren Stellenwert verloren. Neue Gewohnheitsrechte entstehen kaum noch, denn Voraussetzung dazu ist, dass
es für alle Bewohner gültig ist und jedermann von diesem Recht
Gebrauch machen kann. Die Berufung eines Einzelnen auf
Gewohnheitsrecht reicht daher nicht aus, auch wenn dieser
jahrzehntelang etwas tun durfte.
Ursprung und Wesen des Rechts – 1.5 Die Rechtsquellen
23
Als bekanntes Gewohnheitsrecht gelten die Usanzen im
kaufmännischen Bereich, die je nach Branche etwas anders
aussehen können. Zum Beispiel gehen die Banken bei der
Berechnung von Zinsen immer von dreissig Tagen je Kalendermonat aus und Zinssätze ohne nähere Angaben beziehen sich
immer auf die Dauer eines Jahres.
Das gerichtliche Ermessen
Kommt ein Fall, der im geschriebenen Recht nicht ausdrücklich
geregelt ist, vor den Richter, ist dieser gezwungen, durch einen
Richterspruch die Lücke zu schliessen. Dabei hat er die Pflicht,
das geltende Recht und die allgemeinen Rechtsgrundsätze
(siehe nachfolgend) zu beachten und seine berufliche Erfahrung
unter Berücksichtigung aller berechtigten Interessen bestmöglich
einzusetzen.
Die Gerichtspraxis und die allgemein
anerkannte Lehre
Beispiel:
Um schneller und direkter zum Arbeitsplatz zu gelangen, benützt ein
Fabrikangestellter während mehr als dreissig Jahren eine Abkürzung
über die Wiese seines Nachbarn. Als dieser stirbt, verbieten die
Erben dem Arbeiter seine Gepflogenheit. Dagegen klagt der
Betroffene mit Berufung auf das Gewohnheitsrecht. Das Gericht
lehnt die Klage ab, da es sich hier um eine Duldung des Nachbarn
gehandelt habe. Dass kein Gewohnheitsrecht vorliege, so das
Gericht weiter, sei aus zwei Gründen ersichtlich: Erstens habe der
Grundstückbesitzer nicht jedermann erlaubt, seine Wiese als
Durchgangsweg zu benutzen, wie es auch in der Region nicht üblich
sei, die Wiesen der Bauern als allgemeine Verbindungswege der
Bevölkerung zur Verfügung zu stellen. Die Tatsache, dass der
Nachbar grosszügig dreissig Jahre nichts gegen die Überquerung
eingewendet habe, könne umgekehrt nicht ein Recht bei demjenigen
begründen, der davon profitierte. Der Nachbar bzw. dessen Erben
seien deshalb berechtigt, jederzeit ihre Eigentumsrechte am
Grundstück auszuüben und jeglichen Zutritt zu verbieten.
Gerichtsurteile haben eine grosse Bedeutung in der Rechtsordnung, weil sie zu den aktuellen Verhältnissen und Problemen
in der Gesellschaft Stellung beziehen. Gerichte können viel
schneller auf Neuerungen eintreten, während die Änderung oder
die Schaffung neuer Gesetzesbestimmungen viel länger dauert.
Grösste Bedeutung haben die Bundesgerichtsentscheide (BGE)
und die Entscheide des Eidgenössischen Versicherungsgerichts,
weil sie die höchsten gerichtlichen Instanzen in der Schweiz darstellen. Bei Entscheiden auf kantonaler Ebene ist nicht immer
klar, ob sie allgemein gültig sind, d. h. ob diese auch vor Bundesgericht bestehen würden.
Die Hochschulen und andere Forschungsstätten untersuchen
auf wissenschaftlicher Basis die Rechtsordnung. Mit ihren
Vorschlägen tragen sie zur Vereinheitlichung der Rechtsprechung auf allen Ebenen und in allen Bereichen bei. Die
theoretischen Beiträge finden in der gerichtlichen Praxis und bei
der Schaffung neuer Regelungen Beachtung und gelten deshalb
ebenfalls als Rechtsquellen.
Ein Fall für Sie – Eine Einführung in die Rechtskunde
24
1.6
Die Einteilung des Rechts
Die rechtlichen Regeln, welche in ihrer Gesamtheit die Rechtsordnung bilden, werden in öffentliches und privates Recht eingeteilt.
Das öffentliche Recht
Verhältnis zwischen
Bürger und Staat
sowie Völkerrecht
Das öffentliche Recht regelt das Verhältnis zwischen dem Staat
(Bund, Kanton, Gemeinde, öffentliche Institutionen, Behörden)
und den Personen im Staatsgebiet. Die Personen sind dem
öffentlichen Recht unterstellt (Machtmonopol des Staates).
Weiter umfasst das öffentliche Recht im Rahmen des Völkerrechts die internationalen Kontakte, die auf Bundesebene
geschlossen werden. Zu ihnen gehören bilaterale (zweiseitige),
multilaterale (mehrstaatliche) und internationale Staatsverträge
sowie Konventionen wie die der UNO-Menschenrechte.
Beispiele von Staatsverträgen:
bilateral: Schweiz – Europäische Union (EU)
multilateral: Mitgliedschaft in der OSZE, EFTA und WTO
international: Beteiligung an UNO-Werken (z. B. Unicef)
Das Privat- oder Zivilrecht
Verhältnis
der Bürger
und Bürgerinnen
untereinander
Das Zivilrecht regelt die Rechtsverhältnisse zwischen Personen.
Diese können im Rahmen der Rechtsordnung ihre Rechtsverhältnisse weitgehend frei gestalten. Das Privatrecht ist
im Wesentlichen im Schweizerischen Zivilgesetzbuch (ZGB)
festgehalten, dessen fünfter Teil, Obligationenrecht (OR)
genannt, regelmässig separat gedruckt wird. Das ZGB im
engeren Sinne (1.–4. Teil) befasst sich mit personen-, familien-,
erb- und sachenrechtlichen Fragen. Im OR ist der Vertrag
zentrales Thema (z. B. Kaufvertrag, Mietvertrag, Arbeitsvertrag,
Gesellschaftsvertrag).
Privates Recht wird auch dann angewendet, wenn der Staat
beispielsweise als Vermieter einer Wohnung oder Käufer von
Möbeln für ein staatliches Gebäude mit gleichberechtigten
Personen ein Rechtsgeschäft abschliesst.
Ursprung und Wesen des Rechts – 1.6 Die Einteilung des Rechts
25
Das Privatrecht basiert auf dem Prinzip der Gestaltungsfreiheit.
Die Parteien, die eine rechtliche Beziehung eingehen wollen,
sollen diese möglichst frei gestalten dürfen. Deshalb unterscheidet das Privatrecht zwischen zwingenden, ergänzenden
und relativ zwingenden (einseitig abänderbaren) Bestimmungen.
Arten von Gesetzesartikeln
zwingende Vorschriften und Regelungen
Zwingende Bestimmungen müssen von den Parteien in
jedem Fall berücksichtigt werden (z. B. Formvorschriften
beim Grundstückkauf / bei der Gründung einer AG,
gesetzliche Erfordernisse beim Ausstellen eines Checks,
Kündigungsrecht beim unbefristeten Arbeitsvertrag usw.).
Fehlen sie ganz oder teilweise, gilt die rechtliche Beziehung
vor einem Richter in vielen Fällen als nicht-existent.
ergänzendes oder dispositives Recht
Viele Bestimmungen im ZGB und im OR gelten nur dann,
wenn die Parteien keine eigene Verabredung getroffen
haben. Diese werden ergänzendes (dispositives) Recht
genannt und sind daran zu erkennen, dass sie die Klausel
«… wenn nichts anderes vereinbart …» (oder ähnliche
Formulierungen) enthalten.
relativ zwingende (einseitig abänderbare) Regelungen
Gesetzesartikel dieser Art treffen wir vor allem im Arbeitsvertrag an. Sie heissen auch «nur zugunsten von»Bestimmungen, weil sie nur zugunsten einer Partei
abänderbar sind. Zum Schutz vor Willkür bestimmt der
Gesetzgeber verschiedene Minimalkriterien, die erfüllt sein
müssen, damit der Arbeitsvertrag gültig ist. So hat beispielsweise jede/r vollzeitig beschäftigte Arbeitnehmer/in einen
Anspruch auf vier Wochen Ferien im Jahr (bis zum
zwanzigsten Lebensjahr fünf Wochen). Es können aber
auch mehr Ferien verabredet werden, nicht aber weniger
als die vier im Gesetz festgelegten Wochen.
Öffentlich-rechtliche Vorschriften sind zwingend und unter allen
Umständen einzuhalten.
Ein Fall für Sie – Eine Einführung in die Rechtskunde
26
1.7
Die Anwendung des Rechts
Die Festlegung rechtlicher Bestimmungen allein genügt noch
nicht, damit Recht gesprochen werden kann. Die allgemeinen
Rechtsgrundsätze in der Einleitung des Zivilgesetzbuches
(ZGB Art. 1–10) geben daher verbindlich an, unter welchen
grundsätzlichen Gesichtspunkten der Gesetzgeber die privatund öffentlich-rechtlichen Beziehungen beurteilt.
Damit die Rechtsfindung systematisch und für alle nachvollziehbar vor sich geht, ist es unter Fachleuten und an Gerichten
üblich, einen Fall oder ein Problem in die Aspekte «Sachverhalt,
Tatbestand und Rechtsfolge» aufzuteilen und jeden der drei
Gesichtspunkte einzeln zu beleuchten.
Die allgemeinen Rechtsgrundsätze
Bevor im Zivilgesetzbuch einzelne Bestimmungen zu konkreten
Rechtsbereichen wie zum Beispiel das Familienrecht oder der
Kaufvertrag zur Sprache kommen, erklärt das Gesetz, nach
welchen allgemeinen Rechtsgrundsätzen die Rechtsprechung
in der Schweiz erfolgt.
Viele Gelehrte und Praktiker des Rechts sind sich einig,
dass das tiefe Verständnis dieser zunächst abstrakt tönenden
Rechtsnormen ein wichtiger Bestandteil dessen ist, was in der
Umgangssprache mit dem «juristischen Gespür» bezeichnet
wird. Das hängt damit zusammen, dass alle Titel des ZGB auf
dem Grundgerüst der Einleitungsartikel aufbauen. Dies muss so
sein, sonst würden sich einzelne Regelungen widersprechen.
Die Aussagen dieser Einleitungsartikel gelten zwar für das
Privatrecht, ihre Bedeutung geht aber aus Gründen der
Vereinheitlichung weit darüber hinaus.
Ursprung und Wesen des Rechts – 1.7 Die Anwendung des Rechts
27
ZGB 1 und 4
Bösgläubig ist, wer absichtlich eine Situation ausnutzt, eine
Täuschung vornimmt oder lügt, um sich auf Kosten anderer einen
Vorteil zu verschaffen. Der Grundsatz schützt zwar den Bürger
vor willkürlichen Verdächtigungen. Andererseits entbindet ihn
das Gesetz nicht davon, sorgfältig zu prüfen, welche Rechtshandlungen er eingeht. Beispiel:
Anwendung der Rechtsquellen
Für die Beurteilung von Rechtsfragen stehen den Rechtsanwendern die Rechtsquellen zur Verfügung. Es sind dies der Wortlaut
des Gesetzes (geschriebenes Recht), das gerichtliche Ermessen
(Lückenfüllung), das Gewohnheits-recht und die allgemeine
Lehre (Theorie).
ZGB 2, Abs. 1
Handeln nach Treu und Glauben
Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln. Bei der
gesamten Rechtsausübung werden damit die Redlichkeit und
das Vertrauensprinzip in den Vorder-grund gerückt. Dies gilt für
das allgemeine Verhalten von staatlichen Organen und von
Privatpersonen bei Auskünften, Belehrungen, Verhandlungen,
für den Abschluss, die Auslegung und Ergänzung von Verträgen
und für die Anwendung gesetzlicher Bestimmungen. Sich nach
Treu und Glauben (oder in guten Treuen) zu verhalten bedeutet
also, sich so zu benehmen, wie es von einem anständigen,
pflichtbewussten Menschen erwartet werden darf.
ZGB 2, Abs. 2
ZGB 3, Abs. 2
Rechtsunkenntnis schadet
Mündige, also selbst verantwortliche Bürger und Bürgerinnen
sind verpflichtet, das Gesetz zu kennen. Sich darauf zu berufen,
eine Rechtsnorm nicht zu kennen, nützt vor einem Gericht wenig.
Wie weit diese Kenntnis gehen muss, ist im Einzelfall verschieden. Gewiss ist, dass nur ganz selten ein Gericht eine Unkenntnis schützt, indem es davon ausgeht, der Betroffene habe «im
Prinzip gutgläubig» gehandelt. Deshalb ist es ratsam, bei einer
fachkundigen Auskunftsperson Rat einzuholen, bevor man eine
wichtige Rechtshandlung unternimmt.
Rechtsmissbrauch findet keinen Rechtsschutz
Ebenfalls im Artikel 2 ZGB präzisiert der Gesetzgeber, dass das
Beharren auf einer Gesetzesnorm dann rechtsmissbräuchlich ist,
wenn ein Verstoss gegen den Grundsatz von Treu und Glauben
vorliegt. Bekannt ist dieser Umstand unter dem Ausspruch: «Im
Recht gibt es keine Buchstaben-gerechtigkeit». Beispiel:
Ein Arbeitnehmer kann auf sein Recht für die gesetzlichen Ferien nicht verzichten (vgl. dazu Kapitel 6, «Verträge auf Arbeitsleistung»). Wenn er es trotzdem tut, aber erst viele Jahre später gegen den Arbeitgeber Klage einreicht,
müsste er nach dem Gesetzeswortlaut den Prozess gewinnen. Indessen wird
allenfalls seine Klage trotzdem abgewiesen, weil sein Vorgehen nach langem
Dulden und Zuwarten als rechtsmissbräuchlich angesehen werden muss.
ZGB 3, Abs. 1
Wer ein teures Collier mit echten Brillanten auf der Strasse kauft, ist nicht gutgläubig, denn er muss damit rechnen, dass es sich um Diebesgut handelt.
Kauft jemand aber dasselbe Collier im Juweliergeschäft, ist der Kauf gültig,
denn der Kunde darf davon ausgehen, dass die Ware einwandfrei ist. Er hat
also gutgläubig gehandelt.
Der gute Glaube wird vermutet
Ein Gericht geht grundsätzlich davon aus, dass die Streitparteien
gutgläubig, d. h. korrekt und redlich gehandelt haben. Wer dies in
Frage stellt, muss einen stichhaltigen Beweis dafür liefern. Damit
soll verhindert werden, dass jemand seine Unschuld beweisen
muss.
ZGB 8
Beweislast
Die Frage, wer einen Beweis zu erbringen hat, ist in der Rechtsprechung sehr bedeutsam. Normalerweise behauptet jemand
nicht zum Spass etwas, sondern weil er aus der Behauptung
einen Nutzen ziehen will. Deshalb gilt im Privatrecht der Grundsatz, dass derjenige, der einen Anspruch auf ein Recht erhebt,
diesen auch beweisen muss.
ZGB 9 und 10
Beweiskraft öffentlicher Register und Urkunden
Gerichte akzeptieren Einträge in öffentliche Register (z. B. Grundbuch, Handelsregister) und Schriftstücke, die z. B. ein Notar
unterzeichnet und damit beglaubigt hat, als Beweise.
Wer sich ausserhalb der Rechtsordnung bewegt, kann sich nicht
auf das Gesetz berufen. Wenn beispielsweise jemand ein
illegales Geschäft wie Menschen- oder Drogenhandel tätigt,
kann er bei Problemen nicht ans Gericht gelangen, nach der
Faustregel: «Wo kein Kläger ist, da ist auch kein Richter.»
Ein Fall für Sie – Eine Einführung in die Rechtskunde
28
Sachverhalt, Tatbestand und
Rechtsfolge
Viele Rechtsnormen, sowohl des öffentlichen wie des privaten
Rechts, sind uns so geläufig, dass wir sie völlig unbewusst
befolgen. Es kann aber vorkommen, dass wir doch einmal wissen
müssen, welche Rechte und Pflichten wir gemäss Gesetz haben,
und deshalb darin nachschlagen. Dann stellen wir fest, dass das
Gesetz nicht immer leicht verständlich ist. Sogar die Juristen sind
sich über den Gehalt eines Artikels oft nicht einig. Dies kommt
zum Teil daher, dass viele Gesetze recht alt sind.
Wichtiger aber ist, dass die Gesetzesartikel für möglichst viele
Situationen, die im täglichen Leben vorkommen, gelten.
Deshalb sind die Texte oft sehr allgemein (abstrakt) formuliert,
wie beispielsweise die allgemeinen Bestimmungen des
Obligationenrechts (OR Art. 1–183).
Wie Rechtsfälle in der Praxis strukturiert, angegangen und
bearbeitet werden, soll die Aufteilung rechtlicher Probleme in
«Sachverhalt, Tatbestand und Rechtsfolge» zeigen.
Sachverhalt
Eine konkrete Situation, ein Lebensvorgang, etwas, das sich
ereignet hat und gleichzeitig von rechtlicher Bedeutung ist, wird
in der Rechtslehre Sachverhalt genannt. Der Unterschied zu
einer blossen Erzählung eines Ereignisses ist der, dass beim
Sachverhalt nur interessiert, was für die rechtliche Beurteilung
wichtig ist. Wer beispielsweise nach einem Autounfall mit
tödlichem Ausgang geweint hat und wie viele Schaulustige dabei
gewesen sind, spielt für einen Zeitungsjournalisten eine Rolle,
nicht aber für die ermittelnde Polizei. Sie hat die Pflicht, die
rechtlich bedeutsamen Tatsachen und Beweise zu sammeln
(= den Sachverhalt zu bestimmen), damit ein Gericht die
Schuldfrage beurteilen kann.
Ursprung und Wesen des Rechts – 1.7 Die Anwendung des Rechts
29
In allen Bereichen des Rechts gibt es eine unendliche Zahl
vorhersehbarer und unvorhersehbarer Sachverhalte. Beispielsweise können bei Warenlieferungen unzählige verschiedene
Arten von Mängeln auftreten. Alle sollten in der Rechtsordnung
erfasst sein. Für jeden einen eigenen Rechtssatz zu schaffen,
ist aber unmöglich. Das Gesetz muss sich deshalb allgemein
fassen: Mehrere denkbare Sachverhalte werden einem Rechtssatz zugeordnet.
Bestimmen von Rechtssätzen: Tatbestand und Rechtsfolge
Gesetzesregeln heissen Rechtssätze.
Ein Rechtssatz besteht meist aus einem Tatbestand und einer
Rechtsfolge. Der Tatbestand formuliert die Bedingungen (wenn ...),
damit eine Rechtsfolge (dann ...) eintritt. Ein Tatbestand setzt
sich oft aus mehreren Elementen, den Tatbestandsmerkmalen,
zusammen.
Beispiel:
Damit nach OR 21 der Tatbestand einer Übervorteilung erfüllt ist,
müssen die folgenden Tatbestandsmerkmale gegeben sein:
offenbares Missverhältnis zwischen Leistung und
Gegenleistung
Ausbeutung einer Notlage, Unerfahrenheit oder Leichtsinn
Bei der Rechtsanwendung geht es darum, für einen gegebenen
Sachverhalt den zutreffenden Tatbestand im Gesetz zu finden.
Ist der Artikel bestimmt, muss geprüft werden, ob durch den
Sachverhalt alle im Rechtssatz genannten Tatbestandsmerkmale
erfüllt sind (Tatbestandsermessen).
Erst dann kann die im Rechtssatz vorgesehene Rechtsfolge im
Rahmen des Rechtsfolgeermessens eintreten.
Ein Fall für Sie – Eine Einführung in die Rechtskunde
30
1.8
Umgang mit
Konflikten
Der Prozess
Der Zivilprozess
Das Verfahrensrecht
Wo Menschen zusammenleben, entstehen Konflikte. Die meisten
lösen die betroffenen Personen selber. Wenn dies jedoch misslingt, stellt der Staat ein Konfliktlöseverfahren zu Verfügung,
das Verfahrensrecht. Es ist nicht nur dazu da, in zivilrechtlichen
Fragen Lösungen zu erbringen. Immer wieder kommt es vor,
dass Einzelne gegen die Ordnung des öffentlichen Rechts
verstossen. In diesen Fällen muss der Staat unter dem Einsatz
der ihm zur Verfügung stehenden Mittel das Recht durchsetzen.
Der Prozess ist ein Rechtsstreit, der vor einem Gericht oder einer
Behörde ausgetragen wird. Das Urteil des Gerichtes entscheidet
den Rechtsstreit.
Die Gerichtsinstanzen
In einem Rechtsstaat können Entscheide unterer Gerichte oder
Behörden meistens an ein höheres Gericht zur Neubeurteilung
weitergezogen werden. So gibt es Prozesse, die von zwei
oder drei Instanzen entschieden werden. Höchste richterliche
Instanz in der Schweiz ist das Bundesgericht in Lausanne, für
versicherungstechnische Fragen das eidgenössische Versicherungsgericht in Luzern. Strafurteile werden höchstinstanzlich am
Bundesstrafgericht in Bellinzona entschieden. Die Entscheide,
die ein Bundesgericht fällt, sind endgültig.
Die Prozessarten
Entsprechend der Gliederung der Rechtsordnung unterscheiden
wir grundsätzlich vier Prozessarten:
Rechtsstreit
zwischen
Bürger und Bürger
Der Zivilprozess hat zum Ziel, einen privatrechtlichen Streit zu
entscheiden. Der Richter soll feststellen, welche Partei Recht hat.
Beteiligt sind zwei private Parteien, wobei die eine Partei (Kläger)
vom Beklagten ein Tun, ein Unterlassen oder ein Dulden
fordert, während dieser die Forderung des Klägers bestreitet.
1.Friedensrichter
Vor der Klage beim Zivilgericht ist die Streitsache dem Vermittler
(Friedensrichter) vorzulegen. Dieser versucht, mit den Parteien
eine einvernehmliche Lösung des Rechtsstreites herbeizuführen.
2.Bezirks-/
Amtsgericht
Erst wenn dieser Schlichtungsversuch scheitert, kann der Kläger
an das Bezirks- bzw. Amtsgericht gelangen.
Die Parteivertreter (Anwälte) des Klägers und des Beklagten
haben in ihren Eingaben ihre Klagebegehren (Anträge) vorzubringen und zu begründen. Im Gegensatz zum Strafprozess
wird der Sachverhalt nur aufgrund der vorgebrachten und
bewiesenen Standpunkte ermittelt; das Gericht darf sich lediglich
mit dem befassen, was die Parteien vorbringen. Das Gericht
entscheidet aufgrund der Anträge. Es heisst entweder den
Antrag der Klagenden gut und weist denjenigen der Beklagten
ab, oder es entscheidet zugunsten der Beklagten.
3.Ober-/
Kantonsgericht
Beide Parteien haben die Möglichkeit, gegen das Urteil Berufung
beim Obergericht (Kantonsgericht) einzulegen, wo der Streit
nochmals neu ausgetragen wird. Das Anrufen der höheren
Instanz ist auch unter den Fachausdrücken «Appellation» oder
«in Revision gehen» bekannt.
4.Bundesgericht
Gegen einen Obergerichtsentscheid kann beim Bundesgericht in
Lausanne geklagt werden. Die jeweils fünf zuständigen Richter
beurteilen einen Streit jedoch nur durch ein Aktenstudium, es gibt
also keinen neuerlichen Prozess. Ihr Entscheid ist im Normalfall
endgültig und verbindlich.
Strafprozess
Zivilprozess
Verwaltungsverfahren
Schuldbetreibungs- und Konkursverfahren
Gerichtsstand:
für Zivilprozesse im
Gerichtsstandsgesetz
(GestG) geregelt
Zivilrechliche Klagen sind grundsätzlich dort einzuleiten, wo die
beklagte Partei wohnt oder ihren Sitz hat. Wo das Gesetz es
nicht anders bestimmt, sind abweichende Regelungen schriftlich
zu verfassen. Ausnahmen dazu sind unter anderen:
1. Wohnungsmieter müssen zwingend die Schlichtungsstelle
anrufen, wo sich das Mietobjekt befindet.
2. Für Klagen aus unerlaubter Handlung ist das Gericht am
Wohnsitz oder Sitz der geschädigten Person oder der beklagten
Partei oder am Handlungsort zuständig.
Ab und zu wird ein Streit noch vor den europäischen Gerichtshof
für Menschenrechte in Strassburg (Frankreich) gezogen, falls sich
eine Partei in ihren Menschenrechten beschnitten sieht. Dessen
Urteil ist zwar für die Schweiz nur bindend, wenn die Legislative
es kassiert (gutheisst). Auch wenn dies ausbleibt, sind die Urteile
in vielen Fällen für die Rechtsprechung wegweisend.
Ursprung und Wesen des Rechts – 1.8 Das Verfahrensrecht
31
Der Strafprozess
Öffentlich-rechtliche
Ahndung strafbarer
Handlungen
Strafbare
Handlungen
Der Strafprozess ist eine Auseinandersetzung zwischen Staat
und Bürger, also Teil des öffentlichen Rechts. Das zuständige
Gericht befasst sich mit den Verstössen gegen die Strafgesetzgebung. Diese ist hauptsächlich im Strafgesetzbuch (StGB)
erfasst. Daneben enthalten auch andere Gesetze strafrechtliche
Normen (z. B. das Strassenverkehrsgesetz). Das Strafgesetzbuch nennt unter anderen die folgenden strafbaren Handlungen:
gegen Leib und Seele (Mord, Totschlag, fahrlässige Tötung,
Körperverletzung)
gegen das Vermögen (Diebstahl, Entwendung, Raub,
Veruntreuung, Unterschlagung, Hehlerei)
gegen Ehre und den Geheim- oder Privatbereich
(Ehrverletzung: üble Nachrede, Verleumdung)
Diebstahl:
Bis 300 Franken geringfügig
Lausanne sda. Das Bundesgericht hat
den Grenzwert für geringfügige
Vermögensdelikte bei 300 Franken
festgelegt. Bis zu diesem Betrag wird
der Griff auf fremdes Hab und Gut
grundsätzlich als blosse Übertretung
behandelt.
delikten und ein Abbau des Unrechtbewusstseins.
Bei seinem Entscheid für die 300 Franken-Limite räumt das Bundesgericht
ein, einer solchen Grenzziehung möge
etwas Zufälliges anhaften.
Mit der Limite setzt das oberste Gericht
den kantonalen Unterschieden ein Ende.
In ihrem Grundsatzentscheid haben die
fünf Richter die Grenze der Bagatellkriminalität zwischen die kantonalen
Extreme gelegt. Bis zu einem Deliktsbetrag von 500 Franken spielte der
Tatbestand des geringfügigen
Vermögensdelikts in der Zentralschweiz
und in Basel-Stadt. Anderswo lag die
praktisch wichtige Limite des 1995
eingefügten Artikels 172ter des Strafgesetzbuches bei 200 Franken oder
tiefer.
Für die einheitliche Rechtsanwendung
sei sie aber unvermeidlich. Im Fall des
Lederjackendiebs spielte die Limite eine
untergeordnete Rolle. Fällte das Gericht
eine achttägige Haftstrafe, so forderte
die Staatsanwaltschaft zehn Tage.
Am Anfang des klärenden Richterspruchs stand der Diebstahl einer Lederjacke im Wert von 398 Franken in einem
Basler Kleidergeschäft. Die Staatsanwaltschaft wehrte sich beim Bundesgericht dagegen, dass dieses Delikt als
geringfügig taxiert wurde. Werde der
Grenzwert so hoch angesetzt, so drohe
eine Bagatellisierung von Vermögens-
Der Grenzwert ist nicht so wesentlich
für das Strafmass, das auch bei geringfügigen Diebstählen, Veruntreuungen
oder Hehlerei bis zu drei Monaten Haft
betragen kann. Wichtiger ist in der Praxis, dass geringfügige Vermögensdelikte
nur auf Antrag der Geschädigten verfolgt
werden. Zudem geht straflos aus, wer
einen geringfügigen Diebstahl versucht
oder wer sich am Delikt als Gehilfe
beteiligt.
gegen die Freiheit (Nötigung, Freiheitsberaubung,
Entführung, Geiselnahme)
gegen Sittlichkeit (Notzucht, Unzucht)
gegen den Staat und die Landesverteidigung (Hochverrat,
verbotener Nachrichtendienst)
Keine Strafe
ohne Gesetz
Strafbar ist jedoch nur, wer eine Tat begeht, die das Gesetz ausdrücklich mit Strafe bedroht (Art. 1 StGB).
Offizialdelikte und
Antragsdelikte
Zum Strafprozess kommt es, wenn der Staatsanwalt als Vertreter
des Staates unter Mithilfe der Behörden (Polizei, Untersuchungsrichter) gegen einen beschuldigten Täter Anklage erhebt.
Schwere Delikte, z. B. Mord, Diebstahl, Raub, Landesverrat,
muss der Staat von Amtes wegen verfolgen (Offizialdelikte).
Leichtere Vergehen, z. B. fahrlässige leichte Körperverletzung,
Ehrverletzung, werden nur geahndet, wenn die Betroffenen
Anzeige erstatten (Antragsdelikte).
Ein Fall für Sie – Eine Einführung in die Rechtskunde
32
1.Polizeiliche
Ermittlung
2.Voruntersuchung
(Untersuchungsrichter)
Zweck des Strafprozesses ist die Feststellung der Schuld bzw.
Unschuld des Angeklagten. Um auf Schuld oder Unschuld eines
Angeklagten schliessen zu können, ermittelt das Gericht von
Amtes wegen den Sachverhalt, versucht also, den Tathergang
unter anderem mit Hilfe der polizeilichen Erkenntnisse genau zu
rekonstruieren (Untersuchungsmaxime).
Zu diesem Zweck bringen Staatsanwalt und Verteidiger Beweise,
Indizien und Zeugenaussagen vor. Besteht Fluchtgefahr oder
der begründete Verdacht, dass der Beschuldigte Beweismaterial
beseitigen könnte, wird er schon während der Ermittlung in
Untersuchungshaft gesteckt. Nach der Voruntersuchung muss
es zur Anklage kommen oder das Verfahren wird eingestellt.
3.Hauptverfahren
vor Strafgericht
Vor Gericht sind der Staatsanwalt und der Verteidiger des
Angeklagten die Streitparteien. Jede Seite hat die Möglichkeit,
ihren Standpunkt mittels beweiskräftiger Mittel und Argumente
darzulegen. Schliesslich kommt es zum Richterspruch. Erkennt
das Gericht auf schuldig, wird der Täter zu der im Gesetz vorgesehenen Strafe (Geld- oder Freiheitsstrafe) verurteilt. Dabei
ist zu beachten, dass das Gericht nur dann einen Täter bestrafen
darf, wenn dessen Tat als strafbare Handlung im Gesetz erfasst ist.
4.Verurteilung
oder Freispruch
Bei der Höhe des Strafmasses lässt das Gesetz dem Gericht ein
relativ grosses Ermessen: Das Gericht kann deshalb bei der Strafbemessung neben der Schwere der Tat die persönlichen Umstände des Täters (Alter, Erziehung, Reue, Rückfälligkeit usw.)
angemessen berücksichtigen. Nicht im Strafprozess, sondern in
einem neu zu beantragenden Zivilprozess werden allfällige
Entschädigungsansprüche von Verbrechensopfern entschieden.
evtl.: 5.Appellation
vor Obergericht und
Bundesstrafgericht
«In dubio pro reo»
Wie im Zivilprozess können Staatsanwaltschaft und Verteidigung
Urteile beim Obergericht (Kantonsgericht) und anschliessend beim
Bundesgericht, dem Bundesstrafgericht in Bellinzona anfechten.
Eine Schlüsselrolle im Strafprozess nimmt der Grundsatz
«In dubio pro reo» (Im Zweifelsfalle für den Angeklagten) ein.
Wenn der Angeklagte kein gültiges Geständnis ablegt, die ihm
vorgeworfene Tat begangen zu haben, ist der Staatsanwalt
verpflichtet, eindeutige Beweise für die Straftat zu erbringen.
Erst dann gilt der Tatverdächtige als überführt. Gelingt dies dem
Ankläger nicht, muss das Gericht den Angeklagten freisprechen.
Das Jugendstrafrecht
Im Jugendstrafrecht sowie in den jeweiligen
kantonalen Bestimmungen, die das Jugendstrafverfahren betreffen, ist geregelt, welche
rechtliche Folgen es hat, wenn Minderjährige straffällig werden. Bezüglich der Frage,
welche Tatbestände überhaupt strafrechtlich
sanktioniert werden, gelten für Minderjährige
weitgehend dieselben Regelungen wie für
Erwachsene.
«Das Jugendstrafrecht ist ein Sonderstrafrecht». Beim Jugendstrafrecht handelt
sich um ein Täterstrafrecht, bei welchem die
Person des Kindes oder des Jugendlichen
im Vordergrund steht. Es bezweckt die
Rückfallprävention, die Förderung sowie die
soziale Eingliederung des Täters. Dies wird
in erster Linie mittels angemessener Einflussnahme angestrebt.
Welche Reaktionen im Einzelfalle geboten
erscheinen, richtet sich nach dem Grundgedanken des Jugendstrafrechts, also nach
der Persönlichkeit des betroffenen Jugendlichen und nicht nach der Schwere der begangenen Tat oder des Verschuldens.
Das Gesetz unterscheidet zwei verschiedene Tätergruppen minderjährigen Alters:
• erzieherisch besonders betreuungsbedürftige oder therapeutisch behandlungsbedürftige StraftäterInnen
• erzieherisch ("normale") StraftäterInnen.
Aufgrund dieser Regelung unterscheidet
das Jugendstrafrecht weiter zwischen
Schutzmassnahmen und der Strafe. In der
Praxis lässt sich diese Unterscheidung jedoch nicht so klar ziehen.Vielfach erscheint
eine Kombination dieser Rechtsfolgen
zweckmässig. Bei der überwiegenden Zahl
der Bagatellfälle im Jugendstrafrecht – insbesondere im Bereich von Strassenverkehrsübertretungen, beim Schwarzfahren
oder bei kleineren einmaligen Ladendiebstählen – ist es in der Praxis schlicht nicht
möglich und auch nicht erforderlich, bei jedem einzelnen Jugendlichen eine vertieftere Abklärung zur Person anzuordnen.
«Strafe muss sein!» – Das gilt auch für
Kinder und Jugendliche. Doch welches ist
die «richtige»? Im Jugendstrafrecht gibt es
verschiedene Massnahmen, wobei es jedem Kanton vorbehalten ist, eigene
Regelungen zu treffen (Strafrechtspflege).
Häufig wird aber eine Kombination von
Massnahmen als sinnvoll angesehen:
Strafen
Verweis, Busse, Persönliche
Leistung, Freiheitsentzug
Ambulante
Massnahmen
Aufsicht, Persönliche Betreuung, Ambulante Betreuung,
Anti-Aggressivitätstraining
Stationäre
Massnahmen
Beobachtungsstation, Unterbringung, Massnahmezentrum
für junge Erwachsene, Familienplatzierung
Ursprung und Wesen des Rechts – 1.8 Das Verfahrensrecht
33
«Verstehen, was nicht in Ordnung ist!»
Grundsätzlich geht es im Jugendstrafrecht
darum, dass betroffene Minderjährige verstehen lernen, weshalb ihre Handlungsweise nicht in Ordnung ist, dass ihnen klare
Grenzen gesetzt und – falls erforderlich –
auch die notwendigen pädagogischen oder
therapeutischen Hilfen angeboten werden.
Entscheidend dabei ist, dass dieser pädagogische Ansatz nicht ständig auf Kosten
von immer mehr juristischen Bestimmungen erschwert oder gar blockiert wird.
Seit es den Menschen gibt, existiert auch
die Strafe. Die Strafe wurzelt im urmenschlichen Bedürfnis, für erlittenes Unrecht Vergeltung zu üben, sich am Schuldigen zu rächen, ihn aber auch in Bezug auf zukünftiges Verhalten abzuschrecken und die
eigene Macht zu demonstrieren.
Geändert hat sich im Wandel der Zeit in der
westlichen Welt vor allem die Strafkompetenz, also das eigentliche Strafrecht: Lag es
ursprünglich beim Verletzten selber oder
beim Sippen- resp. Familienoberhaupt (Römer, Germanen), so wurde das Strafen ab
dem Mittelalter zunehmend eine staatliche,
öffentliche Angelegenheit.
0–9 Jahre
Kleinkinder sind grundsätzlich nicht strafmündig. Falls ein Kleinkind eine strafbare Handlung begehen sollte, bei welchem sich Massnahmen aufdrängen, können
diese im Rahmen des Vormundschaftsrecht vollzogen werden.
10–14 Jahre
Für Jugendliche im Alter von 10-14 Jahren sind die Rechtsfolgen noch weniger
gravierend. Teilweise gelten auch andere Verfahrensregelungen
18–25 Jahre
Öffentlich-rechtliche
Belange und
Antragsverfahren
Was im Privatrecht Verträge und Lizenzen sind, heisst im
öffentlichen Recht Bewilligungen und Konzessionen. Der Staat
(je nach Gegenstand oder Anlass Bund, Kanton oder Gemeinde)
wacht über die ihm übertragenen Aufgaben. Es ist aber weder
sinnvoll noch möglich, mit allen Bürgern individuelle Verträge
abzuschliessen. Stattdessen haben die Bürger die Möglichkeit,
beim Staat Anträge zu stellen, deren Inhalte zum Teil sehr
verschieden sind. Die zuständigen Behörden beurteilen diese
und fällen nach genau vorgeschriebenen Kriterien ihre Entscheide, auch Verfügungen genannt: sie veranlagen Steuern, erteilen
oder verweigern Baubewilligungen, stellen Führerausweise aus
und entziehen sie bei einem Fehlverhalten wieder, sprechen Fürsorgeleistungen zu, befinden über die Erteilung einer Konzession
für die Betreibung eines Taxiunternehmens oder
eines privaten Radiosenders usw.
Rekursmöglichkeit
bei vorgesetzten Behörden
Die betroffenen Personen können derartige Verfügungen der
Behörden mit einem Rekurs oder einer Beschwerde anfechten.
Im Gegensatz zum Zivil- und Strafprozess gelangt der Rekurrent (Beschwerdeführer) in den unteren Instanzen nicht an ein
Gericht, sondern an eine vorgesetzte Behörde. So kann beispielsweise die Verweigerung einer Baubewilligung durch die
Baukommission zuerst beim Gemeinderat und anschliessend
beim Regierungsrat angefochten werden.
In der Schweiz entstehen die ersten Vorentwürfe für ein gesamtschweizerisches
Jugendstrafrecht Ende des 19. Jahrhunderts.
Zuerst wurde nur die Strafmündigkeit diskutiert. In der endgültigen Fassung von 1937
(in Kraft seit 1942) regeln dann aber doch
rund 20 Bestimmungen die Besonderheiten
der Behandlung jugendlicher Delinquenten.
Seither wurde das Jugendstrafrecht verschiedentlich revidiert. Das aktuelle Jugendstrafrecht ist seit 2007 in Kraft.
Ab wann gilt’s ernst? – Die vier Alterskategorien des Jugendstrafrechts
15–18 Jahre
Das Verwaltungsverfahren
Bei Jugendlichen zwischen 15-18 Jahren sind aufgrund ihres Alters bereits
strengere Rechtsfolgen möglich..
Für junge Erwachsene gilt grundsätzlich das Erwachsenenstrafrecht. Allerdings
kann diese Personengruppe in gewissen Bereichen noch nach milderen Massstäben bestraft werden.
Verwaltungsgericht
und Bundesgericht
Erst in dritter Instanz befasst sich das Verwaltungsgericht mit der
Angelegenheit. Als letzte Instanz entscheidet das Bundesgericht.
Rechtsmittelbelehrung
Damit der Beschwerdeführer weiss, wohin er seine Beschwerde
richten muss, ist jede Verfügung mit einer Rechtsmittelbelehrung
zu versehen. Innerhalb der dort angegebenen Frist kann eine
Einsprache erfolgen. Wer sie versäumt, hat sein Beschwerderecht verwirkt.
Ein Fall für Sie – Eine Einführung in die Rechtskunde
34
Übersicht zum Verfahrensrecht
(Prozessarten)
1.9
Internationales Privatrecht (iPR)
Der allgemeinen Entwicklung der letzten
Jahrzente folgend haben die internationalen
Beziehungen und Verflechtungen auch im
Privatrecht zugenommen. Früher standen vor
allem Handelsbeziehungen und -geschäfte
mit ausländischen Partnern im Vordergrund
und betrafen damit hauptsächlich die in der
Schweiz im Obligationenrecht OR geregelten
Vertragstypen Kauf, Miiete, Werkvertrag und
Auftrag. Im internationalen Umfeld stark an
Bedeutung gewonnen haben mittlerweile aber
auch die im Zivilgesetzbuch ZGB festgehaltenen familien-, ehe-, kindes- und erbrechtlichen
Themen.
Alle diesbezüglichen Fäden laufen im Bundesamt für Justiz in der «Sektion für internationales Privatrecht» zusammen. Ihrer Homepage
entnehmen wir folgende Ausführungen:
«Das internationale Privatrecht umfasst die
Gesamtheit der Rechtsnormen, welche
privatrechtliche Rechtsbeziehungen (Personenrecht, Familienrecht, Erbrecht, Vertragsrecht, Gesellschaftsrecht usw.) mit internationalem Charakter regeln. Es beantwortet
hauptsächlich folgende Fragen: welches nationale Recht ist anwendbar?, welches Gericht
ist zuständig?, unter welchen Bedingungen
kann ein Entscheid, der in einem Staat gefällt
wurde, in einem anderen Staat anerkannt
und vollstreckt werden?»
Im Bundesamt für Justiz nimmt die Sektion
internationales Privat- und Zivilprozessrecht
(IPR) sowohl auf interner als auch auf internationaler Ebene Gesetzgebungsaufgaben wahr.
International nimmt sie an der Aushandlung
von Staatsverträgen teil und vertritt die
Schweiz im Rahmen verschiedener Gremien
wie der Haager Konferenz für internationales
Privatrecht, der UNO-Kommission für internationales Handelsrecht (UNCITRAL) oder auch
des Europarates.
Sie führt zudem das Sekretariat des «Ständigen Ausschusses» des Übereinkommens vom
16. September 1988 über die gerichtliche
Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Lugano - Übereinkommen).
Daneben betreut die Sektion IPR Rechtsanwendungsaufgaben wie zum Beispiel diejenige als «Zentralbehörde internationale
Alimentensachen», oder – in Zusammenarbeit
mit der Abteilung Internationale Rechtshilfe –
diejenige als «Zentralbehörde internationale
Rechtshilfe in Zivilsachen».
In ihrem Bereich ist die Sektion Fachinstanz
für Gerichte und Verwaltungsbehörden des
Bundes und der Kantone und beantwortet
entsprechende Anfragen dieser Stellen.
Sie ist besonders im Bereiche der internationalen Erbschaften aktiv (vgl. zum Beispiel
das in Zusammenarbeit mit dem Eidg. Amt
für Grundbuch- und Bodenrecht erstellte
Dokument «Ausländische Erbfolgezeugnisse
als Ausweis für Eintragungen im schweizerischen Grundbuch»). Soweit es sich um die
Behandlung von Fragen betreffend internationale Adoptionen und internationale Kindesentführungen handelt, so ist der «Dienst für
internationalen Kindesschutz» als Zentralbehörde in diesen Bereichen tätig
([email protected]).
Die Sektion gibt schliesslich in ihrem Zuständigkeitsbereich Auskunft über den Stand der
Ratifikation multilateraler Übereinkommen,
denen die Schweiz beigetreten ist, sowie über
die bilateralen Übereinkommen zwischen der
Schweiz und einem Drittstaat.»
(www.admin.ch unter dem Suchbegriff
«Internationales Privatrecht»)
Ursprung und Wesen des Rechts – Aufgaben und Übungen – 1.1. Was ist «Recht»?
35
Aufgaben und Übungen zu Kapitel 1
1.1
b)
Was ist «Recht» und wie hat es sich
entwickelt?
Welche Idee, genauer: welche staatspolitische Konstruktion
musste sich in einem Staat zuerst durchsetzen, bevor Grund- und
Bürgerrechte zur Grundlage der Rechtsordnung werden konnten?
Die Gewaltenteilung
Lernziele
Sie können
▪ die Entstehung einer Rechtsordnung beschreiben
c)
▪ den Zusammenhang zwischen Gewaltenteilung und der
Durchsetzung der Grundrechte und der Bürgerrechte
erkennen
1.1.1
Diejenigen, die die Macht inne hatten, konnten uneingeschränkt selber festlegen, wer zu bestimmen hatte und
wem die Güter (der Wohlstand) des Landes zustanden.
X
b)
Das Recht wurde so festgelegt, dass es in erster Linie
den Machtinhabern und ihren Nahestehenden, den
Verwandten und Freunden, diente.
X
c)
Das Recht wurde von den Machtinhabern so festgelegt,
dass Gegner rigoros ausgeschaltet werden konnten, die
selber an die Macht gelangen wollten oder die eine andere (gerechtere) Ordnung forderten.
X
d)
Wer die Macht im Staat in Frage stellte, wurde mit Prügelstrafe, Gefängnis, Hinrichtung, Verbannung usw. bestraft.
X
e)
Der Wohlstand eines Landes war ungleich verteilt. Dies
gelang unter anderem damit, dass das Recht zwischen
«Adeligen», «gewöhnlichen» Bürgern und «Rechtlosen»
(Leibeigenen) unterschied.
X
1.1.2
a)
Legislative = Parlament, Gesetzgebung
Exekutive = Regierung (CH: Bundesrat)
Judikative = Gerichte
Über Jahrtausende war das Recht alleine Sache der Mächtigen
im Staat. Warum? Kreuzen Sie die richtigen Antworten an.
a)
Die Grund- und Bürgerrechte entstanden vor dem Hintergrund
der ungerechten Verteilung von Macht und Besitz.
Warum dauerte es sehr lange, bis die Grund- und Bürgerrechte
in der Rechtsordnung eines Staates Einzug fanden?
- Die Mächtigen konnten dabei nur verlieren, weil
sie dann Macht und Güter hätten teilen müssen
- Privilegien (Vorrechte) wären nicht mehr möglich
Benennen Sie die drei Gewalten (Organe), wie sie moderne
Rechtsstaaten heute aufweisen. Notieren Sie die Fremdwörter
und dazu die jeweiligen deutschen Bezeichnungen.
d)
Wie und warum schützt die Aufteilung der staatlichen Macht in
die drei Gewalten den Einzelnen wie auch die Gemeinschaft?
Die Gewalten kontrollieren sich gegenseitig.
Machtmissbrauch der Staatsdiener (Politiker,
Beamte) oder derjenige einer einzelnen Gruppierung (z.B. einer Partei) wird dadurch stark eingeschränkt. Bei Verstössen gegen Verfassung oder
Gesetz greifen die Gerichte, das Parlament oder
allenfalls das Volk korrigierend ein
e)
Moderne Diktaturen geben an, sie seien Demokratien mit entsprechenden Verfassungen. Was klappt nicht in diesen Ländern?
Die Gewaltenteilung steht bloss auf dem Papier.
Der Diktator / das Regime hält hinter den Kulissen die «Fäden» in fester Hand: Parlament und
Gerichte befolgen die (heimlichen) Anweisungen
der Machthaber.
Das Volk wird mit Repression/brutaler Gewalt
von Polizei, Geheimdienst und Armee eingeschüchtert und mit Scheinwahlen besänftigt
das recht des stärkeren ist das stärkste unrecht
sprichwort
Ein Fall für Sie – Eine Einführung in die Rechtskunde
36
1.1.3
Der Staat ist nach den Grundsätzen in der Bundesverfassung
organisiert. Diese wirken sich im Alltag aus. Ordnen Sie die
zutreffenden Grundsätze den aufgeführten Situationen zu.
Notieren Sie jeweils den korrekten Buchstaben rechts bei der
Aussage (Mehrfachantworten sind teilweise möglich).
o)
A
Das Schulwesen regeln die Kantone zusammen mit ihren ____
Gemeinden.
p)
Der Bürger darf sich auf Angaben und Mitteilungen des
Staates verlassen.
q)
In der Schweiz gilt ein Folterverbot.
M
____
L Legalitätsprinzip,
Willkürverbot
A Aufgabenteilung zwischen
Bund, Kanton, Gemeinde
r)
Entscheide der Behörden müssen eine Rechtsmittelbelehrung enthalten.
L
____
G Gleichbehandlung
M Menschenrecht
T Gewaltentrennung (Gesetz- H Handeln n. Treu & Glauben
gebung, Regierung, Justiz)
1.2
H____
(L)
Formen des Zusammenlebens
a)
Die offiziellen Amtssprachen sind deutsch, französisch,
italienisch und rätromanisch.
G
____
b)
Der Bau von Nationalstrassen fällt in das Hoheitsgebiet
des Bundes.
A
____
c)
Die Kantone sind, soweit sie nicht gegen Bundesrecht
verstossen, autonom.
A
____
▪ die Einwirkung der ökologischen, ökonomischen und
technologischen Entwicklungen und Veränderungen auf
Sitte und Moral sowie das Recht beschreiben
d)
Für die Strafverfolgung sind ausschliesslich die Gerichte
zuständig.
T
____
▪ daraus Gründe für die zunehmende Gesetzesflut ableiten
e)
Jeder besitzt das Recht auf freie Meinungsäusserung.
M
____
f)
Die Behörden müssen ihr Handeln ausnahmslos auf das
Recht abstützen.
L
____
▪ Alltagssituationen und damit einhergehende Dilemmata
anhand der drei Ethik-Fragen analysieren und
Lösungsansätze formulieren
g)
Es gilt: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit.
G
____
h)
Das Parlament lehnt einen Antrag des Bundesrates zur
Beschaffung neuer Kampfpanzer ab.
T
____
i)
Der Staat darf einen einzelnen Bürger nicht bevorzugt
behandeln.
L,
G
____
j)
Angaben gegenüber staatlichen Behörden gelten grundsätzlich als wahrheitsgemäss.
H
____
k)
Das Eherecht gilt in der ganzen Schweiz.
G
____
l)
Für die innere Sicherheit ist die Polizei, in Ausnahmefällen auch die Armee zuständig.
T
____
m)
Jeder Kanton stellt zwei Ständeräte für das Bundesparlament.
G
____
Wegen des Gesetzes tue ich es nicht, weil...
n)
Schweizer und Schweizerinnen mit Bürgerrecht können
Ihren Wohnort selber bestimmen.
L,
G
____
ich von einem Gericht mit Busse oder Gefängnis
bestraft werden könnte
Lernziele
Sie können
▪ Recht, Sitte und Moral als Regeln des menschlichen
Zusammenlebens unterscheiden und Situationen zuordnen
1.2.1
Sie befinden sich in einem Selbstbedienungsladen.
Die Gelegenheit wäre günstig, um etwas «mitlaufen» zu lassen.
Aus moralischen Gründen tue ich es nicht, weil...
mich das schlechte Gewissen plagen würde
Aus sittlichen Gründen tue ich es nicht, weil...
ich nicht als Dieb dastehen möchte
Ursprung und Wesen des Rechts – Aufgaben und Übungen – 1.2 Formen des Zusammenlebens
37
1.2.2
Die folgenden Situationen können Sie in einem Büro beobachten.
Was bestimmt das Verhalten der handelnden Personen?
Kreuzen Sie die Regel an, welche in diesen Situationen das
Verhalten zuerst und am stärksten beeinflusst.
Sitte
Moral/Ethik
Recht
X
X
X X
a)
Ein Besucher tritt ein und grüsst die Anwesenden.
b)
Der Abteilungsleiter bietet ihm einen Stuhl an.
c)
Er gibt der kaufmännischen Angestellten den
Auftrag, ihm einen Kaffee zu servieren.
d)
Er bespricht mit dem Besucher einen Kaufvertrag,
den beide unterzeichnen.
e)
Er lehnt das Angebot des Besuchers ab, bei ihm
in St. Moritz auf Kosten des Geschäftspartners
ein Wochenende zu verbringen, weil er grundsätzlich keine Schmiergelder entgegennimmt.
f)
Die Angestellte notiert eine telefonische
Bestellung eines Kunden.
X
g)
Die Quartalsabrechnung für die Mehrwertsteuer
wird erstellt.
X
Eine Mitarbeiterin der Revisionsstelle des
Unternehmens prüft Buchungsbelege.
X
h)
X
X
1.2.3
Im folgenden Text wird die Entstehung einer Rechtsordnung als
geschichtlicher Rückblick erläutert. Einige Satzteile wurden aus
dem Text entfernt (vgl. die Liste A.- K.). Notieren Sie die Buchstaben der jeweils zutreffenden Passagen an den fehlenden
Stellen (Lücken).
A Zusammenleben
G erzwingbar
B Gewohnheitsrecht
H Konflikten, Streit
C gewisse Regeln
I Rechtsordnung
D nicht allein leben
J soziales Wesen
E Sitten, Bräuche und Rituale K Existenzbedürfnisse
F soziale Umwelt
L Gewalt
D Wenn er auf die Welt kommt, ist er auf
«Der Mensch kann _____.
Menschen, die ihn pflegen, ernähren, schützen und lieben, angewiesen. Ohne sie stirbt er. Aber auch der erwachsene Mensch ist
J Die Menauf andere Menschen angewiesen. Er ist ein _____.
schen mit denen er zusammen lebt und arbeitet, bilden seine
F
_____.
Menschen, die einem Stammesverband leben, wie beispielsweise Indianer im Amazonasgebiet oder Papuas in Neuguinea
A vor allem mit _____
E .
regeln ihr _____
Dies funktionierte so lange, als jeder Stamm genügend Land zur
K zu decken. Als aber in gewisVerfügung hatte, um seine _____
sen Gebieten, z. B. in Mesopotamien (heutiger Irak) immer mehr
Menschen wegen der fruchtbaren Weidegründe leben wollten,
H
kam es immer häufiger zu ____.
Dabei gab es immer wieder Tote und Verwundete, so dass mit
der Zeit das Bedürfnis wuchs, Auseinandersetzungen nicht immer
L auszutragen. Es begannen sich _____
C heranzubilden,
mit _____
an die sich die einzelnen Stämme hielten und damit entstand
B .
das _____
Schon rund 2'000 v. Chr. liess ein sumerischer Herrscher solche
Regeln in Keilschrift auf Tontafeln festhalten. Damit war eine
I geschaffen. Im Unterschied zu den Sitten waren diese
_____
G .»
Regeln _____
kooperatives lernen kann hilfreich sein
Ein Fall für Sie – Eine Einführung in die Rechtskunde
38
1.2.4
1.2.5
Die Skizze zeigt die Beziehung der Bereiche, welche das
menschliches Verhalten regeln.
A
E
B
Sitte
Moral/Ethik
D
G
F
Was bestimmt das Denken/Handeln der Personen in den
folgenden Situationen? Ist es der berechtigte Anspruch auf ein
persönlich erfülltes Leben (= A)? Oder das Bemühen, das
friedliche Miteinander von Mensch und Natur zu fördern/nicht zu
zerstören (= B)? Oder aber ist das Verhalten von der festen
Überzeugung getragen, selber einen Beitrag zur Verbesserung
der Verhältnisse zu leisten (= C)?
Ordnen Sie also die soeben erklärten Ethik-Fragen den Beispielen zu. Notieren Sie dazu den jeweils korrekten Buchstaben.
C
A Frage nach dem guten Leben
Recht
1.
B Frage nach dem gerechten Zusammenleben
C Frage nach dem richtigen (= ethisch korrekten)
C Verhalten/Handeln
Erklären Sie die Skizze.
Das Verhalten der Menschen entsteht oft aus
einer Mischung von Sitte, Ethik/Moral und Rechtsbewusstsein. Die einzelnen Regeln beeinflussen
des Bürgers Tun (und Lassen) mehr oder weniger
stark
2.
Welchen Bereichen (A - G) ordnen Sie die folgenden Situationen
zu? Notieren Sie jeweils den entsprechenden Buchstaben.
a)
Sie grüssen jemanden, den Sie eigentlich nicht mögen.
A
____
b)
Sie grüssen Ihre besten Kollegen.
B
____
c)
Die Erziehung der Kinder aus Liebe.
B
____
d)
Die Erziehung der Kinder als Pflicht.
C
____
e)
Sie danken jemanden, der Ihnen geholfen hat.
B
____
f)
Sie bezahlen Ihre Rechnungen pünktlich.
g)
Sie fahren vor- und umsichtig Auto.
h)
Sie halten mit dem Fahrrad an der Ampel an.
i)
Sie stehlen das Portemonnaie nicht, das die Lehrerin
auf dem Pult liegen gelassen hat.
j)
Sie leisten Militärdienst.
k)
Sie leisten freiwillige Mitarbeit beim Roten Kreuz.
l)
Sie bezahlen Ihre Steuern nicht ungern, denn damit
leisten Sie Ihren Beitrag an den staatlichen Aufgaben.
D____
(G)
F____
(G)
C
____
G____
(F)
C____
(F)
B
____
F
____
a)
Frau Lutz achtet beim Einkaufen darauf, woher die
Produkte stammen und wie sie hergestellt worden sind.
Der faire Handel ist ihr ein Anliegen.
C
____
b)
Herr Sollberger hat soeben seine Krankenversicherung
neu geregelt. Er kann nun auch die halbprivate Abteilung
in allen Spitälern der Schweiz benützen, falls er schwer
krank wird.
A
____
c)
Guiliana Boss möchte einen möglichst hohen Lohn
erzielen.
A
____
d)
Ein Bauer hat alle Tierschutzvorschriften auf seinem
Hof erfüllt.
B
____
e)
Der Schüler Yanick hat sich vorgenommen, in den
Proben nicht mehr zu spicken.
C
____
f)
Herr Binder von der SoftTec AG überlegt sich, wie er die
soziale Sicherheit in seinem Betrieb verbessern könnte.
B/C
____
g)
Moni Walder spendet CHF 100 für die Erdbebenopfer in
Indien.
B/C
____
die sitten,
die werthaltungen,
die rechtssätze,
die sie gelernt haben,
bestimmen ihr verhalten
Ursprung und Wesen des Rechts – Aufgaben und Übungen – 1.2 Formen des Zusammenlebens
39
1.2.6
Der Einzelne wie auch die Gemeinschaft handeln nach den
Regeln zur Sitte, orientieren sich an ihren moralischen Werten
(= Ethik) und halten sich im Allgemeinen an die Rechtsordnung.
e)
Mögliche, aber nicht eindeutige Standpunkte:
a) Qualität vor Quantität: «Ja» zu Bio-Produkten
b) CO2 kompensieren mit Spende bei «My Climate»
c) Die ärztliche Abgabe von Heroin ist okay. Ein
«normales» Leben steht über dem Ziel einer
drogenfreien Gesellschaft
d) Kind zur Adoption freigeben oder es soll evtl.
zeitweise bei der/den Grossmüttern aufwachsen
weitere: Sterbehilfe, Sportlerkarriere od. Lehre?,
neue Skilifte/Autobahnen/Hallenbäder...?, mit dem
Motorrad über Pässe flitzen?, Alkoholkonsum?,
Schneckengift im Garten?, Sex vor der Ehe?,
Fremdgehen?, Ausländerstopp? Ausschaffung
straffälliger ausländ. Jugendlicher? usw.
Immer wieder entstehen jedoch (Gewissens-)Konflikte, weil es für
bestimmte Situationen keine eindeutige Lösung im vorhandenen
System des Zusammenlebens gibt. In so einem Fall spricht man
von einem Dilemma (Plural: Dilemmata).
Erklären Sie anhand der drei Ethik-Fragen, worin das jeweilige
Dilemma in den aufgeführten Beispielen besteht.
a)
Herr Kümmerlis Lohn ist nur knapp über dem Existenzminimum.
Bio-Produkte kauft er deshalb nur ganz selten.
Einerseits wäre es richtig, nur Bio-Produkte zu
kaufen (= C), andererseits möchte sich Herr
Kümmerli möglichst viel von seinem Lohn
leisten können (= A)
b)
Tim und Vanessa lieben Badeferien an tropischen Stränden.
Ein Flug dorthin dauert mindestens acht Stunden.
Ferien in den Tropen bedeuten den beiden viel (=
A), das Hin- und Zurückfliegen ist jedoch klimaschädigend (= C)
Diskutieren Sie Lösungsansätze zu den obigen Beispielen und
nennen Sie weitere Dilemmata aus dem Alltag.
1.2.7
Die Entwicklung der gesellschaftlichen Regeln (Regelsystem)
Ergänzen Sie die folgende Darstellung, indem Sie das für
die jeweilige Gesellschaft bestimmende Regelsystem des
Zusammenlebens eintragen.
Gesellschaftliche Entwicklungsstufe
c)
Jana ist trotz mehrmaligen Entzugtherapien seit zwölf Jahren
schwerst heroinsüchtig. Könnte sie sich ihre Drogen beim Arzt
spritzen, müsste sie nicht mehr Geld «auf dem Strich» anschaffen.
Drogensüchtigen muss man (oft auch mit Nachdruck) helfen (= C). Mit der Heroinabgabe könnte
Jana jedoch ein menschenwürdigeres Leben
führen (= A), vielleicht sogar normal arbeiten (= B)
d)
Die siebzehnjährige Olivia ist unerwartet schwanger geworden.
Sie ist im Gymnasium und will Anwältin werden.
Die Abtreibung tötet das ungeborene Leben (= B).
Die ganze berufliche Zukunft ist möglicherweise
gefährdet, wenn Olivia das Kind auf die Welt
bringt (= A)
Regelsystem für
das Zusammenleben
Jäger, Sammler, Nomaden, die als
Grossfamilien und Stämme grosse
Territorien als Lebensraum besiedeln
Sitten, Bräuche, Rituale
Sesshafte Stämme,
die Ackerbau betreiben
Sitten, Bräuche, Rituale
und Gewohnheitsrecht
Staaten:
Sesshafte Stämme und Völker, die
ein eigenes Territorium besitzen
Sitte, Ethik/Moral mit
einer Rechtsordnung
Ein Fall für Sie – Eine Einführung in die Rechtskunde
40
1.3
Lernziele
Sie können
Zu den folgenden Rechtsbestimmungen müssen Sie angeben,
welches die wichtigste Aufgabe dieser Bestimmung in der
Absicht des Gesetzgebers ist.
▪ das Recht als Friedensordnung und Garant für Gleichheit
und Gerechtigkeit beschreiben
Entscheiden Sie sich für eine Nennung, auch wenn in den
meisten Fällen mehrere durchaus möglich sind.
Aufgaben des Rechts
1.3.2
▪ das Recht als Schutz für die Schwächeren erklären
Ordnungsfunktion des Rechts
▪ das Bemühen des Rechts um Interessenausgleich in
Konfliktsituationen erkennen
Recht sorgt für Gerechtigkeit/Interessenausgleich
▪ die Aufgaben des Rechts mit Beispielen aufzeigen
1.3.1
Recht als Schutz für die Schwächeren
a)
Bundesverfassung (BV), Art. 8,1:
Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich.
b)
Das Helmtragobligatorium im Strassenverkehrsgesetz (StVG)
X
c)
Gemäss OR können Verträge, welche unter
Drohung zustande gekommen sind, vor Gericht
angefochten werden und müssen dann nicht
eingehalten werden.
X
«Zwei Automobilisten stehen mit ihrem Auto vor einem freien
Parkplatz. Beide möchten parkieren. Wer erhält ihn? Zwischen
D Wenn der später angekommene
den beiden besteht ein _____.
H entsprechend verhalten.
den Platz frei gibt, hat er sich den ____
Wenn er sich jedoch vor dem ersten hineinzwängt, dann ist er
A gewesen.
einfach der _____
d)
Zivilgesetzbuch (ZGB), Art. 296 I: Die Kinder
stehen, solange sie unmündig sind, unter der
elterlichen Gewalt.
e)
Gemäss Obligationenrecht (OR) muss der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer bei Krankheit während
einer beschränkten Zeit den Lohn weiter zahlen..
X
Wenn sich der erst dies nicht bieten lässt und deshalb den
«Parkplatzräuber» angreift, sein Auto beschädigt und ihm eine
saftige Ohrfeige verpasst, kann dies für ihn in der Schweiz böse
G zu werden.
Folgen haben: Er riskiert dafür vom Richter _____
f)
Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist gemäss
Strafgesetzbuch strafbar.
X
g)
Die Berechnung der geschuldeten Einkommenssteuern erfolgt nach der Höhe des Einkommens.
X
h)
Das Gericht erteilt in einem Scheidungsprozess
das Sorgerecht für die Kinder der Mutter. Der
Vater erhält dafür ein wöchentliches Besuchsrecht zugesprochen.
X
Notieren Sie jeweils den Buchstaben des Satzteils an der Stelle,
wo er im Text fehlt.
A Stärkere, Frechere
E höchste Rechtsgut
B gerecht
F Wertvorstellungen (Ethik)
C Ungerechtigkeit
G bestraft
D Streit, Interessenkonflikt
H Sitten
Nun hat aber nach unserem Rechtsempfinden derjenige
Anspruch auf den Parkplatz, welcher zuerst anhält, um zu
C ?
parkieren. Ist das Urteil des Richters nicht eine _____
X
X
Nein, denn die körperliche Unversehrtheit eines Menschen ist
F das _____
E überhaupt. Eine Parklücke hat
nach unseren _____
dagegen als Rechtsgut einen geringen Wert.
Weil das Recht den Anspruch aller Menschen in einem Staat
nach körperlicher Unversehrtheit schützt, sowohl der Starken
B
wie der Schwachen, ist es _____.»
lernen ist ein grundrecht des menschen
Ursprung und Wesen des Rechts – Aufgaben und Übungen –
41
1.4
Lernziel
d)
Auf einem Platz beschimpfen Schweizer ausländische
Menschen, welche mit Plakaten auf die Lage in ihrem
Land aufmerksam machen, aufs übelste. Sie rufen die
Polizei, damit diese die Randalierer stoppen.
e)
Notieren Sie jeweils den Buchstaben des Satzteils an der Stelle,
wo er im Text fehlt.
Sie retten einen Menschen, der sich das Leben nehmen
wollte, aus einem reissenden Fluss.
f)
Sie schliessen einen Arbeitsvertrag ab.
A kulturell verschieden
D das Umfeld
g)
B korrekten Form
E erzwingbar
Bevor Sie in den Bus steigen, lassen Sie den aussteigenden Passagieren den Vortritt.
Eigenschaften des Rechts
Sie können
▪ die Eigenschaften des Rechts charakterisieren
1.4.1
X
X
C geändert
1.5
«Der Staat braucht finanzielle Mittel, um seine Aufgaben zu
E sind.
erfüllen. Er erlässt Steuergesetze, weil sie _____
Lernziel
Sie können
▪ die hierarchische Ordnung des geschriebenen Rechts
beschreiben
Im alten ZGB wurde im Familienrecht der Ehemann als das
Haupt der ehelichen Gemeinschaft bezeichnet. Am Ende des
20. Jahrhunderts wurde das ZGB geändert. Heute wird alles von
den beiden Ehepartnern gemeinsam bestimmt, weil sich die
C haben.
Vorstellungen von der Ehe in unserer Gesellschaft _____
Bei der Änderung der Bundesverfassung ebenfalls zur
Jahrtausendwende wurde heftig diskutiert, ob in der Einleitung
noch stehen soll «Im Namen Gottes des Allmächtigen!», weil
viele es nicht mehr für zeitgemäss hielten. Diesem Phänomen
A
sagt man: « Recht ist ____».
Die Rechtsquellen
▪ die Bedeutung und Aufgabe von Verfassung, Gesetzen und
Verordnungen unterscheiden
1.5.1
Ergänzen Sie diese Grafik eines Baumes mit den Begriffen
Verfassung, Gesetz und Verordnung.
Verordnungen
Damit sich alle Personen, die von einem Gesetz betroffen sind,
B
darauf verlassen können, braucht das Recht einer _____.
Gesetze
Gesetze müssen immer wieder ergänzt und revidiert werden, weil
D ständig verändert.»
sich _____
1.4.2
Verfassung
Kreuzen Sie diejenigen Situationen an, in welchen Ihr Verhalten
erzwingbar ist.
1.5.2
a)
Weil Sie einen Lehrvertrag abgeschlossen haben,
besuchen Sie den Unterricht der Berufsfachschule.
b)
Auf der Strasse begegnen Sie einem Bekannten und
grüssen ihn.
c)
Sie werden als Zeugin bei der Polizei aufgeboten, nachdem Sie einen Verkehrsunfall beobachtet haben.
X
X
Nennen Sie drei wesentliche Merkmale der Bundesverfassung (BV).
1.Rechtliche Grundordnung des Staates
2.Grundvoraussetzung für jede Demokratie
3.Veränderung nur mit Zustimmung von der
Mehrheit von Volk und Ständen (Kantonen)
Ein Fall für Sie – Eine Einführung in die Rechtskunde
42
1.5.3
a)
1.5.4
Welche der folgenden Aussagen stimmen? Kreuzen Sie diese
an. Notieren Sie darunter eine kurze Verbesserung, wenn die
Aussage falsch ist (vgl. Beispiel).
Verfassung
Bundesgesetze können vom Bundesrat geändert werden.
Gesetz
durch das Parlament (National- u. Ständerät)
b)
c)
d)
e)
Die Bundesverfassung kann nur mit Zustimmung des Volkes
und der Kantone geändert werden. Dies schafft politische
Stabilität und Rechtssicherheit.
In der Verfassung sollte nur das Grundsätzliche stehen, die
Einzelheiten sollten in den Gesetzen und Verordnungen
geregelt werden.
Verordnung
X
In der Bundesverfassung stehen viele Einzelheiten, die
eigentlich in Gesetze gehörten, weil das Volk mit einem
Referendum jedwelche Änderungen in der Verfassung
verlangen und in einer Abstimmung beschliessen kann.
X
a)
Änderungen sind nur mit Zustimmung von Volk
und Ständen (Kantonen) möglich
b)
Detaillierte Bestimmungen zu einem Gesetz
X
c)
Erlass, Aufhebung und Änderung sind durch die
Regierung (Bundesrat, Regierungsrat eines
Kantons, Gemeinderat) möglich
X
d)
Es gibt sie auf Bundes- und auf Kantonsebene.
X
e)
Mit 50'000 Unterschriften kann eine Volksabstimmung (Referendum) über die Inkraftsetzung
verlangt werden
X
X
1.5.5
X
Verfassung
Da die Kantone souverän sind, können sie in ihrer Kantonsverfassung alles so regeln, wie sie wollen.
Gesetz
Wenn es ein Bundesgesetz wie beispielsweise das Zivilgesetzbuch (ZGB) gibt, müssen sich auch die Kantone
daran halten.
X
Bestimmen Sie, ob die folgenden Texte aus der Bundesverfassung, einem Gesetz oder aus einer Verordnung stammen.
einer Initiative
Verordnung
soweit sie nicht gegen Bundesrecht verstossen
f)
Bestimmen Sie, ob die folgenden Aussagen zur Verfassung, zu
einem Gesetz und/oder zu einer Verordnung gehören.
a)
Das Kindesverhältnis entsteht zwischen dem
Kind und der Mutter mit der Geburt.
b)
Dem Bund steht allein das Recht zu, Krieg zu
erklären und Frieden zu schliessen.
c)
X
Das Qualifikationsverfahren wird in der Ausbildungsstätte, in einem anderen geeigneten Betrieb
oder in einer Berufsfachschule durchgeführt.
d)
Jeder Kantonsbürger ist Schweizer Bürger.
e)
Durch den Kaufvertrag verpflichtet sich der
Verkäufer, dem Käufer den Kaufgegenstand zu
übergeben, und der Käufer, dem Verkäufer den
Kaufpreis zu bezahlen.
X
f)
Durch die Trauung werden die Ehegatten zur
ehelichen Gemeinschaft verbunden.
X
X
die schulpflicht für alle kinder soll
die chancengleichheit gewährleisten
X
X
X
Ursprung und Wesen des Rechts – Aufgaben und Übungen – 1.5 Die Rechtsquellen
43
1.5.6
Welche Rechtsquelle dient in den folgenden Fällen als Entscheidungsgrundlage? Tragen Sie die zutreffenden Buchstaben ein.
A geschriebenes Recht
C Gerichtspraxis (Entscheide)
B gerichtliches Ermessen
D Gewohnheitsrecht
Einem Automobilisten, der in angetrunkenem Zustand
einen Verkehrsunfall verursacht hat, wird vom Amtsgericht der Führerausweis gemäss Praxis des Bundesgerichtes während 6 Monaten entzogen.
C
____
b)
Ein Gericht tritt auf eine Klage nicht ein, weil die Frist für
die Einreichung der Klage nicht eingehalten wurde.
A
____
c)
Die Bundesversammlung ändert aufgrund eines
Verfassungsauftrages das Gentechnikgesetz.
A
____
d)
In einem Scheidungsprozess werden die Unterhaltszahlungen des Ehemannes für die Kinder von der Amtsgerichtspräsidentin auf CHF 1800 je Monat festgesetzt
B
____
e)
Schweizerische Banken berechnen den Zins auf Sparkonten gemäss der deutschen Usanz, d.h.. das Jahr
lediglich zu 360 Tagen, die Monate zu 30 Tagen.
D
____
Der Polizist erteilt dem Falschparkierer eine Ordnungsbusse.
A
____
a)
f)
g)
h)
i)
1.6
Lernziele
Aufbau und Gliederung der
Rechtsordnung
Sie können
▪ öffentliches sowie privates Recht in ihre Teilbereiche
gliedern sowie Rechtstatbestände den Bereichen zuordnen
▪ für einen Rechtssatz bestimmen, ob er zwingend,
ergänzend oder einseitig abänderbar ist
▪ den Unterschied zwischen zwingenden und ergänzenden
Rechtssätzen begründen
1.6.1
a)
Die Rechtsordnung ist in Öffentliches Recht und Privatrecht
eingeteilt.
Beschreiben Sie den grundsätzlichen Unterschied zwischen dem
öffentlichen Recht und dem Privatrecht.
Öffentliches Recht regelt das Verhältnis zwischen ....
Staat (Polizei/Behörden) und Bürger/-innen
_____________________________________________
Hier finden wir fast auschliesslich ...
X zwingende Vorschriften
C
Seit einem vor kurzem auf höchster Ebene gefällten Urteil ____
gilt ein Raserunfall mit Todesfolgen neu als vorsätzliche
Tötung. Diese kann mit Zuchthaus bis zu 15 Jahren bestraft werden.
Stefan K. (21) hat Dragan D. (16) krankenhausreif
geschlagen. Er muss nun die Spitalkosten übernehmen
sowie CHF 1‘500 Schmerzensgeld (Genugtuung) dem
Opfer bezahlen.
B
____
Wegen ungenügender Leistungen löst der Berufsbildner
das Lehrverhältnis mit Nicola während der Probezeit auf.
A
____
einseitig abänderbare Regeln
ergänzende (dispositive) Regeln
Das Privatrecht regelt das Verhältnis zwischen ....
Bürger/-in und Bürger/-in
_____________________________________________
Hier finden wir ...
X zwingende Vorschriften
X einseitig abänderbare Regeln
X ergänzende (dispositive) Regeln
das recht ist ein unentbehrlicheres lebensmittel als das brot
sprichwort
Ein Fall für Sie – Eine Einführung in die Rechtskunde
44
b)
Zählen Sie vier Rechtsbereiche aus dem öffentlichen Recht auf.
1.6.2
1. Strafrecht
2. Völkerrecht
3. Staatsrecht
4. Sozialversicherungsrecht
5. Strassenverkehrsrecht
6. Arbeitsrecht, Kirchenrecht, Umweltrecht usw.
c)
Eine 70jährige Frau erzählt einige Ereignisse aus ihrem Leben.
In diesen Situationen spielen Gesetze auch eine Rolle.
Ordnen Sie diese einem Teil der Rechtsordnung zu.
Bestimmen Sie zuerst, ob sie im öffentlichen Recht, im ZGB oder
im OR geregelt sind.
Schreiben Sie dazu, welches Gesetz des öffentlichen Rechts,
bzw. welchem Teil des ZGB oder welcher Abteilung des OR die
Situationen zugeordnet werden können (vgl. Beispiel).
Öffentliches Recht
Zählen Sie vier Gesetze aus dem öffentlichen Recht auf.
Zivilgesetzbuch (ZGB)
1. Strafgesetzbuch
2. Schuldbetreibungs- und Konkursgesetz
3. Berufsbildungsgesetz
4. Tierschutzgesetz
5. Bundesgesetz zur Invalidenversicherung (IV)
6. Urheberrechts-, Naturschutzgesetz usw.
Obligationenrecht (OR)
a)
1. Teil: Personenrecht
b)
Zählen Sie die fünf Teile des Zivilgesetzbuches (ZGB) auf.
1. Teil: Das Personenrecht
2. Teil: Das Familienrecht
3. Teil: Das Erbrecht
4. Teil: Das Sachenrecht
5. Teil: Das Obligationenrecht
X
Mit 6 Jahren trat sie in die Primarschule ein.
Kantonales Schulgesetz
c)
d)
X
Geboren wurde Sie vor 70 Jahren.
Nach Abschluss der obligatorischen Schulzeit
begann Sie eine Lehre als Kauffrau E-Profil.
X
2. Abt.: Arbeitsvertrag
d)
X
Mit 18 musste sie erstmals Steuern bezahlen.
Kant. und eidg. Steuergesetz
e)
X
Ab diesem Alter wurde ihr auch die AHV-Prämie
vom Lohn abgezogen.
AHV-Gesetz
e)
Zählen Sie die fünf Abteilungen des Obligationenrechts (OR) auf.
1. Abteilung: Die allgemeinen Bestimmungen
2. Abteilung: Die einzelnen Vertragsarten
3. Abteilung: Das Gesellschaftsrecht
4. Abteilung: Das Handelsregister, das Firmen
recht und die Buchführung
5. Abteilung: Die Wertpapiere
f)
Das Stimmrecht erhielt sie allerdings erst 1971,
als dieses auch für Frauen eingeführt wurde.
X
Bundesverfassung (BV)
g)
Nach der Lehre arbeitete sie bei einer Bank.
X
2. Abt.: Arbeitsvertrag
h)
Sie mietete auch ihre erste eigene Wohnung.
2. Abt: Mietvertrag
X
Ursprung und Wesen des Rechts – Aufgaben und Übungen – 1.6 Die Rechtsquellen
45
1.6.4
Öffentliches Recht
Zivilgesetzbuch (ZGB)
Obligationenrecht (OR)
i)
Begründen Sie Ihren Entscheid mit dem Hinweis aus dem
Gesetzesartikel, welcher darauf hinweist (vgl. Beispiel).
X
Im Alter von 25 Jahren heiratete sie.
Bestimmen Sie mit Hilfe des Gesetzes für die folgenden Rechtssätze, ob sie zwingenden oder ergänzenden Charakter haben,
oder aber einseitig abänderbar sind.
2. Teil: Familienrecht
j)
zwingend (obligatorisch)
X
Ein Jahr später kam ihr erstes Kind zur Welt.
einseitig abänderbar («zugunsten von»)
1.T.: Personenrecht/2.T.: Familienrecht
k)
Bald danach baute die Familie ein
Einfamilienhaus.
ergänzend (dispositiv)
X
X
Kant. Baurecht, 2. Abt.: Werkvertrag
l)
Dafür brauchten sie einen Hypothekarkredit
der Bank.
X
Als Autofahrerin wurde sie zweimal mit einer
Parkbusse bestraft.
Strassenverkehrsgesetz, Strafrecht
n)
Nachdem ihr Gatte gestorben war, erbten sie
und ihre Kinder sein Vermögen.
X
3. Teil: Erbrecht
o)
Sie erhielten auch eine AHV-Hinterbliebenenrente.
X
AHV-Gesetz
1.6.3
OR 329a
wenigstens 4 Wochen Ferien
b)
ZGB 11, 1 Rechtsfähig ist jedermann
c)
ZGB 60, 2 die Statuten müssen enthalten
d)
ZGB 167
jeder nimmt Rücksicht (= muss)
e)
ZGB 498
kann eine letzwillige Verfügung ...
f)
ZGB 656, 1 bedarf es ein Eintrag im Grundbuch
X
g)
OR 5, 1
der Antragsteller bleibt ... gebunden
X
h)
OR 75
die Erfüllung kann ... sofort ...
i)
OR 189, 1 sofern nichts anderes vereinbart ...
j)
OR 216
k)
OR 266 c können die Parteien
l)
OR 328a, 2 im 1. Dienstjahr (mind.) 3 Wochen
X
X
X
2. Abt: Dahrlehensvertrag
m)
X
a)
X
X
X
X
bedürfen der öffentl. Beurkundung
X
X
X
Begründen Sie, warum öffentliches Recht meistens zwingend ist.
Das öffentliche Recht regelt das Handeln der
Organe (Behörden) des Staates
Der Staat hat das Machtmonopol und er muss
den Grundsatz der Gleichbehandlung beachten
Es gelten also für alle dieselben Vorschriften,
zwingend!
m)
OR 394, 3 Vergütung, wenn verabredet
n)
OR 404
kann jederzeit gekündigt werden
o)
OR 666
dürfen höchstens...
p)
OR 671, 1 sind den Reserven zuzuweisen
X
X
X
X
es gibt auch zwingendes und ergänzendes lernen
Ein Fall für Sie – Eine Einführung in die Rechtskunde
46
1.7
Lernziele
c)
F
Ein Gläubiger hat im Konkurs einer Gesellschaft einen
____
grossen Verlust erlitten. Er kann einen reichen Teilhaber
dieser Gesellschaft nicht belangen, weil dessen Haftung
auf einen Betrag, welcher im Handelsregister eingetragen
ist, beschränkt wurde.
d)
Ein Hauseigentümer beruft sich auf das Gewohnheitsrecht, weil er Bäume, welche seit 20 Jahren zu nahe der
Grundstücksgrenze stehen, nicht fällen will. Das Gericht
lehnt seine Einsprache ab.
A
____
e)
Ein Hauseigentümer klagte mit Erfolg gegen seinen
Nachbarn, weil dieser die Baubewilligung für eine
Gartenmauer bekommen hat. Er wollte diese allein mit
der Absicht, ihm die Aussicht zu verbauen, errichten.
B
____
f)
Zwei Geschäftspartner lassen einen wichtigen Kaufvertrag über eine sehr teure, komplizierte Anlage von einem
Notar beurkunden.
F
____
Welchen allgemeinen Grundsätzen der Rechtsprechung
gemäss den Einleitungsartikeln des ZGB können die folgenden
Situationen oder Gerichtsentscheide zugeordnet werden?
Setzen Sie den entsprechenden Buchstaben ein.
g)
Frau Kunz wird von einer Person auf der Strasse ein
neues Velo zu zu einem Drittel des Ladenpreises angeboten. Das Velo ist gestohlen. Wie handelt Frau Kunz,
wenn Sie es kauft?
C
____
A ZGB 1 und 4
D ZGB 3,2
Anwendung d. Rechtsquellen
Rechtsunkenntnis schadet
h)
In einem schwierigen Fall beruft sich ein Gericht auf eine
Expertise eines Rechtsprofessors.
A
____
B ZGB 2
E ZGB 8
Handeln nach Treu und
Beweislast
Glauben – Rechtsmissbrauch F ZGB 9 und 10
Beweiskraft öffentlicher
C ZGB 3,1
Register und Urkunden
Guter Glaube wird vermutet
i)
In einem Scheidungsprozess verlangt die Ehefrau vom
Ehemann bestimmte Vermögensstücke mit der Begründung, sie habe diese in die Ehe eingebracht.
E
____
Die Anwendung des Rechts
Sie können
▪ erklären, wie ein Gericht das Gesetz anwenden muss, wenn
es einen Fall beurteilen muss
▪ für einfache Situationen bestimmen, wer was beweisen muss
▪ für einzelne Rechtssätze bestimmen, inwiefern gerichtliches
Ermessen bei deren Anwendung erforderlich ist
▪ einen rechtlichen Sachverhalt analysieren und die beteiligten
Parteien sowie deren Interessen bestimmen
▪ für Rechtssätze Tatbestandsmerkmale und Rechtsfolgen
bestimmen
▪ Rechtssätze auf gegebene Sachverhalte anwenden und
Lösungsmöglichkeiten aufzeigen
1.7.1
a)
Ein Amtsgericht verurteilt einen Autoraser zu einer
Gefängnisstrafe von sechs Monaten und beruft sich in
der Urteilsbegründung auf einen Entscheid des Bundesgerichtes in einem vergleichbaren Fall.
A
____
b)
Ein Bankangestellter rät einer Kundin, welche ihr Geld
sicher anlegen will, zum Kauf von Wertpapieren, obwohl
er weiss, dass damit ein hohes Risiko verbunden ist.
B
____
handeln nach treu und glauben beim lernen?
– gegenüber sich selber!
Ursprung und Wesen des Rechts – Aufgaben und Übungen – 1.7 Die Anwendung des Rechts
47
1.7.2
Notieren Sie für die folgenden Sachverhalte, wie die Parteien heissen und
bestimmen Sie, wer im Streitfall was beweisen muss (vgl. Beispiel).
Sachverhalte
Parteien
muss beweisen
1.7.3
ZGB 200, 1
Bestimmen Sie Tatbestandsmerkmale und die Rechtsfolge für
die folgenden Rechtssätze (vgl. Beispiel).
Tatbestandsmerkmale ─ «Wenn ...»
a) Ein Versandhaus betreibt Käuferin
eine Kundin, weil sie die
Rechnung für gekaufte
Verkäufer
Waren nicht bezahlt hat.
dass sie bezahlt hat oder dass sie
die Ware nicht bekomme hat
Wenn ein Ehegatte behauptet, ein bestimmter Vermögensteil sei sein Eigentum, ...
dass er die Ware geliefert hat und
dass sie noch nicht bezahlt wurde
Rechtsfolge ─ «... dann gilt:»
b) Eine Skifahrerin hat im
«In-Shop» Skis gemietet.
Auf einer Skitour bricht
Sie ein Bein. Sie macht
geltend, dass das Sportgeschäft die Bindung
nicht richtig eingestellt
habe.
Mieterin
Beinbruch ist eine Folge der
falsch eingestellten Bindung!
c) Ein Angestellter ist mit
seiner Lohnabrechnung
nicht zufrieden. Er behauptet, dass bei der
Anstellung ein Lohn von
CHF 4000 netto und
nicht brutto vereinbart
wurde.
Arbeitgeber Bruttolohn war vereinbart!
d) Einem Automobilisten
wurde sein Fahrzeug
gestohlen.
Er entdeckt es heute auf
dem Occasionsmarkt
eines Autohändlers und
will es zurück.
Eigentümer Auto ist mein Eigentum!
... muss er dafür den Beweis erbringen
ZGB 200, 2
Vermieter
Tatbestandsmerkmale ─ «Wenn ...»
Kann dieser Beweis nicht erbracht werden, ...
Bindung war richtig
eingestellt!
Rechtsfolge ─ «... dann gilt:»
Arb.nehmer Nettolohn war vereinbart!
... so wird Miteigentum beider Ehegatten
angenommen
ZGB 470, 1
Tatbestandsmerkmale ─ «Wenn ...»
Wer Nachkommen, Eltern oder den Ehegatten
als Erben hinterlässt, ...
Rechtsfolge ─ «... dann gilt:»
Besitzer
Wusste nicht, dass das Auto
gestohlen war!
... kann bis zu deren Pflichtteil über sein
Vermögen von Todes wegen verfügen
Ein Fall für Sie – Eine Einführung in die Rechtskunde
48
ZGB 470, 2
ZGB 61, 1
ZGB 61, 2
Tatbestandsmerkmale ─ «Wenn ...»
OR 41, 1
Tatbestandsmerkmale ─ «Wenn ...»
Wer keine der genannten Erben hinterlässt, ...
Wer einem andern widerrechtlich Schaden zufügt, sei es mit Absicht, sei es aus Fahrlässigkeit, ...
Rechtsfolge ─ «... dann gilt:»
Rechtsfolge ─ «... dann gilt:»
... kann über sein ganze Vermögen von Todes
wegen verfügen
... wird ihm zum Ersatze verpflichtet (= muss ihm
den Schaden ersetzen)
Tatbestandsmerkmale ─ «Wenn ...»
OR 200, 1
Tatbestandsmerkmale ─ «Wenn ...»
Sind die Vereinsstatuten angenommen und ist
der Vorstand bestellt, ...
Kennt der Käufer Mängel der Kaufsache bereits
zum Zeitpunkt des Kaufs, ...
Rechtsfolge ─ «... dann gilt:»
Rechtsfolge ─ «... dann gilt:»
... so ist der Verein befugt, sich ins Handelsregister eintragen zu lassen
... muss der Verkäufer dafür nicht haften
Tatbestandsmerkmale ─ «Wenn ...»
OR 259
Tatbestandsmerkmale ─ «Wenn ...»
Betreibt der Verein für seinen Zweck ein nach
kaufmännischer Art geführtes Gewerbe, ...
Mängel, die durch Reinigung oder kleine ...
Ausbesserungen behoben werden können, ...
Rechtsfolge ─ «... dann gilt:»
Rechtsfolge ─ «... dann gilt:»
... so ist er zur Eintragung verpflichtet
... muss der Mieter auf eigene Kosten beseitigen
eine facharbeit ohne unerlaubte, fremde hilfe erstellt?
– der gute glaube wird vermutet!
Ursprung und Wesen des Rechts – Aufgaben und Übungen – 1.7 Die Anwendung des Rechts
49
1.7.4
Herr Gruber ist Vater von drei schulpflichtigen Kindern. Er beauftragt eine
Künstlerin, von seinen Kindern Portraits in Ölfarben zu erstellen. Es werden
CHF 3’000 je fertiges Gemälde verabredet. Die Kinder müssen in den folgenden Wochen mehrmals im Atelier der Künstlerin Modell stehen.
Herr Gruber ist bereit, die Künstlerin pauschal mit CHF 1’000 für das Resultat
ihrer Bemühungen zu entschädigen. Die Künstlerin ihrerseits fordert die ganzen
CHF 9’000 für die bestellten Portraits. Es sei nicht ihre Sache, wenn er es sich
inzwischen anders überlegt habe, teilt sie Herrn Gruber eindringlich mit.
Statt wie üblich die Mutter holt heute Herr Gruber eines seiner Kinder nach dem
Modellstehen bei der Künstlerin ab. Dabei sieht er erstmals ein bereits fertig
erstelltes Portrait sowie das angefangene. Ihm gefallen beide überhaupt nicht,
sie entsprechen nicht seinen Vorstellungen. Deshalb teilt Herr Gruber der
Künstlerin mit, sie solle die Arbeit an den Bildern sofort einstellen.
Aufgabe
Prüfen Sie die rechtliche Situation. Wer ist im Recht und was folgt daraus?
Wenden Sie für Ihre Analyse das Problemlöseverfahren für rechtliche Fälle an.
Ziehen Sie für die Lösung des Falles OR 363 und OR 377 heran.
Problemlöseschema
3. Schritt: Vergleichen von Sachverhalt und Tatbestand
1. Schritt: Ermitteln des Sachverhalts
Parteien
Besteller (Herr Gruber)
Unternehmerin (Künstlerin)
Sachverhalt
Begründung
Forderungen,
Ansprüche,
Interessen
Will nur eine kleine
Entschädigung von
CHF 1’000 bezahlen
Beharrt auf dem vollen
Entgelt von CHF 9’000
(wie im Werkvertrag
vereinbart)
trifft zu
4. Schritt: Schlussfolgerung
Rechtliche
Grundlage(n)
OR 363 und OR 377
Entscheid
Tatbestand
(«Wenn ...»)
OR 363: Wenn jemand bei einem Unternehmer
ein Werk bestellt, ...
Rechtsfolge
(«... dann ...»)
OR 363: ... dann entsteht ein Werkvertrag
OR 377: ... kann der Besteller gegen Vergütung
der bereits geleisteten Arbeit und gegen volle
Schadloshaltung des Unternehmers jederzeit
vom Vertrag zurücktreten
trifft nicht zu
Weder Herr Gruber noch die Künstlerin stellen
gesetzeskonforme Ansprüche. Beide liegen jedoch richtig, wenn sie eine Entschädigung für
das bisher Geleistete fordern bzw. akzeptieren
2. Schritt: Bestimmen von Tatbestand und Rechtsfolge
OR 377: Solange das Werk unvollendet ist, ...
X trifft teilweise zu
Herr Gruber muss die vollen CHF 3’000 für das
fertige Bild bezahlen sowie einen angemessenen
Betrag für das angefangene.
Ein Gericht würde ausserdem Schadenersatz in
der Höhe des entgangenen Gewinnes für das unfertige und das noch nicht angefangene Gemälde
der Künstlerin zusprechen
Ein Fall für Sie – Eine Einführung in die Rechtskunde
50
1.7.5
Thomas Aebi macht in Marokko Urlaub. Sein Arbeitskollege,
Benjamin Türler, hat ihm für die Reise eine zwei Jahre alte, teure
Spiegelreflexkamera ausgeliehen. Als Thomas am zweitletzten
Tag vom Schwimmen im Meer zu seinem Platz zurückkehrt, ist
die unter dem Badetuch versteckte Kamera weg.
Nach Hause zurück gekehrt melden sowohl Thomas wie auch
Benjamin den Diebstahl bei ihren Versicherungen. Beide Gesellschaften lehnen es jedoch ab, den Verlust der Kamera zu ersetzen, weil Thomas grob fahrlässig gehandelt hat.
Also verlangt Benjamin nun von Thomas, dass er ihm eine neue
Kamera kauft, und zwar exakt die gleiche wie die gestohlene.
Thomas weigert sich mit der Begründung, Benjamin hätte seiner
Meinung nach eine bessere Versicherung abschliessen sollen,
die auch für diesen Fall bezahlen würde.
Aufgabe
1. Schritt: Ermitteln des Sachverhalts
Parteien
Forderungen,
Ansprüche,
Interessen
Ziehen Sie für die Lösung des Falles OR 305 und OR 41, 1 heran.
Entlehner (Thomas)
Will eine neue Kamera
von Thomas als Ersatz
für die gestohlene
Will keine Entschädigung leisten, weil Benjamin sich nicht gut
genug versichert hat
2. Schritt: Bestimmen von Tatbestand und Rechtsfolge
Rechtliche
Grundlage(n)
OR 305 und OR 41, 1
Tatbestand
(«Wenn ...»)
OR 305: Wenn eine Gebrauchsleihe besteht, ...
Rechtsfolge
(«... dann ...»)
OR 305: ... verpflichtet sich der Entlehner, die
Sache ... dem Verleiher zurückzugeben.
Prüfen Sie die rechtliche Situation. Wer ist im Recht und was
folgt daraus?
Verwenden Sie für Ihre Analyse das Problemlöseverfahren.
Borger (Benjamin)
OR 41, 1: Wer einem ... andern Schaden zufügt,
sei es mit Absicht oder ... Fahrlässigkeit, ...
OR 41, 1: ... wird ihm zum Ersatze verpflichtet
3. Schritt: Vergleichen von Sachverhalt und Tatbestand
Sachverhalt
Begründung
trifft zu
X trifft teilweise zu
trifft nicht zu
Weder Benjamins noch Thomas Forderung
entspricht den im Gesetz festgehaltenen
Bestimmungen
4. Schritt: Schlussfolgerung
Entscheid
recht tun lässt sanft ruhn
sprichwort
Da Thomas die Kamera nicht mehr zurückgeben
kann, entstand ein Schaden, für den er haftet.
Benjamin hat jedoch keine neue Kamera zugut,
sondern den Betrag, der dem aktuellen Wert der
bereits zweijährigen Kamera entspricht
Ursprung und Wesen des Rechts – Aufgaben und Übungen – 1.7 Die Anwendung des Rechts
51
Problemlöseschema (Kopiervorlage für weitere Fälle)
1. Schritt: Ermitteln des Sachverhalts
1. Schritt: Ermitteln des Sachverhalts
Parteien
Parteien
Forderungen,
Ansprüche,
Interessen
Forderungen,
Ansprüche,
Interessen
2. Schritt: Bestimmen von Tatbestand und Rechtsfolge
2. Schritt: Bestimmen von Tatbestand und Rechtsfolge
Rechtliche
Grundlage(n)
Rechtliche
Grundlage(n)
Tatbestand
(«Wenn ...»)
Tatbestand
(«Wenn ...»)
Rechtsfolge
(«... dann ...»)
Rechtsfolge
(«... dann ...»)
3. Schritt: Vergleichen von Sachverhalt und Tatbestand
3. Schritt: Vergleichen von Sachverhalt und Tatbestand
Sachverhalt
Sachverhalt
trifft zu
trifft teilweise zu
trifft nicht zu
trifft zu
Begründung
Begründung
4. Schritt: Schlussfolgerung
4. Schritt: Schlussfolgerung
Entscheid
Entscheid
trifft teilweise zu
trifft nicht zu
Ein Fall für Sie – Eine Einführung in die Rechtskunde
52
1.8
1.8.2
Das Verfahrensrecht
Der Zivilprozess und der Strafprozess
Tragen Sie in den beiden Schemata den Instanzenweg für
den Straf- und den Zivilprozess ein.
Zivilprozess
Lernziele
Sie können
Kläger
▪ Straf- und Zivilprozess nach Parteien, Streitgegenstand,
entscheidende Instanzen und Tätigkeit des Gerichtes
unterscheiden
Friedensrichter
▪ den Ablauf des Straf- und des Zivilprozesses beschreiben
▪ für einzelne Rechtssätze oder Sachverhalte bestimmen,
inwiefern richterliches Ermessen bei deren Anwendung
erforderlich ist
1.8.1
Amtsgericht / Bezirksgericht
Obergericht / Kantonsgericht
Bestimmen Sie für die folgenden Begriffe und Aussagen, ob sie
zum Straf- und/oder Zivilprozess gehören.
Strafprozess
Bundesgericht
Zivilprozess
a)
«im Zweifelsfall zugunsten des Angeklagten»
X
b)
Anzeige eines Betroffenen
X
c)
Beweise durch den Verteidiger
X
d)
Schadenersatzforderung
e)
Ehrverletzung
X
f)
Feststellung einer Schuld
X
g)
Friedensrichter
X
h)
Gericht befasst sich nur mit dem, was Parteien
vorbringen
X
i)
Gerichtsentscheid aufgrund der Anträge der Parteien
X
j)
Geschworenengericht
X
k)
Veruntreuung
X
l)
Klage auf Unterlassen
Strafprozess
Polizei
X
X
X
X
Untersuchungsrichter / Staatsanwaltschaft
Amtsgericht / Bezirksgericht
Obergericht / Schwurgericht
Bundesgericht
m)
Staatsanwalt
n)
Vaterschaftsklage
X
o)
sexuelle Belästigung
X
ein kläger muss drei säcke haben: einen mit geld,
einen mit papier und einen mit geduld
p)
Körperverletzung und Nötigung
X
sprichwort
X
Ursprung und Wesen des Rechts – Aufgaben und Übungen – 1.8 Das Verfahrensrecht
53
1.8.3
Ein Zivilprozess
1.8.4
Ein Ehepaar will sich scheiden lassen.
Ein Automobilist wurde in einen Unfall verwickelt. Unten ist
dargestellt, welche Schritte nachher unternommen wurden.
Die Schritte, welche dazu unternommen werden, sind in alphabetischer Anordnung dargestellt. Setzen Sie jeweils die Nummer
für die richtige Reihenfolge dazu.
A.
Aussöhnungsverhandlung vor dem Friedensrichter. Die
Parteien bleiben bei ihrem Entschluss, die Ehe scheiden
zu lassen. Die Bedingungen für das getrennte Leben der
Ehegatten werden festgelegt.
2
____
B.
5
Befragung der beiden Ehegatten durch den Amtsgerichts- ____
präsidenten über den Verlauf und Zustand ihrer Ehe.
C.
Das Paar sucht einen Anwalt auf und bekräftigt seinen
Willen, sich scheiden zu lassen.
1
____
D.
Der Anwalt des Paares reicht die Scheidungsklage beim
Amtsgericht ein. Er stellt das Begehren, die Ehe sei zu
scheiden wegen Zerrüttung des ehelichen Verhältnisses
gemäss ZGB 142, 1.
4
____
E.
Die Ehegatten arbeiten mit dem Anwalt eine Vereinbarung über die vermögensrechtlichen Folgen der
Scheidung (Scheidungskonvention) aus.
3
____
Urteil des Amtsgerichts: Die Ehe wird geschieden. Die
vermögensrechtlichen Folgen richten sich nach der
Scheidungskonvention.
6
____
F.
Ein Strafprozess
Diese Schritte sind wiederum in alphabetisch geordnet. Setzen
Sie jeweils die Nummer für die richtige Reihenfolge dazu.
A.
Aufnahme der Unfallsituation durch die Polizei.
1
____
B.
Das Amtsgericht bestätigt die Strafverfügung und
erkennt den Automobilisten für schuldig der Verletzung
von Strassenverkehrsrecht und bestätigt die Busse von
400 Franken.
5
____
C.
Das Amtsgericht erlässt gegen den Automobilisten eine
Strafverfügung und büsst ihn mit 400 Franken.
2
____
D.
10
Das Bundesgericht heisst die Nichtigkeitsbeschwerde des ____
Automobilisten gut und weist den Fall zur Freisprechung
an das Obergericht zurück. Der Automobilist erhält eine
Entschädigung zulasten der Gerichtskasse.
E.
Der Anwalt des Automobilisten macht eine Nichtigkeitsbeschwerde an das Bundesgericht.
9
____
F.
Der Anwalt des verurteilten Automobilisten ergreift innert
10 Tagen das Rechtsmittel gegen das Urteil des Amtsgerichtes und macht eine Kassationsbeschwerde an das
Obergericht.
6
____
G.
Einsprache des Automobilisten gegen die Busse.
3
____
H.
7
In der Verhandlung vor dem Obergericht wird vom Anwalt ____
des Automobilisten dargelegt, warum ihn kein Verschulden trifft und er deshalb freizusprechen sei.
8
____
Mit seinem Urteil lehnt das Obergericht die Kassations-
I.
beschwerde des Automobilisten ab. Die Busse von
400 Franken bleibt und die Gerichtskosten sind vom
Angeklagten zu tragen.
J.
Verhandlung des Amtsgerichts am Unfallort.
4
____
auf die motive kommt es an –
nicht nur im strafprozess – auch beim lernen
Ein Fall für Sie – Eine Einführung in die Rechtskunde
54
Das Verwaltungsverfahren
Lernziele
Verwaltungsverfahren
Strafprozess
Sie können
▪ die Grundsätze der Legalität, des Gleichbehandlungs- und
des Willkürverbotes der staatlichen Verwaltungstätigkeit an
bürgernahen, einfachen Beispielen anwenden und deren
Bedeutung in einem Rechtsstaat beurteilen
▪ den Ablauf eines Verwaltungsverfahrens beschreiben
1.8.5
Die folgenden Situationen stammen aus Rechtsverfahren.
Ordnen Sie diese einem der Verfahren zu.
Verwaltungsverfahren
Zivilprozess
Die Prüfungskommission verleiht den erfolgreichen Absolventinnen und Absolventen die
Berufsmaturitätsausweise.
i)
Ein Amtsgericht spricht eine Ehescheidung aus.
j)
Ein Arzt erhält die Bewilligung zur Führung einer
Arztpraxis in einem Kanton.
X
k)
Ein Parksünder wird von einer Polizistin im
Ordnungsbussenverfahren gebüsst.
X
l)
lEin Teppichhändler macht einen Rekurs an den
Regierungsrat gegen den Entscheid der Handelsund Gewerbepolizei, die ihm die Öffnung seiner
Ausstellung am Sonntag verbietet.
X
m)
Eine AHV-Stelle lehnt ein Gesuch um
Ergänzungsleistungen zur AHV-Rente ab.
X
n)
Eine steuerpflichtige Person macht eine
Einsprache gegen eine Steuerveranlagung.
X
o)
Eine Mieterin ficht eine Mietzinserhöhung beim
regionalen Mietamt an.
p)
Eine Person beantragt bei ihrem Kanton eine
Prämienverbilligung für die obligatorische
Krankenversicherung.
X
q)
Einem Fahrzeuglenker wird von wegen Fahrens
in angetrunkenem Zustand der Führerausweis
entzogen.
X
Strafprozess
Zivilprozess
a)
Das Berufsbildungsamt erlässt eine Bussenverfügung gegen einen Lernenden wegen unentschuldigter Absenzen.
b)
Das Bundesgericht entscheidet, dass ein Kind
solange Anspruch auf Unterstützungszahlungen
von seinem Vater hat, als die Erstausbildung
dauert.
X
X
c)
Das eidgenössische Versicherungsgericht spricht
einer Person eine Invalidenrente (IV) zu.
d)
Das Gericht entschied «im Zweifel zugunsten des
Angeklagten» und sprach ihn frei.
X
e)
Der Gemeinderat heisst eine Beschwerde eines
Bauherrn gegen einen Entscheid der Baukommission gut.
f)
Der Staatsanwalt erhebt Anklage.
X
g)
Der Verteidiger drang mit seinem Antrag auf
Freispruch nicht durch.
X
X
X
X
h)
X
X
wer über gute rechtliche grundkenntnisse verfügt,
verhindert prozesse
Ursprung und Wesen des Rechts – Aufgaben und Übungen – 1.8 Das Verfahrensrecht
55
1.8.6
Ein abgelehntes Baugesuch
c)
Der Eigentümer eines Grundstückes möchte ein Einfamilienhaus
bauen. Er reicht sein Baugesuch mit allen nötigen Unterlagen
bei der Gemeinde ein. In erster Instanz wird es von der Baukommission behandelt. Die nächste Instanz ist der Gemeinderat,
nachher kann ein Fall weitergezogen werden an das kantonale
Baudepartement und an den Regierungsrat. In diesem Kanton
gibt es ein Verwaltungsgericht.
Tragen Sie im folgenden Schema den ganzen Instanzenweg ein,
der für diese Baubewilligung durchlaufen werden könnte.
Baukommission
Gemeinderat
Die Baukommission weist sein Baugesuch zurück. Hierauf
verfasst der Bauherr eine Beschwerde mit folgenden Einwänden:
kantonales Baudepartement
1. Die Baukommission bewilligt den Bau nicht, weil der
Grenzabstand zum Nachbargrundstück 6 m betragen
müsse.
Gemäss Baureglement Art. 16 gilt aber für ein Gebäude,
wie ich es bauen möchte, ein Abstand von 4 m.
Regierungsrat
Verwaltungsgericht
2. Sie verlangen, dass die Stützmauer mit Formsteinen
gebaut und bepflanzt werden müsse. Meinem Nachbarn
haben Sie aber eine kahle Betonwand bewilligt.
a)
Welche Grundsätze hat die Baukommission in ihrem Entscheid
nach Ansicht des Bauherrn und Beschwerdeführers verletzt?
Begründen Sie Ihre Antworten kurz.
Gemäss Einwand 1 der Beschwerde:
Legalitätsprinzip, weil sich die Gemeinde
(angeblich) nicht an die Bestimmungen des
Baureglements gehalten habe
Gemäss Einwand 1 der Beschwerde:
Willkürverbot. Nachbar musste kein Auflage
bezügl. des zu verwendenden Baumaterials einhalten. Der Beschwerdeführer hingegen schon
b)
Wer ist der Empfänger der Beschwerde?
der Gemeinderat
sie stecken in einem lernprozess
Bundesgericht
1.8.7
Notieren Sie jeweils den Buchstaben des Satzteils an der Stelle,
wo er im Text fehlt.
A Grundsatz der Gleichbehandlung
B Legalitätsprinzip
C Willkürverbot
D Grundsätze des Verwaltungsverfahrens
«Die Lehrpersonen an den öffentlichen Schulen haben sich bei
D zu halten.
der Notengebung an die _____
Weil sie sich an die Gesetze und Verordnungen über die NotenB handeln.
gebung zu halten haben, müssen sie nach dem _____
Da sie alle Schülerinnen und Schülern nach den gleichen
A
Kriterien bewerten müssen, gilt auch für sie der _____.
Wenn sie einer Schülerin eine bessere Note erteilen, als ihre
C
Leistungen rechtfertigen, verstossen sie gegen das _____.»