Kleines Plädoyer für ein gelassenes Zukunftsdenken

Kleines Plädoyer für ein gelassenes Zukunftsdenken
von Ulrich Grober
Beitrag zur Tagung „Loslassen - über die Kunst des Aufhörens“ - Zeitakademie des Tutzinger
Projekts „Ökologie der Zeit“ am 26. - 28. Juni 2015 in der Evangelischen Akademie Tutzing.
I.
Zwei Beobachtungen, den „Zeitgeist“ betreffend: „Gelassenheit“ rückt auf der Skala unserer Werte
und Sehnsüchte seit einiger Zeit unaufhaltsam nach oben. Zur Jahreswende 2014/14 soll sie laut
Medienberichten schon den Spitzenplatz der guten Wünsche und Vorsätze erobert haben.
Eine andere Beobachtung: Die „große Transformation“ stellt sich mometan als eine Vielzahl von
„Wenden“ dar: Energiewende, Agrarwende, Ressourcenwende, Forschungswende etc. Jede einzelne
Wende erscheint als ein Kraftakt, der den Akteuren fast Menschenunmögliches abverlangt.
Doch ist „Nachhaltigkeit“ tatsächlich primär eine „Kultur des Machens“, des Andersmachens und
Neumachens? Oder nicht primär eine „Kultur des Lassens“? In allen Variationen: loslassen,
zulassen, belassen, sich auf die Dinge, ihre Zyklen und Rhythmen einlassen. Müll vermeiden
beispielsweise ist besser als ihn noch so effizient entsorgen. Energie einsparen ist allemal besser als
alternativ erzeugen. Dinge auslaufen lassen, als Auslaufmodell ansehen besser als sie abreißen.
Natur Natur sein lassen – Prozessschutz – ist das neue Paradigma im Umgang mit Wildnis. Was
aber wäre „Prozessschutz“ im „nachhaltigen“ Umgang mit unseren mentalen Ressourcen? An
diesem Punkt, so scheint mir, rückt „Gelassenheit“ in den Horizont von „Nachhaltigkeit“.
II.
Die Suche nach dem Urtext – und der Essenz - von „Gelassenheit“ führt zurück in die Zeit der
gotischen Kathedralen und der deutschen Mystik. Formuliert hat ihn der thüringische Theologe und
Philosoph Meister Eckhart. Bei einem Gang durch die Erfurter Predigerkirche kommt man dem
„genius loci“ ganz nahe. Dort predigte er um 1300 den Novizen seines Ordens, also jungen
Menschen! - von der gelâzenheit.
Eckhart kannte sehr wohl die Tradition des Konzepts in der stoischen Philosophie der Antike: Den
griechischen Begriff ataraxia (Nicht-Beunruhigbarkeit, Unerschütterlichkeit), die lateinischen
Varianten tranquillitas animi (Seelenruhe) und serenitas (heitere Ruhe). Auch für ihn ist ruowe ein
hohes Gut. Doch für seine spezifischen Zwecke greift er auf das Matthäus-Evangelium zurück, auf
die Erzählung von der Berufung der ersten Jünger: „Omnia relinquere“ - alles zurücklassen, um
Jesus zu folgen. Hier sind wir an der Quelle, der Blaupause unseres modernen deutschen Begriffs.
In den Fokus rückt damit eine doppelte Bewegung: Alles loslassen können (das Weltliche, das
Gewohnte, das Materielle), um sich auf etwas Neues einlassen können (das Göttliche, das
Immaterielle, den Sinn). Die Abkoppelung erst schafft Raum, ja sie ist die Voraussetzung für neue
Ankoppelungen. Damit ist der Gegensatz von „Gelassenheit“ und „Entschlossenheit“ (Hingabe,
Engagement) hinfällig. Gelassenheit ist keine Form von Gemütlichkeit.
III.
In die Sprache der Gegenwart übertragen: „In der Ruhe liegt die Kraft“ und „Geht nicht, gibt’s
nicht“. Zwei Weisheiten, die aus der Umgangssprache der Industriearbeiter in die Ideenschmieden
der Werbebranche gewandert sind. Beide Sprüche sind komplementär. Ruhe, Dynamik und
grenzenloser Optimismus ergänzen sich zu einer Grundhaltung der „Resilienz“.
Was wäre ein dem angemessenes Zukunftsdenken? „Vor der Hacke isses duster“. Noch eine
Weisheit, diesmal aus der – verschwundenen - Arbeitswelt der Bergleute. Sie will sagen: Die
Zukunft ist prinzipiell offen. Wie es ausgeht, weiß man nicht. Prognosen sind schwarze Kunst. Sie
sind Narrative. Meist handelt es sich um lineare Fortschreibungen der jeweils jüngsten Trends. Die
Grenzen zwischen „Wunschdenken“ und „realistischem Denken“ (there is no alternative) sind
fließend. Ist kontinuierliches Wachstum realistisch („kapitalistischer Realismus“) oder bloßes
Wunschdenken? Ist eine Postwachstumsgesellschaft „idealistisches“ Wunschdenken von
„Gutmenschen“ und Spinnern oder nicht doch die realistischere Zukunftsvision?
IV.
In den letzten Jahrzehnten – in unserer Generation - hat weltweit die Rede über unsere Rechte und
Freiheiten dominiert. Dieser Diskurs wurde sehr stark kolonisiert und zugerichtet. Das Recht und
die Freiheit, zu konsumieren, rückten immer stärker in das Zentrum. Unter Globalisierung verstand
man vor allem als das Recht und die Freiheit, überall auf der Welt Geld zu verdienen – let’s make
money.
Nachhaltigkeit dagegen ist primär ein Diskurs über unsere Verantwortung und Pflichten. Das macht
die Idee so sperrig, die große Transformation, den Durchbruch zu genuin nachhaltigen Mustern so
schwierig, ja lässt ihn momentan als hoffnungslos utopisch erscheinen.
Was tun? „Durch Auferlegung einer allzugroßen – oder vielmehr – aller Verantwortung erdrückst du
dich“ (Franz Kafka). Wie wäre es, wenn man auch die Verantwortung auf ein „menschliches Maß“
reduziert. Niemand ist berufen, die „Welt zu retten“. Was jedoch jeder tun kann: Keep the options
open, die „Optionen offen halten“ (Brundtland- Bericht) – Think globally, act locally! Im
Bewusstsein der globalen Herausforderungen im eigenen Umfeld, in den Nahräumen etwas kreieren
und weitergeben, damit „das gute Leben“ weitergehen kann und auf lange Sicht möglich sein wird.
Gelassen und entschlossen.
V.
„Die Gegenwart ist aufgeladen mit Vergangenheit – und geht schwanger mit der Zukunft.“
(Leibniz). Einen achtsamen Blick auf das richten, was geschieht, und dann das, was davon
wünschenswerte Zukunft enthält, begleiten, fördern, zum Durchbruch verhelfen – ein solches
Handeln wäre mit der Haltung der Gelassenheit kompatibel. Leading from the emerging future
nennt das der amerikanische Zukunftsforscher Otto Scharmer. Um es mit einer alten, in vielen
Kulturen der Welt verbreiteten Metapher auszudrücken: Die schimmernde Perle wächst in der
harten, schwarzen, rauen Schale der Muschel heran. Wir wären gut beraten, unsere Aufmerksamkeit
auf das Wachstum der Perle zu richten.
Artikel zum Thema
Ulrich Grober (2012): Zur rouwe kommen. Das offene Geheimnis der Gelassenheit. Psychologie
heute Dezember: 72-77.
Ulrich Grober (2013): Gelassenheit – Annäherungen an eine Kultur des Lassens. In: Heike
Leitschuh et al. (Hg.): Mut zu Visionen. Brücken in die Zukunft. Jahrbuch Ökologie 2014.
Stuttgart: Hirzel: 82-91.
Link zum Podcast Radio-Features zum Thema mit Ulrich Grober
http://www.srf.ch/sendungen/perspektiven/gelassenheit-zeitreise-zu-mystischen-wurzeln-eines-modewortes