Strafrecht AT ll VL 6

Rechtswissenschaftliches Institut
Vorlesung 6: Massnahmen, Teil 1
(Voraussetzungen; sichernde Massnahmen)
PD. Dr. Stefan Heimgartner
31.03.16
(Titel der Präsentation), Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Christian Schwarzenegger, (Autor)
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Übersicht «Sichernde Massnahmen»
Massnahmen
Andere Massnahmen
Sichernde Massnahmen
Therapeutische
Massnahmen
Isolierende
Massnahmen
Verwahrung
Behandlung von psychischen Störungen
(stationär)
FS 2015
Suchtbehandlung
(stationär)
Massnahmen für
junge Erwachsene
(stationär)
Ambulante Behandlung von
psychischen Störungen oder
Sucht bzw. Abhängigkeit
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Massnahmen bei Erwachsenen, Art. 56 ff. StGB
Massnahmen
Sichernde Massnahmen
Andere Massnahmen
-  Behandlung von psychischen Störungen, stationär/ambulant (Art. 59
und 63 StGB)
-  Suchtbehandlung, stationär/ ambulant (Art. 60 und 63 StGB)
-  Massnahmen für junge Erwachsene, stationär (Art. 61 StGB)
-  Verwahrung (Art. 64 StGB) → isolierende Massnahme
FS 2015
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Grundsätze für sichernde Massnahmen
-  Dauer: unbestimmt resp. bis abnormer Zustand weggefallen oder
Erfolglosigkeit der Massnahme festgestellt ist (Art. 56 Abs. 6 StGB)
§  Für die Verwahrung ist keine Regeldauer vorgesehen
§  Achtung: für verschiedene sichernde Massnahmen gibt es zeitliche
Obergrenzen
§  Die meisten sichernden Massnahmen sehen eine Verlängerungsmöglichkeit der Massnahme vor, insb. Massnahmen zur Behandlung
von psychischen Störungen können mehrmals verlängert werden
§  Ausnahme: Massnahmen für junge Erwachsene (Art. 61 StGB)
können gar nicht verlängert werden und für die stationäre und
ambulante Suchtbehandlung ist eine einmalige Verlängerungsmöglichkeit vorgesehen (60 Abs. 4, Art. 63 Abs. 4 StGB)
-  Grundlage des Massnahmenentscheids: sachverständige Begutachtung
(Art. 56 Abs. 3 und 4 StGB)
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Übersicht Verlängerungsmöglichkeiten
Massnahme
Regeldauer
Verlängerungsmöglichkeit
Höchstdauer
Stationäre Behandlung
von psychischen
Störungen, Art. 59 StGB
i.d.R. max. 5 Jahre
(Art. 59 Abs. 4 StGB)
um jeweils max. 5 Jahre
(Art. 59 Abs. 4 StGB)
unbegrenzt
Suchbehandlung,
Art. 60 StGB
i.d.R. max. 3 Jahre
(Art. 60 Abs. 4 StGB)
einmalig um max. 1 Jahr
(Art. 60 Abs. 4 StGB)
max. 6 Jahre
(Art. 60 Abs. 4 StGB)
Massnahmen für junge
Erwachsene,
Art. 61 StGB
max. 4 Jahre
(Art. 61 As. 4 StGB)
keine
max. 6 Jahre oder mit
Vollendung des 30. Altersjahres (Art. 61 Abs. 4 StGB)
Ambulante Behandlung,
Art. 63 StGB
i.d.R. max. 5 Jahre
(Art. 63 Abs. 4 StGB)
um jeweils 1-5 Jahre bei
psychischer Störung; keine
Verlängerungsmöglichkeit bei
Suchtbehandlung
(Art. 63 Abs. 4 StGB)
Unbegrenzt bei psychischer
Störung; max. 5 Jahre bei
Suchtbehandlung
(Art. 63a Abs. 2 lit. c)
Verwahrung,
Art. 64 StGB
keine
keine, aber periodische
Prüfung der Entlassung
unbegrenzt
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Konkurrenz von Massnahmen
Konstellationen:
-  Mehrere Massnahmen sind möglich und gleich geeignet, aber nur eine
Massnahme ist notwendig: Massnahme, die den Täter am geringsten
beschwert, ist zu wählen (Art. 56a Abs. 1 StGB)
-  Mehrere Massnahmen sind notwendig: mehrere Massnahmen werden
angeordnet (Art. 56a Abs. 2 StGB)
-  Die Anordnung einer Strafe und einer Massnahme fallen in Betracht:
FS 2015
§ 
Es werden beide Sanktionen angeordnet, jedoch geht der Vollzug
der Massnahme nach Art. 59-61 StGB demjenigen der Strafe vor
→ dualistisch vikariierendes System (Art. 57 StGB)
§ 
Ausnahme: Der Vollzug einer Strafe geht der Verwahrung vor
(Art. 64 Abs. 2 StGB)
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Allgemeine Voraussetzungen für sichernde
Massnahmen
Die Anordnung von sichernden Massnahmen setzt kumulativ voraus:
-  Anlasstat (tatbestandsmässig und rechtswidrig)
-  Abnormer Zustand mit Rückfallgefahr
-  Straftat ist Ausdruck eines abnormen Zustands
-  Massnahme ist geeignet und notwendig um die Rückfallgefahr zu
beseitigen/herabzusetzen
-  Angemessenes Verhältnis zwischen der Anlasstat, der befürchteten
Rückfalltat und der Massnahme
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Voraussetzungen für stationäre Behandlung von
psychischen Störungen, Art. 59 StGB
- 
Anlasstat: Verbrechen oder Vergehen (Art. 59 Abs. 1 lit. a StGB);
Übertretungen nur möglich, sofern gesetzlich ausdrücklich vorgesehen
(Art. 105 Abs. 3 StGB)
-  Sachverständige Begutachtung (Art. 56 Abs. 3 StGB)
- 
Schwere psychische Störung, welche im Tat- und Urteilszeitpunkt vorliegen
muss (Art. 56 Abs. 1 lit. c i.V.m. Art. 59 Abs. 1 StGB)
- 
Zusammenhang Anlasstat – psychischer Störung (Art. 56 Abs. 1 lit. c
i.V.m. Art. 59 Abs. 1 lit. a StGB)
- 
Behandlungsbedürfnis des Täters oder Sicherheitsbedürfnis der
Öffentlichkeit (Art. 56 Abs. 1 lit. b StGB)
- 
Präventive Wirkung, d.h. die Massnahme ist geeignet die Rückfallgefahr
herabzusetzen (Art. 56 Abs. 1 lit. c i.V.m. Art. 59 Abs. 1 lit. b StGB)
-  Geeignete Massnahme verfügbar (Art. 56 Abs. 5 StGB), erforderlich
(Art. 56 Abs. 1 lit. a StGB) und verhältnismässig (Art. 56 Abs. 2 StGB)
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Anwendungsbeispiel zu Art. 59 StGB
A, der aufgrund einer psychischen Störung schuldunfähig ist, verübt einen
bewaffneten Raubüberfall gemäss Art. 140 Ziff. 4 StGB.
-  Möglichkeit einer Strafe?
-  Möglichkeit einer Massnahme gem. Art. 59?
§ 
§ 
§ 
§ 
§ 
§ 
§ 
FS 2015
Anlasstat = Verbrechen
Schwere psychische Störung?
Behandlungs- und Pflegebedürftigkeit?
Zusammenhang Tat – geistiger Zustand?
Rückfallgefahr mind. herabsetzbar?
Massnahme verhältnismässig?
Behandlungswille, -möglichkeit gegeben?
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Voraussetzungen für stationäre Suchbehandlung,
Art. 60 StGB
- 
Anlasstat: Verbrechen oder Vergehen (Art. 60 Abs. 1 lit. a StGB); Übertretungen
nur möglich, sofern gesetzlich ausdrücklich vorgesehen (Art. 105 Abs. 3 StGB)
- 
Sachverständige Begutachtung (Art. 56 Abs. 3 StGB)
- 
Abhängigkeit von Suchtmitteln etc., welche eine besondere Rückfallgefahr für
neue Verbrechen/Vergehen begründet (Art. 56 Abs. 1 lit. c i.V.m. Art. 60 Abs. 1
StGB)
- 
Zusammenhang Anlasstat – Abhängigkeit (Art. 56 Abs. 1 lit. c i.V.m. Art. 60
Abs. 1 lit. a StGB)
- 
Behandlungsbedürfnis des Täters oder Sicherheitsbedürfnis der
Öffentlichkeit (Art. 56 Abs. 1 lit. b StGB)
- 
Präventive Wirkung, d.h. die Massnahme ist geeignet die Rückfallgefahr
herabzusetzen (Art. 56 Abs. 1 lit. c i.V.m. Art. 60 Abs. 1 lit. b StGB)
- 
Geeignete Massnahme verfügbar (Art. 56 Abs. 5 StGB), erforderlich
(Art. 56 Abs. 1 lit. a StGB) und verhältnismässig (Art. 56 Abs. 2 StGB)
- 
Beachtung von Behandlungsgesuch und –bereitschaft (Art. 60 Abs. 2 StGB)
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Stationäre Massnahme für junge Erwachsene,
Art. 61 StGB
- 
Anlasstat: Verbrechen oder Vergehen (Art. 61 Abs. 1 lit. a StGB); Übertretungen
nur möglich, sofern gesetzlich ausdrücklich vorgesehen (Art. 105 Abs. 3 StGB)
- 
Altersgrenze: vollendetes 18. Altersjahr < 25 Jahre alt zum Tatzeitpunkt (Art. 56
Abs. 1 lit. c i.V.m. Art. 61 Abs. 1 StGB)
- 
Sachverständige Begutachtung (Art. 56 Abs. 3 StGB)
- 
Erheblich gestörte Persönlichkeitsentwicklung, welche eine besondere
Rückfallgefahr für neue Verbrechen/Vergehen begründet (Art. 56 Abs. 1 lit. c i.V.m.
Art. 61 Abs. 1 StGB)
- 
Zusammenhang gestörte Persönlichkeitsentwicklung – Abhängigkeit
(Art. 56 Abs. 1 lit. c i.V.m. Art. 61 Abs. 1 lit. a StGB)
- 
Behandlungsbedürfnis des Täters oder Sicherheitsbedürfnis der
Öffentlichkeit (Art. 56 Abs. 1 lit. b StGB)
- 
Präventive Wirkung, d.h. die Massnahme ist geeignet die Rückfallgefahr
herabzusetzen (Art. 56 Abs. 1 lit. c i.V.m. Art. 61 Abs. 1 lit. b StGB)
- 
Geeignete Massnahme verfügbar (Art. 56 Abs. 5 StGB), erforderlich
(Art. 56 Abs. 1 lit. a StGB) und verhältnismässig (Art. 56 Abs. 2 StGB)
FS 2015
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Ambulante Massnahme, Art. 63 StGB
- 
Anlasstat: tatbestandsmässige und rechtswidrige Verübung einer mit Strafe
bedrohten Tat (Art. 63 Abs. 1 lit. a StGB)
- 
Sachverständige Begutachtung (Art. 56 Abs. 3 StGB)
- 
Schwere psychische Störung oder Abhängigkeit, welche im Tat- und
Urteilszeitpunkt vorliegen muss (Art. 56 Abs. 1 lit. c i.V.m. Art. 63 Abs. 1 StGB)
- 
Zusammenhang Anlasstat – psychischen Störung/Abhängigkeit des
Täters (Art. 56 Abs. 1 lit. c i.V.m. Art. 63 Abs. 1 lit. a StGB)
- 
Behandlungsbedürfnis des Täters oder Sicherheitsbedürfnis der
Öffentlichkeit (Art. 56 Abs. 1 lit. b StGB)
- 
Präventive Wirkung, d.h. die Massnahme ist geeignet die Rückfallgefahr
herabzusetzen (Art. 56 Abs. 1 lit. c i.V.m. Art. 63 Abs. 1 lit. b StGB)
-  Geeignete Massnahme verfügbar (Art. 56 Abs. 5 StGB), erforderlich
(Art. 56 Abs. 1 lit. a StGB) und verhältnismässig (Art. 56 Abs. 2 StGB)
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Anordnung ambulanter Massnahme und
Freiheitsstrafe
-  Ambulante Massnahme wird grds. zusammen mit der Strafe
ausgesprochen (Art. 57 Abs. 1 StGB)
-  Bei völliger Schuldunfähigkeit wird nur eine ambulante Massnahme
angeordnet (Art. 19 Abs. 3 StGB)
-  Der Vollzug der unbedingten Freiheitsstrafe kann aufgeschoben werden,
sofern dies durch die Behandlung indiziert ist (Art. 63 Abs. 2 StGB)
→ Anordnung von Bewährungshilfe und Weisungen möglich
-  Wird der Vollzug der Freiheitsstrafe nicht aufgeschoben, besteht die
Möglichkeit der strafvollzugsbegleitenden Durchführung der Massnahme
(vgl. Art. 63b Abs. 3 StGB)
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Grundsätze der Verwahrung, Art. 64-64c StGB
-  Isolierende Massnahme
-  Dauer: Zeitlich unbegrenzter Freiheitsentzug, d.h. die Verwahrung dauert
so lange wie eine Rückfallgefahr des Täters besteht
-  ultima ratio-Charakter
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Voraussetzungen der Verwahrung
Die Anordnung der Verwahrung setzt nach Art. 64 Abs. 1StGB voraus:
-  Anlasstat:
§  Verbrechen mit angedrohter Höchststrafe von mind. 5 Jahren und
§  Täter hat physische, psychische oder sexuelle Integrität einer anderen
Person beeinträchtigt oder beeinträchtigen wollen (blosser Versuch
reicht aus)
-  Ernsthafte Rückfallgefahr: es ist ernsthaft damit zu rechnen, dass der
Täter erneut eine Tat der gleichen Art wie das Anlassdelikt begeht:
§  aufgrund seiner Persönlichkeitsmerkmale (lit. a) oder
§  aufgrund einer anhaltenden und langdauernden Störung von
erheblicher Schwere + Massnahme nach Art. 59 StGB verspricht
keinen Erfolg (lit. b)
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Nachträgliche Verwahrung
Eine nachträgliche Verwahrung kann gem. Art. 65 Abs. 2 StGB angeordnet
werden, wenn:
-  Während des Strafvollzugs neue Tatsachen oder Beweismittel
ergeben, dass die Voraussetzungen für die Verwahrung
§  bestehen und
§  bereits zur Zeit des 1. Urteils bestanden hätten, ohne dass das
Gericht davon Kenntnis haben konnte
Folge: nachträgliche Verwahrung im Rahmen eines Revisionsprozess trotz
Verurteilung zu einer endlichen Strafe im ersten Urteil, wobei sich die
Zuständigkeit und das Verfahren nach den Regeln über die Wiederaufnahme bestimmen (Art. 323 StPO)
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Lebenslängliche Verwahrung
Die Anordnung einer lebenslänglichen Verwahrung nach Art. 64 Abs. 1bis
StGB setzt kumulativ voraus:
-  Anlasstat:
§  Mord, vorsätzliche Tötung, schwere Körperverl., Raub, Vergewaltigung,
sexuelle Nötigung, Freiheitsberaubung/Entführung, Geiselnahme,
Menschenhandel, Völkermord, Verletzung d. Völkerrechts gem.
Art. 108-113 MStG und
§  Täter hat physische, psychische oder sexuelle Integrität einer anderen
Person beeinträchtigt oder beeinträchtigen wollen, d.h. blosser Versuch
reicht aus (lit. a)
-  Rückfallgefahr: sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Täter erneut ein
Verbrechen nach Art. 64 Abs. 1bis begeht (lit. b)
-  Täter: Einstufung als dauerhaft nicht therapierbar (lit. c)
FS 2015
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