Skript 23

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Urs Kindhäuser
Skript zur Vorlesung Strafrecht AT
§ 23: Actio libera in causa
I. Begriff und Problemaufriss
actio libera in causa: Handlung, die ihrem Grunde nach frei gesetzt ist.
Das Zurechnungskriterium der actio libera in causa besagt, dass eine Tatbestandsverwirklichung
auch dann zur Schuld zurechenbar ist, wenn der Täter zwar im Zeitpunkt der unmittelbaren
Tatausführung schuldunfähig ist, aber die Schuldunfähigkeit zu vertreten hat (zur
Begriffsgeschichte Hruschka 343 ff.; ders. ZStW 96 [1984], 661 [665 ff.]).
Das Problem der actio libera in causa ist ihre Vereinbarkeit mit dem Koinzidenzprinzip, wonach alle
strafbegründenden Deliktsmerkmale wenigstens einmal während der Tatausführung (als Begehung
der Tathandlung, §§ 16 Abs. 1, 8 S. 1 StGB) gemeinsam vorliegen müssen. Wenn der Täter aber
vom unmittelbaren Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung bis zum beendeten Versuch aufgrund
des vorangegangenen Alkoholgenusses schuldunfähig ist, mangelt es in der gesamten einschlägigen
Zeit an der Schuldfähigkeit und damit an einem konstitutiven Deliktsmerkmal.
Beachte: Wenn der Defekt unvorhergesehen nach Versuchsbeginn eintritt, bedarf es der Figur der
actio libera in causa nicht (mehr), um die Strafbarkeit zu begründen: Die Versuchsstrafbarkeit ist
dann bereits gegeben, und die Vollendung ist zurechenbar, wenn sich im Erfolg das vorsätzlich
geschaffene Risiko realisiert.
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II. Lösungsmöglichkeiten
Fall 1: A will den Vorgartenzwerg seines mit ihm verfeindeten Nachbarn N zerschlagen. Er will
sich jedoch zuvor noch etwas Mut antrinken und leert nach und nach eine ganze Schnapsflasche.
Als er schließlich den Zwerg mit einem Stein zertrümmert, ist er infolge des Alkoholgenusses
schuldunfähig (§ 20 StGB).
§ 303 StGB
1. oTb und sTb (+)
2. RW (+)
3. Schuld: § 20?
Problem: A hat seine Schuldunfähigkeit hinsichtlich der Tatbestandsverwirklichung zu vertreten.
1. Sog. Ausnahmemodell (verbreitete Lehre): Täter kann sich auf seine Schuldunfähigkeit bei der
Tatbestandsverwirklichung nicht berufen, wenn er seine Unfähigkeit zu normgemäßer Steuerung
aufgrund seines (sorgfaltswidrigen) Vorverhaltens (Herbeiführen des Defektzustands) zu vertreten
hat.
Nach dem Ausnahmemodell entspricht die actio libera in causa der Fahrlässigkeitshaftung (in Form
der Übernahmefahrlässigkeit), nur ist sie nicht auf der Tatbestands-, sondern auf der Schuldebene
angesiedelt. Im Rahmen der Fahrlässigkeitshaftung kann sich der Täter nicht darauf berufen, dass er
wegen seiner Unkenntnis die Tatbestandsverwirklichung nicht aktuell vermeiden konnte, wenn er
diese Unkenntnis aufgrund einer Sorgfaltswidrigkeit zu vertreten hat. – Bsp.: A setzt sich in einen
schweren Lkw, ohne über entsprechende Fähigkeiten zur Beherrschung des Gefährts zu verfügen
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und baut daher aufgrund eines Fahrfehlers einen schweren Unfall. Hier kann ihm zwar hinsichtlich
des Fahrfehlers kein individueller Vermeidbarkeitsvorwurf gemacht werden; dieser besteht jedoch
hinsichtlich der früheren Handlung, ohne entsprechende Kenntnisse das Gefährt überhaupt genutzt
zu haben.
In gleicher Weise kann sich der Täter bei der actio libera in causa nicht auf seine mangelnde
Schuldfähigkeit zum Tatzeitpunkt berufen, wenn er seine Unfähigkeit zu normgemäßer Steuerung
aufgrund eines sorgfaltswidrigen Vorverhaltens (Herbeiführen des Defektzustands) zu vertreten hat
(vgl. Hruschka 335 ff.; ders. JZ 1989, 310 ff.; Jescheck/Weigend § 40 VI 2; Kindhäuser,
Gefährdung als Straftat, 1989, 120 ff.; Kühl § 11/9 ff., 18; Küper Leferenz-FS 573; Neumann
Kaufmann, Arth.-FS 581 [589 ff.]).
Ergebnis: § 20 StGB greift nicht ein; Strafbarkeit des A nach § 303 StGB.
Kritik: Während die Fahrlässigkeitshaftung gesetzlich vorgesehen ist (§ 15 StGB) und auch für den
Verbotsirrtum und den entschuldigenden Notstand entsprechende Ausnahmeregelungen (vgl. §§ 17
S. 2, 35 Abs. 1 S. 2 StGB) bestehen, sieht § 20 StGB selbst keine Ausnahme vom Erfordernis der
Schuldfähigkeit vor.
Gegenargument: Die Regel, dass sich auf das Fehlen eines Deliktsmerkmals nicht berufen kann,
wer das Fehlen zu vertreten hat, ist ein allgemeingültiges Zurechnungsprinzip und wird in den
ausdrücklichen Ausnahmeregelungen nur beispielhaft erwähnt (Otto § 13/24 ff.); kein
strafrechtliches Zurechnungskriterium (Vorsatz, Fahrlässigkeit usw.) ist gesetzlich definiert.
Außerdem war dem Gesetzgeber bei der Neufassung des § 20 StGB das allgemein anerkannte
Zurechnungskriterium der actio libera in causa bekannt.
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2. Falls Ausnahmemodell verfassungswidrig: Tatbestandsmodell
Nach dem Tatbestandsmodell soll die Herbeiführung des Defektzustands bereits zur
Deliktsbegehung gehören, so dass die actio libera in causa nur scheinbar dem Koinzidenzprinzip
widerspricht.
Zwei Möglichkeiten:
 Nach der sog. „Vorverlagerungstheorie“ soll bereits mit der Herbeiführung des
Defektzustands (sog. actio praecedens) die Tatbestandsverwirklichung beginnen (vgl. BGHSt
21, 381 ff.; Bohnert Jura 1996, 38 f.; Herzberg Spendel-FS 203 [207 ff.]; Wolter Leferenz-FS
545 ff.).
 Modell der mittelbaren Täterschaft: Der Täter sei zum Zeitpunkt der Tatausführung sein
eigenes (schuldloses) Werkzeug, das er durch sein Vorverhalten gesteuert habe. Nach dieser
Auffassung sind die eigenhändigen Delikte (z.B. §§ 153 ff., 316 StGB), bei denen mittelbare
Täterschaft gerade ausgeschlossen ist, sowie teils auch reine Tätigkeitsdelikte oder
verhaltensgebundene Delikte nicht nach den Kriterien der actio libera in causa zurechenbar
(Baumann/Weber/Mitsch § 19/31 ff.; Jakobs 17/64 ff.; Puppe JuS 1980, 346 ff.; Roxin AT I
§ 20/56 ff.).
Ergebnis: § 20 StGB greift nicht ein; Strafbarkeit des A nach § 303 StGB.
Kritik: Die Tatbestandsverwirklichung beginnt nach § 22 StGB erst mit dem unmittelbaren
Ansetzen zur Tat, was eine bereits unmittelbare Gefährdung des Rechtsguts zumindest nach der
Tätervorstellung erforderlich macht (näher hierzu § 31); hiervon kann nun bei einer ggf. zeitlich
weit vorausliegenden Verursachung der Schuldunfähgkeit (etwa durch Betrinken) schwerlich
gesprochen werden. Mittelbare Täterschaft wiederum setzt voraus, dass der Täter die Tat durch
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einen anderen begeht (vgl. § 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB). Nach dem Wortlaut scheidet damit eine
„Selbstinstrumetalisierung“ aus.
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Falls auch Tatbestandsmodell verfassungswidrig: Täter ist nur nach § 323a StGB strafbar.
Wichtig: Die h.M. verlangt (für das Ausnahmemodell verfehlt, für das Tatbestandsmodell
folgerichtig) beim Vorsatzdelikt einen doppelten Vorsatz:
 Vorsatz hinsichtlich der Tatbestandsverwirklichung
 „Vorsatz“ (Kenntnis) hinsichtlich des Rausches.
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Fall 2: A fährt mit einem Lieferwagen in die Niederlande, um dort Kunden aufzusuchen.
Unmittelbar nach der Einreise in die Niederlande kauft er – bis dahin nüchtern – alkoholische
Getränke. In der Folgezeit trinkt er etwa fünf Liter Bier sowie Schnaps in nicht feststellbarer
Menge. Abends überquert er dann, nunmehr erheblich alkoholisiert und dadurch schuldunfähig, in
deutlichen Schlangenlinien auf der Autobahn über die deutsche Grenze (BGHSt 42, 235,
vereinfacht).
§ 316 StGB
1. oTb und sTB (+)
2. RW (+)
3. Schuld: § 20 StGB?
Ausnahmemodell: actio libera in causa (+), falls verfassungswidrig:
Tatbestandsmodell?
§ 316 ist ein verhaltengebundenes (eigenhändiges) Delikt: Notwendig ist, dass der Täter „ein
Fahrzeug führt“.
BGHSt 42, 235 ff.: Versuch beginnt erst mit dem unmittelbaren Ansetzen zum tatbestandsmäßigen
Verhalten selbst, hier also dem Beginn der Autofahrt.
Mittelbare Täterschaft: Delikt muss eigenhändig begangen werden.
Ergebnis: Keine actio libera in causa möglich! Strafbarkeit des A allein nach § 323a StGB.
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