ALTERNATIVES ERZÄHLEN INTERPRETATIONEN ZU TRISTAN- UND WILLEHALM-FORTSETZUNGEN ALS UNTERSUCHUNGEN ZUR GESCHICHTE UND THEORIE DES HÖFISCHEN ROMANS von PETER STROHSCHNEIDER München 1991 Die vorgelegten Untersuchungen entstanden zwischen März 1989 und Juni 1991 im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft bewilligten Habilitandenstipendiums. Voller Dankbarkeit sind sie meiner Frau gewidmet und denen, die am heftigsten den Abschluß der Arbeit herbeiwünschten, obzwar ein richtiges Ritterbuch nun doch nicht deren Ergebnis ist: Moritz und Tabea. III INHALTSVERZEICHNIS I. EINLEITUNG ..................................................................................................... 1 ERSTER TEIL TRISTAN ZWISCHEN ZWEI ISOLTEN. DREI STUDIEN ZU DEN GOTFRIT-FORTSETZUNGEN DES 13. JAHRHUNDERTS II. ERSTE STUDIE: STRUKTUR UND IMIATIO DER HANDLUNG ALS KOMMENTAR IN ULRICHS VON TÜRHEIM TRISTAN ............................ 11 1. Handschriftliche Tradition und wissenschaftliche Rezeption: ...................... 11 2. Tristan und die weißhändige Isolt: ................................................................ 21 3. Handlungsstruktur: ........................................................................................ 28 4. Handlungs-imitatio und Erzählalternative:.................................................... 36 III. ZWEITE STUDIE: TRILEMMATISCHE KONSTELLATIONEN. TRISTAN ALS MÖNCH UND DER BRÜSSELER TRISTAN ........................... 45 1. Der epische Umriß von Tristan als Mönch: .................................................. 45 2. Tristans Trilemma:......................................................................................... 55 3. Konnotationen, Wertungen:........................................................................... 62 4. Zur Konzeption des Brüsseler Tristan: ......................................................... 67 IV. DRITTE STUDIE: WIEDERHOLUNGSMUSTER UND REZEPTIONSMODELLE IM TRISTAN HEINRICHS VON FREIBERG ..... 74 1. Interpretationsprogramm: .............................................................................. 74 2. Die Welt der Ehe und die Welt des Ehebruchs: ............................................ 79 3. Positionsbestimmungen: ................................................................................ 89 4. Widersprüche und Fortsetzungssituation: ..................................................... 92 5. Wiederbegegnungen: ..................................................................................... 98 6. Strukturelle Kohärenz und Trug-Schlüsse: ................................................. 104 7. Liebestode: ................................................................................................... 112 ZWEITER TEIL ARABEL UND WILLEHALM, RENNEWART UND MALEFER ZWEI STUDIEN ZU DEN WILLEHALM-FORTSETZUNGEN ULRICHS VON DEM TÜRLIN UND ULRICHS VON TÜRHEIM V. ERSTE STUDIE: DIE NARBEN DER HELDEN UND DIE FESTE DES HOFES. ULRICHS VON DEM TÜRLIN ARABEL....................................... 126 IV 1. Zugänge: ...................................................................................................... 126 2. Narben und Wunden. Die Stigmata des Helden: ......................................... 136 3. Stufen der Aristie Willehalms I: .................................................................. 142 4. Stufen der Aristie Willehalms II:................................................................. 156 5. Arabel und Kyburg: ..................................................................................... 168 6. Die Feste des Hofes: .................................................................................... 187 VI. ZWEITE STUDIE: HEIDENKRIEG, WELTEROBERUNG UND WELTENTSAGUNG IN DER "WILLEHALM"-FORTSETZUNG ULRICHS VON TÜRHEIM ........................................................................... 198 1. 'Formatfragen'. Eine Hermeneutik des Textumfangs: ................................. 198 2. Zwischen Ende und Anfang. Die Möglichkeiten von Heidenkrieg und Erzählung am Beginn des Romans:........................................................... 208 3. tauf, shilt und wip. Rennewarts Gegenwart:................................................ 222 4. Das Kontinuum des Erzählten und seine Zäsuren: ...................................... 232 5. Die weltzugewandte Seite der Geschichte: ................................................. 241 6. Alternative als Bedingung, Bedingung als Alternative. Welteroberung und Weltentsagung: ................................................................................... 254 7. Flaches Erzählen vor tiefem Hintergrund: .................................................. 265 DRITTER TEIL PERSPEKTIVENWECHSEL DREI ANSICHTEN VOM WAGNIS EINER GESCHICHTE UND THEORIE DES HÖFISCHEN ROMANS VII. ERSTE ANSICHT: VOM SYSTEM DES ERZÄHLENS. FRAGMENTE UND FORTSETZUNGEN .................................................... 274 1. Fragmente: ................................................................................................... 274 2. Fortsetzungen:.............................................................................................. 283 3. Konstellationen: ........................................................................................... 289 VIII. ZWEITE ANSICHT: VOM SYSTEM DER TEXTE. ASPEKTE DER GLEICHZEITIGKEIT DES UNGLEICHZEITIGEN .................................... 299 1. Synchronie der Texte: .................................................................................. 299 2. Inszenierung des Kanons: ............................................................................ 312 IX. DRITTE ANSICHT: VOM SYSTEM DES TEXTES UND DER GESCHICHTLICHKEIT NARRATIVER KOHÄRENZ .............................. 320 1. Erzählebenen: .............................................................................................. 320 2. Widersprüche: .............................................................................................. 326 V 3. Die Partitur alternativen Erzählens:............................................................. 338 APPENDICES X. EXKURSE, DETAILANALYSEN UND ANMERKUNGEN EXKURSORISCHEN CHARAKTERS ......................................................... 351 1. Beobachtungen zu handschriftlichen Ausstattungsprogrammen und Bildfolgen in der Überlieferung von Gotfrits und Ulrichs von Türheim Tristan: ........................................................................................ 351 2. Profile der Überlieferungsgeschichte der Willehalm-Trilogie: ................... 359 3. Zu Textgeschichte und Geschichte der Textgeschichte von Ulrichs Arabel: ....................................................................................................... 363 4. Eine Inhaltsangabe der Arabel-Erzählung:.................................................. 367 5. Der dritte Hauptteil der Arabel in der Forschung: ...................................... 373 6. Über die Hintergründe der Arabel-Fassung *R:.......................................... 375 7. Tybalts minne bei Ulrich von dem Türlin: .................................................. 378 8. Die minne dreier Königinnen in der Arabel: ............................................... 381 9. Über einige vermeintlich frivole Einlagen in der Arabel: ........................... 384 10. Der minne-Vollzug in Todjerne und seine diskursive Verschleierung in der Arabel: ................................................................................................. 386 11. Frau Ute, der Vater-Sohn-Kampf und der Schluß des Willehalm:............ 390 12. Rennewart rex: ........................................................................................... 391 13. Ulrichs von Türheim Munleun-Szene: ...................................................... 392 14. Kraftproben in Ephesus: ............................................................................ 393 XI. LITERATURVERZEICHNIS ......................................................................... 395 1. Textausgaben: .............................................................................................. 395 2. Abhandlungen: ............................................................................................. 403 XII. TAFELN .................................................................................................... 428 1 I. EINLEITUNG Erzählen denke ich mir als etwas ursprünglich Menschliches. Eingelassen in die unhintergehbare Geschichtlichkeit alles Humanen, scheint seine Signatur ein 'stattdessen' zu sein: Erzählen an Stelle anderer Tätigkeit und in Konkurrenz zu ihr; das Erzählen dieser anstatt jener Geschichte; eine Form, diese Geschichte zu erzählen, als Alternative einer anderen narrativen Form derselben Geschichte. Wo immer einer etwas erzählt, weiß ein anderer auch etwas oder dasselbe auf neue Weise zu erzählen. In diesem Sinne setzt jeder Akt der Narration eine Differenz gegenüber anderen wie gegenüber anderem, und also eine Verständnishürde. Stets versteht sich das Erzählen als ein alternatives Erzählen von alternativen Geschichten – und von geschichtlichen Alternativen. Beide Perspektiven, die aufs Erzählte sowohl als jene auf das Erzählen selbst, sind in dieser Arbeit und in ihrem Titel zusammengezogen. Sie untersucht historisch ferne Prozesse der Narration und beteiligt sich damit an einem literaturgeschichtlichen Gespräch, welches seinerseits nur fallweise und partiell auch narrative Vollzugsformen integriert und welches in diesem Sinne selbst eine Alternative zum Erzählen ist. Es geht also um Annäherungen an einen Gegenstand, der dem wissenschaftlichen Diskurs doppelt fremd ist: als Erzählen nämlich, und als historisch Vergangenes. Die Antizipation möglichen Sinnes solcher fremder Narration, die Existenz von Vorerwartungen gegenüber diesem Erzählen, ist ein Element des literarischen Verstehensaktes: ein produktiv notwendiges sowohl als ein möglicherweise auch Erkenntnis behinderndes Element, wenn nämlich solches Vorverständnis verfehlt, was der Text erfüllen könnte, und wenn der Versuch mißlingt, es zu korrigieren. Dann stellt sich Verstehen nicht ein, dann bleibt uns der fremde narrative Text stumm. Daraus folgt – und eigentlich wäre es ein hermeneutischer Gemeinplatz –, daß nicht nur das Erzählen, sondern auch jene Erwartungen an es Gegenstand der Reflexion sein müssen.1 Welche Erwartungen frühere Hörer und Leser an ihre Texte stellten, wissen wir kaum. Es ist allein aus den verwehten Spuren herauszulesen, welche solches Vorverständnis nur insofern in den Literaturwerken hinterließ, als deren Urheber – die Antizipation antizipierend – auf es reagierten. Welche Erwartungen heutige Leser – und zumal: professionelle – gegenüber den alten Texten hegen, wissen wir nicht immer, weil sie von jenem Selbstverständlichen kondeterminier werden, welches erst im unabschließbaren Prozeß hermeneutischer Selbstreflexion in gewußtes Wissen zu überführen ist. Darum ist die Annahme vernünftig, die für die Texte bereitgehaltenen Norm-, Bezugs- und Deutungssysteme seien historisch – in Raum und Zeit also – höchst variabel: mindestens so sehr, wie das, was sich von selbst versteht. Umso erstaunlicher, wenn Verstehen gelingt. Also: umso überraschender, wenn alte Texte und die mit ihnen konfrontierten Erwartungen hie und da, mehr oder weniger einmal vermittelt werden können. Ganz und gar alltäglich aber, daß über große ge1 Vgl.etwa Gadamer (1972), S.251ff., 277ff. 2 schichtliche Distanz nichts oder nur ausschnittsweise oder nur schattenhaft etwas zu verstehen ist, daß fremde Texte unnahbar bleiben und ihrer neuzeitlichen Leser spotten.42 Das wäre indes deren Problem (und Verantwortung), nicht das der unverstandenen Texte. Sie können nichts dafür, wenn sie der Literaturwissenschaftler mit den falschen Fragen und Ansprüchen konfrontiert.3 Zu solcher Umorientierung der Erwartungen an das Gelingen von historischen Verstehensbemühungen, also an ihre Interpretierbarkeit, veranlassen jene Texte, die im Folgenden untersucht werden.4 Es sind die schlechten Spätlinge aus der Geschichte des höfischen Romans, Texte – so kann man sich in jeder Literaturgeschichte überzeugen –, die zur Unterwerfung unter mediävistische Standards für das Erzählen denkbar weiten Abstand halten. Nicht in allen Fällen durchmißt die Mittelaltergermanistik diese Distanz mit historischen Interpretationen. Auch heute noch behilft sie sich immer wieder mit ästhetischen oder intellektuellen Werturteilen, solchen zwar, die im Allgemeinen nicht als historische Einsichten aus hermeneutischer Anstrengung resultieren, sondern diese als stabile Vorurteile regulieren. Dazu wollen die folgenden Studien eine Alternative erproben. Sie tasten die hermeneutisch gut begründete Rolle des Präjudizes im Verstehensprozeß keineswegs an, doch wird darauf insistiert, daß Verstehen von Fremdem sich auch als Durchschauen der eigenen Vorurteile vollziehe. Auf den hier interessierenden, konkreten Literaturzusammenhang gewendet, läßt sich daraus eine erste Interpretationsmaxime gewinnen. Sie besagt, daß die Deutung fremden Erzählens unter dem Zwang stehe, die wertende Verschiebung von Begründungen für narrative Gegebenheiten etwa auf die Insuffizienzen des Autors, die Mißgunst der Umstände oder die strukturell ungünstige Position eines Textes in einem verfallenden Literaturzusammenhang so lange wie möglich zu verzögern. Eine erste Folgerung aus diesem Axiom zieht der Titel des vorgelegten Buches. Die evidente Distanz zwischen Formen des sogenannt späthöfischen Erzählens und jenen neuzeitlichen narrativen Standards, welche unreflektiert selbstverständlich sind oder auf dem Umweg über die sogenannt hochhöfischen Klassiker historisch begründet scheinen, diese Distanz wird hier weder in ästhetischen Wertungen, noch in Epochenkonstrukten formuliert, sondern ganz formal gefaßt. Die folgenden Studien handeln von Narrationen, die nicht nur obenhin wenig bekannt sind – dies auch, aber es wäre allein kein hermeneutisches Problem –, die vielmehr mit fremden narrativen Regeln vertraute Erwartungen stören: sie handeln von alternativem Erzählen. In diesem Zusammenhang trägt ein Begriff der Alternativität konkretere Bedeutung als derjenige, welcher eingangs in eine spezifische und sozusagen pleonastische Rela2 Seit Schleiermacher definiert sich philosophische Hermeneutik als strenge durch ihren Ausgangspunkt, "daß sich das Mißverstehen von selbst ergiebt und daß Verstehen auf jedem Punkt muß gewollt und gesucht werden." (Fr[iedrich] D[aniel] E[rnst] Schleiermacher, Hermeneutik, nach den Handschriften neu hrsg. und eingeleitet von Heinz Kimmerle. [Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse 1959/ 2] Heidelberg 1959, S.86). Dazu Gadamer (1972), S.172ff. 3 Vgl.Stierle (1983), S.255, 257. 4 Vgl.allgemein für den Gegenstand der mediävistischen Germanistik Ganz (1979). 3 tion zu dem des Erzählens gerückt wurde. Alternativität heißt hier jetzt das Gegeneinanderspielen zweier Ordnungssysteme der Narration, die sich einerseits in einem noch zu bestimmenden Corpus von Romanen des fortgeschrittenen 13.Jahrhunderts und zum andern in modernen Erwartungen an sie aktualisieren. Auch solcherart ist der Terminus der Alternativität noch von einer Allgemeinheit, die vorerst zu Operationalisierungen nötigt. Deswegen wird in dieser Arbeit die Alternativität mittelalterlichen Erzählens darin aufgesucht, wie sich in den fremden Texten und in den unvertrauten Systemen ihrer Intertextualität narrative Alternativen konstituieren. Die – aus der Forschungsperspektive unübersehbare – Alternativität des fremden Erzählens, so könnte man sagen, werde hier als die Fremdheit seiner erzählerischen Alternativbildungen zum Gegenstand der Untersuchung. Ein Textbereich, an dem sich solche Entfaltungen narrativer Alternativen prägnant zum Thema machen lassen, ist derjenige der, wie man sagt, Fortsetzungen. Wie in anderen Texten auch begegnen in ihnen vielfältigste Formen der sinnbildenden Relationierung von Erzählelementen unterschiedlichster Art. Doch unübersehbarer vielleicht als andere Texte sind sie stets zugleich als Alternativen auf anderes Erzählen bezogen, eben auf dasjenige, an das sie weitererzählend anschließen. So verstehen sich Kontinuationen eines Romantorso eo ipso als Gegenentwurf zu dessen Fragmentarizität; so wird man damit rechnen, daß sie etwa zum fortgesetzten Text eine ideologisch oder narratologisch abweichende Konzeption entwickeln; so wird man sich darauf einstellen, daß Kontinuationen dies auch tun könnten, indem sie auf verschiedenen Textebenen je distinkte Formen der Anknüpfung an einen Prätext realisieren oder alternative Varianten fortsetzenden Erzählens selbst durchspielen und gegeneinandersetzen. Ja es kommt, so wird sich zeigen lassen, zu Verschränkungen solcher Konstellationen, wenn zwei oder mehr Fortsetzungen zum selben Text auch untereinander in ein Verhältnis konkurrierender Alternativität geraten. Modi der intratextuellen und solche der intertextuellen Bildung erzählerischer Alternativen überkreuzen sich hier. Der Begriff der Alternativität läßt sich demnach hinsichtlich textinterner Konstellationen narrativer Elemente wie zugleich hinsichtlich intertextueller Konfigurationen von Erzählungen entfalten. Beides zu ermöglichen ist nichts, was Fortsetzungen von anderen Formen mittelalterlicher Narration systematisch unterschiede. Als dessen Paradigmata werden sie sich vielmehr gerade darin erweisen. daß sie auf besonders unverkennbare Weise Texte sind, die aus anderen Texten hervorgehen, an sie anschließen oder sich von ihnen abstoßen, auf sie antworten oder sie in Frage stellen, sie zum Sprechen oder zum Verstummen bringen wollen, so oder so über sie narrative Diskurse anzetteln. In diesem Sinne sind Kontinuationen Beispiele alternativen Erzählens: Texte aus Texten und über Texte. Kontinuationen, wie es hier geschehen soll, als solche zu untersuchen, heißt demnach, sie in intertextueller Relation zum Fortgesetzten zu denken. Der hermeneutische Zirkel prägt sich dabei so aus, daß dies nicht ohne einen Begriff von der literarischen Identität, der spezifischen Nichtsubstituierbarkeit5 der Fortsetzungen selbst 5 Vgl.Imdahl (1980), S.12ff.; ders. (1979). 4 möglich ist. Intertextuelle Kohäsion zum und Alternativität gegenüber dem fortgesetzten Text hier, intratextuelle Kohärenz und erzählerische Binnenalternativen des fortsetzenden Textes dort sind nicht voneinander zu lösen. Die Identität von Fortsetzungen ist in diesem Sinne ihre Intertextualität.6 Ihren Spuren folgt meine Suche nach der Alternativität mittelalterlichen Erzählens. Der Intertextualitätsbegriff, dessen sich die folgenden Untersuchungen bedienen, ist vorerst und vorsätzlich ebenso weit wie undifferenziert. Das kann meines Erachtens von der besonderen Situation her begründet werden, in der die Erforschung späthöfischer Erzählliteratur sich befindet. Unter deren Bedingungen verzichtete eine Ausdifferenzierung und Spezifizierung von Formen der Intertextualität noch verfrüht auf das Innovationspotential, das sich gerade aus der Universalität dieses Terminus entbinden läßt. Die Argumentation soll hier nicht vorweggenommen sein, doch eine mögliche Kritik, auf die sie stoßen könnte, ist zu antizipieren. Ich meine den Vorwurf, ein zu allgemein gefaßter Intertextualitätsbegriff besitze keine terminologische Distinktionskraft, er lasse Beliebiges ununterscheidbar ineinanderfließen. Ich halte solche Kritik im Rahmen der Intertextualitätsdebatte nicht für abwegig, wenngleich zu fragen wäre, wie am geschichtlich fremden Gegenstand das Beliebige vom Notwendigen vorweg sich abheben lasse. Im gegebenen Fall konkreter mittelalterlicher Texte aber kann man die theoretische Skepsis praktisch unterlaufen, und zwar auf dem Pfade einer überlieferungsgeschichtlichen Fundierung der interpretatorischen Entfaltung von Intertextualität. Deren jeweilige Rechtfertigung stützt sich daher im Folgenden nicht auf Markierungen von Intertextualität in den Texten, die erst im Vorgang des Interpretierens als solche zu identifizieren wären, sondern auf die historisch authentischen Traditionsgruppen des Erzählens. Darunter gibt es außerordentlich schwerverständliche, wie vielfältige überlieferungsgeschichtliche Versuche einprägsam zeigen, konzeptionelle Fluchtpunkte von Sammelcodices zu vermessen. Jedoch auch die scheinbar wahlloseste handschriftliche Kombination von Texten begründet den Versuch, über ein Verstehen intertextueller Bezüge der Logik der Zusammenstellung selbst nachzuspüren. Man müßte anders, was hermeneutisch unmöglich ist, die Zufälligkeit oder Sinnlosigkeit einer Überlieferungskonfiguration apriorisch feststellen können; damit schließe ich freilich nicht aus, das Unternehmen der interpretatorischen Entfaltung von Intertextualität könne fallweise auch scheitern und des überlieferungsgeschichtlich Gegebenen a posteriori nicht anders denn als unvermittelte Kontiguität inne werden. Doch führt dies weiter, als nötig ist. Hier war einleitend nur anzudeuten, daß der intertextuellen Spurensuche die Pfade der Überlieferungsgeschichte die Richtungen weisen können, und daß sie sich insofern, mangelnder terminologischer Spezifizierung zum Trotz, vom Vorwurf unkontrollierter Beliebigkeit wohl dispensiert glauben darf. Das im Folgenden zugrundeliegende Untersuchungsprogramm impliziert also eine Veränderung der Perspektive gegenüber jener, in welche die Literaturwissenschaft 6 Das Verhältnis von Textidentität und Intertextualität hat insbesondere Stierle (1984) reflektiert, provozierender ders. (1983). 5 bisher späthöfische Kontinuationstexte, bei allen Differenzen im einzelnen, doch stets gerückt hat. Sie trennte die fortgesetzten und die fortsetzenden Romane editorisch und interpretatorisch je für sich aus jenen gemeinsamen Erzählzusammenhängen heraus, die sie überlieferungsgeschichtlich bilden. Die vorliegenden Studien verstehen sich demgegenüber als Versuch, an fünf Fällen zu zeigen, daß es mit Blick auf Geschichte und Theorie des höfischen Romans vernünftig ist, derartige Abschottungen rückgängig zu machen und die Texte in jene historisch authentischen Konfigurationen des Erzählens zurückzuversetzen. Im einzelnen Falle heißt das, Interpretationen so anzulegen, daß Erzählungen als wechselseitig sich erklärende Teile eines ganz konkreten Überlieferungsgefüges verstehbar werden; es heißt, eine be- stimmte handschriftliche Textzusammenstellung als Realisation eines historisch spezifischen Textverständnisses und als selektive Aktualisierung der Sinndimensionen der Einzelwerke zu rekonstruieren. Erst dann könnten, wie es für eine Geschichte und Theorie der Gattung nötig wäre, die 'klassischen' fortgesetzten Texte und ihre späteren Kontinuationen in ein historisches Gleichgewicht geraten, das sich nicht lediglich ihrer Teilhabe an gemeinsamen stoffgeschichtlichen Zusammenhängen verdankt. Dieses Konzept kehrt die forschungsgeschichtlich etablierte Perspektive gewissermaßen um. Fortsetzungen fungieren in ihm nicht mehr, wie bisher, ausschließlich als Zeugnisse einer Rezeption der fortgesetzten Texte, welche in aller Regel deren 'eigentlichen' Sinn gröblich verfehlte, sie dienen nicht als Exempel epigonalen Mißoder Unverständnisses. In überlieferungsgeschichtlich dokumentierbaren historischen Gleichgewichtskonstellationen kann man vielmehr in gegenläufiger Richtung fragen, wie Kontinuationen eine zeitgenössische Rezeption fortgesetzter Texte beeinflussen. Denn für jedes Verstehen, das vom gemeinsamen handschriftlichen Verbund einer Fortsetzung und ihres Prätextes ausgeht, kondeterminieren nicht nur dessen Vorgaben – über welche Affirmations- oder Negationsstufen auch immer vermittelt – deren Konzeption. Es stellt auch umgekehrt die Kontinuation die fortgesetzte Erzählung in den Schatten: in den Schatten ihrer spezifischen Deutungsperspektiven, ihrer Verständnisangebote, ihrer handlungslogischen, narratologischen, ideologischen Selektionen. Offene Möglichkeiten des Weitererzählens und des Ausassoziierens, welche alle fortgesetzten Erzähltexte anbieten, werden durch die von jeder Fortsetzung vollzo- gene, stets spezifische Aktualisierung einzelner Optionen beschnitten und durch ein alternatives Ensemble offener Möglichkeiten ersetzt. Kontinuationen sind in diesem Sinne nicht nur als Verwirklichungen eines je eigenen Verständnisses des fortgesetzten Romans zu lesen, sie steuern selbst dessen Rezeption. Die Literatur und hier also das Erzählen sind nicht die Aufgabe der Literaturwissenschaft. Sie sind vielmehr ihr Gegenstand. Ihre Aufgabe ist der methodisch kontrollierte Diskurs über jenen Gegenstand. Diesen Diskurs verstehe ich als ein hermeneutisches Unterfangen, als seine nicht hintergehbare Grundform die Interpretation. Frei kann sie sich ihre Gegenstände wählen und eine Begründung, die sie dafür schuldig wäre, ergibt sich im Vollzug dieses Diskurses als seine historische Konkretheit und argumentative Konsistenz. 6 Wahlfreiheit, wie ich sie hier beanspruche, wird auch dann kaum eingeschränkt sein, wenn man Interpretationen als Beiträge zur Geschichte und Theorie des höfischen Romans anzulegen beabsichtigt. Denn historische Systemzusammenhänge wie der einer Erzählgattung können potenziell von jeder Stelle aus konstruiert und rekonstruiert werden. Privilegierte Augenpunkte lassen sich in ihnen systematisch nicht begründen, sondern allenfalls strategisch. Und es sind solche praktischen Erwägungen, welche die Textauswahl dieser Studien bestimmen – etwa die Chance, Identitäten von Erzähltexten prägnant von ihren Intertextualitäten her denken zu müssen; die Möglichkeit, gerade an manchmal bis zur Unverständlichkeit fremdem Erzählen Wege zur Historisierung narrativer Standards zu erproben; die Herausforderung, Gebiete zu durchschreiten, die sich weithin als terrae incognitae der literaturgeschichtlichen Forschung darstellen. Daß freilich ein unter solchen Aspekten abgestecktes Untersuchungsfeld nicht nach allen Seiten hin, sondern nur exemplarisch vermessen wird, bedarf im Horizont forschungspraktischer Kontingenzen vielleicht nicht gesonderter Begründung. Weil sich aber das Exemplarische als solches allein im Modus seiner Aufhebung erweisen läßt, muß ich darauf hoffen, im Fortgang der Studien werde sich Einvernehmen darüber einstellen, daß der Tristan und der Rennewart Ulrichs von Türheim, Heinrichs von Freiberg Tristan, Tristan als Mönch und endlich die Arabel Ulrichs von dem Türlin die Gruppe mittelhochdeutscher Romanfortsetzungen angemessen repräsentierten.7 Diese Gruppe könnte selbstverständlich auch von einem alternativen Textensemble her in den Blick gerückt werden, etwa dem der Artus- und Gralromanfortsetzungen. Allerdings werden Theorie und Geschichte des höfischen Romans, nicht zuletzt desjenigen des fortgeschrittenen 13.Jahrhunderts, in einer Weise von der Artus- und Gralromanforschung bestimmt, daß auch in dieser Hinsicht ein Perspektivenwechsel begründbar ist. Ihm bieten sich die Fortsetzungen zweier gattungssystematisch widerständiger Romane, des Tristan und des Willehalm um so leichter an, als die Einebnung der Differenzen zwischen Gotfrit und Wolfram, welche die germanistische Mediävistik als literarästhetische Antagonisten begreift, zu den charakteristischen Erscheinungen im System des höfischen Romans gehört und früh schon im Oeuvre des Fortsetzers Ulrich von Türheim prägnant Gestalt annimmt. Daß es sich gleichwohl um tropologisch alternative Erzählzusammenhänge handelt, versteht sich: Dante be7 Diese Texte und jene, welche mit ihnen in engstem Zusammenhang stehen, werden beim Zitieren in den folgenden Untersuchungen durch Siglen vertreten: AlA = sog.Alemannische Arabel oder Leipziger Arabel-Bearbeitung ET = Eilhart von Oberg, Tristrant FT = Heinrich von Freiberg, Tristan GT = Gotfrit von Straßburg, Tristan PW = Buch vom heiligen Willehalm ('Prosa-Willehalm') TA = Ulrich von dem Türlin, Arabel (früher: Willehalm) TAF = (anonyme?) Fortsetzung zu Ulrichs von dem Türlin Arabel TaM = Tristan als Mönch TR = Ulrich von Türheim, Rennewart TT = Ulrich von Türheim, Tristan WW = Wolfram von Eschenbach, Willehalm 7 gegnet Tristan im zweiten Kreis der Hölle, Willehalm aber im Marshimmel.8 Der Argumentation jedoch ermöglicht diese Beschränkung jedenfalls hinsichtlich der Erzählstoffe eine Konzentration, die allein um den Preis des Verzichts auf systematisch wichtige Paradigmata des Erzählens noch zu steigern gewesen wäre. Auch nach anderer Seite hin bedarf die Textgrundlage der folgenden Studien noch eines Wortes vorweg. Ich verstehe meine Arbeit nicht als Versuch einer ästhetischen 'Rettung': es geht ihr nirgends um eine Apologie der interpretierten Texte als Kunstwerke. Wohl aber geht es um deren Rehabilitation als Gegenstände historischer Erkenntnis. Jene Kritik des Epigonenbegriffs, die längst zur wirkungslosen Exordialtopik wissenschaftlicher Bemühungen um nach-gotfritsches und nachwolframsches Erzählen geronnen ist, erübrigt sich hier aus diesem Grunde. Dies zumal, als Konzepten des Epigonalen oder Epigonischen und den in ihnen auf den Punkt gebrachten Syndromen apriorischer Wertung mit theoretischer und terminologischer Reflexion oder wissenschaftsgeschichtlicher Problematisierung schwerlich beizukommen wäre. Derartige Kritik verlängert die Epigonendiskussion nur und operiert am Symptom: die Wertungen und Erklärungsmuster solcher Konzeptionen verstehen sich nämlich als Ausdruck der 'objektiven' Schwerverständlichkeit und Schwererklärbarkeit jener literarischen Gegenstände, auf welche sie angewendet werden. Der Gebrauch des Epigonenbegriffs bezeugt ein historisches NichtVerstehen-Können. Er folgt einer Strategie der Reduktion historischer Komplexität des Gegenstandes, dessen er nur in einer Perspektive des 'nicht mehr' und 'noch nicht', also als eines Uneigentlichen inne wird. Lediglich was ein Text nicht ist, nicht jedoch, was er ist, sagt der Gebrauch des Epigonenbegriffs. Deswegen kommt es nicht darauf an, ihn zu kritisieren, sondern ihn zu erübrigen durch erklärungsmächtigere, historisch konkretere, konsistentere Textinterpretationen und literaturgeschichtliche Konzepte. So weit etwas historisch erklärbar ist, so weit braucht man keine Platzhalter nach Art des Epigonenbegriffs. Über historische Erkenntnischancen läßt sich auch in den Kunstwissenschaften nicht durch ästhetische Vorurteile und Urteile entscheiden – dies umso weniger, je fremder die Kultur ist, der die untersuchten Gegenstände entstammen –, sondern allein in der Interpretation des spezifischen Falles. Die hier vorgelegte Arbeit stellt sich darum in ihren beiden ersten Teilen als Folge von Einzelanalysen zu Texten des fortgeschrittenen 13.Jahrhunderts dar, die nach Erzählverfahren und Sinnbildungsansprüchen schwerlich über einen Leisten zu schlagen wären.9 Das jeweilige Erkenntnisziel ist dabei einerseits recht kurz, in anderer Perspektive aber auch merklich weiter gesteckt: kurz, insofern es zunächst um nichts anderes als um weithin hart am Text bleibende Deutungsarbeit geht, oder, wie man auch sagen könnte, um die Reduzierung solcher Textmomente, die etwa beliebig oder belanglos oder stoffgeschichtlich hinlänglich erklärbar scheinen konnten. Daß am geschichtlich fremden Gegenstand auch dieses Nahziel in beträchtlicher Ferne liegen kann, das zeichnet sich schon am 8 9 Vgl.Dante, Divina Commedia Inf. V,67; Par. XVIII,46. Aspekte der Interpretationen des ersten Teils zu den Fortsetzungen von Gotfrits Tristan-Roman habe ich in einem Aufsatz gebündelt, vgl.Strohschneider (1991). 8 interpretatorischen Aufwand ab, der hier zuweilen getrieben werden mußte. Immer wieder vor die Frage gestellt, inwiefern Einzelanalysen, welche sich allererst über Vermittlungsstufen dem Hauptstrang der jeweiligen Argumentation anheften lassen, deren Fortgang verlangsamen dürften, entschied ich mich im Hinblick auf dieses ferne Nahziel und angesichts der geringen Kanonizität der Texte wiederholt für die möglichst detaillierte Vergegenwärtigung der historischen Formen des Erzählten und des Erzählens. So blind jede theorieverweigernde Zuwendung zum Text bliebe, so leer jeder literaturwisssenschaftliche Theoriebildungsakt, der nicht stets von den Romanen seinen Ausgang nähme und immer wieder ihnen sich konfrontierte. Der dritte Teil der nachfolgenden Untersuchungen versteht sich gegenüber den beiden voraufgegangenen als Vorschlag eines Perspektivenwechsels. Er versucht zu erkunden, in welchem Sinn die analysierten Romane sich als paradigmatisch denken ließen, wie weit an ihnen gewonnene interpretatorische Einsichten im Hinblick auf Theorie und Geschichte des höfischen Romans in Deutschland fruchtbar zu machen wären. Dies steht in der Perspektive der Fragestellung, wie überhaupt Annäherungen an die Alterität des mittelalterlich alternativen Erzählens gelingen könnten. Aufgefächert ist der Problemzusammenhang in die drei systematischen Ebenen der Narration im allgemeinen, sodann des Gefüges der konkreten Texte, schließlich des einzelnen Textes selbst. Meine Überlegungen beabsichtigen nicht Aussagen darüber, was der fremde Text und das alternative Erzählen seien, sondern sie skizzieren heuristisch deskriptive Modellbildungen. Es wird an ausgewählten Problemkonstellationen zu erproben versucht, was man sieht und wie sich Beobachtungen zusammenfügen, wenn das Erzählen in textueller wie intertextueller Perspektive abstrakt als systemhaftes, kombinatorisches Integral von Elementen und ihren Verknüpfungsregeln gedacht wird. Dies impliziert auch die Frage, wie ein Systembegriff zu modellieren wäre, der am fremden Gegenstand Fremdes erkennbar zu machen hat, und es bedingt, daß der Terminus des Systems hier nicht apriorisch zulänglich zu bestimmen ist. Die drei letzten Kapitel zielen auf eine Differenzierung und geschichtliche Konkretisierung der Historie und Theorie höfischen Erzählens und seines Zusammenhangs im System der Gattung des mittelalterlichen Romans. Wohl bewußt bleibt dabei, daß solches erkauft ist um den Preis von Entdifferenzierungen. Es geht darum, von verschiedenen Aspekten her auf differenzierbaren textuellen wie intertextuellen Ebenen die grundsätzliche Alterität und Fremdheit dieses Erzählens begreiflich werden zu lassen. Zu diesem Zweck werden die Texte und ihre mittelalterlichen Überlieferungen als Repräsentationen eines diachronisch, diatopisch und diastratisch noch indifferenten Traditionsraumes verstanden. Daß im Hinblick darauf nachfolgende Forschungsschritte zu historischer Konkretisierung und strukturierender Entfaltung kommen werden, ist dabei vorausgesetzt. Ich hoffe deutlich zu machen, daß die im letzten Teil dieser Untersuchungen angestellten vorgreiflichen Überlegungen zu einer künftigen Theorie und Geschichte des höfischen Romans im deutschen Mittelalter nicht Ergebnisbündelung, sondern dezidiert ein offener Versuch sind. Darin, daß sie dies sind, bleiben für den Autor dieses 9 Buches die Freiheiten und Begrenzungen jener Situationen noch erkennbar, in denen es entstand und in denen es seine unmittelbarste Funktion zu entfalten hat. Der Leser hingegen wird auf die grundsätzliche Einsicht vertröstet, daß hermeneutische Tätigkeit anderes als 'Zwischenergebnisse' gar nicht erzeugen kann, daß historische Wahrheiten stets nur als Alternativen zu anderen gedacht werden können. Beliebig sind sie darum nicht, doch diskursiv offen, fragmentarisch und auf Fortsetzung hin angelegt. 10 ERSTER TEIL TRISTAN ZWISCHEN ZWEI ISOLTEN DREI STUDIEN ZU DEN GOTFRIT-FORTSETZUNGEN DES 13. JAHRHUNDERTS 11 II. ERSTE STUDIE: STRUKTUR UND IMIATIO DER HANDLUNG ALS KOMMENTAR IN ULRICHS VON TÜRHEIM TRISTAN 1. Handschriftliche Tradition und wissenschaftliche Rezeption: Spätestens seit dem Lai du Chievrefoil von Marie de France, der gewöhnlich in die Jahre 1160/1170 datiert wird1, gibt es in der mittelalterlichen Tristan-Tradition einen charakteristischen Zug zur Verselbständigung einzelner Episoden. Er prägt unter anderem die Tristan-Folien, den Donnei des amants, Tristan als Mönch, auch zumal die italo-iberische Gruppe von Tristandichtungen2, und er findet seine Parallele im Prozeß zunehmender Ablösung der vielfältigen Bildzeugnisse von der literarischen Tristanüberlieferung sowie in einer Tendenz, mehrgliedrige narrative Zusammenhänge in die ikonographische Einzelszene (etwa die Baumgartenepisode) zusammenzuziehen.3 Auf einer neuen Ebene wiederholte gewissermaßen die germanistische Literaturwissenschaft solche Segmentierungen, insofern sie den Wirkungen "einer zunehmenden Ästhetisierung des literarhistorischen Urteils auch auf die editorische Praxis" nachgab und etwa Gotfrits Roman sukzessive von seinen Fortsetzern abkoppelte. 4 Aber eben diese forschungsgeschichtliche Beobachtung macht darauf aufmerksam, daß es in der mittelalterlichen Tristan-Tradition auch ein historisches Komplement zur stoffgeschichtlichen Tendenz vereinzelnder Episodisierung gibt: diejenige zur Zusammenfügung des aus dem Stoffreservoir greifbaren Materials, eine Tendenz zu umfassender (etwa an der fiktiven Heldenbiographie orientierter) Zyklik. Nicht erst in den französischen, italienischen, englischen Tristanprosen des späten Mittelalters gewinnt diese Komplementärbewegung literarisch Gestalt5, an ihr haben schon die in den beiden folgenden Kapiteln interpretierten Texte und ebenso der Tristan Ulrichs von Türheim Teil. Von ihm soll zunächst hier die Rede sein. Sieben Handschriften sind von Ulrichs Text bekannt, darunter ein heute verschollenes, indes für die hier verfolgten Zwecke hinreichend aus sekundären Quellen rekonstruierbares Manuskript. Sie alle sind der Gotfrit-Forschung wohl geläufig.6 1 Die Datierung begründen Illingworth (1966), bes.S.470ff.; Ringger (1973), S.9ff. Vgl.Kelemina (1923), S.152ff.; Ranke (1925), S.97ff.; Fouquet (1973), S.360ff.; Stein (1984), S.370, 376, 385f. 3 Vgl.Fouquet (1973); Frühmorgen-Voss (1975), S.48ff., 125ff.; Ott / Walliczek (1979), bes.S.487ff. 4 H.-H.Steinhoff in seiner Rezension von Kerths Text-Ausgabe: PBB 104 (Tübingen 1982), S.481483, hier S.481. Seit Massmanns Edition (1843) erscheinen die Tristan-Fortsetzer nur noch mit Inhaltsangaben (Bechstein, Golther, Krohn) oder gar nicht mehr in den Gotfrit-Ausgaben; Übersicht bei Picozzi (1971), S.166. 5 Zur Übersicht Stein (1984), S.381ff. 6 M: Cgm 51; H: Cpg 360; B: Köln, Historisches Archiv W *88; N: Ms.germ.quart.284; R: Brüssel, Ms.14697; P: Ms.germ.fol.640; S: Hamburg, StUB Cod.ms.germ.12 [1722]. - Die Literatur zu den Handschriften bei Steinhoff (1971), S.16ff.; ders. (1986), S.19ff. Ergänzend dazu Deighton (1979), S.15-127; Rheinheimer (1975), S.14ff. usw.(zu N); zuletzt Klein (1988), S.124ff., 161ff. Da "die sehr nahe Verwandtschaft zwischen R und S [seit dem Zweiten Weltkrieg verschollene, 2 12 Mehrheitlich überliefern diese Codices nur Teile des Romans, und zwar in zwei Fassungen.7 Es handelt sich also um eine überlieferungshistorische Gemengelage, die nach zwei Seiten hin aufzuschlüsseln ist: hinsichtlich der Versionen des Romans sowie mit Blick auf deren handschriftliche Symbiosen mit anderen Texten. Die umfänglichere Fassung von Ulrichs Tristan-Fortsetzung überliefert annähernd vollständig allein der Cpg 360 (H) vom Ende des 13.Jahrhunderts. 8 Es ist dies jener Text, den Kerths Ausgabe abbildet9 und dessen letzten Teil (ab Vers 2855) zweihundert Jahre später die Handschriften R und *S als Abschluß einer 'Tristan-Trilogie' gebrauchen. Es bietet sich an, hier von der Vulgat-Version zu sprechen, während eine umfassend kürzende Epitome (mit der Terminologie der Gotfrit-Forschung) Redaktion M heißen soll.10 In der auf 1323 datierten Blankenheimer (Kölner) Handschrift B ist sie ganz überliefert, der sogenannte Münchner Tristan (M) aus dem zweiten Viertel des 13. und N aus der Mitte des 14.Jahrhunderts geben die unvollständige Parallelüberlieferung.11 Diese Kurzfassung von Ulrichs Tristanroman streicht von den 3730 Vulgat-Versen 882 ersatzlos und hat für weitere 585 Verse raffende, auch entstehende Brüche des narrativen Kontinuums kittende Zusammenfassungen von insgesamt nur 36 (34 in N) Versen.12 Die Striche in motivisch bezügereichen (das elsternfarbige Reh als Isolts Liebesbote) oder strukturell notwendigen Partien (Markes Beratungsgespräche), die Kürzungen von narrativen Redundanzen, deskriptiven Abschnitten und motivationalen Leerstellen (Kaedins Konflikt mit Isolt und Tristan wegen 1722 angefertigte Abschrift der verlorenen Handschrift *S von 1489] keinen Zweifel leidet" (Ranke [1917], S.53), kann überlieferungsgeschichtlich auch mit S (und *S) argumentiert werden; vgl.auch TaM (Bushey), S.12ff. 7 Diesen Sachverhalt dokumentiert die maßgebliche Edition nur unzureichend. In ihrer Einleitung unterschlägt sie ihn völlig, weil sie das die historische Prozeßhaftigkeit des Textes selbst verdeckende Ziel einer "kritischen Ausgabe" erstrebt, vgl.TT (Kerth), S.VII; für Informationen über die Versionen des Textes muß man hinter die 'kritische Ausgabe' auf Kerths vorbereitende Untersuchungen zurückgehen: ders. (1977), S.48ff.; ders. (1979), v.a.S.2ff. 8 Wenige Male fehlt offensichtlich ein Reimpaarvers (etwa 605, 748, 1497, 1649, 3066); ein bereinigter Handschriftenabdruck jetzt in GT (Spiewok). 9 Vgl.TT (Kerth), S.XVII. 10 Die implizierte These über das genetische Verhältnis der beiden Fassungen ist hier nicht ausführlich zu begründen, denn sie spielt für die überlieferungsgeschichtliche Argumentation keine Rolle. Sie geht indes davon aus, daß in der Regel die Differenzen zwischen den Romanversionen überzeugender als Kürzungen von M gegenüber der Vulgata, denn als Amplifikationen in umgekehrter Richtung zu verstehen seien (vgl.auch Steinhoff [wie oben Anm. 4], S.481), und stimmt insofern in den Konsens über die sekundäre Stellung auch der kürzenden M-Redaktion von Gotfrits Tristan gegenüber dessen vollständigem Text ein, vgl.He-rold (1911); Ranke (1917); Steinhoff (1974), S.II; eine neue Stellungnahme Werner Schröders in der ZfdA ist angekündigt. Die spekulative Gegenposition, der Münchner Tristan repräsentiere möglicherweise eine "erste Redaktion des Gedichtes durch Gottfried", erwägen GT (Marold), S.LVI (dort auch das Zitat) und Peschel (1976), S. 103ff. 11 N bricht nach 2511 ab, in M fehlen 461-2584 durch Blattverlust; vgl.Montag (1979), S.31ff. Textgenetisch hängen B und N (wohl über kontaminierte Zwischenstufen) von M ab, dazu zuletzt Deighton (1983); die Arbeit von Francke (1985) war mir nicht zugänglich. 12 Eine Zusammenstellung der Fehlverse bei Deighton (1979), S. 399ff. 13 seines Versagens bei Kamele) zeigen M als mit einer Tendenz zum Faktitiven erzählenden Text, als Vertreter einer den fiktional hochgespannten Entwürfen der Tristangeschichte gegenüber alternativen Poetik, die als Forschungsaufgabe hier nicht beiläufig mit erledigt werden kann.13 Ulrichs Tristanfortsetzung ist stets als Abschluß einer konzeptionell mehrere Tristantexte integrierenden Geschichte und immer zusammen mit Gotfrits Fragment14 überliefert – in zwei charakteristischen handschriftlichen Konfigurationen. Ein älterer Typ elsässischer und mittelfränkischer Handschriften aus dem Zeitraum vom zweiten Drittel des 13.bis zur Mitte des 14.Jahrhunderts verbindet Gotfrits Tristan (oder dessen M-Redaktion) mit Ulrichs Fortsetzung (oder deren Kurzfassung). Zwei der hierher gehörenden Codices haben Mitüberlieferung15, die beiden anderen (MB) sind reine Tristansammlungen und – fast liegt es nahe zu sagen: demgemäß – zyklisch illuminiert.16 Einen jüngeren Typ der Textvergesellschaftung vertreten demgegenüber die Handschriften R und *S. Es sind im 15.Jahrhundert geschriebene, wiederum elsässische (und im Falle von R wiederum illuminierte) Tristansammlungen mit nun aber deutlich anderem Akzent. Gotfrits Torso wird hier mit Tristan als Mönch fortgesetzt und der Zyklus sodann mit dem letzten Viertel von Ulrichs Text abgeschlossen. Der Blick auf Textsymbiosen und chronologische Schichtung der Sammelhandschriften zeigt also Gruppenbildungen – MHBN einerseits, anderseits R*S17 –, die mit den stemmatologischen Verwandtschaftsverhältnissen der jeweiligen Textfassungen nicht bruchlos zur Deckung zu bringen sind. Die Textkritik beobachtete zwar auch in der Überlieferung der Epenfortsetzung Kontaminationen zwischen H und BN sowie zwischen B und R, kam aber insgesamt und schon auf Grund der jeweiligen Versbestände zu zwei Textgruppen MBN und HR*S18 – ich nannte sie oben Kurzredaktion und Vulgat-Fassung des Romans. Diese widerstreitenden Befunde rücken die offenbar schwer zu überwindende Trennung von Textgeschichte und Überlieferungsgeschichte ins Zwielicht und führen zu einer Folgerung, die nur deshalb zu formulieren sich rechtfertigt, weil sie von der Forschung nicht in gebührender Selbstverständ13 Vgl.dazu vorerst Schnell (1984). Nicht aber, wie etwa D.H.Green in seiner Rezension von Kerths Textausgabe schrieb (Medium Ævum 49 [1980], S.307), stets als dessen unmittelbare Vervollständigung. 15 H gehörte einmal mit der Heidelberger Handschrift Cpg 349 von Freidank zusammen, welcher auch sonst in den Kreis der Großepiker vorstößt (vgl.Rudolfs Willehalm von Orlens 2206, Alexander 3235). In N folgt die Tristangeschichte auf die Sächsische Weltchronik und eine Sammlung heterogener Kleinformen; dazu (außer der oben Anm.6 genannten Literatur) auch Glier (1971), S.262ff. 16 Dazu unten X.1. 17 Die siebente Türheim-Handschrift P kann hier wie zuvor schon bei der Unterscheidung der Redaktionen unberücksichtigt bleiben. 18 Vgl.TT (Kerth), S.XVI. Das Stemma für Ulrich weicht in der Einschätzung des Verhältnisses von H und R*S von jenem für Gotfrit ab, vgl.Ranke (1917), S.85, 145; Kerth (1977), bes.S.70ff.; ders. (1979), bes.S.4f. [Korrekturnotiz: Zu nicht unerheblichen Modifikationen an Rankes Stemma der Gotfrit-Überlieferung kommt - nach freundlicher Mitteilung von Karl-Ernst Geith die jüngste Revision von R.Wetzel, Die handschriftliche Überlieferung des 'Tristan' Gottfrieds von Straßburg, untersucht an ihren Fragmenten. Diss.phil.masch. Fribourg 1991.] 14 14 lichkeit wahrgenommen wird. Es ist die Einsicht, daß die Wahl eines besonderen Textverbundes für eine Sammelhandschrift und die Wahl einer bestimmten handschriftlichen Vorlage oder Redaktion für einen seiner Teile nach verschiedenen Kriterien voneinander unabhängig getroffen werden können. Tradenten, die einen Textzusammenhang plausibel und nachahmenswert finden, mögen sich gleichwohl in der Frage der Kopiervorlage für einen Teil einer solchen Sammlung gegen die Verbundhandschrift entscheiden und umgekehrt: wer einen Text abschreibt oder kopieren läßt, ist nicht zur Adaption von dessen Überlieferungsnachbarn gezwungen.19 Wenn dem aber so sein kann, dann wäre, zumindest axiomatisch, jede einzelne Sammelhandschrift als Resultat eines selektiven Entscheidungsprozesses, also als distinktes Zeugnis eines historisch interpretierbaren Textverständnisses aufzufassen. Und dies zumal, da es Ulrichs Text anders als für die mediävistische Germanistik im Mittelalter – soweit wir wissen – nicht außerhalb einer Verbindung mit anderen Tristanromanen gab, und da dies die ursprüngliche Situation ist. Es sind nämlich keine Codices überliefert, die etwa aus verschiedenen, einstmals selbständigen Manuskripten zusammengebunden, keine, in welche offensichtlich mit merklicher Verzögerung einem Tristantext (etwa dem Gotfrits) ein anderer (etwa von Ulrich) nachgetragen worden wäre. Alle Handschriften, um die es hier geht, wurden von einem Schreiber in einem Zuge kopiert.20 Die überlieferten Formen, nur diese Deutung begründet der Befund, verbauen die Zuflucht zu den Zufällen der Überlieferung oder zur Willkür der Tradenten (die ohnehin nur Platzhalter für nicht verstandene Dimensionen der literarischen Vergangenheit sind21). Was ist, folgt einer Konzeption. Es lautete also der Befund auf Einheitlichkeit, ja, wie an anderer Stelle gezeigt wird22, Einheit einer aus mindestens zwei Texten gefügten Tristangeschichte. Daraus ließe sich die methodische Konsequenz ableiten, wie in der mediävistischen Buchmalereiforschung die Illuminationszyklen, so seien auch in der Literaturwissenschaft im Grunde die Texte aller Handschriften als selbständige und integrale zu lesen – jeder 19 Die Konsequenzen dieser Überlegung liegen auf der Hand. Unter anderem verbaut sie den Ausweg, den ästhetisch disqualifizierende Interpretationen aus dem Dilemma zu besitzen meinten, daß die künstlerisch wertlosen Machwerke der Ulrich von Türheim, Ulrich von dem Türlin u.a. teilweise sehr breit überliefert sind. Dieser Ausweg war die 'Trittbrettfahrer-These': "die 'Arabel' verdankt (ebenso wie der 'Rennewart') ihre relativ reiche Bezeugung vornehmlich der frühzeitigen Verbindung mit Wolframs zweitem Roman." (Schröder [1982], S.8) Will sagen: keinesfalls aber ihrem ästhetischen (Minder)Rang. Oder ex-plizit: "die Überlieferung des Tristan und ebenso die des Willehalm [das ist der Rennewart Ulrichs von Türheim] steht natürlich mit der von Gotfrits und Wolframs Werken in engster Beziehung, gibt uns also keinen Maßstab der Wertschätzung Ulrichs." (Busse [1913], S.34) Warum aber sollte, wer diese Gedichte verächtlich findet, sie unter beträchtlichem Aufwand kopieren, illuminieren und seine 'Klassiker'-Ausgaben mit ihnen verunzieren lassen? 20 Bei den Epenhandschriften des 13.Jahrhunderts ist dies ohnehin das Normale, vgl.Bumke (1986), S.745; ders.(1987), S.55. Gleichwohl gilt: "Handschriften aus der Feder eines einzigen Schreibers lassen am ehesten eine einheitliche Redaktion und kontinuierliche Entstehung erwarten." (Hess [1975], S.88) 21 Vgl.etwa Kühnel (1972), S.157ff., 211; Grubmüller (1984), S. 218f. 22 Vgl.unten X.1. 15 der Codices überliefere letztlich einen spezifischen, je eigenen, je anderen Tristan.23 Jedoch führte eine solche Konsequenz in eine hermeneutische Aporie, die sich etwa am Lauberschen Tristan (R), einem radikalen, aber lehrreichen Fall, deutlich machen ließe, weil dort mit den ersten knapp dreitausend Versen von Ulrichs Text auch dessen die Fortsetzungssituation selbst thematisierender Prolog fehlt. Wir können diesen Tristan R, so versteht sich, nicht als das lesen und verstehen, was er einmal war, als einen einzigen Text: wir wären denn zu dem Unmöglichen in der Lage, bei jedem Vers erneut das stets präsente Wissen auszuschalten, daß er von Gotfrit oder Ulrich oder aus der Erzählung von Tristans Mönchsdasein stammt. Daß dies unmöglich sei, findet eine Ausdrucksform schon in dem aporetischen Verhältnis der hier und sonst geübten Terminologie gegenüber dem Überlieferungsbefund; auch hier sind die begrifflichen Schwierigkeiten solche der Erkenntnis. Gesprochen wird von 'Überlieferungsverbund' als von der Kontamination ursprünglich getrennter Teile zu nur vorläufiger Einheit unter dem einzigen Zweck der Traditionspragmatik – wie wenn es diese Teile für die Forschung historisch in jener Trennung gäbe, die sie selbst erst erzeugt; die Rede ist vom Plural der 'Texte' einer Sammelhandschrift – als ob diese selbst die Mehrzahl der Gedichte wirklich immer offenbarte; gebraucht wird ein Begriff 'Zyklus', welcher das Bewußtsein stets auf dessen Elemente anstatt auf deren 'zyklische' Einheit lenkt. Wir wählen also, wie wenn wir die Wahl hätten, eine Begrifflichkeit, die an den historischen Gegebenheiten der Überlieferung als den einzigen Zeugnissen spezifischer literarischer Wissensformen vorbeigreift – und das notwendig. Unausweichlich wird längst jedes Textelement dominant als Element eines 'Einzeltextes' und nicht als Teil eines 'zyklischen' Ganzen wahrgenommen, weil für heutiges literarisches Bewußtsein die Texte nicht mehr in ihren handschriftlichen Verbindungen, sondern in ihrer für dieses Bewußtsein nicht hintergehbaren ästhetischen, ideologischen und editorischen Trennung existieren: "Auch die Rezeptionsgeschichte der Interpretationen tradiert die Werke."24 Und dies so sehr wie die mittelalterliche Textüberlieferung ist jene Tradition, von der jeder neue Verstehensversuch ausgeht. Da also eine aus zwei oder mehr 'Texten' gefügte handschriftliche Tristanerzählung nicht mehr als ein ganzer Text gelesen und ver-standen werden kann, bleibt nur, so zu tun, als ob es gleichwohl noch gelingen möchte. Eben dies wäre der Versuch der Rekonstruktion einer integralen, also fremden Lektüre, das Vorhaben, die Teile als solche eines Ganzen und also die überlieferungsgeschichtlich zusammengehörenden Kunstwerke in ihrer gegenseitigen Bezogenheit zu interpretieren – Interpretation auf den Spuren der Intertextualität. Bei Ulrichs von Türheim Tristan unternehme ich einen solchen Versuch auf einer gewissermaßen mittleren Ebene zwischen dem ein vermeintliches Original anvisie23 Als Wiederholung eines Postulats, das allerdings stets nur textgeschichtlich begründet, nicht auch interpretatorisch entfaltet worden ist und daher in der Romanforschung (anders als in anderen Sektoren der Altgermanistik) weithin ohne Resonanz blieb, wäre eine solche Forderung nicht gerade originell; vgl. zum Beispiel Schmidt (1938), S.260, 307ff.u.ö.; Gerhardt (1972), S.14f., 33; Kühnel (1972), S.149f., 211ff.usw.; auch Kühnel (1976). 24 Imdahl (1980), S.14; Gadamer (1972), S.284ff., 324ff., hat diesen Gedanken unter dem Titel "Das Prinzip der Wirkungsgeschichte" entwickelt. 16 renden einen, kritischen Text hier und der Siebenzahl der faktisch überlieferten Texte dort. Insofern dies zu Typisierungen führt, reduziert mein Verfahren historisch gegebene Vielfalt, macht es also, was geschichts- und kulturwissenschaftliche Forschungskonzepte immer tun: Reduktion selbst erzeugter Problemkomplexität. Es ist hier jene Ebene in den Blick genommen, auf der in der historisch prozeßhaften Variabilität des Textes (gleichsam oberhalb der Ebene der kontingenten Lesarten) noch Konzepte seiner Transformation vielleicht historisch erklärbar sind. Gegenstand sind also Ulrichs Vulgatfassung als Fortsetzung von Gotfrits Torso hier, sowie deren Schlußviertel als Finale eines aus Gotfrits Tristan und Tristan als Mönch gebildeten ungleichen Textpaares zum Ende des folgenden Kapitels. Die Zusammenstellung der M-Redaktionen von Gotfrits und Ulrichs Text zu einer Tristan-Epitome – ebenso wie den Sonderfall der Handschrift P, die zwischen Gotfrits Fragmentschluß und das letzte Drittel von Eilharts Tristrant 14 Verse aus Ulrichs Prolog einfügt – spare ich hier aus. Sie verdiente eine eigene Untersuchung im noch nicht abgesteckten Vergleichsfeld der Strategien kürzender Redaktionen höfischer Romane im 13.Jahrhundert, welcher bislang auch die editorische Grundlage fehlt. Am Anfang steht bei Ulrich von Türheim der Kanonisierungsakt: ez ist, so heißt es über Gotfrits Tristan-Fragment, eben unde ganz; kein getihte an sprüchen ist sô glanz, daz ez von künste gê der vür, der ez wiget mit wîser kür. (11-14) Am Ende korrespondiert diesem vom präponierten Konsens der Kunstverständigen getragenen Klassikerlob die Auszeichnung jener Geschichte vor dem Kreis der Minnekundigen, die Meister Gotfrît (4) und von Türeheim Uolrich (3598) gemeinsam zum Abschluß brachten: diz buoch daz ist der minnen zil: rehte minnære die minnen diz mære. (3628-3630) Unter der Hand bezieht sich der Erzähler in den von ihm inaugurierten Kanonisierungsprozeß selbst mit ein: die Grenzen zum Bezirk des Kanonischen lösen sich auf, wo sie festgesteckt werden.25 Nicht aber nur, wenn sich der Text, wie hier, auf sich selbst zurückwendet, sondern auch dann, wenn der Erzähler über seinen Helden urteilt oder die normative Instanz des Erzählgeschehens kennzeichnet, treten Unschärfen zutage: ine gehôrte nie bî mînen tagen weder gelesen noch gesagen von sô wol gelobetem man, als was der werde Tristan. 25 Ähnlich TR 160ff. zu 36478ff.u.ö.; vgl.unten VIII.2. 17 (3577-3580) Aber dem Panegyrikus26 folgen die kopfschüttelnden Bedenken auf dem Fuß: heite in daz tranc der minne niht brâht ûf unsinne! daz krankte in dicke an êren: diu Minne kan wol lêren vröude und herzenôt. (3581-3585) Ihre ethische Zwiegesichtigkeit nötigt dem Erzähler stets paradoxes Verhalten ab. Dem Rat an die Zuhörer: swer rehte sich versinne, der vüege wie er [Vrou Minne] entrinne (248f.), steht darum die auf Tristan und Isolt bezogene Bitte gegenüber: Minne, nû hilf den dînen, lâ dîne triuwe schînen an disen zwein gelieben! (2681-2683) Verpflichtet man den Text auf eine die Zäsuren seiner episodischen Struktur übergreifende narrative und normative Stimmigkeit, dann scheinen nicht nur in den angedeuteten Hinsichten die Aporien der Tristan-Fortsetzung Ulrichs von Türheim manifest zu sein: Der proklamierten, in metrischen und stilistischen Details auch praktizierten27 Gotfrit-Nachfolge steht möglicherweise der stoffgeschichtliche Rückgriff ausgerechnet auf jene (Schwalbenhaar-) Version von Tristans Geschichte entgegen, deren fabelen der Klassiker an den wint warf, um sie als Spelze von den Körnern seiner wârheit zu sondern28; dem "Dilemma zwischen christlicher Ehemoral und dem 26 Vgl.auch TT 3559ff., 3705ff. Vgl.Busse (1913), S.62ff. 28 Vgl.GT 131ff., 8605ff., 18467ff. (zu Begrifflichkeit und Metaphorik der letztgenannten Stelle vgl.Okken [1984], S.650f.; Spitz [1972], S.61ff.). Daß Ulrich den Tristrant Eilharts von Oberg als (einzige oder wichtigste) Quelle seiner Gotfrit-Fortsetzung benutzt habe, ist seit Franz Lichtenstein (ET [Lichten-stein], S.CXCIXf.) und Busse (1913), S.44ff., ein Gemeinplatz der Forschung – der allerdings nie auf der Basis einer befriedigenden Methodologie der Stoffgeschichte überprüft wurde und sich darum stets nur auf mehr oder weniger vage 'Parallelen' und 'Ähnlichkeiten' zwischen den Handlungszügen der beiden Texte berufen kann: vgl.Deighton (1979), S.182f., 187, 191; Grubmüller (1985), S.342; McDonald (1988), S.129. Wachingers (1975) skeptische, auf ein Offenhalten der Frage zielende Erwägung, ob nicht "eher die Benutzung einer verlorenen französischen Vorlage" vermutet werden sollte (S.61), ist ihrerseits ebenfalls dem Prozeß literarhistorischer Dogmatisierung unterworfen (Heinzle [1984], S.45: Türheim folge "wahrscheinlich einer anderen französischen Fassung"). Exemplarisch dokumentiert Kerth (1981), S.79, die Verdichtung der Prämissen einer unbedachten Quellenforschung zur Camouflage ihrer anachronistischen Vor-stellungen von literarischer Produktion und Rezeption im deutschen 13.Jahrhundert: "[...] Ulrich was hampered [...] by the fact that Gottfried's source, Thômas von Britanje, was not available to him. He had, therefore, but one recourse: he would base his Tristan-Fortsetzung on Eilhart's Tristrant [...]." Zu Unrecht ist hier als gewiß vorausgesetzt, Ulrich habe nur eine einzige Quelle gehabt (eine Logik, die das überlieferungsgeschichtlich Gegebene schon für das literarhistorisch überhaupt Mögliche hält), der Tristan des Thomas sei ihm unzugänglich gewesen (vielleicht hat er ihn aber gekannt und deswegen verworfen) und dies habe seinen Produktionsprozeß behindert (das müßte aber doch Spuren im Text hinterlassen haben). 27 18 Staunen vor der Liebe und den Qualitäten des Helden"29, in das sich der kommentierende Erzähler zu verfangen scheint, gesellen sich Widersprüche der Handlungsfügung und Brüche der narrativen Begründungszusammenhänge zur Seite.30 Die Kritik hat auf diese Inkohärenzen einerseits mit der ästhetischen Verbannung des Romans in die Epigonalität reagiert: eine Strategie, deren Abwehr längst zur Exordialtopik germanistischer Studien über 'nachklassische' und spätmittelalterliche Epik avanciert ist31 und hier nicht erneut zur Debatte steht. Andrerseits bemühte sich die Forschung um eine Türheims Erzählen tragende Konzeption, unter deren Abstraktionsbedingungen die Widersprüche der Textoberfläche sich aufheben könnten, zumindest erklärbar würden. Seit der Dissertation Gerhard Meissburgers tat sie dies in Auseinandersetzung mit dessen Lektüre des Tristan als einer Verherrlichung der Ehe.32 Sie sei für Ulrich von Türheim "die einzig mögliche Form, in der wahre Liebe erfüllt werden" könne (S.55), Tristans Heirat mit der andern Isolt hätte in Ulrichs Augen "die vollkommene Lösung"(S.37) sein können, seine Romanfortsetzung sei als Gegengewicht gemeint zu einem Torso, welchen der Epigone als erster in der Geschichte der deutschen Literatur zu jener Ehebruchsgeschichte mißdeutet habe, deren Protagonisten ganz zurecht der Tod als "Strafe für ihre sündig verworfene Beziehung"(S.135) ereilt.33 Ein Vierteljahrhundert später stellte Alan R.Deighton diese Interpretation auf den Kopf34, wenn er "the innocence of the lovers" (S.220) auch noch im Fortgang eines Geschehens betonte, welches zwar nebenhin die Nachtseiten der Liebe entdecke, aber weit mehr als vom "interest in the moral problems" von der Absicht gesteuert werde, "to bring Gottfried's narrative to a conclusion."(S.227) Hier sind Interpretationslinien angelegt, die, fast gleichzeitg, Thomas Kerth auszog35, wenn er – die Inkohärenzen des Textes unterlaufend – als Ulrichs "scapegoat for all of Tristan's amorous adventures"(S.90) jene Frau Minne beschrieb, deren "duality" (S.85) ein in dieser Interpretation mit dem Autor kategorial identischer Erzähler alle moralischen Bedenklichkeiten des epischen Geschehens aufbürde. Damit aber scheint mir die kurze Diskussion um eine mögliche Minnekonzeption Ulrichs von Türheim als Fluchtpunkt eines historischen Textverständnisses bereits an jenem Ende angelangt zu sein, an welchem ihr nurmehr die Reproduktion der im epischen Handlungsvorgang und in den Kommentaren des Erzählers aufgesuchten Aporien bleibt. Allenfalls ließe sich noch dasjenige hier unternehmen, was dem Autor zuletzt unterstellt wurde: die Überweisung der Probleme des Romans in die Verantwortung einer epischen Figur (Frau Minne), also 2 9 Stein (1984), S.375. Vgl.fürs erste Busse (1913), S.58f.; Meissburger (1954), pass.; Wachinger (1975), S.61; Grubmüller (1985), S.348. 31 Vgl.neben vielen andern Strohschneider (1986), S.1f., 369f. 32 Vgl.Meissburger (1954), danach die folgenden Zitate im Text. 33 Die Wirkungsmächtigkeit des Interpretationsschemas von Ehebruchsfragment und Ehepreisfortsetzung dokumentieren Eyrich (1953), S.60ff.; Müller (1960), S.523, 552; mit vertauschtem Vorzeichen Spiewok (1963) S.381ff., 391; Gebele (1966), S.61, 83. 34 Vgl. Deighton (1979), S.178ff.; danach die folgenden Zitate im Text. 35 Vgl.Kerth (1981), danach die folgenden Zitate im Text. 30 19 doch die Kapitulation vor den Schwierigkeiten des literaturgeschichtlichen Verstehensversuches. Einen Ausweg aus diesem Dilemma bietet Rüdiger Schnell an mit dem Hinweis auf die besondere Perspektivität von höfischen minne-Diskursen, die sich entweder auf die 'Innennormen' einer Liebesbeziehung oder auf die mit diesen nicht einfachhin identischen 'Außennormen' richteten, welche die 'Realisierung' der minne regieren: "Deshalb kann Ulrich von Türheim die Liebe Tristans und Isoldes wegen der ihr innewohnenden triuwe preisen, obwohl er sie, sobald er auf ihre 'Realisierung', auf ihren ehebrecherischen Modus, blickt, verurteilt."36 Einen alternativen Weg, der über die Frage nach Ulrichs Erzählen aus der Sackgasse der Rekonstruktion eines anscheinend in sich widersprüchlichen Minnekonzepts herausführt, wies als Meissburgers erster Kritiker Burghart Wachinger.37 Daß man " bei Ulrich überhaupt von einer eigenen Konzeption" sprechen könne (S.60), bezweifelte er mit dem Vorschlag, den Roman als Zeugnis "einer primitiven, der Mündlichkeit nahestehenden Erzählkunst"(S.61) zu deuten, als Resultat konventionellen und punktuellen Denkens, das im Vergleich mit "Gottfrieds höchst bewußtem und sensiblen Reflexionsstil" nur als "ein Zurücknehmen oder Zurückfallen"(S.64) begreiflich sei und sich eben in den narrativen Mängeln des Textes objektiviere. Die Aussicht, die dieser Ansatz bietet, geht nicht auf historische Erklärung des Textes, sondern erneut auf produktionsästhetisches Terrain, wenn sie seinem Urheber statt künstlerischer Unzulänglichkeit nun intellektuelle Mediokrität bescheinigt. Zugleich indes gilt erstmals hier das Interesse auch den narrativen Techniken von Ulrichs Tristan. Klaus Grubmüller38 hat diese Techniken beschrieben als unter der "Macht der (literarischen) Umstände" geprägt von – an Aristoteles und Phyllis aufgewiesenen – Mustern eines exemplarischen Erzählens "auf den zu demonstrierenden Fall hin" (S.348). Er lokalisiert den Riß, der als Crux jeder Interpretation den Türheimschen TristanBeitrag durchzieht und der mit der Konzeption eines demonstrativen Erzählens wo nicht geheilt, da doch historisch begründet werden soll, nicht als immanente Widersprüchlichkeit etwa des Minnebegriffs, sondern zwischen den exordialen und epilogischen Partien einerseits und der narratio dieses Romans andererseits: "hier tut sich der Widerspruch auf zwischen dem in den Rahmenteilen als selbstverständlich festgehaltenen und im Streben der Liebenden nach genau dieser Geschichte positiv beschworenen Ziel der Gotfrit-Nachfolge (die ja auch im Publikumsentwurf – mit den rehten minnæren an der Stelle der edelen herzen – noch einmal zitiert wird) und dem für alle gültigen abschreckenden und warnenden Beispiel, das Ulrichs Erzählung ihren Sinn gibt." (S.345) Funktioniert dieser interpretatorische Kunstgriff? Wirft er nicht vielmehr neue Probleme in der Form neuer Fragen auf, aber das wäre schließ36 Schnell (1985), S.124, vgl.auch S.75, 176f., 508. Ich halte diesen Weg für gangbar, doch ist er nicht völlig eben: die Dichotomisierung von 'Innen-' und 'Außennormen' höfischer Liebe hat, scheint mir, Schwierigkeiten damit, daß die 'Innennormen' des konzeptionellen Kerns der höfischen Liebe (triuwe, stæte, güete usw.) selbst gesellschaftlich vermittelte und auf Sozialität zielende sind; vgl.ebd. etwa S.172ff., 226f., 274. 37 Vgl.Wachinger (1975), S.60ff.; danach die folgenden Zitate im Text. 38 Vgl.Grubmüller (1985); danach die folgenden Zitate im Text. 20 lich ein Gewinn? Nämlich zunächst: Läßt sich eine Grenze ähnlich scharf wie zwischen Prolog und Erzählbeginn (bei Vers 40 mit einer formelhaften Hörerapostrophe) auch zwischen dem Ende der narratio und einem Epilog fixieren? Dies zielt auf die Möglichkeit, den rhetorischen Rahmen dieses Tristan von der "Exempelreihe für die verderblichen Wirkungen der Minne" (S.344) abzuheben und es dient dem ersten Hinweis auf eine bedenkenswerte Beobachtung: Ulrichs Erzählen franst offenbar zum Ende hin aus, wird in seiner Schlußphase (ab 3556) immer wieder von epilogartigen Einschüben unterbrochen, ragt – aus der Gegenrichtung betrachtet – bis in den seinerseits zertrümmerten Epilog hinein. So aber verschränken sich hier auch strukturell behauptete Klassiker-imitatio und minnekritische Exempelreihe zu neuer Unübersichtlichkeit. "Ulrich hat sich", so konjiziert Grubmüller, "um eine Harmonisierung gar nicht erst bemüht, d.h. wohl: er hat den Widerspruch nicht gesehen." Gleichsam hinter seinem Rücken sei "ihm die gemeinte und angestrebte Nachfolge zur Kontrafaktur" geraten (S.345). Aber, den Befund der Rahmenpartien einmal akzeptiert: wie wörtlich darf man den Erzähler nehmen? Ich meine, daß eine von ihm behauptete Gotfrit-Nachfolge nicht unmittelbar eine die Konzeption des Textes tatsächlich fundierende erschließen lasse, daß also jenes am Anfang von Grubmüllers Interpretation stehende Axiom, wonach man bei Romanfortsetzern "vom Willen zur Fortführung auch der vorgegebenen Konzeption ausgehen" dürfe39, hier in der vorgängigen Identifikation von ErzählerPräposition und Text-Konzeption einen methodischen Fehler zeitige. Es wäre zum Beispiel erst noch vorzuführen, daß die Rahmenteile des Tristan-Romans Ulrichs von Türheim nicht der autoritativen Absicherung und nicht der Schaffung eines Freiraumes dienstbar sind, deren eine als Kontrafaktur von Gotfrits Tristan, als Kritik an seinem literarischen und ideologischen Programm angelegte erzählerische Konzeption wohl bedürfte.40 Erwiese sich aber die Struktur ihrer narrativen Realisierung als gegenüber allen in Frage kommenden Vergleichstexten so eigenständig und fest gefügt, daß die Behauptung einer auf die Kontrafaktur von Gotfrits Tristan-Fragment gerichteten Fortsetzungskonzeption überzeugend wirken könnte, dann wäre die Literarhistorie der Bürde ledig, Ulrichs Erzählschluß als um der schwer faßbaren "Macht der (literarischen) Umstände" willen nicht nur in sich widersprüchlichen, sondern den expliziten Absichten seines Erzählers widersprechenden Text denken zu müssen. Dann wäre dieser vielmehr in seinem Negationsverhalten zu Gotfrits Text historisch zu erklären, ohne daß seine Brüche den Unzulänglichkeiten Ulrichs von Türheim oder seiner Zeit angelastet werden müßten. Endlich ergäben sich dann provozierende Perspektiven auf das Problem der gemeinsamen Handschriftentradition von fortgesetztem und vollendendem Roman. Diese knappe, ganz vom anstehenden Kasus her geführte Diskussion begründet drei Einsichten, deren beide ersten zu den Grundfiguren der vorliegenden Studien gehören 39 40 Ebd.S.338; vgl.auch von Kraus (1941), S.3; Sedlmeyer (1976), S. 1, 298. In diesem Sinne verstünden sich auch zum Beispiel die Gotfrit-Berufungen im Willehalm von Orlens (1ff., 2184ff.) als Konstitutionsbedingung und zugleich Abschirmung jener TristanKontrafaktur, die Rudolf von Ems möglicherweise erzählt; vgl.dazu Wachinger (1975), S.67f.; Haug (1989a), S.647f. 21 und in ihrem dritten Teil in die Konzeption einer Geschichte und Theorie des höfischen Romans hinein entfaltet werden sollen. Es wird also in der Analyse von Ulrichs Tristan-Schluß sowenig wie in den folgenden Interpretationskapiteln von vorneherein ausgeschlossen, daß sich Fortsetzer "in ihrer Arbeit gegen die Autorität des Werkstückes [...] wenden, das die Fortsetzung durch seine Prominenz überhaupt erst hervorruft." (S.338) Jene Autorität ist schließlich keine primordiale Gegebenheit, sie wird vielmehr im Akt des Fortsetzens allererst mitkonstituiert und Prominenz kann auch von Korrekturen erfordernder Art sein. Dies impliziert zum zweiten, daß die Rühmung des fortgesetzten Werkes und seines Autors noch nicht des Nachkommen "Raum für eigene Ambitionen" (S.339) eng begrenzt haben muß: wer verfiele schon darauf, etwa in analogen Situationen wissenschaftlicher Kommunikation das rühmende Lob für kritikloses Einverständnis zu halten. Daß eine Fortsetzung in eine schon vorstrukturierte epische Welt eintritt, das begrenzt ihre Möglichkeiten, so wird sich wiederholt zeigen lassen, nicht in dem Maße, wie man sich etwa unter den Kriterien trivialer handlungstechnischer Kohärenz zu denken hätte. Intertextuelle Verhältnisse sind gerade keine solchen des monologischen Diktats (etwa des Klassikers gegenüber dem fortsetzenden Epigonen), sondern solche diskursiver Vielstimmigkeit. Drittens sodann machte in der voranstehenden Forschungsdiskussion der kurze Blick auf die Übergangszone zwischen narratio und Epilog in Ulrichs Tristan aufmerksam auf die Möglichkeit einer intrikaten Erzählstruktur als der angemessenen Form eines auch hinsichtlich seiner Sinndimensionen problembewußten und problembehafteten Erzählens. Dieses weiterzuverfolgen heißt, die Analyse der Fortsetzung auf einer neuen Ebene, der ihrer narrativen Strukturen voranzutreiben, und es enthält die Chance, die Aporien der Suche nach Ulrichs von Türheim Konzeption und der Identität seines Romans aufzulösen. Denn, so wird sich zeigen, der Wechsel der Analyseebenen bildet einen Wechsel der Diskursebenen ab, den der Text bei seiner Fortsetzung des narrativen Diskurses über die Tristanminne vornimmt: er führt ihn nicht, wie Gotfrit, in der Verschränkung von episodisch erzählter Fiktion und exkursorischem Erzählerkommentar, sondern in der Entwicklung einer selbst sinnhaltigen Erzählordnung. Die Struktur des Textes, so heißt dies im Vorgriff auf die folgenden Darlegungen, versteht sich als der Kommentar der Fortsetzung zur fortgesetzten Tristangeschichte. 2. Tristan und die weißhändige Isolt: Tristans Heirat mit Isolt Weißhand aus Arundel, seine Weigerung, die Ehe zu vollziehen und der daraus entspringende Konflikt mit der Brautfamilie, die Rückkehr an Markes Hof und – in deren Rahmen – wiederholte Begegnungen mit der eigentlichen, der blonden Isolt (die Folie Tristan inklusive), ein Liebesabenteuer des Arundeler Herzogssohnes Kaedin mit tödlichem Ausgang, schließlich der Liebestod von Tristan und Isolt, ihre Bestattung durch König Marke und das Wunder von Rosenstock und Weinrebe: was erzählt wird, scheint aus der Tradition des Stoffes geläufig und durch- 22 schaubar. Was dabei verhandelt sein mag, wenn es denn nicht nur ums schiere Erzählen zu einem Ende hin ging – aber was wäre dessen Sinn? –, das wirkt, wie schon der Blick zum konzipierenden und kommentierenden Erzähler zeigte, weniger eindeutig. Was Ulrich von Türheim erzählt, ist schnell in eine grobe fünfgliedrige Ordnung gebracht, insofern ein in Arundel lokalisierter Einleitungsteil mit Heirat, Ehekonflikt und Entschluß zur Rückkehr zur blonden Isolt und sodann ein um den Liebestod herum angeordneter Schlußteil erneut in Arundel die Reihe der Wiederbegegnungen der Liebenden sowie Kaedins Abenteuer mit Kassie umfangen. Daß Rückkehrepisoden und Kaedins Liebesgeschichte zusammenzufassen sind und dieser eingerahmte, in sich gegliederte Erzählteil nicht nur wegen seines Umfangs, sondern auch seiner strukturellen Bedeutung nach im Zentrum dieser Tristanfortsetzung steht, hat seine Strukturanalyse zu zeigen. Bevor es jedoch dahin kommen kann, ist zunächst der so benannte Einleitungsteil des Romans zu vergegenwärtigen. Dabei braucht es weniger um die Beschreibung seiner narrativen Ordnung zu gehen, denn Ulrich reiht hier in lockerer Folge wenige Szenen, als um die Herausarbeitung der Handlungskonstellationen. Sie nämlich sind gegenüber möglichen Quellen selbständig so akzentuiert, daß ein Spannungszustand zwischen Abschluß des von Gotfrits Fragmentschluß her vorgegebenen Geschehens und Neubeginn mit Blick auf die bei Ulrich folgenden Rückkehrabenteuer, zwischen der Eindämmung manifester Konflikte und der Entbindung neuen Konfliktpotentials entsteht: ein Spannungszustand also, wie er der Situation des Erzählbeginns als Fortsetzung abgebrochenen Erzählens gemäß sein könnte. In diesem Sinne kommt Ulrichs Erzählen durch einen Abschluß in Gang. Im Selbstgespräch weiß Tristan, so hatte es das Ende von Gotfrits Text vorbereitet, den Ausweg aus seiner langwährenden zweifelnden Unschlüssigkeit, aus dem Hin und Her zwischen Isolt und Isolt: Tristan, lâ den unsin und tuo die gedanke hin, die dir dîn heil verkêrent und gar dîn êre unêrent. lâ dîm oeheime sîne Ysôte dâ heime, dem werden künege Marke, und minne die von Karke, diu dich ze nihte bestât. (49-57) Der Rückzug in die Normalität des unbezweifelbar Normativen von Vernunft, Heil, Ehre, Sippenbindung und Eherecht nimmt aus der gegebenen Handlungskonstellation scheinbar alles Konfliktpotential heraus. Tristan beendet den fortgesetzten Ehebruch mit der blonden Isolt und heiratet die gleichnamige Herzogstochter aus Arundel. Dies wäre auch ein Schluß der Tristangeschichte, und wenn es um "nichts anderes" gegangen wäre, als darum, "bloß die Fabel eines jäh abgebrochenen Werkes zu Ende [zu] erzählen", oder wenn in Ulrichs Perspektive "Tristans Entscheidung für Isold mit den 23 weißen Händen die vollkommene Lösung" darstellte41, dann könnte dieser Schluß jedenfalls plausibler sein, als die Fortsetzung der Geschichte mit einer neuen Serie listig-betrügerischer Wiederbegegnungen von Tristan und Isolt mit den blonden Haaren. Und wenn es so wäre, dann machte auch der Hinweis auf die Zwänge der Stoffgeschichte Ulrichs Weitererzählen über die Karker Hochzeit hinaus nicht verständlicher, weil er das Erklärungsbedürftige als historisch handelndes Subjekt personalisiert. Was der Erzähler kann, nämlich das Handeln seines Protagonisten den Wirkungen von Frau Minne unterstellen, kann ein wissenschaftlicher Begründungsversuch nicht: keine Stoffgeschichte zwingt einen Autor zum Erzählen wider Willen. Tristans Ehe ist aber nicht das Ende der Geschichte, sondern ein neuer Anfang, und sie ist jenes nicht und kann dieses sein, weil der erreichte status quo von Anfang an latent konfliktbeladen ist. Zunächst, so hat den Literarhistorikern ein Soziologe gezeigt42, in juristischer Hinsicht. Rechtsgang und Rechtsförmlichkeit der erzählten Eheschließung entsprechen in gewisser Weise der Ausgangskonstellation: Tristan, der landfremde, von Familie und Herrschaft getrennte, also ellende43 Krieger, der das Arundeler Herzogtum aus der Bedrohung durch den Grafen Riol (Rigolin von Nantes bei Gotfrit) und die Fronde der Landherren befreit hatte, heiratet in die Herzogsfamilie ein. Die Eheverhandlungen werden, auch über Isolts Bruder Kaedin, zwischen Tristan und der Brautmutter geführt44, wenngleich selbstverständlich die Zustimmung des Herzogs außer Frage steht.45 Beim Heiratsakt selbst leistet sodann nur der Bräutigam den Eheschwur (194ff.), während das eigentlich vorausgesetzte Konsensgespräch komisierend nachgetragen wird (197ff.) Vom kirchlichen Ritual bleibt lediglich die Reliquie, welche Tristans Eid befestigt.46 Bemerkenswert ist aber vor allem, daß Wittum und Morgengabe sowie jede Form der Übertragung vormundschaftlicher Gewalt auf den Ehemann, also "zeremonielle Übergabe der Braut, Heimführung und Hochzeitsfest, um die Braut der Verwandtschaft des Bräutigams vorzustellen, [...] hier als mit der tatsächlichen Situation unvereinbar" unterbleiben.47 Dies alles macht die Verbindung Tristans mit der weißhändigen Isolt noch nicht zur Friedelehe, wie Schröter meinte48, aber es indiziert deren rechtlich ambivalenten Status, und dazu paßt schließlich auch, daß der ellende Bräutigam nicht recht in die herzogliche fami41 Meissburger (1954), S.36, 37. Vgl.Schröter (1985), S.24ff. Combridge (1964), S.55ff., handelt themagemäß nur von Markes Ehe, Konecny (1978) übergeht vorsätzlich (S.185) die Gotfrit-Fortsetzer. 43 Zuletzt GT 18756; TT 738. Vgl.Kolb (1977), S.237 und Anm.1. 44 Vgl.137, 176, 183, 193, 205, 212f. 45 Vgl.96, 200f. 46 Dies fällt auch deswegen auf, weil in Ulrichs Willehalm-Fortsetzung bei den Hochzeiten Rennewarts und Malefers gerade die kirchliche Form der Trauung vor dem Priester oder gar im Gotteshaus ausdrücklich betont wird (TR 5106ff., 32137ff.). Insgesamt setzt sich die kirchliche Institutionalisierung der Eheschließung bei den weltlichen Oberschichten des abendländischen Mittelalters nur langsam durch; dazu Duby (1985). 47 Schröter (1985), S.26. Andere Gedichte setzen hingegen sehr wohl eine Heimführung Isolts mit den weißen Händen in Tristans terre et son roiaume (Folie de Berne 118) voraus. 48 Ebd. Die Kritik an dieser Deutung hat überzeugend Wenzel (1986), S.33ff., begründet; danach auch Schöning (1989), S.170f. 42 24 lia integriert wird, sondern noch nach dem freilich sehr verspäteten Vollzug des Beilagers mit Isolt (3092ff.) bei einem Karker Kaufmann Pension hält (3306ff.). Und dies, obwohl für den Arundeler Hof die Verheiratung vor allem andern ein herrschaftssicherndes Mittel ist, sich mit einem tüchtigen Ritter gegen die latent bedrohliche Anarchie der feudalen Territorialherren um Riol zu verbinden: das allein motiviert die Einwilligung zur Heirat49 und begründet das zentrale Eheerfordernis gegenüber Tristan, bis an sein Ende in Arundel zu bleiben.50 Diese Ehe taugt also schon von ihrer Rechtsform51 her offenbar nicht zu jenem idealischen Kontrastmodell gegenüber Tristans sündenverfallener Ehebruchsminne mit der blonden Isolt, als das man sie einmal hat sehen wollen. Ihr Status ist prekär und dies zudem auch insofern, als sie (zunächst) nicht vollzogen wird. Tristan verweigert sich seiner eben angetrauten Frau und rechtfertigt das mit einem Gelübde (344ff.). Hörer und Leser indes wissen, was Isolt nur vermutet (360ff.), daß er in Gedanken längst wieder bei seiner eigentlichen Geliebten ist: Ysôt, der er sich hât verzigen, diu quam im wider in den sin. ich wæne, si sante ze boten an in daz wunderlîche minnentranc. manecvalt wart sîn gedanc: er gedâhte hin, er gedâhte her. (226-231) Dies signalisiert eher das Fehlen einer plausiblen Erklärung, als daß es eine solche wäre. Offenbar genügt es, daß das Deutungsangebot als exemplarischer Beleg für die sentenziöse Einsicht in die unstæte Wankelhaftigkeit der Minne (235ff.) eine motivationale Leerstelle besetzen kann. Tristan ist also wieder auf die Geliebte fixiert. Isolt mit den weißen Händen aber bleibt nichts, als ihre Schmach durch wîplîch gewant (311) vor der Öffentlichkeit des elterlichen Hofes zu verbergen – so lange es gut geht. Indem er Tristan in der vagen Form einer rechtsförmlich nur schwach fundierten, nicht vollzogenen Ehe an die Karker Herzogstochter bindet, durchschlägt Ulrich von Türheim den gordischen Knoten der Tristanminne nicht mit einem Gewaltstreich, sondern schafft er seiner Erzählung vielmehr eine Ausgangskonstellation von bemerkenswerter und konfliktentbindender Labilität. Nur für einen kurzen Augenblick sind 49 Vgl.128ff., 140ff. Vgl.77, 126f., 140ff., 184ff. 51 Die M-Redaktion von Ulrichs Text kürzt, wie immer, den Heiratsbericht sehr stark. Die rechtlichen Besonderheiten des erzählten Geschehens verlieren dadurch an Auffälligkeit, bleiben indes unangetastet. Daß es auf die solche Beson-derheiten anzeigenden Details dem Autor gerade angekommen sein mag, lehrt der Blick auf die vermeintliche Vorlage. Eilharts Tristrant tut die Eheschließung in geradezu provozierender Kürze ab: do begunde Kaedin zu hant eß zu samen treiben do, daß die junckfraw wart also gegeben Tristande. (ET [Buschinger] 6134-6137, nach Hs.B) 50 25 die gesellschaftsfeindlichen Potenzen von Tristans Minneverhalten in der Ehe gebändigt, ist sein vagierendes Kriegertum in einem zwar bedrohten, aber doch intakten Herrschaftsverband domestiziert, denn die hier erzählten Integrationsformen sind auf ihre eigene Auflösung hin schon angelegt. Aus seiner Latenz nur muß ihre Konflikthaltigkeit freigesetzt werden – und das leistet bereits der ironisch distanzierte Hinweis auf daz wunderlîche minnentranc –, damit neues Geschehen und also neues Erzählen entstehe. Tristans Heirat mit Isolt Weißhand ist Abschluß und Neubeginn zugleich und so funktional sinnvoll als Scharnier zwischen die vorangegangene Episodenfolge im Schlußteil von Gotfrits Text und die nachfolgende eingepaßt. Es geht gerade nicht um ein schnell zusammengezimmertes Notdach über Gotfrits Fragmentschluß, sondern um ein Weitererzählen, in welchem sich ein neuer Rahmen der Sinndeutung für die Geschichte von Tristan und Isolt allererst konstituieren läßt. Diesem Weitererzählen ist mit der Hochzeit in Karke eine produktive Ausgangskonstellation geschaffen. Die weißhändige Isolt verbirgt die Schmach ihres Verschmähtseins so gut es geht. Es geht aber nicht lange gut, denn schon in der folgenden Episode vom kühnen Wasser wird der Schein der Ehe zunichte und Tristans Weigerung, Isolt ihr reht (447) zu tun, offenbar. Die Handlung entfaltet sich im Auszug des Karker Herzogshofes zur Jagd. Damit aktualisiert die Erzählung ein geläufiges konfliktgenerierendes Schema, indem sie die vertraute Welt des Hofes mit dem Halbvertrauten von Jagdbezirk und Wald konfrontiert52, und sie besetzt dieses Schema in historisch spezifischer Form. Zentrum regionaler Macht, integriert der Herzogshof von Karke jene, die von seiner Herrschaft abhängig sind (380ff.) und stellt sich mit ihnen als Gravitationsbereich höfischer Repräsentation im Medium der Jagd dar.53 Zugleich jedoch ist die adlige Jagd ein Mittel der institutionellen Durchdringung beanspruchter Herrschaftsgebiete (Territorialisierung), und sie erscheint hier konkret als Instrument und Ausdrucksform der Wiederetablierung fürstlicher Gewalt in Arundel - nach der Abwehr des landesherrlichen Angriffs auf die Flächenherrschaft des Karker Herzogs54 und nach der (vermeintlich gesicherten) Einbindung des Befreiers Tristan in den eigenen Herrschaftsverband. Zu sehen ist also, wie sich in der Aktualisierung eines simplen narrativen Schemas eine soziale Denkform ausprägt. Als Isolt auf dieser Jagd durch eine Pfütze reitet, spritzt Wasser unter ihren Rock und sie beklagt, daz diz wazzer küener ist danne der küene Tristan.55 Kaedin, der zu52 Das gegenläufige Konfrontationsmuster der Heranführung des Fremden, Bedrohlichen, Auf- oder Herausfordernden an die vertraute Welt etwa in Form der Provokation oder des Hilfeersuchens durch einen Boten läßt sich später in Isolts Brief an Tristan entdecken. 53 Vgl.376 baneken, 377 kurzewîle, 382f. vröude, 536ff.der Kanon höfischer Festlichkeit. 54 Der Angriff der umbesaezen gilt ganz gezielt dem gerihte und den marken (GT 18697f.) des Arundeler Herzogs. Daß mit den umbesaezen nicht landfremde Nachbarn, sondern Lehensleute Jovelins gemeint sind, ergibt sich aus Gotfrits Wortgebrauch (vgl.GT 9708f.) und aus der Belehnung durch den Herzog (GT 18943ff.), auf welche sich auch die Fortsetzung einmal bezieht (TT 144f.). 55 408f.; vgl.zuletzt Schöning (1989), S.172. 26 hört und auf insistierendes Fragen von seiner Schwester über den Sinnzusammenhang ihrer Klage unterrichtet wird, stellt, nachdem er sich bei seinen Eltern Rat geholt hat, Tristan zur Rede, und dessen einzige Rechtfertigung ist die Liebe zur blonden Isolt: ein Ysot hân ich, diu ist sô clâre, daz ûf der erde nie kein wîp gewan sô wünneclîchen lîp. la e bele mu avenanz, si hât an schoene des lobes kranz gesetzet ûf mit werdecheit. ich lîde nâch ir manec leit. si ist eine küneginne. mit herzen ich si minne âne mâze manege stunt. si hât schoener mînen hunt danne mich dîn swester habe, Ysôt. (488-499) Dies weist zurück auf früher – bei Gotfrit und Eilhart in unterschiedlichen Zusammenhängen unterschiedlich – Erzähltes56 und ermöglicht eine Wette, die Tristan auf den Beweis seiner provozierenden Behauptung in gesetzter Frist (515) verpflichtet. Damit ist der eherechtlich-dynastische Konflikt sofort wieder eingedämmt, welcher drohte, insofern sich der Befreier allem Anschein nach aus dem herzoglichen Herrschaftsverband wieder lösen wollte (457ff.). Die Verschiebung der Konfliktlage auf die Ebene der Schönheitskonkurrenz zwischen den beiden Isolten wandelt Kaedins haz auf Tristan unverzüglich in alte vriuntschaft (520f.) und wahrt doch zugleich die Motivation für die Reise zu Marke und Isolt mit dem blonden Haar: Schönheitskonkurrenzen sind nur durch Autopsie zu entscheiden. Zum wiederholten Mal ist hier jener Schwebezustand zwischen Konflikterzeugung (zum Zwecke der Begründung narrativer Fortentwicklung) und Konflikteindämmung zu beobachten, welcher Ulrichs von Türheim Erzählbeginn kennzeichnet. Tristans und Kaedins Fahrt nach Tintalione wird indes nicht allein, gleichsam aus Karker Sicht, durch den in die Form der Wette umgeprägten und damit freilich längst entschiedenen Konflikt motiviert. In scheinbar redundanter Doppelung begründet in entgegengesetzter Perspektive auch ein Brief der blonden Isolt an Tristan (575-622) diese Reise, welcher in den worten dune komest schiere, sô bin ich tôt (619) gipfelt. In der Kurzfassung von Ulrichs Text überbringt ein Bote dieses Schreiben, in der Vulgat-Version ist es hingegen ein Reh, dem die Freunde im Wald begegnen, denn 56 Eilharts Text erzählt, daß Tristan beim Weggang ins Exil des Artushofes seinen Jagdhund Utant der blonden Isolt mit der Bitte in Obhut gibt: "ob ich úch lieb sy, daß tund an dem hund schin" (ET 4984 ff.). Bei Gotfrit beschließt Isolt das Minnehündchen Petitcreiu in ein monstranzartiges wunneclîchez hûselîn, um es offenlîche und tougen stets vor den ougen zu haben (GT 16337 ff.). Ulrich von Türheim hat, bei aller möglichen Abhängigkeit von Eilhart, hier Gotfrits Szene im Blick: Petitcreu, daz hundelîn, bringe ich alsô schône dar (1074f.), wird seine Isolt versprechen und dann auch halten. Vgl.zu den Hunden Stolte (1941), S.153; Gnädinger (1971), S.39ff., 57; Tomasek (1985), S.61ff. 27 die Jagd wurde der laufenden Frist ungeachtet fortgesetzt. Die Jäger verschonen das Wild, weil es was als ein agelster vêch (556), und schon Isolts Brief57 vermittelt ihnen dann weitere Informationen: Tristan, gedenke wol dô wir in der fossiure lâgen und liebe mit sorgen phlâgen. dîn lîp mir nihtes dô verzêch. Tristan, sich, diz ist das rêch, daz ich in dem walde zôch: dô man es jagete, zuo mir ez vlôch, dâ mîn gezelt geslagen was. ich half dem rêhe, daz ez genas, sît was ez bî mir manigen tac. (592-601) Bei solchen Erinnerungen ans Waldleben, an Isolts Heilkunst und die Treue des Rehs sich zu bescheiden fällt indes schwer, weil damit nur dessen Geschichte umrissen, nicht jedoch sein auffallendes Äußeres und seine Funktion verständlich gemacht ist. Die in der Forschung vorgeschlagenen Deutungen des elsterngleichen Rehs, das in der mittelalterlichen Tristantradition einzigartig ist und darum als Ulrichs Erfindung, soll heißen: als für sein Stoffverständnis besonders aussagekräftig gilt, schöpfen intertextuelle Assoziationsmöglichkeiten umfassend aus. Der Bote Pilois, von dem Eilharts Erzähler sagte, er wäre gern schnell als ain rech gewesen58, und motivische Anklänge an das Einhorn59 wurden dabei ebenso bemerkt, wie die Elster des Parzival-Prologs60, das Hündchen Petitcreiu61 und der Hirsch bei der Minnegrotte62 in Gotfrits Roman. Von solchen möglichen Bezugspunkten her läßt sich für das Botentier ein (teils allegorischer) Deutungshorizont abstecken derart, daß die blonde Isolt "als Hüterin des Rehs vom Zweifel gezeichnet"63 und so Ulrichs Parteinahme für Isolt Weißhand unterstrichen werde, oder derart, daß das Tier als die "metaphorical union of the bliss of Gottfried's Minnegrotte and the darker side of the Tristanminne" erscheint.64 Diesen Deutungen, die immer in die Aporie, geraten, das Reh von Ulrichs begrifflich schwer faßbarer Konzeption der Tristan-Isolt-Liebe her deuten zu müssen, für welche es seinerseits eines der wesentlichen Zeichen wäre, füge ich hier keine neue an. Zu betonen ist aber der funktionale Aspekt des kleinen Motivs: sein Ausse57 Wäre er zugleich eine Anspielung auf Isolts früheren Brief GT 16305ff., dann wäre wohl auch dessen Aussage an dieser Stelle konnotiert, daß Marke Tristan wiederum holt unde willic wære (GT 16309), und der Geliebte darum binamen kommen solle. 58 ET 7396, vgl.Golther (1907), S.88. 59 Vgl.Busse (1913), S.60. 60 Vgl.Meissburger (1954), S.58ff.; Deighton (1979), S.199f.; vgl.dazu auch Reinitzer (1976), S.620ff. 61 Vgl.Wachinger (1975), S.62. 62 Vgl.Deighton (1979), S.198f.; Kerth (1981), S.84f. 63 Meissburger (1954), S.60. 64 Kerth (1981), S.85. 28 hen gestattet dem Reh, Kaedin und Tristan auf der Jagd zu begegnen, ohne von ihnen erlegt zu werden (556ff.). Und: in strikt funktionaler Hinsicht kann man Gotfrits fremeden hirz (GT 17297) und das wunder grôz (565) von Ulrichs Reh doch sinnvoll, kontrastiv zwar, aufeinander beziehen. So nämlich, wie auf der Spur des Hirschs Marke und mit ihm gesellschaftliche Realität zur Minnegrotte kommen (und das Ende sexueller Erfüllung ankündigen), so kommt mit Isolts Reh die MinnegrottenVersprechung, die Verheißung sexueller Erfüllung in die gesellschaftliche Wirklichkeit Karkes. In den nachfolgenden Begegnungen Tristans mit der blonden Isolt wird sie sich wiederholt erfüllen. Die Lektüre des von Isolts Reh überbrachten Briefes bekräftigt den Entschluß zur Reise nach Cornwall, in einer ausführlich erzählten Audienz bei Herzog Jovelin schaffen Kaedin und Tristan die rechtlichen und materiellen Voraussetzungen dafür.65 Die gesellen erscheinen hier als von Vater und Schwiegervater ökonomisch abhängige juvenes66, und noch einmal werden längst marginalisierte Konfliktsituationen erinnert. Der Herzog schilt Tristans Verhalten gegenüber Isolt Weißhand, läßt sich dann aber besänftigen. Eidlich verpflichtet sich Tristan zur Rückkehr nach Arundel (754ff.): noch immer, so ließe sich schließen, ist seine Anwesenheit dort wichtig genug, um die sexuelle Mißachtung der angetrauten Herzogstochter wettmachen zu können.67 Aber dieses Motiv ist nicht in einen syntagmatischen Funktionszusammenhang eingebunden. Erzählt wird vielmehr von der Pracht der Reiseausstattung, die Jovelin stiftet, von Tristans reuevollem Abschied von Isolt mit den weißen Händen (831ff.), von der Organisation der Fahrt über Meer und von der Zwischenstation bei Tinas von Litan.68 3. Handlungsstruktur: 65 Diese Verse 673-781 sind nicht nur szenische Amplifikation im Vergleich mit Eilharts knappen Andeutungen (ET 6255-6263; vgl. Busse [1913], S.97f.), sie akzentuieren nochmals in besonderer Weise Tristans Beziehung zum Karker Hof. 66 Vgl.646ff., 770ff.; zum Problem jetzt Peters (1990). 67 Die ganze Episode und damit die Akzentuierung des Konflikts zwischen Jovelin und Tristan, dessen eidliche Rückkehrverpflichtung sowie die Ausstattung der Reisenden hat die M-Fassung der Erzählung gekürzt – sie konnte dies um so leichter, als die hier thematischen Motive im weiteren Verlauf nicht wieder aufgenommen werden. 68 Daß dabei Versatzstücke des Schemas der gefährlichen Brautwerbung verwendet sind, vermerke ich nur nebenbei: Die in einer Beratungsszene (Audienz bei Jovelin) beschlossene Fahrt über Meer gilt einer hochstehenden Frau, die einem anderen mit der Gewalt der List abgewonnen werden muß; dabei unterstützen ein kundiger Begleiter (Kurvenal) sowie ein Helfer (Tinas) aus dem Land der 'Braut'; das Unternehmen ist gefährlich, nicht nur wegen der stets drohenden Entdeckung durch Markes Aufpasser, sondern auch, weil Tristan für Isolts Schönheit sein Leben verpfändete. Vgl. zum Brautwerbungsschema etwa Miller (1978), S.230ff.; Kuhn (1980a), S.15ff., 22ff.; Schmid-Cadalbert (1985), S.80ff.; zuletzt Kalinke (1990), bes.S.25ff., und Ortmann/Ragotzky (1992). 29 Anders als in den bislang betrachteten Szenen des Einleitungsteils liegen Ulrichs Akzentuierungen im gewichtigen Mittelstück seines Textes nicht im Bereich motivischer und episodischer, gleichwohl bedeutsamer Details. Die Begegnungen mit der blonden Isolt im Blanken Lande, Tristans Aussätzigen-, Knappen- und Narrenrolle, die Auseinandersetzungen mit Markes Höflingen, die Hilfestellungen des Tinas von Litan und schließlich Kaedins Liebesaffäre sind auch in ihren Einzelheiten vor dem Traditionshintergrund des Tristanstoffes kaum auffällig. Anders Ulrichs Strukturierung der Episodenfolge, die jenes Erzählmaterial in eine einzige Rückreise Tristans zu Isolt mit dem blonden Haar zusammenzieht, welches Eilhart in vier Fahrten entfaltet hatte: 1. Wiederbegegnung im Blanken Lande und Tristan als Aussätziger (ET 6268-7069), 2. Tristan als Pilger (ET 7445-7864), 3. Tristan als spielmännischer Knappe (ET 8224-8551) an Markes Hof, sowie 4. die Folie Tristan (ET 8654-9032). Schwerlich ist Ulrichs Bündelung dieser weithin "unterm Gesetz loser additiver Reihung, nicht mehr thematischer Verschränkung" stehenden Sequenz69 als Kürzung bloß, gar "unter dem Zwange des abgemessenen Umfangs"70, zureichend begriffen. Zweifellos kommt hier ein Prozeß epischer Konzentration voran, in welchem etwa Artusepisode und Tristans Pilgerrolle ausgespart, Eilharts Zweiteilung der Liebesgeschichte zwischen Kehenis und Gariole (Kaedin und Kassie bei Ulrich) fast völlig aufgehoben wird. Aber damit ist zugleich strukturelle Prägnanz neu gewonnen. Ich zeige dies zunächst an den Rückkehrabenteuern in Tintalione, beziehe also erst zu einem späteren Zeitpunkt die Kaedin-Kassie-Geschichte mit ein. Eilhart episodisiert die Reihe der Wiederbegegnungsabenteuer, indem er Tristan und Kehenis (mit Kurneval) immer wieder nach Karke zurückkehren, stets von dort neu nach Tintanjol aufbrechen läßt, und indem er kleine Szenen von Tristan Ehevollzug mit Ysalde Weißhand (ET 7070-7080), von seinen Herrschaftsregelungen in Lohnois71 und erneutem Krieg mit Riol (ET 8578-8628), schließlich von Kaedins Liebesgeschichte72 dazwischen fügt.73 Solche Zäsurierungsfunktionen übernehmen in Ulrichs Erzählung Tristans kurze Aufenthalte in Litan einerseits und die aufeinander bezogenen Pleherin-Episoden andrerseits. Litan, Schiffslände und Zollstation (932) Tintaliones, ist sozusagen der Brückenkopf für Vorstöße zur blonden Isolt. Hier warten Kurvenal und Tristans Schiffsherr74, hier gewährt Tinas, der den Liebenden 69 Schindele (1971), S.93. Busse (1913), S.58 Anm.1. 71 ET 8139-8223, 8553-8573. 72 ET 7865-8134, 9033-9234. 73 Und darin stecken dann doch – gegen Schindeles obige Formulierung –Rudimente oder Ansätze thematischer Verschränkung von Liebe (Wiederbegegnungsabenteuer) und Gesellschaft (Zwischen-szenen). 74 Vgl.1374ff., 1921, 1949, 2793ff. Der Schiffsherr (vgl.noch 861 ff., 2170ff., 2920ff.) ist eine Figur, die Ulrich unabhängig von Eilhart hat (vgl.Busse [1913], S.60), und die einerseits als Objekt von Tristans und Kurvenals adliger Freigebigkeit fungiert, zum andern dem Ehebrecher stets Fluchtchancen sichert. Tristan verhält sich in Cornwall wie der Leiter eines Expeditionscorps: das Boot für den schnellen Rückzug ist stets fertig zum Ablegen –und wird schließlich auch benötigt (2793ff., 2846ff.). 70 30 wohlgesonnene Seneschall Markes (935), Rat und Hilfe.75 Die Markierung des Abschlusses einer Gruppe von Wiederbegegnungen zwischen Tristan und Isolt übernehmen daneben zwei Szenen, in denen Markes Gefolgsmann Pleherin einmal Kurvenal, weil er ihn für Tristan hält, ein andermal diesem selbst nachsetzt, um die jeweils Fliehenden in Isolts Namen zur Rückkehr aufzufordern.76 Alle diese Episoden und das ihnen zugrundeliegende Raumprogramm der erzählten Welt zeigen, daß Tristans Zusammenkünfte mit der blonden Geliebten in eine im Vergleich mit Eilharts Tristrant neue Ordnung gebracht sind. Die genannten zäsurierenden Szenen grenzen nämlich zwei Gruppen von zuerst zwei und sodann drei solcher Zusammenkünfte gegeneinander sowie gegen den Einleitungsteil des Romans und die nachfolgende Kaedin-Kassie-Erzählung ab. In bessere Übersicht gewährender schematischer Darstellung, welche bereits einige für die weitere Analyse der Erzählstruktur nicht unwichtige Nebenstränge der Handlung mit aufnimmt, sieht das so aus: 75 76 Vgl.943ff., 2103ff. Vgl.1900ff., 2760ff. 31 1.1. 942-1079 Tristan in Litan (Tinas arrangiert mit Isolt die Begegnung im Dornbusch) 2.1.1. 1112-1414 Tristan und Kaedin im Dornbusch: Isolt liebkost das Hündchen und verabredet eine neue Zusammenkunft mit dem Geliebten 3.1. 1418-1529 Marke im Gespräch mit seinen Höflingen und Brangäne 2.1.2. 1540-1881 Tristan und Kaedin im Zelt im Baumgarten: Kaedin und Kamele, Tristans und Isolts Beilager 1.2.1. 2102-2225 Tristan in Litan 1.2.2. 1891-2101 Pleherin verfolgt Kurvenal; Isolts Zorn auf Tristan; Paranis' Vermittlungsversuch 2.2.1. 2229-2260 Tristan als Aussätziger: Isolt vertreibt ihn 2.2.2. 2327-2421 Tristan (und Kurvenal) als Knappe: Versöhnung mit Isolt und Verabredung einer neuen Zusammenkunft 3.2. 2434-2470 Marke im Gespräch mit seinen Höflingen 2.2.3. 2505-2728 Tristan als Narr: Liebesnächte mit Isolt 1.3.1 2729-2854 Tristan flieht [über Litan] auf sein Schiff 1.3.2. 2760-2793 Pleherin verfolgt Tristan und wird von ihm getötet Wie jedes ist auch dieses Schema, schon insofern es die Sukzessivlogik des Erzählens zur Simultaneität des Bildes verformt, abstrakt und selektiv: arbiträr ist es nicht. Ausgespart blieben vielmehr einerseits vorwiegend amplifizierende Passagen wie der theatralische Auftritt des Narren Tristan in der Stadt Tintalione (2689ff.), Markes Totenklage um Pleherin (2784ff.) und die Konflikte mit Markes Höflingen Antret und Melot77, andererseits einige Übergangsepisoden wie Kaedins Zorn auf Isolt (1850ff.), ein beiläufiges Treffen von Tristan und Kurvenal (2260ff.) oder die Szene des Boten Peliot (2471ff.). Damit ist nicht gemeint, das Ausgesparte sei bedeutungslos, sondern nur, daß es entweder auf dieser Ebene der Strukturanalyse noch nicht sinnvoll erfaßt werden könne, oder daß es zu den handlungslogischen Verknüpfungen von Struktur- 77 Vgl.1224ff. 1270ff., 2547ff., 2650ff. 32 elementen gehöre und deswegen von der Strukturanalyse – aber nur von dieser – vernachlässigt werden dürfe. Das Schema präpariert also ein Erzählgerüst heraus und zeigt dabei, daß die Gruppenbildung der Wiederbegegnungen von Tristan und Isolt nicht nur durch die zuvor angeführten zäsurierenden Erzählabschnitte (1.1., 1.2.1./1.2.2., 1.3.1./1.3.2.), sondern gleichermaßen durch interne Korrespondenzen zwischen diesen insgesamt fünf Zusammenkünften geschieht. Offenbar gehören etwa die Partnerschaft von Tristan und Kaedin sowie die Bezogenheit der Handlungsorte Dornbusch und Baumgarten zu den Charakteristika der Zweiergruppe (2.1.1.-2.1.2.), ebenso offensichtlich ist, daß in der Dreiergruppe (2.2.1.-2.2.2.-2.2.3.) Tristan jeweils in fremder Maske auftritt und Kaedin seine Begleiterrolle eingebüßt hat (vgl. 2121ff.). Da beide Gruppen jedoch nicht einfach redundante Szenen doppelnd aneinanderreihen, sind neben den Signalen einer vagen Zusammengehörigkeit der zwei und drei Begegnungsepisoden auch die Regeln ihrer Anordnung der Aufmerksamkeit wert. Sehen wir deswegen zunächst erneut auf den Dornbuch- und Baumgartenabschnitt (2.1.1.-2.1.2.). Tinas hatte sich nach Tristans Ankunft in Litan und einer ersten Unterredung als Arrangeur der Wiederbegegnung der Liebenden zu Marke und der blonden Isolt aufgemacht, die er beim Brettspiel antraf. Mit Tristans Ring signalisierte er unter der Hand Isolt die Nähe ihres Geliebten, in einem Geheimgespräch bat er sie, am nächsten Tag vor den Dornbusch zu kommen und Petitcreiu im Angesicht Kaedins zu liebkosen. Und so geschieht es: im Rahmen einer Hofjagd78, zu der Marke auf Isolts Wunsch zum Blanken Lande auszieht, kommt die Königin in strahlender Schönheit vor Tristans und Kaedins Versteck und spielt mit dem Hündchen, so daß der Arundeler Herzogssohn seine Wette verloren gibt. Nur kurz aber ist, weil Markes Aufpasser Antret alle Heimlichkeit stört, das Gespräch der Liebenden. Es reicht eben zur Verständigung darüber, eht aber [...] beidiu êre unde lîp zu wâgen (1262f.), und darüber, wie das nächste, verheißungsvollere, erfüllte Beisammensein zu inszenieren sei – Erfüllung verheißt dabei schon der verabredete Treffpunkt im Baumgarten.79 Diese erste Begegnung von Tristan und Isolt in Ulrichs Text bringt also den im vorangegangenen studierten Konflikt, die Schönheitskonkurrenz zwischen den beiden Isolten und die dahintersteckende Auseinandersetzung zwischen Kaedin und Tristan, zu raschem Ende und wahrt doch den Fortgang des Erzählens, insofern sie die sexuelle Wiedervereinigung des Paares zugleich sichert und hinausschiebt. Die Einlösung des Versprochenen geschieht erst im Zelt im Baumgarten, wobei der (gelingende) Liebesakt Isolts und Tristans gerahmt wird von Begrüßungs- und Abschiedspartien sowie dem (scheiternden) Verführungsversuch Kaedins bei Isolts Hofdame Kamele – davon später mehr. Dies aber heißt, daß sich die beiden ersten Begegnungen der Liebenden nach der Logik von (sexueller) Verheißung und (sexueller) Erfüllung anordnen, als Planung und Vollzug aufeinander beziehen: hier ereignet 78 Wiederum erscheint die Jagd hier als aristokratische Standespflicht (das zimt wol der krône, 1087), wie als kontinuierlich anzuwendendes Instrument der Durchsetzung von Flächenherrschaft (wir sîn ze Tyntalione gewesen gar ze lange zît, 1088f.); vgl. oben S.18. 79 Vgl.Gotfrits Entdeckungsszene: GT 18130ff.; dazu Hahn (1963a), S.25, 28. 33 sich, was dort konzipiert wurde, dort ward arrangiert, was hier jetzt glückt. Das Glückende aber ist der Ehebruch. In ihm bricht jener Hiatus zwischen der einzigartigen Liebe und den Zwängen der Gesellschaft, zwischen Eros und Macht auf, den jene Erzählabschnitte verdeutlichen, welche jeweils auf das Zusammensein der Liebenden, auf Planung und Vollzug der Liebe folgen. Sie sind darum ins Episodenmodell schon aufgenommen. Einmal werden in Markes Gespräch mit Antret und Melot, Brangäne und Isolts Kämmerer Paranis der von dieser Liebe Betrogene und der gesellschaftliche Machtzusammenhang des Ehebruchs ins Licht gerückt (3.1.). Zum andern Mal fordert Markes Gefolgsmann Pleherin den, den er für Tristan hält (hier noch doppelt vergeblich, weil der fälschlich Gestellte flieht), heraus, sich in Isolts Namen zum Zweikampf zu stellen (1.2.2.). Die Szene ist mehrdimensional, die Verwechslung Kurvenals mit Tristan wird erst fürs nachfolgende Geschehen bedeutsam. Zudem aber zeigt die Episode Pleherin, wie er als Repräsentant des Markehofs und zugleich der Normen vorbildlichen Minnedienstes (1950f.) dem listenreich normwidrig Liebenden nachsetzt. So auseinandergelegt erweist die Episodenfolge um die ersten Zusammenkünfte von Tristan und Isolt, daß in ihr nicht nur die Logik von Planung und Ausführung des Ehebruchs strukturbildend wirkt, sondern zugleich auch der Versuch, hier Erzählelemente anzufügen, die die von der Liebe tangierte Machtordnung repräsentieren. Deswegen ist dem Versprechen des erfüllten Eros der König mit seinen Ratgebern, dem vollzogenen Ordnungsbruch die Verfolgung durch einen Stellvertreter des Betrogenen und also dem Reden der Liebenden das Reden des Hofes, ihrem Agieren dessen Reagieren zugeordnet. Als Gerüst der Episodenfolge erscheint so ein in keiner der konkurrierenden Tristanerzählungen angelegtes viertaktiges Muster, dem selbst der Hiatus zwischen einzigartiger Liebe und gesellschaftlichem Zwang, zwischen Eros und Macht als Thema des Erzählens eingeschrieben ist: Reden: 1.Die Verabredung der Liebe (des Ehebruchs) 2.Das Reden des Hofes (Machtordnung) Handeln: 3.Die Liebe selbst (der Ehebruch) 4.Das Handeln des Hofes (Verfolgung) Ein solches narratives Muster wäre kaum besonderer Rede wert, wenn es nur den bisher erörterten Erzählabschnitt strukturierte und sonst nichts. Es gerät indes in Ulrichs Text in die Diskussion, indem es unter veränderten Bedingungen wiederholt durchgespielt wird. Geänderte Voraussetzungen für einen Wiederholungsdurchgang durch das Erzählmuster treibt schon dessen erste Aktualisierung aus sich selbst hervor. Sie inszeniert die letzte Schemaposition, die Verfolgung durch einen Repräsentanten des Hofes, als Verwechslungskomödie. Der Anschein allein, daß derjenige, den Pleherin zum Zweikampf stellt und der im Namen Isolts flieht, eben Tristan sei, und daß demnach also einer die Schönste wider alle Ordnung für sich gehabt hatte, der nicht der Tapferste 34 ist80, dieser Anschein unterbindet das drohende Ende der Episodensukzession. Sie hat nämlich mit dem ungestörten Beisammensein der Liebenden bereits einen Höhepunkt erreicht, nach welchem es schwerlich einfach seriell weitergehen konnte; nur in der Pornographie folgt auf den einen Liebesakt in bewußtlosem Wiederholungszwang immer der nächste. So bleibt, wenn nicht analog zur Ehe in Karke die Tristan-IsoltBeziehung selbst aufgebrochen werden sollte, das Mißverständnis als ein Auseinandertreten des Sachverhalts und seiner Einschätzung diejenige Option, mit der der Prozeß der Geschehnisse neu anzustoßen ist. Und dies mit doppelter Wirkung, denn da Pleherin Isolt großmäulig von seinem Triumph über den Fliehenden berichtet und sie so gegenüber Tristan in (auf falschen Voraussetzungen beruhende) Rage bringt, muß sich dieser am unwissentlichen Verleumder rächen81, und zugleich Isolt seine Liebe neu beweisen. Dies geschieht, nachdem die Botengänge des Paranis zwischen Isolt und Tristan deren Empörung und damit die Größe der für diesen sich stellenden Beweisaufgabe illuminiert haben (1987-2101), in der zweiten Gruppe der nun unter geändertem, nämlich negativem Vorzeichen stehenden Wiederbegegnungsepisoden. Erneut nehmen die Ereignisse, wie schon in der ersten Folge der Wiederbegegnungsabenteuer, in Litan ihren Ausgang, wo Tinas wiederum seine Unterstützung anbietet (2109ff.), wo Tristan seine Situation beklagt82 und sich der Treue Kurvenals versichert (2146ff.). Der Plan, in der Verkleidung eines Aussätzigen vor Isolt zu treten, nimmt dabei Gestalt an. Tristan verabschiedet sich von Tinas, verbirgt sich, so wie vor der ersten Begegnung mit der Geliebten im Dornbusch, jetzt zwêne tage oder drî (2220) an unbekanntem Ort, und zieht dann, zur Unkenntlichkeit entstellt, nach Tintalione. Die folgende, knapp erzählte Szene von der größten Erniedrigung des Liebenden vor seiner Dame, die bei Eilhart, anders als hier, motivisch und thematisch auf Tristrants frühere Befreiung Ysaldes aus der Gewalt des Aussätzigenherzogs verwies, zeigt die scheinhafte Distanz Tristans und Isolts in ihrer direkten Konfrontation, ohne daß so jene Trennung überwunden werden könnte: hohnlachend läßt die Königin den Mieselsüchtigen aus dem Hof prügeln. Erst im zweiten Anlauf, verkleidet als Bote aus Arundel, gelingt Tristan die Versöhnung: Isolt erkennt den Geliebten an einem Liebeszeichen, nämlich an der Weise seines Errötens (2355ff.), und bittet ihn um Vergebung. Wieder aber, wie bei den ersten Begegnungen des Paares, ist die Episode transitorischen Charakters, denn die Versöhnung ist nicht zugleich selbst die sexuelle Erfüllung der Liebe, sondern nur deren Verheißung. Das heißt: dieses vierte Treffen von Tristan und Isolt ist, wie bei den Wiederbegegnungen der ersten Gruppe, nur die Voraussetzung für das auf es zurückweisende fünfte, 'eigentliche' Zusammensein. Wiederum wird hier nur geplant und vorbereitet, was sodann erst unter Tristans Nar80 Vgl.Haug (1988), S.144, 150. Als Komödie ist das inszeniert, insofern Pleherin Kurvenal ein Pferd abnimmt und die Helden deswegen lächerlicherweise auf ihren Füßen nach Litan zurückreiten müssen (1903, 2103). 81 Vgl.2025ff., 2084f., 2223. 82 Vgl.2107ff., 2155ff., 2192ff. 35 renkappe in einer längeren Reihe köstlicher Liebesbegegnungen (2656ff.) Wirklichkeit wird. Wie in der ersten Zweiergruppe ist auch in dieser Dreiergruppe von Tristans Abenteuern der Rückkehr zur blonden Isolt die Identität der einzelnen Erzählabschnitte nur zu fassen als Beschreibung ihrer über sich hinausweisenden, den epischen Zusammenhang stiftenden Episodizität. In der relationalen Logik von Trennung und Versöhnung und Planung und Vollzug manifestiert sie sich hier. Daß dem aber dasselbe narrative Muster eingeschrieben ist wie der ersten Gruppe der Wiederbegegnungen, ist leicht daran zu sehen, daß Planung und Vollzug der ordnungssprengenden Liebe auch hier von einem Gespräch Markes mit Antret und Melot (3.2.) auseinandergehalten sowie von Antrets Entdeckung der Liebenden (2705ff.) und Pleherins Verfolgung des fliehenden Tristan (1.3.2.) abgeschlossen werden. Im variierenden Durchspielen unter den modifizierten Ausgangsbedingungen des scheinhaft irrtümlichen Konflikts der Liebenden erst zeigt sich das viergliedrige Muster der Episodenfugung als identisches – obwohl ihm eine fünfte Szene vorangestellt ist, in welcher eben die geänderten Voraussetzungen des zweiten Schemadurchgangs episch präsent werden (Aussätzigenepisode 2.2.1.). Zugleich wird die Erzählstruktur auf den Sinn hin transparent, den sie vermittelt: die Vergegenwärtigung der vom Reden zum Handeln radikalisierten normwidrigen, ordnungsprengenden, gesellschaftsfeindlichen Dimensionen der Liebe von Tristan und Isolt. Eben dies wird beim zweiten Durchgang durch das Episodenschema auch vom Erzähler angedeutet und in distanzierenden Kommentaren kritisch bewertet. An den für diese drei Rückkehrepisoden konstitutiven und ihre Einheit stiftenden Verkleidungen Tristans83 macht der Erzähler seine Kritik fest, wenn er die Knappenrolle als ein wunderlîch geschiht (2324) aus dem Bereich identifikatorischer Rezeptionsmöglichkeiten abdrängt, wenn er von der Verkleidung als Aussätziger sagt, Tristan slouf in boese huderwât, diu vromen man doch missestât (2231f.), und wenn anläßlich der Folie Tristans Handeln explizit getadelt wird: er tet, des ich niht tæte, der mich der dinge bæte, diu mir vuogeten unreht lebn, des vriuntschaft woldich mich begebn.84 Daß es, anders als in den Vergleichstexten, Isolt mit den blonden Haaren war, die zur Narrenrolle riet85, sollte in diesem Zusammenhang ebenso bewußt gehalten werden, wie die diesen kritischen Anmerkungen gemäße Rolle, welche der Text dem König Marke zuordnet. Er ist in beiden Szenen vom Reden des Hofes (3.1., 3.2.) das hilfsund ahnungslose, tadelsfreie Objekt des Geschehens. Er ist das Opfer der Liebe Isolts 83 Daß in der Reihe Aussätziger, Knappe, Narr Tristans Rolle "each time a socially lower one" sei (Kerth [1981], S.87), trifft die geltenden sozialen Hierarchisierungen nicht. 84 2501-2504, vgl.auch 2611f. Zur zitierten Stelle haben kontroverse Position bezogen Meissburger (1954), S.103f.; Deighton (1979), S.217ff.; wenn ich sie hier als Erzählerkritik an Tristans Verhalten und damit an seiner Liebe anführe, so zunächst nur im Sinne einer punktuellen, von ihrer strukturellen Position her einzuschätzenden Kritik. 85 Vgl.2418, 2479ff. und dazu Deighton (1979), S.212, sowie ET 8695ff., FT 5099ff. 36 zu Tristan, bleibt fest verfangen in einen an keiner Stelle negativ oder auch nur ambivalent akzentuierten Verblendungszusammenhang, und lastet alle Konflikte den tatsächlich ja die Wahrheit sagenden Höflingen Antret und Melot an: Tristan und diu reine Ysolt diu sint missewende vrî, swie man in doch bihonnie sî (2464-2466) 4. Handlungs-imitatio und Erzählalternative: Die Reihe der fünf Wiederbegegnungen von Tristan und Isolt ist mit der Folie und der anschließenden Flucht des Narren an ihr Ende gekommen. Der Text insgesamt ist es nicht. Er knüpft vielmehr einen Erzählabschnitt daran, der unter dem Gesetz handlungslogischer Ökonomie disproportional sich verhält zu seiner motivationalen Aufgabe, eine schwere Verwundung Tristans zu erzählen, damit in ihrer Folge die auf den Liebestod zueilende Episode vom Schwarzen Segel in Gang komme. Eine Verletzung, die zum Ruf nach der heilkundigen Isolt zwingt, hätte sich der Held zum Beispiel schon bei seiner Flucht von Tintalione oder im Kampf für die Ehe seines Namensvetters Tristan des Zwerges86 zuziehen können. Der Sinn der Liebesgeschichte von Kaedin und Kassie, die noch auf dem Schiff beginnt, das Tristan, Kurvenal und den Karker Herzogssohn von Cornwall wegführt (2855ff.), ist also mit ihrer motivierenden Funktion für Nachfolgendes nicht identisch und dieser Sinn ist auch nicht dort, in der Logik finaler Handlungsmotivation, sondern in den Konstellationen des episodisch Erzählten und in der Struktur des Erzählens vermittelt. Jene Konstellationen sind der Forschung geläufiger als diese Struktur, weil sie zur Geschichte des Tristanstoffes gehören. Seit Kindestagen (2863ff.) liebt Tristans geselle Kaedin Kassie. Sie wurde die unglückliche (3154ff.) Gattin von Nampotanis, dem eifersüchtigen Herrn des an Arundel grenzenden Herzogtums Gamaroch (2873ff.), der sie in extremer huote 86 So im Tristan des Thomas (2313ff.) und der Tristrams Saga ok Isondar (S.107 Z.35ff.) - zwei Texten übrigens, mit denen Ulrichs Tristanschluß eben in dieser Episode das (ihn von Eilhart unterscheidende, vgl.unten Anm.92) kleine Motiv gemeinsam hat, daß der schwer verletzte Held den Gegner mit der vergifteten Waffe noch töten kann. Diese Anmerkung insinuiert keinen genetischen Nexus zwischen Ulrichs und dem französischen oder dem altnordischen Gedicht, sondern umreißt ein Feld von narrativen Möglichkeiten, in dem sich Ulrichs Erzählen als Resultat gezielter Selektion abzeichnet. Daß diese alternative Möglichkeit der handlungslogischen Begründung von Tristans vergifteter Wunde in der Episode mit Tristan dem Zwerg, auf deren im Vergleich mit einer zweiten Liebesgeschichte Kaherdins größeren raisun (2156) Thomas in einem berühmten quellenkritischen Exkurs ausdrücklich besteht (vgl.auch Bonath [1983], S.50ff.), im deutschen Sprachraum ebenfalls aktualisierbar war, beweist das niederfränkische Tristanfragment des Codex Vindobonensis Ser. Nov.3968 (Ausgabe von de Smet und Gysseling, 122ff.); möglicherweise bezeugt es regionale Sonderbedingungen des nordwest-deutschen Raumes, doch ist anderseits sein Fundort die Prager Dombibliothek. 37 (2906) in den dreifachen Mauerring seiner Burg Scharize87 einsperrt. Auf Tristans Rat hin erbittet Kaedin nun von Kassie Wachsabdrücke der Burgschlüssel und läßt danach Doubletten machen. So können die Freunde, während Nampotanis auf der Jagd ist, in Scharize eindringen und die Liebe genießen: Kaedin mit Kassie, der exemplarische minnære Tristan (2919) aber mit den Vorzimmerdamen der Geliebten Kaedins (3164ff.). Als sie wieder auf dem Heimweg nach Karke sind, kommt Nampotanis zurück und entdeckt Kaedins Hut, den der Wind in den Burggraben geweht hatte. Er stellt seine Frau brutal zur Rede und verfolgt dann die gesellen. Weil sie sich im Wald für ein Schläfchen Zeit gegönnt haben, entkommen diese nicht, sondern werden von ihren Verfolgern gestellt. Im Kampf findet Kaedin den Tod, Tristan wird mit einem vergifteten Speer so schwer verwundet, daß er später daran sterben wird. Es ist möglicherweise unangemessen, diese von Eilhart von Oberg, Ulrich von Türheim und Heinrich von Freiberg im wesentlichen parallel erzählte Geschichte als eine abzutun und auszublenden, "die das Minnegeschick Tristrants und Ysaldes nicht eben bedeutungstief reflektiert."88 Denn zu fragen wäre immerhin, wie dieser Spiegelungsprozeß inauguriert wird und welcher Sinn – auch: welcher Kommentar zur reflektierten Geschichte – in ihm vermittelt ist. Die Kehenis-Gariole-NampetenisHandlung, so hat Gesa Bonath von Eilharts Tristrant her klar gemacht89, "wiederholt die Dreieckskonstellation Tristan-Isolt-Marke"(S.43) und pointiert dabei "gerade das aus der Haupthandlung verdrängte Motiv des betrogenen Ehemannes, der seine Ehre am Liebhaber seiner Frau rächt"(S.42). "Tristrant hilft also Kehenis in einer Situation, die seiner eigenen vergleichbar ist. Nampetenis hingegen tut [...] genau das, worauf Marke am Ende der Waldleben-Episode verzichtet: Er rächt den Verlust seiner Ehre. D.h. der Schluß, der nach der Logik der Handlung im ersten Teil zu erwarten gewesen wäre, wird hier in eine Nebenhandlung projiziert als möglicher Ausgang eines solchen Liebes- und Ehedramas."(S.43f.) Dabei ist allerdings die Bindung des Kehenis an Nampetenis nicht so angelegt, daß, wie im Verhältnis von Tristrant und Marke, der Ehe- auch zum Treubruch würde.90 Deswegen kann Eilhart ein falsches Verhalten des Betrogenen, der sich durch seine exzessive huot, auch durch den Umgang mit vergifteten Waffen (S.52) selbst disqualifiziert, akzentuieren und die Episode problemlos zum Exempel für die Liebenden machen – "ihre Selbstbestimmung in der Liebe ist der Wert, auf den es ankommt und auf dem beharrt wird gegen den Besitzanspruch und das Recht des Ehemanns"(S.45) – , während die Logik der Haupthandlung auf der Kommentarebene durchkreuzt werden muß: unterdrückt wird, daß die Liebe Tristrants und Ysaldes "in dieser Form anarchisch und mit bestimmten Norm- und Ordnungsvorstellungen der Gesellschaft unvereinbar ist. Man versucht, für die Liebe einen Freiraum [...] in der Gesellschaft 87 Vgl.2882, 3132; zur Stoffgeschichte vgl.Haug (1989a), S.591ff. Schindele (1971), S.100, mit Blick auf den Tristrant. Vgl.auch Kuhn (1980a), S.32, und schon Witte (1933), S.179ff. 89 Bonath (1983), S.42ff.; danach die folgenden Zitate im Text. 90 Im Gegenteil gehörte Nampetenis als Verbündeter Riols zu den Feinden von Kehenis, den er im Krieg einmal als Geisel nahm, und seinem Vater (ET 5986); vgl.Stolte (1941), S.91f. 88 38 zu gewinnen, indem man die Gesellschaft kurzerhand umdefiniert: Diejenigen, auf die es ankommt, sind die Höfischen, die Feinsinnigen, die der Liebe helfen; alle anderen zählen nicht, und nichts anderes zählt. Eine mögliche Gefährdung des sozialen Gefüges durch den Einbruch der Liebe wird, obwohl man es offensichtlich besser weiß, wo nicht geleugnet, so doch weitgehend totgeschwiegen."(S.47) Auf die Entlastung Markes durch die Aufspaltung der Welt des Hofes zielt auch Ulrichs Fortsetzung von Gotfrits Romanfragment91, ohne daß damit zugleich die Tristanminne schon in helles Licht rückte. Auch hier wird die Liebesgeschichte und ihr Verhältnis zur Gesellschaft in einer Parallelhandlung, der Kaedin-Kassie-Affäre, narrativ kommentiert, welche indes in gegenüber Eilhart geänderte Kontexte eintritt und neuen Bewertungen unterliegt. Von den Disqualifizierungen des betrogenen Herzogs Nampotanis bleiben bei Ulrich nur wenige Rudimente92, die obendrein von rühmenden und rechtfertigenden Aussagen mehr als aufgewogen werden 93: eine Entlastung des gehörnten Herzogs also, die jener des betrogenen Königs in der Haupthandlung entspricht. Sie wirkt darum ebenso als Betonung der Analogien zwischen den Dreieckskonstellationen Tristan-Isolt-Marke und Kaedin-Kassie-Nampotanis, wie es daneben auch Wiederholungen szenischer und motivischer Details der Tristangeschichte in der Nebenhandlung tun. Zu solchen Einzelheiten gehört, daß die Verabredung zur ersten Begegnung zwischen Kassie und ihrem Liebhaber wie bei Tristans erster Rückkehr zu Isolt Blondhaar von einem Boten vermittelt wird 94; daß stets die Abwesenheit des Ehemanns zur Jagd das Beisammensein des Paares ermöglicht95; daß als Umkehrung der früheren Konstellation im Blanken Lande nun Kaedin seinen gesellen Tristan zum Zwecke der Beurteilung weiblicher Schönheit zum Stelldichein bei Kassie mitnimmt96; daß sich Tristan analog zu Kaedins früheren Annäherungsversuchen gegenüber Kamele (1596ff.) weniger sportlich (ET 9076ff.), als vielmehr erotisch bei Kassies Damen unterhält (3164ff.); hierher gehört schließlich, daß, so wie Markes Jäger mittels eines Bracken auf der Fährte des weißen Hirschs zur Minnegrotte gefunden hatte97, eben das Bellen eines Hundes Nampotanis zur Entdeckung des Ehebrechers Kaedin im Wald führt.98 91 Vgl.oben S.35. Vgl.2905, 3154ff., 3199. Die vergiftete Waffe, mit der Eilharts Nampetenis Tristrant die schließlich todbringende Wunde zufügt (ET 9218ff.), wird bei Ulrich nicht mehr vom Betrogenen selbst, nurmehr von einem seiner Ritter geführt, den der schon Schwerverletzte dann noch töten kann (3261ff.; vgl. Anm.86). Auch hier: ein Freihalten des Nampotanis von der Schuld der verwerflichen Tat. Angefügt sei schließlich, daß im Erzählzusammenhang von Gotfrits und Ulrichs gemeinsamem Tristan Nampotanis von Gamaroch nicht, wie bei Eilhart (vgl. Anm.90), schon zu den alten Feinden des Arundeler Herzogtums rechnet. 93 Vgl.2873f., 2878, 3184f., 3205ff. 94 Vgl.2953ff.: ohne Parallele bei Eilhart, vgl.ET 7964ff. 95 Vgl.2895, 2966f., 3114f. 96 3110ff.; nicht so bei Eilhart, vgl.ET 9050ff. 97 Vgl.GT 17331ff, 17403ff. 98 3210ff.: anders bei Eilhart (ET 9184ff.). Während Kehenis und Tristrant sich auf dem Rückweg von Gariole bei der Jagd erschöpfen und deswegen ihren Vorsprung vor dem Verfolger Nampetenis einbüßen (ET 9114ff.), motiviert Ulrich anders: 92 39 Es handelt sich also um Rekurrenzen, welche die in die Tristanerzählung eingebettete Kaedin-Geschichte als deren kommentierende Doppelung nicht nur hinsichtlich des Grundgerüsts der Figurenkonstellation erweisen, und welche sich auch strukturell erfüllen. Zum dritten Mal nämlich sind die Begegnungen der Liebenden, Kaedins und Kassies jetzt, als Verabredung des Ehebruchs (2992-3043) und dessen Ausführung (3141-3175) aufeinander bezogen99, und wiederum sind den beiden Episoden zwei weitere, ihre Bedeutung verdeutlichende zugeordnet, welche die von der Liebe verletzte gesellschaftliche Ordnung bewußt machen – wenn auch in anderer Gestalt als bei den Wiederbegegnungen von Tristan und Isolt. Denn eben dies ist nicht nur der Sinn der Erzählung vom seine Ehre wiederherstellenden100 und darum den Ehebrecher verfolgenden und tötenden Herzog Nampotanis – die strukturelle Analogie zu den Pleherin-Episoden ist unübersehbar, dem Ehebruch folgt die Verfolgung durch Repräsentanten des Hofes. Die präsentative Einschaltung normativer Ordnung in den narrativen Zusammenhang ist auch eine der Funktionen, so scheint mir, jener wenigen, aber sperrigen Verse 3084 bis 3102, die davon erzählen, daß Tristan mit Kaedin, während sie auf die Nachschlüssel für Scharize warten, nach Karke reist um dort seine Ehe mit der weißhändigen Isolt zu vollziehen. Sicher ist dies ein "Handlungselement [...], das durch Tradition vorgegeben", wenn auch nicht, wie Grubmüller meint,"im Ablauf notwendig ist", und es mag sein, daß "durch die Art der Darstellung" seine "sinntragende[] Funktion" abgebaut werde.101 Neuen Sinn aber gewinnt der Vollzug der Ehe mit Isolt von Arundel durch seine ge- si sâhen ze der winstern hende einen schoenen brunnen stân, dâ bî erbeizte Tristan und leit sich slâfen an daz gras. (3178-3181) Auch den Ort der Erholung von den Mühen der Liebe mit Kassie und ihren Damen mag man sich als vage Anspielung auf den küele[n] brunne[n] (GT 17378), die funtânje ûf Tristandes plânje (GT 17349f.), in der Nähe der Minnegrotte denken, an welchem Markes Jäger die Spur des weißen Hirschs aufnimmt (GT 17421ff.). 99 Von der Logik der narrativen Struktur her - nicht als vage Abweichung von einer Quelle etwa unter dem Zwang zur Kürze bloß (wer hätte auch den Autor zwingen sollen?) - erklärt es sich, daß Ulrich von Türheim erstens die Teile dieser Liebesgeschichte eng zusammenzieht, statt sie nach Eilharts Konzept durch Rückkehrabenteuer Tristans in Cornwall zu unterbrechen (vgl.ET 8139-9032); daß zweitens und wiederum abweichend vom Tristrant (vgl. ET 8072-8081), die Übergabe der Wachsabdrücke für die Nachschlüssel zur Burg Scharize ohne eine Begegnung zwischen Kaedin und Kassie abgeht (3059-3065): eine solche erneute, den Ehebruch nur weiter vorbereitende Begegnung nach dessen Verabredung und vor seinem Vollzug hätte die Stringenz des Erzählmusters verunklärt, auf die es dem Autor offenbar ankam. 100 Vgl.3220f., 3229ff. 101 Grubmüller (1985), S.342, in Auseinandersetzung mit Meissburgers ([1954], S.147) Deutung, Ulrich schildere hier "die Liebesvereinigung der Partner in der Ehe als das größte irdische Glück". 40 genüber Eilhart102 neue strukturelle Position. Hier wird weder das Hohelied der Gattenliebe gesungen (Meissburger), noch einer allenfalls "zynisch verabsolutierte[n] eheliche[n] Sexualität" das "vielleicht im schwankhaften Märe" angemessene Wort geredet103, sondern abseits aller Wertungen zunächst einmal die Ordnung hochadeligen Normalverhaltes anzitiert und auf den Ordnungsbruch in Gamaroch strukturell bezogen. Daß ausgerechnet Tristan Träger dieses Normalverhaltens ist, bringt in die Diachronie seiner Geschichte jenen von Grubmüller zuerst bemerkten Zynismus. In der punktuellen Synchronie der narrativen Struktur der Kaedin-Episode ist es gewissermaßen belanglos. Der Autor besetzt demnach jene strukturelle Position sozusagen mit in seinem Stoffreservoir gerade disponiblen Figuren und Handlungsbausteinen, welche in den früheren Aktualisierungen des Schemas Markes Gespräche mit Mitgliedern seines Hofes innehatten. Unabhängig von der Plausibilität dieser Detailinterpretation ist die Existenz zumindest des strukturellen Gerüsts von Planung, Vollzug und Verfolgung des Ehebruchs. Mindestens insofern wiederholt Ulrich von Türheim in der Kaedin-KassieNampotanis-Geschichte nicht nur Motivisches und die Figurenkonstellationen der Tristanhandlung, sondern, und sei es mit Modifikationen, auch jenes narrative Muster, das er für die Ordnung der Wiedersehensepisoden von Tristan und der blonden Isolt gefunden und gegen die Strukturvorgaben der Stofftradition, also insbesondere des zweiten Tristrant-Teiles, eingesetzt hatte: 1.Die Verabredung der Liebe (des Ehebruchs) 2.Vergegenwärtigung der Normalität der Machtordnung 3.Die Liebe selbst (der Ehebruch) 4.Das Handeln des Hofes (Verfolgung) Dies erlaubt es, die Kaedin-Erzählung noch prägnanter als bisher auf die Tristangeschichte – zunächst in ihren vom Türheimer gestalteten Abschnitten – zu beziehen, und den zwischen die Karker Hochzeit samt ihren direkten Folgen einerseits und den Liebestod von Tristan und Isolt anderseits eingespannten Hauptteil von Ulrichs Gotfrit-Fortsetzung zu fassen als eine Erzählung, die aus drei Episodengruppen aufgebaut ist, welche denselben narrativen Ordnungsprinzipien gehorchen: 1.Tristan und Isolt: Wiederbegegnungen im Blanken Lande. 2.Tristan und Isolt: Wiederbegegnungen im Schutz von Tristans Verkleidungen. 3.Kaedin und Kassie: Liebesbegegnung in Gamaroch. 102 Viel früher, bereits nachdem er als Aussätziger von der irischen Ysalde vertrieben wurde - und als Rache dafür -, vollzieht Tristrant dort die Ehe (vgl.ET 7070ff.); vgl.unten S.140 ff. und Anm.127. 103 Grubmüller (1985), S.342; vgl.auch Schöning (1989), S.173. 41 Die drei erzählerischen Durchgänge durch das eine Muster verhalten sich dabei etwa wie Grundform, Komplexionsform und Grundform in alternativer Gestalt, oder musikalisch gesprochen wie Exposition, Durchführung und Reprise zueinander, denn sie zeigen das Gelingen der Liebe als Ordnungsbruch (1.), die Möglichkeit dieses Gelingens der Liebe nur als Ordnungsbruch auch unter den komplizierteren Ausgangsbedingungen von Isolts Zorn und gesteigerter huote (2.), und (3.) wieder das Gelingen der Liebe als Ordnungsbruch – und seine Folgen. Aus dieser Strukturanalyse des Hauptteils der Tristanfortsetzung Ulrichs von Türheim ergeben sich Folgerungen in zwei Richtungen: intertextuell hinsichtlich der Deutungsleistungen von Ulrichs Text für Gotfrits Tristangeschichte, und intratextuell hinsichtlich seiner strukturellen Identität. Im Zentrum der Fortsetzung steht ein aus schematisch analog gefügten Episodengruppen streng komponierter Hauptteil, dessen strukturelle Kohärenz zusätzlich stützend unterfangen wird von einem Erzählrahmen, welchen die Einleitungs- und Schlußpartien um die Heirat mit Isolt Weißhand sowie den Liebestod von Tristan und der blonden Isolt bilden. Diese Teile des Rahmens sind nicht nur durch den gemeinsamen Handlungsraum Arundel, sondern auch motivisch aufeinander bezogen. Am Ende des Einleitungsteiles steht als Übergang zu den Wiederbegegnungsabenteuern in Cornwall der Brief der blonden Isolt an Tristan, der in der Aussage dune komest schiere, sô bin ich tôt (619) gipfelt. Am Anfang des Endes wird das wörtlich wieder aufgenommen in dem nun nicht mehr im übertragenen Sinne gemeinten Auftrag des auf den Tod verwundeten Tristan an seinen Boten zur irischen Isolt: der Gesandte möge der Geliebten ausrichten, kumet si niht, sô bin ich tôt. (3317) Hierzwischen sind die Begegnungen der Liebenden, Tristans und Isolts, aber auch Kaedins und Kassies, so eingepaßt, daß sich für den ganzen Roman ein insgesamt fünfteiliger Aufbau ergibt: 1. Einleitung (in Arundel: Heirat) 2. Exposition (im Blanken Lande: Wiederbegegnungen Tristans und Isolts) 3. Hauptteil Durchführung (in Tintalione: Wiederbegegnungen Tristans und Isolts) 4. Reprise (in Gamaroch: Liebesbegegnung Kaedins und Kassies) 5. Schluß (in Arundel: Liebestod) In einer solchen Beschreibung ist für die Tristanfortsetzung Ulrichs von Türheim ein narratives Ordnungsschema freigelegt und festgehalten104, daß zur Korrektur geläufi113 Thomas Kerth sieht in Ulrichs Tristan "a plot which was designed to catalogue the amorous adventures of a rather sympathetic sexual rogue for an essentially raw and pre-chivalric audience" (Kerth [1981], S.79) und entwirft demgemäß eine nicht an der strukturellen Ordnung der Episoden, sondern am thematischen Prozeß der Erzählung interessierte Gliederung (Kerth [1977], S. 83f.): I. Verfahren gegen die Sitte (40-521), Drohung des Todes durch Kaedin (522-847); II: Rettung vor dem Tod (848-1198), Rettung vor Liebesnot (1199-1699); III: Die Nacht (1700-1937); IV: Verlorene Huld (1739-2228), Wiedergewonnene Huld - verlorene Ehre (2229-2588); V: Ab- 42 ger Beurteilungen zwingt. Als Autor des "bedenkenlose[n] Aneinanderreihen[s]"105, als durch "seltsame Zerfahrenheit" ausgezeichneter Urheber "mosaikartigen Stückwerk[es]", dessen "zweite[r] Teil [...] in seiner Konzeption noch brüchiger, unklarer und widerspruchsvoller als der erste" sei106, hat sich Ulrich in der vorangegangenen Analyse nicht erwiesen. Besser als davon spräche man – eingedenk des kompositionellen Aufbaus und zumal der immer wieder festzustellenden strukturellen Differenzen gegenüber dem Vergleichstext Eilharts von Oberg – wohl von einem genau durchdachten, narrative Strukturen selbst als Instrumente der Sinnvermittlung nützenden und dieserart an der Logik der Tristangeschichte vorbei eine Interpretation des Stoffes entwerfenden Text; von einem Text zudem, der, obwohl er in die von Gotfrit vorgegebene Epenwelt eintritt und auch die Traditionsbahnen des Tristanstoffes nicht verläßt, als jedenfalls in erzählstruktureller Hinsicht selbständig und abgeschlossen sich offenbarte. Den Raum für eine an der Logik der Tristangeschichte vorbei entworfene Deutung des Erzählten schafft Ulrich von Türheim, indem er das schon für Tristans Rückkehrabenteuer zweifach grundlegende Episodenmuster in die neue Figurenkonstellation der Gamaroch-Erzählung übersetzt. Er kann damit die notwendigen Folgen des Gelingens einer Liebe, welche gesellschaftliche Ordnung bricht, zeigen als vom die gebrochene Ordnung repräsentierenden Betrogenen selbst unmittelbar ausgelöste Konsequenzen. Sie treten so in einer Schärfe und Deutlichkeit hervor, die im Stoffinventar der Tristangeschichte selbst nicht angelegt war. Insofern entweicht der Text der Logik der Haupthandlung und auch den Kommentaren Gotfrits auf die neue Ebene der Kaedingeschichte, die – in großer Selbständigkeit gegenüber Eilharts Roman – mit der Tristanhandlung motivisch, situativ und strukturell107 so koordiniert ist, daß schied (2589-2919), Das Ende (2920-3436), Epilog (3437-3729). Diese im Einzelnen weiter differenzierte Gliederung ist mit schwer nachvollziehbaren Seg-mentierungsentscheidungen belastet und verstellt damit die narrativen Strukturen des Textes. Beispielsweise wird die Einheit von Tristans Narreninszenierung durch die Zäsur zwischen den Teilen IV. und V. (2588/2589) zerstört, andererseits die wichtige, auch von der handschriftlichen Überlieferung ausgewiesene Grenze (Textbeginn in R*S) zwischen Tristans letztem Aufenthalt bei Isolt Blondhaar samt Verfolgung durch Pleherin einerseits und andererseits dem Beginn von Kaedins Liebesgeschichte bei Vers 2855 gerade ins Innere eines Erzählabschnitts verlegt. Of-fensichtlich am Text vorbei geht die Untergliederung eines Abschnitts "Das Ende", wenn sie 2920-3083 als "Vollzogene Ehe" (davon ist aber nur 3084-3102 die Rede) und 3084-3272 als "Kâedîns ehebrecherisches Verhältnis" zusammenfaßt. Hinzu kommen gewaltsame, mehr vom Systemzwang der Gliederung als vom Erzählten her begründete Entscheidungen über die thematische Zentrierung von Erzählteilen. So wird die "Dornbuschszene", die Kerth unverständlicherweise bei Vers 1198/ 1199 von der "Erste[n] Begegnung mit Isolde I" trennt, keineswegs als "Rettung vor dem Tod", welchen Kaedin angedroht hatte, erzählt: daß Tristan die Wette der gesellen gewinnt, stellt sich eher beiläufig heraus, und dies auch erst 1199ff.. 105 Wachinger (1975), S.62. 106 Meissburger (1954), S.51,56,61. 107 Dabei geht der strukturelle Zusammenhang von Tristan- und Kaedin-Erzählung so weit, daß noch die Seitenhandlung von Kaedins Versagen als Liebhaber Kameles während der Wiederbegegnung von Tristan und Isolt im Blanken Lande (1596-1699, 1744-1832) wie eine vorläufige Verheißung auf die Erfüllung seines Glücks mit Kassie vorausdeutet: daß also ein Seitenstrang 43 sie als episch entfalteter Kommentar über sie gelesen werden muß. Es geht auch in der Kaedinerzählung nicht um diese selbst, sondern natürlich um die Geschichte Tristans und Isolts. Es werden aber die das Handeln dieser Liebenden leitenden Regeln – nicht nur Motivisches ihrer Geschichte und Strukturen des Erzählens davon – in die Praxis, eben diejenige des Ehebruchs in Gamaroch, übersetzt. Die Kaedingeschichte ist der Anwendungsfall der Tristanminne unter Bedingungen, die nicht von deren Logik mitgesteuert werden. Ulrich macht das durch eine besondere Akzentuierung des Verhältnisses der beiden männlichen Protagonisten deutlich. Deren geselleschaft, nur zwischendurch vom Konflikt um die nicht vollzogene Ehe mit der weißhändigen Isolt suspendiert, gehört zu den verläßlichen Fixpunkten des Schlußteils der Tristangeschichte; sei es, daß Kaherdin, wie bei Thomas, nach der Flucht ins Exil die Rolle Kurvenals als Tristans Begleiter einnimmt, sei es, daß ihm wie bei Eilhart (und also wohl auch in der sogenannten Estoire), Ulrich und Heinrich von Freiberg nach dem mißlungenen amourösen Abenteuer im Blanken Lande nun noch eine zweite Liebesgeschichte zukommt, die jene von Tristan und Isolt reflektiert. Auf dieses Widerspiegelungsverhältnis der Geschichten kam es Ulrich wie Eilhart und Heinrich an, er akzentuiert es aber in besonderer Weise als ein imitatorisches. Kaedin nämlich ist nicht nur Tristans Freund, sondern gewissermaßen ein anderer, etwas marionettenhafter Tristan. Jeder seiner Schritte hat in der GamarochErzählung seinen Ursprung bei Tristans intellektueller Brillianz und prägt so dessen Verhaltensnormen aus: die Idee mit den Nachschlüsseln und die Schritte zu ihrer Umsetzung108, der Gedanke, zunächst eine Botschaft zu Kassie zu senden und die Auswahl des Boten (2948ff.), die Formeln des ersten Liebesgespräches (3003ff.), die Bestimmung eines tüchtigen Schlossers (3067ff.), die Anzahl der Begleiter zum Stelldichein in Scharize (3122ff.) – all dies geht direkt auf Tristans Ratschläge zurück, ist Resultat seiner listig betrügerischen Findigkeit.109 Auf der andern Seite erstattet Kaedin als Agent Tristanscher Ehebruchstechniken seinem Ratgeber und Freund jeweils Vollzugsbericht.110 Kaedin, mit anderen Worten, ist ein Imitator Tristans, sein Ehebruch folgt Schritt für Schritt den Anweisungen des Ehebrechers Tristan – und dies sind Anweisungen zum Tod hin, denn Kassies Liebhaber wird von Nampotanis erschlagen. Mit dem Tod des Ehebrechers von der Hand des Betrogenen rächt sich die Gesellschaft an dem, der ihre verbindliche Ordnung ignoriert hatte. Dies erscheint in Ulrichs Roman als der gültige Regelfall. Nur unter den Sonderbedingungen der Tristanhandlung und gemäß ihrer spezifischen Logik tritt dieser Tod – von 'außen' her durch Tristans tödliche Verwundung in einer Nebenhandlung und der weißhändigen Isolt Lüge in der Episode vom Schwarzen Segel doppelt motiviert – in jener Form auf, die seinen regelhaften Nexus mit dem vorangegangenen Bruch ge- die drei Episodengruppen des Hauptteils des Romans zusammenspannt, dessen Logik derjenigen der Binnenordnung dieser Episodengruppen vergleichbar ist. 108 Vgl. 2888ff., 3011. 109 Eilhart hat das nicht annähernd so dicht und deutlich, vgl.ET 7964ff. 110 Vgl.2984ff., 3044ff. 44 sellschaftlicher Ordnung suspendiert: in der Form des Liebestodes, die Ulrich im direkten Anschluß an die Kaedin-Kassie-Affäre erzählt.111 So gesehen ist die Kaedinerzählung nicht nur einfach ein Kommentar zum Tristanroman, sondern zugleich eine definitive Rezeptionsanweisung. Indem sie die letalen Folgen eines an dem Ehebrecher112 orientierten imitatorischen Verhaltens vorführt, setzt sie die Warnung vor einer identifikatorischen Rezeption der Tristangeschichte episch um und holt sie in diese selbst herein. Am Schluß steht bei Ulrich von Türheim vor dem Liebestod eine Geschichte, die nicht nur von Schlüsseln und Nachschlüsseln handelt, sondern selbst eine clavis anbietet für das rechte Verständnis und den vernünftigen Umgang mit der ganzen Erzählung von Tristan und Isolt. Was stoffgeschichtlicher Traditionalismus, Verfangenheit des Autors in die Vorgaben anderer Texte schien, läßt sich endlich als bewußte Entscheidung verstehen. Als Entscheidung auch gegen die alternative Episode 'Tristan der Zwerg'113, wo Tristan der Liebende zum Helfer des betrogenen Ehemanns wird. Hier hingegen ist er Orientierungsinstanz und Helfer des betrügerischen Ehebrechers, und die Konsequenz dieser Sünde ist der Tod.114 111 In eben der von der Kaedin-Handlung aktualisierten Form der Transposition in eine alternative Figurenkonstellation ist, gut versteckt, auch im Roman Gotfrits der von der Tristangeschichte suspendierte Regelfall präsent: im Lai von mînem hêrn Gurûne (GT 3524), welchen Tristan einen alten Harfner singen hört. Guirun wird – wie Kaedin – vom betrogenen Ehemann seiner Geliebten getötet (die sein Herz essen muß); vgl.Thomas, Tristan 833ff. 112 Tristan wird hier auch dadurch charakterisiert, daß er nicht zum ersten Mal die Dienste eines Nachschlüssel verfertigenden Schlossers in Anspruch nimmt, vgl.3076. 113 Vgl.oben 48. 114 Zur Tradition dieses Theologoumenon etwa Rolf (1974), S.11f., 190, 349ff. u.ö. 45 III. ZWEITE STUDIE: TRILEMMATISCHE KONSTELLATIONEN. TRISTAN ALS MÖNCH UND DER BRÜSSELER TRISTAN 1. Der epische Umriß von Tristan als Mönch: Am Beginn schriftgewordener mittelalterlicher Tierdichtung in der Volkssprache steht eine Abgrenzung konkurrierender Erzähltraditionen. Unerhört und nie vernommen nämlich ist, was Pierre de Saint-Cloud gegen 1176 von der guerre, Qui tant fu dure de grant fin Entre Renart et Ysengrin (von der so überaus harten Fehde zwischen Renart und Ysengrin) zu berichten weiß, wenn man es vergleicht mit den vielen Erzählungen Conment Paris ravi Elaine oder De Tristan qui la chievre fist Qui assez bellement en dist (Wie Paris Helena raubte oder von Tristan, den La Chievre verfaßte und sehr schön erzählte).1 Ein gutes halbes Jahrhundert später vielleicht2 hallt das Echo einer solchen Zitatbindung zwischen Fuchsepik und Tristangeschichte aus sehr abgelegenem Winkel und nur noch überhörbar leise zurück. Marke, so erzählt es die letzte Episode eines Gedichtes, das sein erster Herausgeber Tristan als Mönch betitelte, bestellt Tristan, der sich die Maske eines Klosterbruders und über sie diejenige eines Salernitaner Arztes übergestülpt hat, zum Pfleger der – so muß er glauben – schwer erkrankten Isolt: owe, wellichen artzat sime wibe Marcke erwelt hat! und wuste er wer er wære, wie gerne er sin enbære! do det Marcke rechte also Ysengrin, der Hersant sine friundin befalch Reinharte, der siu ime wol bewarte.3 Doch das remedium amoris nützt und der Arzt bewährt sich: eine mynne er ir gap, das siu ging one stap war so siu duchte guot.4 1 2 3 Roman de Renart II,3ff. Die Datierung schwankt zwischen dem zweiten Jahrzehnt (Regis [1910], S.94ff.) und der zweiten Hälfte des 13.Jahrhunderts (TaM [Paul], S.320). Ihre Basis sind Untersuchungen von Vers und Reim. 2652-2659. Spätmittelalterliche Schreiber haben das vulpekuläre Zitat nicht recht verstanden: Der herre sant sin friundin Vnd befalch sú reinhart R (entsprechend auch S). Das versehrt indes den Aussagekern nicht. Die Arzt-Metapher bildet eine Klammer der gesamten Geschichte in ihrer zyklischen Überlieferungsgestalt: so wie die allerletzte Begegnung Isolts und Tristans an dieser Stelle, so war schon ihr erstes sexuelles Zusammentreffen (GT 12161ff.) in medizinischen Metaphern erzählt worden. Vgl.dazu Schindele (1971), S.30ff., 55f.; Wessel (1984), S.488ff. 46 Zitiert ist offenbar der deutsche Reinhart Fuchs des Elsässers Heinrich5, ohne daß Reichweite und Deutungsleistung des Zitats sofort offenlägen. Als Indiz jedenfalls, daß Tristanminne hier vorrangig an der "Möglichkeit sexueller Betätigung" interessiert sei6, könnte der intertextuelle Bezug unterschätzt, als Beleg einer "grande sympathie" des Autors für König Marke7 wird er mißdeutet sein. Denn nicht die Betonung sexueller Lust ist zunächst Pointe des Zitats, sondern daß es einen Betrogenen als Opfer dieser Lust gibt. Aber was für ein Opfer, und: was für ein Betrüger! Die Dreieckskonstellation von Tristan, Isolt und Marke ist auf die von Reinhart, Hersant und Isengrin abgebildet, und darin könnte eine provozierende Interpretation der Tristangeschichte überhaupt angedeutet sein. Es könnte sich aber auch um eine nur punktuelle Wertung handeln, welche, als Schlußakkord aufs Integral der Erzählung bezogen, von der literarhistorischen Rekonstruktion überbeansprucht wäre. Klarer als Geltungsbereich und Deutungsleistung des Reinhart Fuchs-Zitats am Ende von Tristan als Mönch liegt also jenes methodische Problem zutage, das der Text in exemplarischer Weise zur Lösung aufgibt und das sich als Zuspitzung der allgemeineren Frage nach erzählerischer Kohärenz in der Epik des 13.Jahr-hunderts begreifen läßt: wie belastbar nämlich ein einzelnes Textsegment im Hinblick auf die Gesamtdeutung eines Textes sei. Im konkreten Kasus wird demnach das Verständnis des literarischen Zitats in dem Maße auf einen Vorbegriff von Struktur und Sinn des anonymen Kurzromans insgesamt angewiesen sein, in dem es diesen mitkonstituiert. Was wird erzählt? Sich dies Schritt für Schritt noch einmal zu vergegenwärtigen und dabei schon vorzustrukturieren, mag beim Versuch einer ernsthaften Einführung des ephemeren Textes ins literarhistorische Forschungsgespräch8 nicht unnütz sein. Erzählt wird, Ginover liebe einen vorbildlichen Artusritter, der noch überall gegenwärtig sei, wo man guote helde zalt (13), der sich aber von ihr als seiner Minnedame allzulange ferngehalten habe. Mit königlicher Erlaubnis lädt sie also fürsten und frigen und rytter (42f.) zu pfingstlichem Fest an den Artushof und gebietet dabei, daß jeder mit yme bringe sin liebeste friundinne (48f.): 4 2664-2666. Daß Geliebte oder Ehefrauen nach dem Beischlaf ohne Stab zu gehen vermögen, wird auch andernorts hervorgehoben: TR 5360ff.; Helmbrecht 1418; Hermann Fressants Hellerwertwitz 138 f.; Der Sperber 332f. (dazu Niewöhner [1913], S.50). Der von Ruh (Wernher, Helmbrecht S.91) verwendete Terminus "Spottformel" bündelt nur seine Interpretation der genannten Belege. Immerhin machen diese deutlich, daß in Tristan als Mönch offenbar von der Heilkraft allein der körperlichen Liebe die Rede ist. Dies um so eher, als zwar Bezüge zu Brauchformen, die man erwarten könnte, nicht nachweisbar sind, wohl aber das Motiv an eine Rechtsformel erinnert: ungehabt und ungestabt gehen zu können begegnet in spätmittelalterlichen Weistümern als Formel für jene körperliche Handlungsfähigkeit, welche Voraussetzung rechtlicher Handlungsfähigkeit ist; vgl.Grimm (1955) I, S.133, 152, 577; Schulz (1983), S.48. 5 Vgl.Heinrich, Reinhart Fuchs 416ff. So schon TaM (Paul), S.425 zur Stelle. Als Zeugnis der Reinhart Fuchs-Rezeption ist Tristan als Mönch gleichwohl noch nicht bewußt geworden; vgl.Heinrich, Reinhart Fuchs (Düwel), S.129. 6 Jungreithmayr (1980), S.419. 7 Buschinger (1987), S.81. 8 Dies impliziert ein Urteil über die Arbeiten von Jungreithmayer (1980), Buschinger (1987) und zuletzt McDonald (1990), welches der Fortgang der Argumentation begründen wird. 47 durch was siu des gedæhte? wenne es ir friunt vernæme, das er ouch dar kæme. (28-30) Ob der intendierte Effekt eintritt, läßt die Erzählung offen.9 Sie führt stattdessen vor, wie Ginovers Einladung den mit der weißhändigen Isolt verheirateten Tristan erreicht und in Konflikte stürzt. Denn Ysot die blunde, der er ie mit stæte pflag, wenne siu ime zuo hertzen lag[,] der mochte er leider nit gehan. (98-101) Andererseits wäre aber ihr Zorn zu fürchten, führe Tristan mit seiner Ehefrau nach Karidol. Der Verzicht auf die Reise zum Hoffeste schließlich scheidet als Ausweg ebenfalls aus: verlige ich dise herschafft, [...] so enlat mich nyemer fry schande und unere; (148-151) Erst Kornewal (Kurvenal) zerschlägt den Knoten, in dem sich sein Herr verfangen hat, und rät zunächst, notfalls die Minne zugunsten der Ehre zu riskieren. Als Tristan empört diesen Vorschlag schilt, löst er das Problem sentenziös: ouch ist es dohein unmosse, das ein man nutzet das er hat und anders durch mangel lat. (264-266) Dem provozierenden Pragmatismus dieser Handlungsanweisung entzieht sich Tristan nicht. Prächtig ausgestattet und in Begleitung reichen Gefolges reist er mit seiner weißhändigen Gattin an den Artushof. Szenen formvollendeten Empfangs und höfischer Repräsentation im Rahmen des pfingstlich gestimmten Hoffestes in Karidol schließen sich an, und dies wäre schon ein Ende, entbände nicht der Schlaf des Helden neues Handlungspotential. Tristan träumt von einem Aufenthalt an Markes Hof und seiner Werbung um die blonde Isolt. Diese aber beklagt in Formulierungen (681ff.), welche der Liebende eingangs in seiner zwiffel-Szene wörtlich antizipiert hatte (129ff.), eifersüchtig seine Untreue: nuon mynnent ir bas uwer wip den mich [...]. mine hulde sy iuch widerseit. (684-690) 9 Vgl.McDonald (1990), S.238f. 48 Hier nun schieben sich Traum und Realität ineinander. Tristan bereut, mit Isolt Weißhand an den Artushof gekommen zu sein und zieht früh am Morgen heimlich aus, suochen offentiure (731). one sin irrende (748f.) durchstreifen der Held und Kornewal den Wald, bis sie auf einer Lichtung den Leichnam eines Ritters finden und erst hier gewinnt Tristan unter der Kritik Kornewals Möglichkeiten planvollen Handelns zurück. Um zu versuochen, wie myn frouwe wolte clagen, sturbe ich oder wurde erslagen (916-918), konzipiert der Protagonist eine trüge nuwe (930). Zur Unkenntlichkeit verstümmelt er den Toten, damit Kornewal ihn vor der Gesellschaft als Tristan ausgebe, während er selbst als dessen Mörder reuevoll Mönch werden will. Wie er geplant ist, wird der Betrug auch voll-ogen: Tristan geht in ein nahegelegenes Kloster, erleichtert sein Gewissen als vorgeblicher Mörder, wird nach den Regeln der Brüder neu eingekleidet, tonsuriert und so einer der ihren. Wenig später bringt Kornewal den vermeintlichen Leichnam Tristans, der nun in der Abtei aufgebahrt wird, und berichtet sodann vor Artus, der Tristans Auszug als den eines Artusritters verstanden hatte und der costume gemäß das Essen bis zu dessen Rückkehr oder wenigstens einem Aventiurebericht hinauszögerte, von des Helden Tod. Erschüttert begibt sich der ganze Hof ins Kloster an Tristans Katafalk, und es beginnt, mehr als ein Drittel der ganzen Erzählung ausmachend (1090-2132), die lange Reihe der Totenklagen. Artus, Ginover, Kaedin und seine Schwester Isolt betrauern den Gestorbenen und preisen ihn als ein goltfaß reiner sinne, ein spiegel rechter mynne, ein brunne aller ritterscheffte, der hübscheit ein heffte, vatter farender diete. (1155-1159) Der Betrauerte aber steht unerkannt dabei und ihm begunde es wol gefallen (1337). Später wird, so wie Tristan es im Tod verfügt haben soll, der Leichnam von Artus, Kornewal, Kaedin, dem Abt und dem neuen Mönch, während die Damen in Engellant zurückbleiben, zu Marke nach Cornwall überführt. Hier zeiht Kornewal den König als den eigentlich Schuldigen am Tod Tristans und in der Fortsetzung der Reihe der Totenklagen nimmt Marke diese Verantwortung auch auf sich. Anschließend bedrängt er seine Gattin, die, aus Furcht, im Schmerz als Tristans Geliebte sich zu verraten, zögerlich ist, dazu, ebenfalls den Leichnam zu betrauern. Isolts Klagerede ist dann der Höhepunkt dieser Sequenz von Leichabdankungen: ist nu ieman dem missehage dirre lieben frouwen clage, der duncket mich unwise genuog, wenne die erde nye getruog tiurer tegen denne er was, der münch, der do by ir sas, den siu wonde vor ir ligen. (2120-2126) 49 An dieser Stelle hebt der dritte Teil des kleinen Romans mit der eigentlichen Wiederbegegnung der Liebenden an. Der Mönch, der nun namentlich als bruoder Wit (2168) kenntlich wird, sehnt sich im Schutz der Nacht (2133 u.ö.) und seiner Rolle nach der Geliebten. Mit Kornewal verabredet er, wie es gelingen könnte, Isolt diser lüge one missewende mit lysten an ein ende zu bringen (2206f.). Der Gefährte verfügt sich, als er sie unbeobachtet weiß, zur Königin, überbringt einen Brief, in welchem Tristan die Geschichte seiner Verkleidung und Verstellung offenlegt, und arrangiert für diesen, der währenddessen wie auf Kohlen sitzend wartet, ein nächtliches Rendezvous. Dessen Ort ist jener Brunnen, der Isolt und Tristan schon früher als locus amoenus gedient hatte. Am Morgen nach der Liebesnacht stellt sich Isolt krank – diß det siu durch den list, das siu den doten man nicht mere möchte sehen an (2503-2505) –, und bittet ihren sorgenvollen Gatten, da sie über eigene medizinische Künste nicht mehr verfüge, Bruder Wit um Hilfe zu holen. Zögernd nur, weil er hier wie früher schon10 Entdeckung fürchtet, und erst auf Bitten auch des Abtes wird der verkleidete Liebhaber zum Krankenheiler. Daß die Hofgesellschaft den Betrug nicht durchschaut, setzt die erst an dieser Stelle eingefügte Bestattung des noch immer für Tristan geltenden toten Ritters ins Bild. Währenddessen läßt der Protagonist die scheinkranke Königin an seiner Liebe genesen – des Erzählers Kommentar hierzu stand am Anfang dieser Studie –, bis er sich schließlich von Marke verabschiedet, dabei dessen Dank als fromme Stiftung an das Kloster erbittend, und, um dieses einen weiten Bogen schlagend, in sin lant zuo Parmenie zurückkehrt: do was der schanden frie untze yme das hor gewuochß also e, dar nach wart er nie münch me. (2702-2705) Man hat wie selbstverständlich vorausgesetzt, es handele sich bei dem hier referierten Geschehen um die Fabel eines ursprünglich selbständigen Gedichtes, welches erst im Prozeß seiner handschriftlichen Überlieferung mit Gotfrits Tristan und dem Schluß der Türheimschen Fortsetzung zusammengeraten sei11, und man hat, auch zur Stützung dieser Prämisse, den Synkretismus betont, welcher die Vorlagen- und Anspielungsbeziehungen von Tristan als Mönch zu den im deutschsprachigen Raum durch Eilharts und Gotfrits Romane vertretenen Hauptsträngen der Tristantradition kennzeichnet.12 Ein Argument in dieser Richtung läßt sich zudem aus der Beobachtung von Erzählanfang und -ende gewinnen. Dieses zunächst, mit Tristans Abschied von 10 Vgl.2145ff., 2180ff. Vgl.TaM (Paul), S.320; Regis (1910), S.74f.; Kelemina (1923), S.160; Rosenfeld (1953), Sp.499; TaM (Bushey), S.51; Jungreithmayr (1980), S.422f.; Gentry (1986), S.574; McDonald (1990), S.235 usw. 12 Vgl.das zusammenfassende Referat der (nicht nachgewiesenen) älteren Forschung bei Buschinger (1987), S.76ff. 11 50 Marke schwach, so will es scheinen, motiviert, ließe in seiner schwebenden Offenheit weitere, nachfolgende Episoden zu, ist aber keineswegs auf eine Fortsetzung hin, und sei es die durch den Text Ulrichs von Türheim, erzählt. Ähnlich der Beginn. Wohl verlangt er die Kenntnis der Konstellationen seit dem Einsetzen der Isolt WeißhandGeschichte und das Wissen um Tristans Verheiratung. Auch weist er durch das Leitwort verirret13 auf Gotfrits Text zurück. Aber der Erzählprozeß kommt doch ganz ohne Impulse aus jenen Handlungszusammenhängen in Gang. Was immer man sich als Vortrab denken mag: Tristan als Mönch setzt neu und selbstbewußt mit einer Anspielung auf die Minne zwischen Lancelot und Ginover ein und gewinnt daraus ein Funktionselement des Geschehens. Die Königin ruft ihren Geliebten und sie tut dies in Form einer allgemeinen Einladung zum arthurischen Pfingstfest, auf daß verborgen bleibe, was sie eigentlich intendiert. So läßt sich Erzählen neu beginnen. Organisiert ist es zunächst in einem doppelt durchlaufenen dreistufigen Episodenschema, in welchem die sozialen Bezüge Tristans zur Gesellschaft, zur Gattin und zur Geliebten thematisch sind: die Einladung der Königin gemahnt Tristan an die blonde Isolt, er gerät in einen Zustand völliger Ratlosigkeit und gewinnt Entscheidungsfähigkeit erst im Dialog mit Kornewal zurück. Ebenso dann beim Artusfest: der Traum ruft erneut die blonde Isolt herbei und begründet eine Phase der Desorientierung, aus welcher wiederum erst im Gespräch mit dem Gefährten ein Ausweg sich auftut. Daß diese Struktur ein conversio-Schema aktualisiert, ist schon in der Brechung des nachfolgenden Geschehens sichtbar: der Held stirbt (für seine Umwelt) und er wird Mönch. Dies, wofür sich im Corpus der überlieferten Tristan-Dichtungen nichts Vergleichbares findet14, ist nach dem Muster anderer Verkleidungsabenteuer Tristans geformt und doch deutlich mehr, nämlich, so wird plausibel zu machen sein, auch narrative Umsetzung eines Mythologems: Durchgang durch den symbolischen Tod und Wiedergeburt in Christo – freilich nicht in der sukzessiven Ordnung aufeinanderfolgender Stationen, sondern als simultane Aufspaltung der Figur mit den Mitteln des Betrugs. Die Rekonstruktion des erzählten Geschehens und der es initiierenden Funktionselemente ist freilich nur der eine Teil der Präparation jenes Problems, das der anonyme Versroman aus dem 13.Jahrhundert jedem Verstehensversuch aufgibt. Hinzukommen muß die Vergegenwärtigung der Vielfältigkeit jener Deutungssignale, mit welchen die Erzählung das Geschehen ausstattet. Sie begegnen einerseits auf den Ebenen der Erzählerkommentare und der zeichenhaften Requisiten. Neben jenem Zitat, das in intrikater Weise Markes Verhalten mit dem Isengrins ineins setzt und die Tristan-Isolt-Minne an die ehebrecherische Liebe von Hersant und Reinhart Fuchs heranrückt, gehören hierher vor allem die Ausstattungsstücke, die Tristan auf seinem Ritt an den Artushof mitführt. Sie sind offenbar seiner Beziehung zu Isolt von Arundel, mit der er diese Hofreise unternimmt, so zugeordnet, wie das Tierepikzitat die Wiederbegegnung mit Isolt Blondhaar kommentiert. 13 14 180, vgl.GT 19429. Vgl.FT (Bechstein), S.VII: "Der Inhalt ist seltsam genug, ohne alle Beziehung zu irgend einer Tradition der Tristansage." Vgl. auch TaM (Bushey), S.49ff. 51 Eines dieser Requisiten ist ein Tristan überbrachter kunstreich gefertigter Mantel (301ff.). Er fungiert als ein Zeichen prunkvoller adliger Selbstdarstellung, vielleicht aber auch als Verweis auf den Tugendstatus jener Person, der er zukommt. Der Erzähler nämlich kommentiert, daß einen solchen Mantel frouwe grosses nammen möchte tragen on schammen (321f.). Nähe des Artushofes und die Stichwortkombination Mantel / frouwe / on schammen könnten an die in Ulrichs von Zatzikhofens Lanzelet und anderswo15 erzählte magische Überprüfung der Tugend der Damen der Artusritter denken lassen, welche selbst an Ginover ein teil schame16 offenbart und welche nur jeweils von jener Dame unbeschadet überstanden wird, die dem Romanprotagonisten bestimmt ist. So wäre dieser Mantel, vermutungsweise zunächst, auf die weißhändige Isolt zu beziehen17, die auch sonst königinnengleich ausstaffiert ist (330ff.), wäre er Zeichen ihrer Tugend und Mittel ihrer Hervorhebung als die dem Protagonisten eigentlich zukommende Frau. Zweites signifikant gesetztes Requisit ist Tristans Pferd, ein Minnegeschenk von offenbarer und früh bemerkter Verwandtschaft mit dem Pferd Enites18 und doch von eigentümlicher Prägnanz. An Flores Pferd mag man sich verdeutlichen, wie eine Nachahmung von Hartmanns descriptio aussehen könnte, die auf Möglichkeiten allegorischen Zweitsinns verzichtet und ganz auf den höfisch-repräsentativen Zeichenwert des Requisits abhebt.19 Von dieser Art ist jedoch das Reitpferd Tristans nicht. Enites Zelter ähnlich, eignet ihm Zeichenhaftigkeit – freilich in einem andern Horizont des Bedeuteten als bei Hartmann20 –, eignet ihm Verweisungsfähigkeit auf übertragenen, die Ebene bloß der Statusrepräsentation des Reiters übersteigenden Sinn. Dies zeigen die vier Elemente auf Sattel, fürgebüege und Steigbügel21 ebenso, wie das im Zügel angebrachte und an exponierter Stelle der descriptio eingebaute mer- 15 Vgl.Zatzikhofen, Lanzelet 5746ff., und unten S.83 Anm.34. Zatzikhofen, Lanzelet 5858. 17 So auch Stebbins (1977), S.141 und Anm.28. Der Text sagt nur, daß man den Mantel Tristan brachte [...] getragen (301), nicht auch, daß er ihn umgelegt habe. Nicht explizit ausgeschlossen ist so, daß Tristan das Requisit an seine Gemahlin weitergibt - zumal fünf Verse zuvor davon die Rede ist, daß ouch sime wibe hieß cleider geben Tristant. (296f.) Die folgende descriptio gilt Isolts Rock und sie schließt zweideutig an den Kommentar zum Mantel an: frouwe grosses nammen möchte ihn tragen on schammen. den rock, den die frouwe truog [usw.]: Sequenz weibicher Kleidungsstücke oder Übergang von Tristans zu Isolts Ausstattung? 18 Vgl.TaM (Paul), S.422; Regis (1910), S.85ff.; TaM (Bushey), S.164ff. 19 Konrad Fleck, Flore 2736ff. Vgl.etwa auch TA (Singer) 256,22 ff.; TAF 709ff.; und vielleicht Berthold von Holle, Demantin 6972ff.(dazu Malsen-Tilborch [1973], S.72ff.). 20 Zur Diskussion um Hartmanns Beschreibung von Enites Pferd, die (analog zu der im folgenden angebotenen Tristan als Mönch-Lektüre) in jüngerer Zeit dieses eher von seinen erzählstrukturellen und ästhetischen Funktionen her zu verstehen sich bemüht, als auf Wegen der interpretatorischen Reduktion der Polysemie allegorischer Zeichen und literarischer Exempelfiguren zu vermeintlicher Eindeutigkeit, vgl.: Tax (1963; hieran teilweise anknüpfend etwa Engelen [1978], S.166f.; Brinkmann [1980], S. 143 f.); Reinitzer (1976),v.a. S.615ff.; Haug (1989a), S.114f.; Worstbrock (1985), S.20ff.; Haupt (1989a). 21 Vgl.384, 387, 396, 400; vgl.Erec 7594ff. 16 52 lekin, das auf Geheiß der Schenkerin des Pferds dessen Reiter ansingt.22 Dies zeigen weiterhin die sich in den Schwanz beißenden Schlangen der goldenen Steigbügel23 und der Karfunkel auf dem Stirnriemen des Tieres.24 "Daß die descriptio einen zusätzlichen Horizont schafft,"25 daß sie mehr als nur "rhetorische[s] Prunkstück"26 ist, das wird hier nicht nur durch die dichte Folge verweisungsfähiger res hervorgehoben, sondern unverkennbar auch durch das allegorische Signalwort bezeichenlich und eine Auslegung der Farben des Pferdes betont.27 Die ungenannte Königin enbot Tristan mit dem Geschenk, 22 Geistliche Auslegungen der merula sind in mittelalterlicher Literatur selten. Sie gehen in der Regel von Farbe und Flug des Tieres aus: so kündigt in Gregors d.Gr. Benedikt-Vita (Liber Dialogorum, cap.2, PL 66, Sp.132f.) der Flug einer kleinen schwarzen Amsel die schwerste carnis tentatio an, Hugo von Fouilloy (de Folieto, De natura avium cap.43, PL 177, Sp.44C) deutet von daher: Merula igitur volitans est suggestio voluptate tentans; so interpretiert in paränetischem Kontext der St.Georgener Prediger dú swerzi des Vogels derart, daz der mensch sol erkennen in dem gebet sinen gebresten und sin krankait [...]. so bezaichent der schoene schnabel, daz daz gebet sol sin geziert mit tugentlichen und mit schoenen gedenken (S. 22,31ff.; vgl. Schmidtke [1968], S.200, 245f.). Solche Deutungen sind vom bis jetzt abgemessenen Kontext her noch nicht auf die Amsel im Geschirr von Tristans Pferd zu beziehen. Hier scheint vielmehr und mit Bezug auf Tristan vorerst nur wichtig zu sein, daß das merlekin auf Geheiß der Königin singt: also das tut, was die blonde Isolt zur Freude des väterlichen Hofes köstlich kann, weil sie es von Tristan gelernt hat (GT 8000f., 8058ff.); was eine Amsel in der Minnegrotte den Liebenden zu dienest tut (GT 16891ff.: in höfischer Epik kann ich sonst nur noch Jüngerer Titurel [Wolf] 736,2, Heinrichs Apollonius von Tyrland 13145 und Karl und Elegast 519, 1298, Amseln nachweisen; vgl.auch Ulrich von Gutenburg MF 77,36); was aber auch Tristan mit Folgen für den Mißverstehensprozeß in Arundel tut (GT 19186ff.). Die Qualität des Amselgesangs gehört fest zum naturkundlichen Wissen, vgl.für andere (etwa Albertus Magnus, De animalibus 23,128; Vincenz von Beauvais, Speculum naturale XVI,107 = Sp.1217; Megenberg, Buch der Natur 205,32ff.) die Ausführungen bei Thomas von Cantimpré, Liber de Natura Rerum 5,88,3ff,: Fuit merula, que humana arte docta novem notulas in ordine secundum musicam ita perfecte cantabat, ut nullus musicorum parilitate concordantie eam posset aliquatenus imitari. [...] Ut dicit Experimentator, domesticata merula contra naturam suam carnes comedit et ex hoc dulcius canit. Vgl.unten Anm. 79. 23 400f., vgl.Erec 7669ff., sowie Reichenberger (1965). 24 427f., vgl.Erec 7744ff. Läßt sich bei Hartmann vom Gesamtgefüge des komplexen Zeichens 'Pferd' her vielleicht eine Deutung des Karfunkels als Weiser auf den Weg der Gnade begründen (vgl.Reinitzer [1976], S.617f.), so erinnert demgegenüber die Allegorese der Farben von Tristans Pferd daran, daß möglicherweise der Karfunkel "eine Person [also hier jene, die ihn mit dem Pferd verschenkt hat, P.S.] spezifisch auch als Liebende, als Liebe Suchende oder zur Liebe Bereite" zu charakterisieren in der Lage ist (Engelen [1978], S.329). 25 Brinkmann (1980), S.142. 26 Ruh (1977), S.136. 27 Über bunte Pferde vgl.TaM (Bushey), S.164f. Darüberhinaus: Veldekes Eneasroman 148,15ff.; Zatzikhofen, Lanzelet 1452ff.; TR 2681ff.,23443ff. (und dazu Westphal-Schmidt [1979], S.53ff.); TA (Singer) 256,22ff.; TAF 709ff.; Johann von Würzburg, Wilhelm von Österreich 13604ff. Sekundärliteratur zu bunten Pferden ist über die Anm.20 angegebene Forschung zu Enites Pferd aufzusuchen; ergänzend verweise ich noch auf: Boehmer (1871) sowie Stebbins (1977), S.133-146. Sie kennt (S.140f.) auch das Pferd in Tristan als Mönch, mißversteht es indes als Reittier der weißhändigen Isolt, was allein TaM 466 (zudem in Pauls Textherstellung) gegen 53 das die farwen mißlich wæren bezeichenlich. an des oren roete clagete siu ir noete, das siu enbran von mynne, an der grüenen farwen inne [des einen Pferdefußes], das ir das was nuwe. die wisse [des andern Fußes] rote truwe, wenne die wisse farwe ist one folter garwe. (360-370) Demnach erinnerte diese Minnegabe - von ihrem unmittelbaren Kontext her und den in der Farballegorese festgelegten Intentionen ihrer Urheberin gemäß gleichsam in bonam partem ausgelegt - an die beständige (Weiß, Schlangen der Steigbügel) und allumfassende (vier Elemente) Liebe28 der Königin zum Beschenkten. Das Minnegeschenk hielte diese Liebe bewußt und spräche durch die menschlicher Tonkunst zuweilen mächtige Amsel für die Schenkerin in jener musikalischen Sprache, die der Liebe Tristans und der cornischen Königin gemäß ist. Ich bin mir darum sicher, daß unter den gegebenen Konstellationen der Tristanerzählung allein Isolt mit den blonden Haaren die an dieser Stelle namenlose Königin sein kann.29 Dann aber wäre das preziöse Pferd gewissermaßen als Gegengabe für das Minnehündchen Petitcreiu gemeint und dem gefleckten Reh in der Türheimschen Tristanfortsetzung funktional vergleichbar: der Ruf der Geliebten ist es, der unübersehbar hier erschallt und zugleich bewußt macht, daß Isolt aus Arundel, in deren Begleitung Tristan auf dem Pferd an den Artushof reitet und die vielleicht ihr Mantel als die ihm eigentlich bestimmte Dame anzeigt, jene nicht ist, der sein Minnedienst gilt. Deutet man so, dann wird allerdings zu bedenken sein, wie sich signifikative Deutungssignale und Erzählerkommentare in Tristan als Mönch zueinander verhalten, wie also die Qualifizierungen der Tristan-Isolt-Liebe durchs Minnepferd in der Expositionsphase der Geschichte und durchs Fuchsepikzitat an ihrem Schluß miteinander zu koordinieren wären. So verschärft sich im konkreten Fall die eingangs formulierte Frage nach der Tragfähigkeit einzelner ihrer Elemente im Hinblick auf ein integrales Verständnis der Erzählung. Mögliche Hinweise auf die Konzeption des Textes und die in ihm festgelegte Deutung der Tristangeschichte gibt neben Requisiten und Kommentaren auch seine 353ff. und die im folgenden zu entwickelnden Befunde hinsichtlich der Textstruktur nicht stützen kann (vgl. TaM [Bushey], S.169). 28 Als Zeichen der "Liebesfähigkeit seines Reiters" (Ohly [1985], S.871) mögen rote Pferdeohren auch bei Gawans Gringuljete (Parzival 339,29), in Wirnts Gwigalois (2545f.) und bei Alyzes Pferd (TA [Singer] 337,13 = TAF 710) gemeint sein. 29 So auch Kelemina (1923), S.160 und Anm.2; Ohly (1985) S.871 Anm.33. Schoepperle (1960), II S.323, hingegen ging - ohne jedes Argument - davon aus, Morgan le Fee habe Tristan das Pferd geschenkt. 54 Struktur. Hermann Paul hat sie, dies ist stets bedenkenlos abgeschrieben worden 30, mit dem Terminus eines episodischen Gedichts zu greifen versucht. Damit kann zweierlei gemeint sein.31 Nämlich ein episodisches Gedicht, aufgebaut als Sequenz relativ eindeutig definierbarer Handlungsabschnitte, die nur eine schwach ausgeprägte syntaktische Ordnung aufweist; dies ist Tristan als Mönch offenbar nicht in dem Sinne wie zum Beispiel der Reinhart Fuchs oder Strickers Pfaffe Amis. Oder aber es ist, wie schon bei Paul, ein Gedicht gemeint, das aus einer einzigen Episode besteht. Jedoch würde dann zu fragen sein, ob ein solcher Gebrauch des Episodenbegriffs diesen nicht um alle Differenzqualität gegenüber konkurrierenden Termini (Novelle, Märe, Erzählung, Kurzroman usf.) betröge angesichts der Tatsache, daß die von Tristan als Mönch gebotene Erzählung an mindestens einer Stelle einschneidend zäsuriert ist. Des Protagonisten Pferd indiziert Vertrautheit des Erzählers mit den Traditionen und Konventionen des höfischen Romans, zumal des arthurischen, vielleicht gar sein souveränes Spiel mit Textelementen, deren Funktion in ihrer Verweisfähigkeit auf jene Traditionen zu suchen wäre.32 An strukturell entscheidender Stelle löst die Erzählung solche Ankündigung sogleich auch ein. Tristans Traum von der blonden Isolt in der Nacht nach dem Pfingstfest des Hofes ist Bewußtwerdung minneritterlichen Fehlverhaltens. Dies wird durch einen Anstoß von außen in Gang gebracht, der Enites Selbstgespräch im Karnanter Ehebett vergleichbar ist.33 Und so, wie Erec, vorgebend, er wolde rîten ûz kurzwîlen, alsbald nâch âventiure wâne34 in Begleitung allein seiner Frau den Hof verläßt, so verbirgt auch Tristan sin ungemach [...] zu dem mole (726f.) und zieht – nur von Korwenal wider Willen begleitet – aus in die Gegenwelt des Unverfügbaren, dort offentiure zu suochen (731). Was erzählt wird, deutet aufs Strukturelement der 'Krise' des Helden im Artusroman ChrétienHartmannscher Provenienz. Auch im weiteren Verlauf der Erzählung gibt es noch solche Signale, denn der Auszug des Helden in die Vereinzelung – eine wolte er riten (736) – ist Wirklichkeits-, also Welt- und zugleich Selbstverlust. Realität und Wahrnehmung treten auseinander: er wonde, es wære wachende geschehen, das er in dem sloffe hette gesehen (753f.) 30 Vgl.u.a. TaM (Paul), S.320; Regis (1910), S.74f.; Kelemina (1923), S.160; Rosenfeld (1953), Sp.499; Schoepperle (1960), I S.234; Green (1979), S.209; Jungreithmayr (1980), S.422f.; Buschinger (1988), S.44. 31 Vgl.Dammann (1984). 32 Methodisch orientierende Überlegungen zum im folgenden kasuistisch behandelten Problem des epischen Strukturzitats bei Müller (1985), S.288ff.u.ö. 33 Vgl.Hartmanns Erec 3026ff. Es sind also nicht die "courtly rites, that are meant to bring Tristan into harmony with the social norm", welche nun, "paradoxically", eine "painful crisis in his life" auslösten (McDonald [1990], S.241). Es handelt sich auch allein dann um ein Paradox, wenn man handlungs-logische Begründungszusammenhänge (Tristans höfische Integration) und erzähllogische (seine soziale Desintegration) ineins setzt. 34 Hartmanns Erec 3061f., 3111. 55 one sin irrende35 verliert sich Tristan, wie Iwein, in der Wildnis, und wie dieser36 zeigt er auch gebärdenhaft seine Desorientierung, so das Kornewal des hette wan, er wolte wüetig werden (774f.). Wie in Hartmanns Roman auch37 ist in Tristan als Mönch die Krise als symbolischer Durchgang durch den Tod erzählt.38 Nun aber in ganz handfestem Sinne als (vorläufiges) Ende der Tristanfigur, als ihre Dekomposition und, im Sinne epischer Konkretisation des Mythologems, als ihre Neukonstituierung in doppelter Gestalt. Nach der Begegnung mit dem toten Ritter löst sich im eine trüge nuwe (930) konzipierenden Gespräch mit Kornewal Tristans krisenhafter Selbstverlust auf. Dies im doppelten Sinn: er schneidet den Toten so zurecht, daß er als sein eigener Leichnam gelten kann, und er selbst wird Mönch. Die den Begriff des 'episodischen Gedichts' (H.Paul) problematisierende Zäsur im epischen Prozeß des Romans, der Hiatus zwischen ehelicher und gesellschaftlicher Integration im ersten Teil der Erzählung und der Desintegration und Dekomposition der Protagonistenfigur als Bedingung der Möglichkeit eines Weitererzählens in den nachfolgenden Romanpartien ist unübersehbar. Der Verweisungszusammenhang, der mit dem hier skizzierten Strukturzitat des 'klassischen' Artusroman-Modells gegeben ist, läßt indes zugleich auch nach Vor- und Nachgeschichte von Tristans Krise, nach ihrer narrativen Begründung wie ihren Konsequenzen fragen. Er macht nämlich darauf aufmerksam, daß dieses Erzählelement, darin über die Möglichkeiten des bloß Episodischen hinausgehend, gerade sinnkonstituierend aufeinander beziehen könnte, was es handlungslogisch auseinanderhält. 2. Tristans Trilemma: Die Voraussetzungen der Erzählung liegen außerhalb dieser selbst, sei es, wie die ekstatische minne zur irischen Isolt, in der Tristangeschichte insgesamt, sei es, wie es für den Artushof als Instanz der ere39 gegeben ist, im Rahmen einer Tradition höfi35 748f., vgl.auch 733, 743f., 809. Vgl.Hartmann, Iwein 3201ff. Zu den Iwein-Reminiszenzen in Tristan als Mönch auch McDonald (1990), S.238, 243f., 253. 37 Iwein hete sîn selbes swert erslagen (Hartmanns Iwein 3224). 38 Daß so auf drastische Weise ernst gemacht wird mit der Todesnähe des Helden, der ein wiederholt niuborner man ist (GT 8317; am vollständigsten breitet Rolf [1974], S.131ff., das Material aus; vgl.auch Haas [1989], S.148ff.), perspektiviert die Tristan als Mönch-Erzählung zugleich in Richtung auf ihre 'Vorgeschichte', auf Gotfrits Romantorso. "Tod und Wiedergeburt" von Gotfrits Tristan hat neuerdings Wenzel (1988a), S.231ff., analysiert. 39 Vgl.4, 26, 80 usw. Von den gesellschaftlichen Zentren des Artushofes und dann auch des Markehofes ausgehend konzipiert McDonald (1990) seine Interpretation. Ich meine, sie stelle die Verhältnisse auf den Kopf, wenn sie Tristan als Mönch als hofkritischen Text liest (vgl. S.243f., 249ff., 258), in welchem ere seit Tristans Auszug von Karidol allein noch "pejorative connotations" habe (S.243, vgl.S.244, 246, 250, 253). Der Protagonist des kleinen Romans ist kein Pfaffe Amis, dessen Auftritte die Selbstenthüllung höfischer Gesellschaft als einer depravierten katalytisch in Gang zu setzen hätten, vielmehr wird umgekehrt im Notwendigkeitsraum 36 56 schen Erzählens überhaupt, auf welche der Textbeginn in diesem Zusammenhang ausdrücklich referiert: Iuch ist wol zuo wissen das, wie zuo Britanje ein koning sas, der was Artus genant; mit michelen eren stunt sin lant. das hant ir dicke wol vernomen nach der sage, die dar sint komen. (1-6) Die dritte Voraussetzung, weit weniger selbstverständlich als die erste, weil es zwar Tristangeschichten ohne seine Ehe, aber keine ohne die Liebe des Protagonisten zur blonden Isolt gibt, ist die Verheiratung mit der arundelischen Herzogstochter: sie wird sehr beiläufig nur festgestellt (57ff.), aber nicht erzählt. Dazu paßt, daß unter den Retrospektiven auf frühere Stadien der Tristangeschichte, mit welchen Tristan als Mönch nicht geizt, keine sich auf den Minnetrank richtet: voraussetzungsreiches Erzählen also, das sich um die Genese seiner Prämissen weder auf der Seite der Gattenliebe noch auf jener der Ehebruchsminne besorgt, weil es, so scheint es, darum nicht geht, sondern allein ums Durchspielen von Konstellationen, die sich aus jenen Vorgegebenheiten aufbauen. Das labile Gleichgewicht zwischen den beiden Isolten, zwischen wip hier und frouwe dort, in welchem sich Tristan leidlich eingerichtet hat, wird in der Exposition des hier untersuchten Erzähltextes problematisch dadurch, daß es sich unter den Bedingungen höfisch-feudaler Alltagspraxis zu bewähren hat. Ginovers Einladung zwingt den Protagonisten zur Entscheidung, welche der beiden Isolten er als sin liebesten friundinne40 an den Artushof führen will und kann. Eine Dimension der vorgegebenen epischen Konstellation wäre also auch die Erprobung von Tristans Ehe unter den Bedingungen aristokratischer Selbstdarstellungsverpflichtung. Insofern mag man hier an das Karnanter Problem von Hartmanns Erec denken. Tristans Situation ist indes mehrdimensionaler, weil für ihn Ehefrau und Minnedame nicht identisch sind. Dieserart erprobt die Konfiguration in Tristan als Mönch auch die Beziehung zur Geliebten. Nicht Ritter und Dame je für sich, sondern ihre minne selbst gerät unter den Zwang jener aristokratischen Repräsentationspflicht, die in Ginovers Einladung erzählerisch präsent ist. Die Aufforderung, im öffentlichen Raum des Artushofs die Begleiterin als die Liebste vorzuführen, machte jene Spaltung von heimlichem und publikem Handeln zunichte, welche allein Tristan und der irischen Isolt bisher eine Existenz im Spannungsfeld von freier Liebe und gesellschaftlichem Zwang gestattet hatte.41 Demnach ist das Figurengefüge, in das Gotfrits Torso ausläuft, das Dilemma zwischen Isolt hier und Isolt dort, in Tristan als Mönch als Voraussetzung zunächst noch bewahrt und doch zugleich auf komplizierende Weise überformt. Die Lage des feudaler Alltagspraxis auf Tristans Ehe- und minne-Verhalten die Probe gemacht. Er ist das Objekt des epischen Diskurses und mit dessen Katalysator nicht zu verwechseln. 40 201, vgl.auch 49, 89, 125, 158. 41 Vgl.Morsch (1984), besonders S.22ff.; Wenzel (1988b). 57 Protagonisten ist nicht wie jene Erecs in Karnant oder die von Gotfrits Tristan dilemmatisch, denn weder geht es für ihn allein um die Balance zwischen zwei Frauen, noch wären lediglich minne und ere zum Ausgleich zu bringen. Der Eingang des Romans zeigt vielmehr den Protagonisten in einem entwickelten, unter den gegebenen Voraussetzungen nicht auflösbaren Trilemma zwischen wip und frouwe und ere.42 Jedem Eckpunkt dieses Dreiecks konfligierender Anforderungen sein Recht zu tun ist Tristan verpflichtet und doch außerstande. Der Verzicht auf Ginovers Einladung verbietet sich um der ritterlichen Ehre willen43 – und nicht umsonst ist er stets44 in jener topischen Formel vom verligen als unmöglich abgewiesen, welche hier wie in späten Artusromanen, "abgelöst von dem Erec und Enite in Karnant gestellten Problem", als Formulierung der "formalisierten Negativposition" normgerechten Verhaltens dient.45 Tristan muß sich also zwischen der Weißhändigen und der Blonden entscheiden: wer in nuo kunde bewaren mit roten, der dæte wol, wenne sin lip was sorgen vol. (104-106) Die geliebte Isolt als Begleiterin an den Artushof zu führen wird nicht allein Marke verhindern: ouch zurnde lichte starcke min wip, ob ich siu do hindenan liesse. (160f.) Führe er aber mit der Gattin, so wäre Tristan um die Liebe der Geliebten gebracht, deren unhulde er mehr fürchtet als den Ehrverlust durch ein Versäumnis der Reise zu Artus. Der Held windet sich ohne Orientierung im aporetischen Gefüge konkurrierender Ansprüche und Normen, und der Erzähler verstärkt das Schwindeligwerden durch Kommentare pointierter Ratlosigkeit: wen nuo des verdriesse, der disen zwiffel ande, der rote Tristande, wie er zuo hofe sülle komen, also er die rede habe vernomen. (162-166) Was Tristan bewußt geworden ist, weil es sein Erzähler bemerkte, ist die nicht graduelle, sondern prinzipielle Komplizierung der epischen Konfiguration nach der Hochzeit in Arundel. Von da datiert ihre trilemmatische Ausfaltung, weil die Liebe Tristans und der blonden Isolt nicht mehr nur eine, sondern zwei Ehen bricht. Andere deutsche Tristantexte blenden dies aus, indem sie die weißhändige Isolt, kaum daß sie verheiratet ist, an den Rand des Geschehens und der Wahrnehmung drängen, und indem sie, wie bei Ulrich von Türheim schon zu sehen war, den Kon42 "Torn between the royal command, his heart, and honor, Tristan enters into a dispute with himself. A true dilemma is sketched, as Tristan wrestles with conflicting loyalties." (McDonald [1990], S.239) Hier ist der Sachverhalt näherungsweise, doch begrifflich zu unscharf erfaßt, als daß es fürs Interpretieren folgenreich sein könnte. 43 Vgl.107ff., 204ff. 44 Vgl.107, 148, 211, 251. 45 Cormeau (1984), S.123; vgl.etwa auch Kern (1984); Vögel (1990), S.145f. 58 flikt zwischen der Gattin und dem sich ihr versagenden Protagonisten in einen zwischen Tristan und Kaedin transformieren, welcher auf dem Wege der Schönheitskonkurrenz zwischen den beiden Isolten aufgelöst werden kann.46 Tristan als Mönch mag darum als ein Sonderfall von exemplarischer Bedeutung für die Geschichte der deutschsprachigen Tristantradition gelten. Der Text ist dies auch in dem Sinne, daß die hier vorgenommene Verknüpfung von Minnekonflikt und Ehrkonflikt, als deren handlungslogischer Knoten Ginovers Einladung an den Ritter und seine liebste Freundin fungiert, nicht nur aus den konfigurativen Voraussetzungen des Erzählten oder aus Figurenrede zu abstrahieren ist, sondern zudem episch sinnfällig gemacht wird. Die Pole von Tristans Trilemma werden durch drei Frauen repräsentiert, die Eheliebe durch die weißhändige Isolt, die minne zur Geliebten durch Isolt Blondhaar und die gesellschaftliche Ehre durch Ginover. Darin ist die die Aporie der Situation fundierende Gleichrangigkeit der konfligierenden Ansprüche und Normen ebenso ins Bild gesetzt, wie sie es in dem Sachverhalt ist, daß Tristans Rede das Attribut der Liebsten wip und frouwe gleichermaßen zuordnet.47 Anders als der Protagonist von Ulrichs Tristanfortsetzung ist derjenige von Tristan als Mönch offenkundig unfähig, Hierarchien zu bilden48 und unter den drei Frauen samt den von ihnen vertretenen Wertorientierungen Prioritäten zu setzen: zum Zwecke der narrativen Verdeutlichung dessen läßt der Erzähler Tristan mit seiner Gattin, aber auf dem verweiskräftigen Pferd seiner Geliebten49, an den institutionellen Ort der Ehre zu Ginover reiten.50 Was den Helden derart eine Lösung seines Trilemmas dünkt, ist das nicht und kann es 46 Vgl.oben S.35. 125, 158. wip und frouwe sind, wo Tristan sein Trilemma denkend und redend zu bewältigen sucht (vor allem 110ff., 212ff., 268 ff.), aus seiner Perspektive terminologisch differenziert auf die weißhändige Gattin und die Freundin mit den blonden Haaren bezogen. Daß die Worte im 13.Jahrhundert jedoch gerade keine (und gar: selbstverständliche) wertende Hierarchisierung der je in den Blick tretenden Beziehung von Mann und Frau konnotieren, ist in neueren Arbeiten zur höfischen Liebe gezeigt worden; vgl. Schweikle (1980), zumal S.100, 109; Schnell (1985), S. 95ff. Weiteres zu wip/vrouwe bei Ludwig (1937); Wachinger (1973), S.188 ff., und dazu die Replik von Bertau (1978). - Die Gleichrangigkeit der beiden Isolten ist auch dort noch sorgfältig bewahrt, wo sie ihre großen Szenen haben: das Küssen des Toten (1326f., 1882), das Begießen seiner Wunden mit Tränen (1324f., 1871ff.), der Wunsch nach dem Tod mit dem Geliebten (1310f., 2004ff., 2045 ff.; Motivparallelen bei Rolf [1974], S.194 Anm.41) gehören jeweils zum Inventar ihrer gleich bitte-ren Totenklagen. 48 Ulrichs Tristan hierarchisiert die beiden Isolten unter anderem über ihre soziale Statusdifferenz (Königin - Herzogstochter): TT 495. Wie der Freiberger (FT 87 usw.) knüpft er damit an Gotfrit (GT 18715 usw.) an, während bei Eilhart (ET 5532 usw.) und dementsprechend dann auch im Prosaroman (Tristrant und Isalde Z. 3046f. usw.) beide Isolten Königstöchter sind. 49 Auch die epische Konfiguration also berechtigt dazu, das Inkognito jener Königin, die Tristan das Pferd schenkte, so wie oben S.69 zu lüften. 50 Zufällig oder disfunktional, diese Behauptung denke ich jetzt wagen zu dürfen, gar "blindes Motiv" (TaM [Bushey], S.55; vgl. zuletzt Gentry [1986], S.575; Gottzmann [1989], S.218f.) ist das Artusthema in diesem Text also nicht. Auch trifft nicht zu, daß es, unmotiviert, wie es auftauche, wieder versande (vgl. Jungreithmayr [1980], S.422): der Artushof verschwindet aus dem epischen Geschehen vielmehr genau dann, wenn er seine narrative Funktion erfüllt hat, als Konstruktionselement von Tristans Trilemma dessen Freigesetztsein "vom Zwang zur Repräsentation" (Wenzel [1988b], S.359) aufzuheben. 47 59 auch nicht sein. Die Scheinlösung setzt die Ratschläge Kornewals in epische Aktion um und verfehlt damit die aporetische Konstellation. Des Begleiters grobschlächtiger Pragmatismus erreicht die gegebene Problemkomplexität nur, um sie auf jeweils ein Dilemma zu reduzieren, sei es das zwischen minne und Ehre – besser ist an woge gelon minne, denne gar verloren han beyde ere und mynne (223ff.) –, sei es das zwischen der einen und der anderen minne - ouch ist es dohein unmosse, das ein man nutzet das er hat, nämlich die Gattin, und anders, die blonde Isolt, durch mangel lat. (264ff.) In der Figur Kornewal und in seiner Re-de sind also die beiden partialen Dilemmata als Kontrast präsent gehalten, aus denen Tristans Trilemma komplizierend gefügt ist. Tristan, durch das Pferd als der blonden Isolt Geliebter signiert, reitet mit Isolt Weißhand nach Karidol. Was Lösung scheinen möchte, ist ein nur momentan und allein um den Preis der Vereinzelung des Helden glückender, die Katastrophe lediglich aufschiebender Balanceakt: zu Paaren reiten Ritter und Damen des Gefolges, Kaedin fuorte do die swester sin51, doch Tristan reit besunder (457). Isoliert bleibt er auch nach der Ankunft am Artushof (457ff.). Vereinzelung des Protagonisten aber meint unterwegs und an der Seite von König Artus auch seine gedankliche Abwesenheit bei der Geliebten52: Isolts Geschenkpferd, so scheint es, entfaltet seine mnemonische Kraft. Als indes die Regeln zeremonieller Repräsentation solche Absonderung nicht durchzuhalten erlauben, als nämlich zum abendlichen Mahl Artus Tristan bittet, statt an der Tafelrunde by sime wibe (603) Platz zu nehmen, denn eben dies, die in der Sitzordnung als einer Sichtordnung vorgezeigte evidente Gemeinschaft Tristans und Isolts mit den weißen Händen als seiner Liebsten, hätte die hochgezit (630) ja gesellschaftlich zu sanktionieren, da stürzt das Kartenhaus ein. Nach Festessen und wildem Klamauk der Artusritter53 setzt Tristans Traum den Prozeß der in Selbst- und Weltverlust führenden Bewußtwerdung in Gang, den ein vorangegangener Interpretationsschritt zu deuten unternahm. Daran ist nun erneut anzuknüpfen. Tristans Krise, die sich mit der Nacht einstellt, und auch die ihr innewohnenden intertextuellen Referenzen erweisen die am Tage gewonnene und im Hoffest bestätigte Stabilität seiner Situation als scheinhaft. Eine Auflösung des Geflechts von Widersprüchen ist unmöglich, und so bleibt nur die Flucht des Helden, seine gesellschaftliche Desintegration, die zur Dekomposition seiner Figur führt. Die Gesellschaft geht Tristan verloren und er dieser, denn in ihrer Wahrnehmung ist er gestorben. Erst als Toter wird er in den umfangreichen Klagen der Vertreter höfischen Da51 454. Das paarweise Gehen oder Reiten ist Ostentation höfisch-höflichen Verhaltens, vgl.zum Beispiel Rudolfs Willehalm von Orlens 13283ff. und weiterhin etwa 3153, 6020ff., 7914f.; Bertholds von Holle Crane 1232ff.; Bumke (1986), S.293. 52 Vgl.460ff., 578ff. 53 Die erzählerische Funktion dieser wenigen Verse 647-658 verstehe ich nicht, denn vage bleibt die Vermutung, die Verweisfähigkeit der Szene auf die Wolfseisenepisode bei Eilhart (ET 5302ff., bes.5396ff.; vgl.auch FT 2675ff., bes.2895ff.) rücke auf höchst mittelbare Weise frühere oder wieder mögliche Nähe der Liebenden ins Bewußtsein, und auch als "élément grotesque"(Buschinger [1987], S.83) ist sie höchstens problematisch bezeichnet, aber nicht funktional erklärt. 60 seins – Artus und Ginover, Marke und Isolt mit den blonden Haaren, aber auch Kaedin und seine Schwester – in allen seinen sozialen Rollen, als exemplarischer Krieger und beispielhafter Präzeptor rechter minne54, als Kaedins ritterlicher Freund wie als Befreier Arundels (1246ff.), als bester Ehemann, Markes treuer Diener, Retter und Liebhaber Isolts55, perspektivisch aufgefächert jene umfassende Ehre und höfische Reputation besitzen, die Tristan als Lebender nur in je partialen, stets gegeneinander abgedichteten Sozialbezügen und nicht auf Dauer verwirklichen konnte. Der Durchgang der Figur durch den Tod erst ermöglicht dieserart gesteigerte gesellschaftliche Reintegration, an welcher freilich das Stigma der Täuschung haftet, weil die Tristanfigur dort ihre Integrität verliert. Die integrale Figur hat Ehre nur als perspektivisch partielle und kann sie allein um den Preis ihrer eigenen Desintegration ganz gewinnen; dies eine eindrückliche Vergegenwärtigung der Unvereinbarkeit des Figurenprofils des großen Liebenden mit den Normrastern gesellschaftlicher Normalität, die sich, etwas mutwillig, zur Formulierung überspitzen ließe, aus der Perspektive der Hofwelt sei erst der tote ein guter Tristan. Die Figur Tristan spaltet sich in zwei simultan gegebene, aber sukzessiv erzählte56 Figuren: in den toten Tristan und den nach allen Regeln cönobitischer conversio (952ff.) konstituierten Bruder Wit. Auch dies macht Tristan als Mönch im Vergleich mit andern Texten zum spektakulären Sonderfall. In den dort erzählten listigbetrügerischen Verkleidungen wird Tristan durch stets einen andern, sei er Kaufmannssohn, Spielmann oder Pilger, Bote, Aussätziger oder Narr, als welchen er sich verkleidet hat, substituiert, hier indes durch zwei57: nicht nur wird Tristan ein anderer, nämlich Mönch, auch wird ein anderer, der tote Ritter, Tristan. Funktion und Leistung dieses chiastisch verdoppelten Rollentausches in Tristan als Mönch ist die Handhabung jenes Trilemmas, aus welchem der Protagonist krisenhaft ausgebrochen war und in welches er nun unter völlig neuen Bedingungen zurückkehrt. Daß Tristan für alle Figuren (außer für Kornewal und im Schlußteil des Textes für die blonde Isolt) gestorben ist, löst nämlich zunächst den Konflikt zwischen der Beziehung zum wip und der zur frouwe in Nichts auf. Die weißhändige Isolt stellt elegisch Tristan als mustergültigen Gatten vor: Tristan herre, owe mir, hette ich nicht me von dir wenne das lobeliche wort, das mir was ein lieber hort, das ich dime stoltzen libe zuo elichem wibe ie wart erkorn, dar an hette ich me verlorn, denne ie frouwe verlür. 54 Vgl.1110ff., 1135ff. u.ö. Vgl.1299ff., 1330ff., 1343ff., 1615ff., 1938ff. usw. 56 Von geringen Überlappungen 1336f., 1699ff., 1883ff., 1966ff. sehe ich ab. 57 Diese Struktur der Doppelsubstitution also ist das Besondere, nicht die Mönchsmaske selbst; so etwa McDonald (1990), S.249. 55 61 (1343-1351) Danach bleibt sie bei Ginover in England zurück (1403-1416), als man jene Leiche, die sie für diejenige ihres Gatten halten muß, nach Cornwall überführt. Als auftretende Figur nicht und auch nicht in den Reminiszenzen anderer spielt Isolt Blanschemanis im weiteren noch eine Rolle. Am Schluß kehrt Tristan ausdrücklich nach Parmenie (2702), nicht zu ihr zurück. Aus seinem Bewußtsein ist die Weißhändige verschwunden, und fast wäre sie es auch aus der Wahrnehmung der Rezipienten. Auf der anderen Seite ermöglicht es der Akt der Figurensubstitution zugleich, den Widerspruch zwischen der ekstatischen Liebe zur blonden Isolt und den Imperativen der Sozialität in der Apologie der Totenklagen um Tristan scheinbar aufzuheben. Daß eben dies die Funktion der Nänien sei, scheinen mir die kontrastierenden Erinnerungen an den unter der Apologie zurückgelassenen Konflikt, die Reminiszenzen an die Eifersucht der Arundeler Herzogstochter (1288ff.), an Baumgartenszene, Minnegrotte und Isolts Gottesurteil58, zu zeigen. Es tritt diese Funktion aber auch in Markes Selbstbezichtigungen zutage, als er dem Neffen die Leichenrede hält: unsælic sy myn lip, das ich durch myn wip dich uß mynem hoffe vertreip, oder das der ye bleip in mynem hoffe einen tag, der wider dich gefechten pflag und dich verdruchte wider mich. (1577-1583) wær ich sælig, ich solte dir myn rich han gegeben und ich noch dinem willen leben; das hettest du gedienet wol. so duot mich, also es sol, iemer pflegen ruwe min boßheit und din truwe. (1618-1624) Die Konfiguration, daß der so offensichtlich Verstorbene im Mönchsgewand weiterlebt, ermöglicht es schießlich auch, als der Leichnam hinlänglich betrauert und das die Grundkonstellation der Erzählung regierende Trilemma (vorübergehend) abgetragen ist, die Liebenden, Tristan und die blonde Isolt, wieder zusammenzuführen. Dabei verschieben sich unter der Hand Tristans Beweggründe. Denn während er seine doppelte Verkleidung als eine Überprüfung der Liebe der Geliebten gerechtfertigt (914ff.) und so für die auf die Krise folgende Geschehnisphase nochmals auf Hartmanns Erec angespielt hatte, der in langer Aventiurenreihe auch erprobt, ob Enite im wære ein rehtez wîp59, fungiert nun im dritten Teil von Tristan als Mönch (2135ff.) die Mönchsrolle nach geläufigem Schema: sie schützt den Liebhaber der Königin vor 58 59 Vgl.1599ff., 1625ff., 1635ff. Hartmanns Erec 6782. 62 der Entdeckung durch den Hof und seine Instanzen; es kennzeichnet Tristan nun, daß er davor trotz Markes vorangegangener Selbstbeschuldigung Angst hat.60 Indes gelingt die fremde Maske so täuschend echt, daß sich die Liebenden nicht nur allen Widerstands ungeachtet lieben können, sondern daß vielmehr der Mönch als in Salerno ausgebildeter Arzt – in ironischer Zuspitzung der Konstellation – von König und Abt inständig gebeten wird, Isolt gesund zu machen. Es ist kaum wider alles Erwarten, daß ihm dies mit der Heilkraft seiner ehebrecherischen Liebe gelingt. 3. Konnotationen, Wertungen: Die Aufhebung des Trilemmas auf dem Wege der Aufspaltung der Protagonistenfigur ist das, was Tristan gelingt, und ein Vorgang, der bei der Aktionslogik des Schwankhaften Anleihen nimmt. Inwiefern damit zugleich deren komische Funktionen mit angeeignet sind, scheint mir schwer abzuschätzen. Deutlicher ist dagegen wohl, daß Tristans Erfolg in der Welt des Romans mit einer Rechtfertigung ehebrecherischer Liebe durch diesen selbst nicht zu verwechseln ist. Eine solche Apologie hätte nicht der Held, sondern der Erzähler zu verantworten, und der verweigert sie. Handlungsaufbau und Erzählstruktur einerseits, Elemente zeichenhafter Sinndeutung und Erzählerkommentare zum andern sind in ihrer Interpretationsleistung gegenüber dem Problem der Liebe von Tristan und Isolt nicht redundant. In dem Maße, in welchem die Krise dieses Protagonisten auf die Krise arthurischer Ritter referiert, hält Tristan als Mönch ein narratives Struktur- und Sinnstiftungsmodell – wie immer abbreviaturhaft oder reduziert, als imitatio oder Alternative – im Horizont seiner eigenen, neuen Bedeutungskonstitutionen präsent. Von diesem Modell her gedacht, das scheinhaftes und wahres Glück über die personale Katastrophe vermittelt gegeneinandersetzt, könnte Tristans Liebesbegegnung mit der Geliebten als Situation der Erfüllung kontrastiv auf sein Scheinglück mit der Ehefrau am Artushof bezogen sein. Als Erfahrung erfüllter Glückseligkeit für Tristan und Isolt wird diese Wiederbegegnung auch inszeniert.61 Doch wissen der Text und sein Erzähler besser als das Protagonistenpaar, daß die Situation nicht sein kann, was sie scheint, weil ihr der Makel der Amoralität anhaftet. Ein erstes Signal, daß derart die Bedeutung des Erzählten für die Figuren und diejenige für den Text auseinandertreten, halten schon die Proportionen des narrativen Prozesses bereit. In verächtlicher Knappheit und aller Beiläufigkeit erzählt, sind die Liebesbegegnungen62 eher Unterbrechungen nur der weiträumig entfalteten Betrugsinszenierungen63, als daß es auf sie selbst ankäme. Wichtiger denn solche Signale der Quantität ist, daß im Gegensatz zu Tristans Ehe mit der weißhändigen Isolt sein Zusammensein mit der Geliebten jeder gesellschaftli60 Vgl.2145ff., 2564ff. Vgl.2477ff., 2634ff., 2660ff. 62 Vgl.2477-2484, 2660-2666: insgesamt also nur 15 Zeilen. 63 Vgl.2135-2158, 2193-2476, 2498-2614, 2630-2651: also, wie immer man Abschnittsgrenzen im Einzelnen zieht, mehr als der fünfundzwanzigfache Erzählumfang (hier 447 Zeilen). 61 63 chen Bestätigung enträt – und ihrer doch bedürfte, sollte man es über das funktionale Strukturelement der 'Krise' als glückhafte Erfüllung dem vermeintlichen Scheinglück am Artushof kontrastreich entgegenstellen können. Wichtiger als narrative Proportionen ist es auch, daß dieses Zusammensein der Liebenden ohne Dauer ist, obwohl eine tatsächlich bedrohliche Störung etwa seitens des Hofes durchaus fehlt; nicht Beobachtetsein oder Verfolgung, eine Risikoerwägung nur (2668ff.) motiviert Tristans Rückzug vom Hof in Tintajol, macht, wie man genauer sagen müßte, das Fehlen plausibler Beweggründe offenbar. Die mächtigste Wertung dieser Ehebruchsliebe und eine, die ihre Amoralität jetzt außer Zweifel setzt, bildet indes jenes literarische Zitat, bei welchem diese Analyse ihren Ausgang nahm (2656 ff.). Der sarkastische Kommentar, daß der mynnære (666) Tristan Markes blonde Isolt so wie der hobischere Reinhart64 Isengrins Frau wol bewarte (2659), rückt die zentralen Ehebruchskonfigurationen von Fuchsepik und Tristangeschichte zueinander und wertet diese von jener her negativ. Er setzt die Progressionslogik von Werbung, heimlichem Ehebruch und öffentlicher Vergewaltigung, welche das Verhältnis von Reinhart und Hersant bestimmt 65, als jene, die auch der Beziehung Tristans und Isolts innewohnt. Zugleich reißt das literarische Zitat so einen Horizont von Konstellationsanalogien zwischen beiden Gedichten auf. Wie Tristan ist auch der Ehebrecher Reinhart seinerseits verheiratet66; hier wie dort erfahren die Betrogenen erst durch Dritte, denen sie nur schwer zu glauben vermögen, von ihrer Schande67; wie in der Tristangeschichte sind auch im Reinhart Fuchs der Ehebrecher und der Betrogene als gevatern und gesellen, geistliche Brüder und Verwandte durch ein dichtes Geflecht rechtlicher Verpflichtungen miteinander verbunden68, dort wie hier also (und anders als in Ulrichs Kaedin-NampotenisKonstellation) ist der Ehe-bruch zugleich triuwe-Bruch, trifft er so die feudale Sozialordnung in einem ihrer zentralen Funktionselemente. Im Reinhart Fuchs ist dies unter anderem in Vers 1239 ganz eng geführt, in Tristan als Mönch erklärt sich von hierher, daß König und Abt den Salernitaner Arzt Tristan zu Isolt bitten: die weltliche Gewalt, der er als Blutsverwandter69 durch truwe und mynne70 auch rechtlich verpflichtet, und die geistliche Gewalt, der er durch Mönchsgelübde und Gehorsamspflicht71 verbunden ist, sind hier gleichermaßen betrogen. "Fehlende oder falsche Familiensolidarität, ja Treuebrüche unter verfeindeten Verwandten [und für die geistlichen familiae gilt dies nicht minder, P.S.] ziehen letztlich Unheil für das gesamte Staatswesen nach sich: dieser Gedanke ist bei Freidank [46,5ff.] expliziert, im 'Rein- 64 Heinrichs Reinhart Fuchs 441. Vgl.Linke (1974), S.236f. 66 Heinrichs Reinhart Fuchs 839. 67 Vgl.ebd. 577ff. 68 Vgl.Ruberg (1988), S.39ff. 69 nefe 1585 u.ö. 70 1677: zu den rechtsterminologischen Dimensionen des Minnebegriffs vgl.Hattenhauer (1963) und HRG Bd.3 [1984], Sp.582-588. 71 Vgl.984ff., 2579ff. 65 64 hart Fuchs' in der Konsequenz der Handlung angelegt [...]."72 In Tristan als Mönch aber macht ihn das literarische Zitat zu einer möglichen Perspektive der ganzen Tristangeschichte. Weiterhin gehört es in den Horizont der hier zusammengestellten Konstellationsanalogien, daß Marke sowenig wie Isengrin die Rolle des tadelsfreien Opfers spielt – jedenfalls bezichtigt er sich, in der Nänie um Tristan perspektivisch gebrochen, selbst des Treubruchs an seinem nefen (1564ff.); daß der Ehebruch Tristans mit Isolt auf seine gesellschaftliche Reintegration in den Totenklagen folgt (und diese damit als scheinhaft entlarvt), so wie Hersants Vergewaltigung durch Reinhart sich aus einem Sühneversuch heraus entwickelte73; schließlich, daß Tristans Rollen als Mönch und dann als Arzt aus Salerno, die den Ehemann und König täuschen und für welche die gesamte Stoffgeschichte keine Anhaltspunkte gibt74, auch zu jenen gehören, derer sich Fuchs Reinhart gegenüber dem düpierten Ehemann (Isengrin) und dem betrogenen König (Vrevel) bedient.75 Die vom literarischen Zitat am Ende des hier untersuchten Kurzromans gestifteten Möglichkeiten einer aburteilenden Bezugsetzung zwischen Tristangeschichte und Fuchsepik sind, so scheint mir, vielfältig und weitreichend. Angespielt wird gewissermaßen auf den Gesamtkomplex der bvch [...] von Ysengrines arbeit [not].76 In seiner sündenverfallenen Amoralität kritisiert ist – ohne daß dies ein vereinzelter, Isolts maßlose Klage entschuldigender positiver Erzählerkommentar über Tristan (2120ff.) vorab auffangen könnte – der ganze Zusammenhang der Geschichte von Tristan und Isolt und Marke. Insofern funktioniert das literarische Zitat auf eine Ulrichs von Türheim Kaedin-Kassie-Erzählung vergleichbare Weise: es repräsentiert eine Projektionsebene, auf welcher der Erzählzusammenhang so in eine neue Figurenkonstellation hineingespiegelt werden kann, daß sein Sinn aufscheine. Von ihrem Ende her wird die Geschichte ins gleißende Licht satirischer Kritik gestellt, und es mag der Fall gewesen sein, daß dieserart retrospektiv auch das komplexe Zeichen des Pferdes als Signifikat der minne der cornischen Königin zu Tristan auf eine andere als die oben skizzierte Wahrheit hin sich geöffnet hat.77 Entwicklung der Handlung, Entfaltung der Erzählstruktur und Erzählerkommentare konstituieren nämlich einen neuen, weiteren und kritischeren Kontext für die allegorische res, als er in der direkten narrativen Umgebung des Pferdes gegeben ist. Unter den Bedingungen der Kontextdeterminiertheit allen übertragenen Sinnes78 treten so die Auslegungsmöglichkeiten des Minnegeschenks und seiner Proprietäten in malam partem in den Blick: das Pferd sowie die vier Elemente, die Schlangen und der Gesang der Amsel als Attribute seiner Ausstattung, werden zu Zeichen der sündigen, libidinösen Weltverfallenheit der minne 72 Ruberg (1988), S.47. Vgl. Heinrichs Reinhart Fuchs 1146ff. 74 Einen solchen gibt auch eine vage Assoziation mit einer Szene in Thomas' Tristan (2371ff.) nicht ab, in der die weißhändige Isolt den schwerkranken Tristan im Gespräch mit Kaherdin belauscht und sich fragt, ob er Mönch oder Kanoniker zu werden beabsichtige; vgl. Golther (1907), S.225. 75 Vgl.Heinrichs Reinhart Fuchs 635ff., 1813ff. 76 Ebd. 1789f. 77 Vgl.oben 67ff. 78 Dazu grundlegend Ohly (1977), S.6ff. u.ö. 73 65 Tristans und Isolts, die prozeßhafte Entfaltung des Textes und damit vollzogener Kontextwechsel führen von der des nur vorgeblich auf die Ebene des eigentlich Bezeichneten.79 Für Tristan hat Isolts Pferd eine andere Wahrheit denn jene, die es schließlich für den Text und seine Rezipienten gewinnt. Der Prozeß der Tristankritik wird vom Text also nicht nur vorgeführt, er wird den Rezipienten selbst im Modus der Revision solcher Interpretationen aktualiter abverlangt, welche sich im Vorgang sukzessiver epischer Neukontextualisierung als nur ad hoc gültig erweisen. Tristan als Mönch, so hat sich nach meiner Auffassung ergeben, läuft in eine gewissermaßen a posteriori und ex opposito formulierte Apologie jener Arundeler Ehe aus, welcher Tristan ihr Recht zu tun nicht in der Lage ist. Nach der achsialen Bezugslogik, die über Tristans 'Krise' die Situation mit Isolt von Arundel am Artushof gegen die Begegnung mit der Geliebten in Markes curia setzt und beide Episoden miteinander verspannt, zeigt sich, sobald das vermeintliche Glück durch das Reinhart Fuchs-Zitats diskreditiert ist, das Scheinglück als nur scheinbares. Es zeigt sich als das eigentlich wahre Glück – wäre es denn auch von Tristan her dauerhaft möglich gewesen, doch schlossen solches die Konstitutionsbedingungen dieser Figur aus. Es wird deswegen die Liebesehe mit Isolt von Arundel, welche auch ihr Reisemantel als die Tristan in Wahrheit zubestimmte Gattin auszuweisen geeignet sein könnte, zurecht im Pfingstfest des Artushofes gesellschaftlich bestätigt und erhöht. Die Struktursequenz des 'klassischen' Artusroman-Modells bei Chrétien und Hartmann aus (gröblich vereinfacht) 'Scheinglück' - 'Krise' - 'Glück/Freude des Hofes' wird von Tristan als Mönch im Vorgang allusorischer Aneignung demnach umgekehrt.80 Der kleine Roman liest dieses Schema gleichsam von seinem Schlußpunkt her und bewahrt darin, indem er es auf Tristans Situation zwischen zwei Frauen appliziert, jenes moralische Urteil, das eine Hierarchie von Eheliebe und Ehebruchsminne begründet. Die beiden Isolten indes sind in dieses Wertgefüge noch kaum einbezogen, denn gerade ihre Gleichrangigkeit machte allzumal die Schärfe von Tristans Trilemma aus. Der Weg an Markes Hof, den Tristans Krise in Gang brachte und der sich als Prozeß seiner fortschreitenden gesellschaftlichen Rehabilitierung und Reintegration im 79 Zur Amsel vgl.oben Anm.22; die Möglichkeit einer negativen Deutung speziell ihres Gesangs, der einzigen vom Text erwähnten Proprietät, bezeugt Hugo de Folieto (De natura avium cap.43, PL 177, Sp.44AB): Merula dulcedine propriæ vocis mentem movet in affectum delectationis. Illos autem figurate demonstrat, quos voluptas carnis per suggestionem tentat. Zum Pferd als Bild von ungezügelter Leiblichkeit, die der Domestizierung bedarf, vgl. Wang (1975), S.129ff., sowie auch LCI Bd.3 (1971), Sp.411ff. Berühmtestes Beispiel dafür, wie Pferde als Sexualmetapher und Bild spezifischer Liebeskonzeptionen konnotiert werden können, ist in der volkssprachigen Dichtung des Hochmittelalters wohl Wilhelms IX. von Aquitanien Lied Companho, farai un vers qu'er covinen; vgl.Rieger (1980), S.20ff., 236ff. Zu den vier Elementen - vgl.etwa Hugo von Montfort 4,52ff.: nu bin ich fleisch, bein und pluot, das züht den elementen nâch, zuo göttlichem dienst ist im nit gâch. - und zur Schlange nenne ich nur die Artikel im LCI Bd.1 (1968), Sp.600ff. und Bd.4 (1972), Sp.75ff. Daß in seltenen Fällen selbst der an Tristans Pferd nicht benannte, nur umschriebene Karfunkel "auf den permanent von Sünde bedrohten Menschen in der Welt verweisen" kann, legt Engelen (1978), S.327, dar. 80 Es ist dies nicht das einzige Moment punktueller Artusroman-Kontrafaktur in Tristan als Mönch, vgl.McDonald (1990), S.251f. 66 Medium der Totenklagen begreifen ließ, wird von hier aus auf seine falschen Voraussetzungen und seine negativen Konsequenzen hin durchsichtig. Denn es sind Totenklagen um einen Lebenden und so zugleich Artikulationen eines falschen, weil betrogenen Bewußtseins ihrer Sprecher. Ihnen wird, anders als etwa der um den scheintoten Erec klagenden Enite81, und anders als den Hörern oder Lesern des Textes, in ihrer Mehrzahl die Irrealität des Todes des Betrauerten nicht bewußt. Die Rezipienten hingegen erfahren sie dreifach im Planungsgespräch zwischen Tristan und Kornewal (912ff.), in der Erzählung der trüge nuwe (930) selbst, sowie in Tristans brieflicher Aufklärung Isolts über das Geschehene (2338ff.). Und damit sie den Verblendungszusammenhang, in welchem sich die klagenden Repräsentanten der höfischen Gesellschaft verfingen, nicht trotzdem aus den Augen verlieren, machen ihn die Kommentare des bei Tristans Bahre stehenden Mönchs immer wieder neu bewußt.82 Die Folgen solcherart erwirkter gesellschaftlicher Reintegration entsprechen ihrem Status: Tristan führt den Ehebruch mit der blonden Isolt in einer Weise fort, der wertend allein mit der Drastik des Reinhart Fuchs-Zitats noch beizukommen ist. Diese Fortsetzung des Betrugs indes hat, so war zu sehen, die Aufspaltung der Tristanfigur zur Voraussetzung. Das Ende aller Hinterlist fällt darum mit jenem Moment zusammen, in welchem diese Dekomposition der Protagonistenrolle revidiert wird: der münch und der artzat die nomen zuo dem ritter rat, ir friunde Tristande, ob yeman do erkande ir driger einen under in, das wurde ir aller ungewin. suß wart der eine mit den zwein mit guotem willen des in ein: siu solten faren, es wære zit. (2668-2676) Das Dreiergespräch steht an der Stelle einer plausiblen handlungslogischen Motivation für Tristans Abschied von Isolt und markiert so deren Fehlen. Es bestätigt noch einmal die Deutung der Aufspaltung des Protagonisten als Voraussetzung jeder Situationsbewältigung in dem aus Eheliebe, Ehebruchsminne und Ehre gefügten Trilemma. Insofern in ihm ein Konsens gelingt, führt dieses Gespräch zur Restitution einer integralen Tristanfigur. Dies aber bedeutete gerade die Rückkehr in die Auswegslosigkeit und eine Wiederherstellung der trilemmatischen Ausgangskonstellation, entzöge sich der Held nicht, um sein Kloster einen weiten Bogen schlagend, allen konfligierenden Ansprüchen durch die Heimkehr – nur so kann Tristan als Mönch zum Abschluß kommen: einen anderen weg er do geriet, der die zwey lant schiet, Kornewal und Engellant. 81 82 Vgl.Worstbrock (1985), S.18. Vgl.1336ff., 1699ff. 1883ff., 1966ff. 67 den reit er für sich zuohant in sin lant zuo Parmenie. (2698-2702) In der Topographie dieser Schlußszene ist noch einmal Tristans Trilemma, das am Anfang des Romans in Gestalt der drei Damen Isolt Blondhaar, Isolt Blanschemanis und Ginover präsent war, und jener einzige Ausweg aus ihm abgebildet, den schon Kornewals erster Ratschlag (223ff.) anvisiert hatte. Ein 'andrer Weg' übrigens, den Tristan nicht plante, sondern der sich von selbst anbot: Cornwall als Land der blonden Isolt und England, wo Isolt mit den weißen Händen zurückgeblieben war, gleichermaßen meidend, entschwindet Tristan nach Parmenie. Dorthin, wo er Fürst und selbst Instanz der Ehre ist. Die Liebe zur Geliebten, zu der Marke unwissentlich selbst aufgefordert hatte und die mit der Beziehung von Reinhart und Hersant verglichen werden kann, wird ebenso wie die Ehe, zu deren gesellschaftlicher Repräsentation Artus angeleitet (602f.) und die seine curia sanktioniert hatte, auf dem Wege der Flucht in die Normalität des Fürstendaseins kassiert. Dies allein ist eine stabile Konstellation83 – dar nach wart er nie münch me (2705) –, und einzig unter ihren Bedingungen kann Tristan als der schanden frie (2703) erscheinen. Wie ein offenes Ende sieht dieser Schluß von Tristan als Mönch also nur bei flüchtiger Betrachtung aus84, denn was sollte hier noch erzählt werden können! Ein syntagmatisch kohärenter Anschluß an den anonymen Kurzroman ist kaum vorstellbar, jedenfalls nirgends erprobt worden. Allenfalls die Konfrontation paradigmatischer Konstellationen kommt hier noch in Frage – und eben dies, so wird zu sehen sein, ist das Verfahren des Brüsseler Tristan. 4. Zur Konzeption des Brüsseler Tristan: Die hier vorgeschlagene Lesart bestätigt in auch erzählstruktureller und konzeptioneller Hinsicht die längst gewußte Selbständigkeit von Tristan als Mönch.85 Schon stoffgeschichtlich ein Einzelgänger, läßt sich der Text nicht als Fortsetzung von Gotfrits Epentorso begreifen – wenn man den Begriff einmal im landläufigen Sinne benützt. Weder wird hier ein handlungslogischer Nexus geknüpft, noch ist poetologisch oder ästhetisch die Verbindung zu Gotfrit gesucht. Um für Evidentes nur ein Beispiel zu geben: Jene Totenklagen als kulturell habitualisierte und rhetorisch strukturierte Bewältigungsformen des (im gegebenen Fall scheinbar) Unabänderlichen, welche zumindest aus Gründen seiner narrativen Proportion den Schwerpunkt von Tristan als Mönch bilden, hatte Gotfrit als mit dem poetologischen Programm und ästhetischen Anspruch seines Romans wie mit dem Literaturbewußtsein der edelen herzen gerade 83 Es fehlt jedes Signal für "expectations that Tristan will reappear in Cornwall to set new triumphs in motion." (McDonald [1990], S.247, vgl.auch S.250f., 255.) 84 Vgl.McDonald (1990), S.247, 250, 255. 85 Vgl.oben S.49f. 68 inkompatibel denunziert. Dies an dezidiert früher Stelle, bei Riwalins und Blanscheflurs Tod: daz ich nu vil von ungehabe und von ir jâmer sagete, was iegelîcher klagete, waz solte daz? ez wære unnôt. nune sol ich aber noch enwil iuwer ôren niht beswæren mit zerbermeclîchen mæren, wan ez den ôren missehaget, swâ man von klage ze vil gesaget; und ist vil lützel iht sô guot, ez enswache, ders ze vil getuot. von diu sô lâzen langez klagen [...].86 Umgekehrt wird dort, wo auch in Tristan als Mönch etwa ein in der Gotfrit-Tradition mit der Tendenz zu Verselbständigung und rhetorischem Leerlauf geimpfter Wortspieltypus begegnet87, pointierte Distanz, ja Zurücknahme des Kerngedankens von Gotfrits Liebestheorie in aller Deutlichkeit bewußt – und gerade so ihre Kenntnis offenbart. lieb one leit (2014) repräsentiert Tristan für die blonde Geliebte, und aus seiner Perspektive heißt es: ist aber das gesiget die liebe süesse an leide, das geschehen müesse, so wirt liep an liebe feste gar on leit, das ist das beste.88 Solche Vermessungen des Hiatus zwischen Gotfrit und Tristan als Mönch wären fortzuführen. Ich lasse indes davon ab, weil es auch dahin kommen würde, daß der kleine Roman zusehends unter von Gotfrits Tristan her gesteuerte inadäquate Ansprüche geriete. Es wird ohnedies die Distanz der beiden Texte und damit die Schwierigkeit der Aufgabe deutlich sein, die anonyme Erzählung in ihrer historisch authentischen Umgebung des Erzählens von Tristan und Isolt zu verstehen. Denn greifbar ist dieser Kontext allein in der aus Diebolt Laubers Werkstatt stammenden Brüsseler Tristanhandschrift R, und dort ebenso wie in der verschollenen Handschrift *S/S fungiert Tristan als Mönch gerade als das, was er nicht ist: 'Fortsetzung' von Gotfrits Fragment sowie Vorgeschichte zur Kaedin-Kassie- und Liebestod-Erzählung in der Fassung Ulrichs von Türheim.89 Auf handlungstechnische Verklammerung, geschweige denn auf solche der Erzählstruktur, oder auf Homogenität der Minneideo86 GT 1692-1695, 1852-1859; vgl.Rolf (1974), S.137, 193ff. (mit der älteren Forschungsliteratur). 2014ff., 2394ff., 2474ff. Einiges Vergleichsmaterial bei Freytag (1972), S.246ff. 88 2410-2413. Von einer sentenziösen Reduktionsform nur des Gotfritschen Imperativs der FreudeLeid-Annahme zu sprechen, wie es zum Beispiel gegenüber Konrads Trojanerkrieg (2398ff.) angehen mag (vgl.etwa Monecke [1968], S.142), verbietet sich hier, wo eine Gegenposition explizit eingenommen ist. 89 Vgl.oben II.4. 87 69 logie und Konsistenz ihrer theoretischen Explikation im narrativen Diskurs kam es dabei offenbar nicht an: die unaufgefüllten Leerstellen der Geschehnisentwicklung zwischen dem Ende von Gotfrits Erzählung und dem Neubeginn in Tristan als Mönch, der Hiatus sodann zwischen der Heimkehr des Bruders Wit nach Parmenie und dem Dialog Tristans und Kaedins über Kassie auf der Heimfahrt von Cornwall nach Arundel im Schlußteil von Ulrichs Text sind bei sukzessiver Textlektüre nicht zu übersehen. Ebenso offensichtlich indes zeigen kodikologischer Befund, Ausstattungs- und Illuminationsprogramm die drei Texte dieses Brüsseler Tristan als einen vor. Sie indizieren die zunächst nur äußere und sei es von Marktstrategien her bestimmte Zusammengehörigkeit dreier höchst disparater Erzählungen.90 Diese Zusammengehörigkeit gälte es nun auch historisch zu verstehen, denn schließlich haben noch krudeste Verwertungsstrategien einer protomerkantilistischen Schreiberwerkstatt nur dann Aussicht auf kommerziellen Erfolg, wenn ihre Gegenstände Mindestansprüche an Glaubwürdigkeit erfüllen. Wo also liegt die Plausibilität der trilogischen Textbündelung in der Tristanhandschrift R? Mein Antwortversuch setzt am Verhältnis von Tristan als Mönch und dem Schlußviertel von Ulrichs Tristanfortsetzung an. Ausgangspunkt von Tristan als Mönch, Fluchtpunkt der dem Erzählten zuvorliegenden Gegebenheiten ist eine Situation, wie sie am Schluß von Gotfrits Roman erreicht scheint – wenn man denn bereit wäre, sich diesen Schluß von allen Hintergründen narrativ vollzogener Erkenntnisreflexion oder exkursorisch herbeizitierter ovidianischer Liebestheorie abgelöst und aufs Grundgerüst seiner Handlungskonstellation zurückgeführt zu denken. Diese Konstellation wird durch die nach Gotfrits Fragmentschluß und vor dem Einsatz der narratio von Tristan als Mönch liegende Heirat Tristans mit der weißhändigen Isolt sanktioniert. Indem der neue Text dies aufnimmt und im Vorgang des (Weiter-)Erzählens prozessiert, macht er auf der Ebene des Narrativen gegenüber Gotfrits Fragmentschluß und den in ihm angelegten Geschehniskonsequenzen gewissermaßen dasselbe, was auf der Handlungsebene Ginovers Einladung für Tristan bedeutet: die Erzählung unterwirft die im narrativen Zwischenraum zwischen Gotfrits Textende und ihrem eigenen Beginn gewonnene Balance, völlig unbekümmert um alle minnetheoretischen oder erkenntnisspekulativen Absicherungen, dem Zwang feudaler Alltagspraxis. Dabei fügt der Text sich nicht den Fiktionalitätsregeln der vorgefundenen epischen Situation, sondern setzt neue. Dies ist die Funktion des Artusthemas, von dem her diese neuen Fiktionalitätsregeln bezogen sind: wird bei Gotfrit, im Gegensatz zum Artusroman, "die Gesellschaft in der epischen Handlung nicht utopisch, sondern konkret gefaßt"91, so in Tristan als Mönch die Liebe Tristans zu Isolt. Daß dies gerade mit Elementen des Artusthemas geschieht, ist eine auf die literarische Souveränität ihres Urhebers hin durchsichtige Ironie dieser Geschichte. Sie fragt nicht nach dem Verhältnis von theoretischer Reflexion und Handlungsgeschehen. Vielmehr wird gewissermaßen vorausgesetzt, der Wert aller Theorie bestimme sich allein nach ihrer praktischen Be90 91 Vgl.II.1., X.1. Haug (1989a), S.607. 70 währungsfähigkeit, er sei gar vor dieser nichtig. Als Praxis ist hier jene der aristokratischen Repräsentation, jene also des Zwangs zu gesellschaftlicher Integration gesetzt, und dabei erweist sich die für Tristan gegebene Konstellation nicht als dilemmatisch, sondern als ein um eine Dimension komplizierteres Trilemma. Diese Problematisierung der Situation des Protagonisten wollte die vorangegangene Interpretation als das zentrale Moment von Tristan als Mönch zeigen. Das Trilemma wird im epischen Geschehen durchgespielt, determiniert die Konzeption(en) der Protagonistenfigur und ist nicht auflösbar; allenfalls kann Tristan, so zeigt es der Romanschluß, die trilemmatische Konstellation hinter sich zurücklassen, doch ist er dann der Inbegriff des großen Liebenden nicht mehr. Mutmaßen mag man, daß die formale Präzision, mit welcher der Text dieses Trilemma herausschält, nur um den Preis eines völligen Ausblendens aller inhaltlichen Probleme um minne und Gesellschaft zu haben war. Dies aber gibt einen Ansatzpunkt, Tristan als Mönch in dem Sinne zu verstehen, der dem Text seinem überlieferungsgeschichtlichen Ort nach auch zugewiesen ist: ihn zu ver-stehen als Vorspann zum Schluß von Ulrichs von Türheims Tristanschluß. Diesen Schluß setzt die Brüsseler Handschrift R mit Vers 2855. Das ist exakt die Grenze zwischen zwei nach Personenkonstellation, Handlungsort und -geschehen deutlich getrennten Erzählteilen, nämlich Tristans Flucht von Cornwall hier und dem Beginn der Erzählung von Kaedin und Kassie dort. Der Sachverhalt erlaubt die Annahme, daß der Redaktor der Handschrift (oder sein Vorgänger) Ulrichs Tristan seinem kompletten Wortlaut nach gekannt habe; man müßte es anders für mit der Kategorie des Zufalls gut begründet halten, daß Textzertrümmerung im Prozeß handschriftlicher Überlieferung gerade an jene Grenzlinien sich hält, welche auch von einer Analyse narrativer Strukturen her zu ziehen sind. Wenn man aber diese Annahme macht, dann erscheint allerdings die Koppelung von Tristan als Mönch mit den Versen 2855-3731 Ulrichs von Türheim umgekehrt auch als eine Entscheidung gegen die Verse 1-2854 seiner Tristanfortsetzung. Hinter der konkreten Überlieferungsgestalt der Texte steht also offenbar ein redaktioneller Austauschvorgang92, dessen Begründung zugleich eine Antwort auf die Frage nach der spezifischen Kohäsion der Brüsseler Textgruppierung wäre. Ulrichs Tristan, anders als die Mönchsgeschichte, setzt die Heirat des Protagonisten mit der weißhändigen Isolt in Arundel nicht voraus, sondern erzählt sie, wie zu sehen war. Eben daraus gewinnt der Text, die scheinbar erreichte gesellschaftliche Normalität der Ehe insofern in labiler Schräglage haltend, als Tristan den sexuellen Vollzug verweigert, narrative Impulse. Die faktisch erreichte Komplexisierung des Anspruchssystems, in welchem sich Tristan zu bewähren hat, die Verdoppelung der ehebrecherischen Dreieckskonstellation ignoriert der Text dabei; auch verschwindet die zweite Isolt, kaum daß sie in der Dornbuschszene die Schönheitskonkurrenz gegen Tristans Geliebte verlor, aus der Welt der cornischen Rückkehrabenteuer. Als sie ebenso unvermittelt in der Rolle von Tristans Gattin in jener Karker Episode wieder auftaucht, welche Kaedins Gamarroch-Abenteuer unterbricht (TT 3084-3102), da 92 Vgl.FT (Bechstein), S.IX. 71 müssen problematische Konstellationen gar nicht unterschlagen werden, denn da sind sie einfach nicht vorhanden.93 Erst in der Episode vom 'Schwarzen Segel' holt, was sich zunächst noch anstrengungslos fernhalten läßt, den Protagonisten schließlich doch ein – dann mit letalen Konsequenzen: "vrouwe, nû ruoch mich wizzen lân, wie der segel sî getân." "der ist swarz als ein kol." diu wîzgehande tet niht wol, daz si im benam das leben dô si sach ûf dem schiffe sweben einen segel wîz als ein snê. Tristâne daz mære tet sô wê, er kêrte sich umb unde starp. grôze sünde Ysôt erwarp, daz si in tôte âne nôt. (TT 3385-3395) "Structurally, it is most appropriate that Ysolde Weisshand's conscious distortion of a signifier betrays the lovers, for that was the means by which Tristan and Ysolde long deceived society."94 Doch ist dies nur der eine Aspekt. Zugleich nämlich liegen die Dinge so, daß Ulrich zwar die Lüge der weißhändigen Isolt nicht motiviert, daß er sie aber als Resultat von Vorsatz und vorausschauender Planung erzählt (TT 3367ff.) und ausdrücklich kritisiert. Damit ist plötzlich in der epischen Welt jener Konflikt wieder gegenwärtig, um den die Erzählung zuvor einen weiten Bogen gemacht hatte. Unübersehbar ist der Gegensatz zwischen der hier beobachteten und den mit ihr konkurrierenden Liebestoderzählungen der mittelalterlichen deutschen Tristanliteratur. Der Erzähler der Freibergschen Gotfrit-Fortsetzung hält sich, eine die Spannung zwischen Tristan und seiner Gattin entschärfende Entschuldigung der sofort und doch zu spät bereuten Lüge immerhin andeutend, heraus: ez wêre ir ernst oder ir schimpf, ez was ein toerisch ungelimpf, daz im von ir die wârheit in diser nôt nicht wart geseit. (FT 6389-6392) Noch deutlicher den Konflikt ins Belanglose abbiegend kommentiert Eilhart: âne aller slachte valscheit [nur Hs.H] sprach sie sô, tumlîchen, [Hs.HD] und sagete im tovgelichen, [Hs.H; D: werlichen; Lichtender segil wêre wîz nît. stein: lugelîchen] (ET 9380-9383) 93 94 Es sei denn, man deutete TT 3098f.: waz si in dem herzen hâten, wer solte dâ nâch vrâgen? als Reminiszenz an vergangene und verdrängte Konflikte. Aber der entscheidende erste der beiden Verse fehlt in der Handschrift R. Kerth (1981), S.88. Vgl.zu Ulrichs Kommentar auch Meissburger (1954), S.142; Deighton (1979), S.216. 72 Wo es nur die intellektuellen Defizite der Frau sind, erscheint das Problem als personalisiertes, wird – Ideologiebildung sozusagen – sein struktureller Zusammenhang verschleiert. Dies offenbar war Ulrichs von Türheim Absicht nicht. Seine Erzählung vom Liebestod ist transparent darauf, daß Tristan seit der Hochzeit in Arundel nicht nur die Ehe Markes bricht, sondern auch seine eigene mit der weißhändigen Isolt. Deren den Tod besiegelnde Lüge wird nicht als Rache am betrügenden Ehemann begründet, aber der Text erlaubt – abweichend von der Tradition –, sie sich als solche zu denken. Die beiden Isolten erscheinen hier plötzlich als das, was sie auch sind: Konkurrentinnen um Tristan. Bewußt gemacht und auf der Ebene der Figurenregie eng geführt ist diese Konfliktkonfiguration in der Liebestoderzählung: an Tristans Leichnam kommt es, erstmals überhaupt, zur direkten Begegnung zwischen der blonden und der weißhändigen Isolt: mit leitlîcher vrâge vrâgete Ysôt Ysôten: "wes sitzet ir bî dem tôten, den ir, vrouwe, ertoetet hât? durch got hin von der bâre gât! ir habet getân ein michel mort: gêt hin dan und sitzet dort!" "swa ir gebiutent niuwan dâ." 95 Ort der Konfrontation ist der öffentliche Repräsentationsraum des Karker Münsters, wo sich der Herzogshof mit seinen vriunden (TT 3404) zur Klage um den Toten versammelt hat. Präsent gemacht und episch sinnfällig verdichtet ist hier also jener dreidimensionale Konflikt von Ehebruchsminne, Eheliebe und göttlich sanktionierter Ordnung, welchen die vorangegangenen Abschnitte von Ulrichs Tristanfortsetzung gerade ausblenden. Nicht in einem Kontinuum der Ereignisfolgen und nicht in den Handlungsmotivationen der Figuren, wohl aber auf der Ebene der Problementfaltung und in einprägsamen epischen Bildern liefert Tristan als Mönch (und eben nur dieser) dazu eine eigenständige Exposition. Dort ist in Tristans Trilemma jene Verdoppelung der Ehebruchsproblematik aufbewahrt, welche Gotfrits Tristanfragment als seine nicht mehr erzählte Konsequenz impliziert und welche in Ulrichs Schluß in den Tod der Liebenden und ans Ende der Erzählung führt. Und eben hierin ist jener konzeptionelle Zusammenhalt der drei handlungslogisch nicht verknüpften Teile des Brüsseler Tristan konstituiert, auf dessen Rekonstruktion schon sein alle Textgrenzen überspielendes 95 TT 3416-3423; gegenüber Eilhart (ET 9424ff.) ist hier (und ähnlich im altcechischen Tristan, 8630-8645) der Konflikt radikal verschärft; vgl.auch Brackert (1984), S.97f. Heinrich von Freiberg vermeidet es, die beiden Frauen aufeinandertreffen zu lassen (vgl.FT 6546ff.); dies stimmt zu seinem Kommentar über Isolt Weißhands Lüge. Schwer zu sagen ist, inwiefern in der Konstellation, daß die weißhändige Isolt beim aufgebahrten Tristan sitzt, Vorstellungen eine Rolle spielen, wie sie etwa das Rechtsinstitut der Bahrprobe prägen; dazu Grimm (1955), II S.593ff.; W. Ogris in HRG I (1971), Sp.283f. Gegebenenfalls wäre so die Unschuld der Gattin am Tod des Geliebten bedeutet. 73 Ausstattungs- und Bildprogramm verpflichtet hatte. Die Tristangeschichte besitzt hier in Tristan als Mönch und Türheims letzten Erzählabschnitten zwei Schlüsse, die handlungslogisch alternativ, aber konzeptionell einheitlich und in ihrer auf die Apologie der feudalen Integrationsform der Ehe96 zulaufenden Wertung der minne von Tristan und Isolt kohärent sind. Damit ist eine Konzeption erzählerisch vermittelt, die sich als spezifische, ganz abseits von Gotfrit angesiedelte Deutung und Problematisierung der gleichwohl von ihm her erzählten Tristangeschichte begreifen läßt. Ihre Räson aber ist gerade nicht die Befriedigung epigonalen Stoffhungers oder spätzeitlich enzyklopädischen Zwangs zur summa facti, ist gerade nicht das schiere Zuendeerzählen nur um epischer Abgeschlossenheit willen, ist vielmehr narrative Deutung aus eigenem Recht. 96 Der weißhändigen Isolt Schuld an Tristans Tod (und die Erhöhung der den Liebestod sterbenden Liebenden) in Ulrichs Text steht dem nicht entgegen, denn es geht hier sowenig wie in Tristan als Mönch um die Ehepartner, als vielmehr um das die aristokratische Gesellschaft integrierende Institut der Ehe sowie den auf deren Ordnung zielenden Ehebruch. 74 IV. DRITTE STUDIE: WIEDERHOLUNGSMUSTER UND REZEPTIONSMODELLE IM TRISTAN HEINRICHS VON FREIBERG 1. Interpretationsprogramm: Der Tristanroman Heinrichs von Freiberg1, im vorletzten oder letzten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts und im Auftrag eines böhmischen Adligen aus dem Umkreis des Prager Przemyslidenhofes entstanden, ist, sieht man von den Fragmenten ab, in drei Handschriften als eine auch graphisch erkennbar signalisierte Fortsetzung von Gotfrits Fragment tradiert.2 Zwar sind hier also die überlieferungsgeschichtlichen Gren1 2 In der Regel zitiere ich, aus ganz pragmatischen Gründen, nach der Ausgabe von Bernt (1906, Nachdruck 1978), die jetzt mittels der synoptischen Handschriften-Transkriptionen Buschingers (1982) jederzeit an der Überlieferung zu überprüfen, durch diese aber trotz ihrer unvollständigen Kenntnis der Textzeugen (nur Hs. FOw) noch nicht überholt ist. Daneben ist die Edition Bechsteins (1877, Nachdruck 1966) vor allem wegen ihres Kommentars noch immer zu Rate zu ziehen. Ein eigentlicher Forschungsbericht zu Heinrichs Roman erübrigt sich. Andeuten will ich nur soviel: Die Forschung steht, wie bei den anderen Texten dieses Untersuchungsteiles, im Bann von Gotfrit her bestimmter ästhetischer Wertungen und kann grob in drei Phasen gegliedert werden. Beherrschend waren zunächst Bemühungen um die philologische ‘Sicherung’ des Textes und seine stoffgeschichtlichen Hintergründe, wie sie neben den Editionen etwa durch die Arbeiten von Wiegandt (1879), E.Kraus (1885), Bechstein (1887), Singer (1897), Wallner (1907), Leitzmann (1920), Krogmann (1936) und von Kraus (1941) repräsentiert werden. In einer zweiten Phase (Müller [1950], Eyrich [1953], Hilbrink [1954]) wurde der Text in ein vorgegebenes geistesgeschichtliches Epochenschema (höfisch-ritterlich-gradualistisch-idealistisch versus späthöfisch-bürgerlich-dualistisch-realistisch) eingespannt, das seiner Erschließung nur wenig förderlich sein konnte. Die neuere Forschung, drittens, akzentuiert zumal eine Distanzierung Heinrichs von Gotfrits Minnekonzept sowie seine Darstellung von Aventiure-Handeln und höfischen Lebensformen: Spiewok (1963), Deighton (1979), Buschinger (1988), Behr (1989); so auch schon Lieske (1922). Diese Aufmerksamkeitsbewegung hat ihre Logik, wenn als besonders aussagekräftig zumal jene Partien des Romans erachtet werden, die ihn von Ulrichs Fortsetzung auf den ersten Blick schon unterscheiden, denn das sind die Erzählpassagen zwischen der Karker Hochzeit und der ersten Rückkehr zu Isolt Weißhand mit dem umfangreichen Artusteil. Dazu findet sich Wichtiges auch bei Sedlmeyer (1976); eine Auseinandersetzung mit den zahlenkompositorischen Konstrukten dieser Arbeit führe ich hier nicht: vgl. die Rezension Hans-Hugo Steinhoffs (in: Germanistik 18 [1977], S. 760), sowie Buschinger (1978) und grundsätzlich Hellgardt (1973, 1990 [bes.S. 5ff.]) Drei vollständige Handschriften und zwei Fragmente des 14. und 15. Jahrhunderts: O: Historisches Archiv, Köln, W* fol. 87; F: BNC Florenz, ms. B.R. 226; E: Biblioteca Estense, Modena, Ms. Est. 57; w: HAB Wolfenbütttel, Cod.Guelf. 404.9(3); das zweite (verlorene) Fragment einer F nahestehenden Handschrift des 14. Jahrhunderts mit den Versen 1451-1596 ist von allen Herausgebern des Textes übersehen worden, beschrieben hat es Trathnigg (1936). Vgl. zur Überlieferung die Beschreibungen bei Becker (1977), S. 40ff., 47f.; Klein (1988), S. 125, 150 Anm. 136, 161, 163. 75 zen zwischen den Texten höher als in der Ulrich von Türheim- und Tristan als Mönch-Überlieferung. Gleichwohl erzählt Heinrichs Roman ebenso deutlich wie die konkurrierende Tristanfortsetzung in eine schon vorstrukturierte epische Welt hinein. Narration ist auch hier mehr als ein blindes Zuendekommenwollen mit dem Stoff, ist Aufnahme, Verarbeitung, auch Wiederholung, so wird zu zeigen sein, von bereits Erzähltem – also von geprägtem Stoff und einem, der in unvergleichlicher Problemdichte und Formulierungsfreiheit geprägt wurde. Der Prolog von Heinrichs Roman reflektiert diese intertextuelle Konstellation. Er beschreibt das Erzählprogramm als voltichten (65) eines seneclîche[n] mêr[es] (63), welches in einzigartiger Meisterschaft meister Gotfrit von Strâzburc (15f.) begonnen und wegen seines Todes unvollendet hinterlassen habe; er rekapituliert in fünffach parataktischer Satzfügung die Begebenheiten am Ende des Fragments als die Gegebenheiten für den Anfang der Fortsetzung3; und er fügt dazwischen den Hinweis auf eine dritte Determinante des Erzählens, die Auftragssituation.4 Vor allem aber entfaltet der Beginn der narratio dieses Vorstrukturiertsein der epischen Welt. Es erscheint dort als unaufgelöst spannungsvolle, dilemmatische Situation des Protagonisten. Wie Erzähler und Publikum so vergewissert sich nun auch der trûrige Tristan in parataktisch geordneten Anläufen5 seiner Situation: ei, hêrre got, und wie bin ich sô wunderlîch gescheiden von den Isôten beiden! und trage sie doch in herzen mit rechtem herzensmerzen; ietweder mir in herzen liget, ietweder hât an mir gesiget. und ist daz herzenliebe nicht, als daz sprichwort dâ spricht, daz ich sie beide minne mit herzen und mit sinne, sô muoz ich eine Isôte lân und eine Isôt zu vrouwen hân. ei, wenne geschiet daz oder wie? (146-159) Tristans Lage ist aporetisch und kommt insofern mit den in konventionalisierten Wissensformen verankerten Normen nicht überein: swer mêr liep hât dan einez, dern hât nindert keinez; swer mit zwein lieben liebe pflicht hât, dern treit herzenliebe nicht. 3 4 5 85-106 (ich interpungiere, auch wo ich dem Wortlaut seiner Textherstellung folge, nicht immer mit Bernt). 53-84; vgl.Sedlmeyer (1976), S. 239ff.; Bumke (1979), S. 277 (und Anm. 187 mit der älteren Literatur); Deighton (1979), S. 229ff.; Behr (1989), S. 220f. ei..., ei... usw.; vgl.Sedlmeyer (1976), S. 54. 76 (139-142). Derart mit sich und der Welt im Unreinen zu sein, ist eine Situation des drohenden Identitätsverlusts (190ff.). Unüberhörbar aber sind die Anklänge der entsprechenden Formulierungen an die Schlußpartien von Gotfrits Torso. nu minne ich dort und meine hie, ich minne hie und meine dort6 sagt Tristan, seine gedanken wanken7, er ist verirret.8 Von den grundlegenden epischen Konstellationen bis in die Idiomatik hinein rückt hier Heinrichs Romanbeginn dicht an Gotfrits Romanschluß heran. Erst als dies gelungen ist, geschieht, gleichsam en passant, eine Akzentverlagerung. In seiner wîsheit (200) wird Tristan der eigene Zustand als sündhaft bewußt und im selben Moment fällt eine Entscheidung: und als er in sîn herze las und die sünde geachte und daz unrecht betrachte und ouch der êren ungewin, dô liez er die künigin, ir lîp, ir leben, ir minne ûz sînes herzen sinne und was im ein gemeiner lîp doch lieber wan ein ander wîp. (272-280) In der Zuspitzung des Konflikts mit sich selbst (der êren ungewin) und den Mitmenschen (unrecht) zu einem Konflikt mit Gott (sünde)9 zeichnet sich eine Lösung ab. Tristan wird mit rechter herzenliebe (314) die weißhändige Isolt durch state (322ff.) heiraten und damit zugleich – durch vremde10 – seine blonde Geliebte zu normgerechtem Verhalten freisetzen. So imaginiert es der Erzähler: Ei, blunde künigîn Isôt, [...] und westet irz, daz er Tristân iuch ûz dem herzen hât gelân, ir wentet iuwer gemüete mit wîplîcher güete an den künic iuweren man und nicht an ern Tristan. 6 160f.; vgl. GT 19461ff., 19546. Vgl. 167f., 195f.; vgl. GT 19251f. 8 Vgl. 188, 192; vgl. GT 19429. Vgl. auch FT (Bechstein) 160 (Kommentar); Singer (1897), S. 73f. 9 Vgl.Eyrich (1953), S. 146. Daß Gotfrits Sündenfalldarstellung mit der Betonung von Selbstverlust, Gottesverlust und Ehrverlust als Folgen von Evas Handeln noch nicht lange zurückliegt, könnte man sich hier immerhin bewußt halten, vgl. GT 17937ff.; dazu besonders Hahn (1963b) und Huber (1988), S. 117. 10 321. Eine Möglichkeit zur Plausibilisierung von Tristans Entscheidung bietet also auch im Sprichwort verbürgtes Allerweltswissen: vremde scheidet herzenliep, sô machet state manchen diep (319f.); vgl.Freidank 105,3 (und Bezzenbergers Anmerkung zur Stelle). Daß es sich zugleich um ein verkürztes Gotfrit-Zitat handelt, ist unübersehbar; vgl. Sedlmeyer (1976), S. 105. 7 77 (281-292) Kaum daß es begann, könnte derart das Erzählen schon an sein Ende kommen: Isolt im Glück mit Marke, Tristan aber im Arundeler Herzogtum als Ritter und bei der Herzogstochter als Liebhaber integriert – um nicht zu sagen: domestiziert. Wer Gotfrits Fragment nur ein löcheriges Notdach zimmern wollte, hätte hier schon innehalten können. Jedoch hat allem Anschein nach niemand von denen, die am fragmentarischen Ende von Gotfrits Roman ihr Ungenügen fanden, es mit diesem Schluß, mit der Karker Hochzeit gut sein lassen. Auch Heinrich von Freiberg nicht. Eine naheliegende Hypothese könnte ein Interesse an der Ausfüllung des vitenähnlichen Umrisses der Tristangeschichte als Erklärung für diesen Sachverhalt anführen. Doch wäre eine solche Mutmaßung nicht apriorisch in die Interpretation zu implementieren, sondern allenfalls als ihr Resultat zu entwickeln. Es wird darum an dieser Stelle genügen, vorerst festzuhalten, daß die angedeutete mögliche Auflösung aller Konflikte gleich zu Beginn der Fortsetzung nach beiden Seiten hin lediglich imaginär ist; derartige Offenheit allererst sichert Anschlußmöglichkeiten für weiterführendes Erzählen. Deutlich macht diese Offenheit etwa der in der Forschung öfters besprochene astrologische Erklärungsversuch des Erzählers für das Aussetzen der Trankwirkung als Bedingung von Tristans Hinwendung zur Arundeler Herzogstochter. Weniger ob der in ihn eingeflossenen astrologischen Traditionsströme hat dieser Exkurs Gewicht11, als wegen seines narrativen Gestus der Unsicherheit: Es mag so gewesen sein, daß ein Stern, an dem die kraft des trankes lac (256), in seiner eclypsis, wie es von Sonne und Mond her geläufig ist (232ff.), die Unwirksamkeit des Minnezaubers verursachte. Solche Möglichkeiten vorjehent astrôlogî (226), und darauf stützt sich der Erzähler. Wer aber baz beredet sie, der künste wirde ich im wol gan. (264f.) Der Hypothesenstatus des solcherart Erwogenen12 gilt nicht nur für Tristan, sondern auf der anderen Seite auch für Isolts Rückkehr zu Marke. waz rede ich oder wâ wil ich hin? beschließt der Erzähler jene zitierte Interjektion, in der er die Möglichkeit königlichen Eheglücks in Tintajol entwirft: waz weiz ich, ob der künigin ouch der stern erloschen was der minne, dâ von ich ê las, und ob der minnetranc sîn art gein ir als gein im het verkârt, sô daz die küniginne ir meine und ir minne wante an irn êlîchen man und nicht an hern Tristan? swie dem nu sî, daz lâze wir varn (293-303) wâ wil ich hin?: In der Inszenierung hypothetischer Versuche, mit dem Handlungsgeschehen zu Rande zu kommen, treten die erzählte Geschichte und der Erzählvorgang 11 12 Vgl.Singer (1897), S. 74f.; FT (Bernt), S. 169f., 200; Hilbrink (1954), S. 120ff. Vgl.Deighton (1979), S. 244. 78 auseinander; auch darin wird die Vorstrukturierung der Epenwelt als Bedingung einer Romanfortsetzung sichtbar gemacht. Der Erzähler ist dem Geschehen gewissermaßen voraus, denn der durchhauene Knoten, das harmlose und sozusagen humane Ende der Geschichte von Tristan und Isolt wird am Anfang der continuatio allein als Möglichkeit vorgestellt, nicht aber aktualiter vollzogen. Tristans Ehe erweist sich rasch als eine Durchgangsepisode zu neuen Abenteuern, die mit ihr zunächst nichts zu tun haben. Der Erzähler ist seiner Geschichte hier am Anfang aber gerade nur um die Länge von fünf Sechsteln des Romans voraus. Am Zielpunkt der neu sich entfaltenden Aventiurenreihe nämlich, vor der Liebestodhandlung, wird jener in der Romanexposition als möglich nur entworfene Gleichgewichtszustand – Minnetrank hin, astrologische Spekulation her – so übergangs- wie begründungslos in der Epenwelt Wirklichkeit. Marke lebte mit der künegîn gar lieplîch unz an iren tôt (5716f.), heißt es da und: Tristan mit Isôten [Weißhand] sider lebte schône und alsô wol, sam ein man zu rechte sol leben mit liebem wîbe. (5962-5965) Dies hat in anderen Tristantexten sowenig eine Parallele wie der romananfängliche Vorverweis auf solch harmonisches Eheleben in Tintajol und Karke. Die folgende Interpretation von Heinrichs von Freiberg Tristan wird also unter anderem die narrativen Funktionen solcher Momente des Innehaltens des erzählten Prozesses auf einem Niveau potenziell oder aktuell auflösbarer Konflikte explizieren müssen. Auch der kürzeste Weg zu diesem Ziel führt indessen über Seitenpfade. Die Analyse nimmt sie in Kauf und geht den Spuren des Protagonisten und den Pfaden des Erzählens von der Andeutung dieses Trug-Schlusses bis zu seinem Vollzug nach. Zwei Leitfragen, die aus den bisher vorgestellten Textabschnitten folgen, sind dabei dem Gang der Untersuchung vorgegeben. Warum ist zum vorläufigen Ende der Tristangeschichte hin der Gang durch eine Fülle von Episoden (Stationen?) notwendig, wenn dieses ‘Ende’ doch schon ganz zu Anfang des Erzählprozesses unübersehbar im Blick ist? Und zweitens, so versteht sich: warum ist dieser Schluß ein Trug, warum fallen auch Heinrichs Tristan und mit ihm die blonde Isolt, dem Tode zu? Beide Fragen entfalten perspektivisch ein einziges Problem, möglich Antworten müssen als Bausteine einer Theorie über diesen Text zusammenpassen. Der Episodenfolge von der Werbung um die weißhändige Isolt bis zum Abschluß der Folie Tristan (326-5719) gehört das Schwergewicht in des Freibergers TristanFortsetzung, und ohne Zwang, gar denjenigen von zahlenkompositorischen Systementwürfen13, läßt sie sich in wenige große Erzählblöcke gliedern. Auf Werbung, Hochzeit und das verweigerte Beilager in Arundel (326-1128) folgt ein umfangreicher Komplex, der den Protagonisten als Artusritter zeigt und in dieser Rolle zur blonden Königin zurückführt (1129-3675). Auch die Entdeckung der Liebenden, ihre 13 Vgl. Sedlmeyer (1976). 79 Verurteilung zum Tod, Flucht und minneseliges Waldleben sind hier mit einzubeziehen, weil erst eine so abgegrenzte Geschehnisfolge in ihrer Gesamtheit jenes Jahr des Keuschheitsgelübdes ausfüllt, mit welchem der Held gegenüber der Gattin seine sexuelle Abstinenz begründet hatte.14 Ein sehr viel kürzerer Zwischenschritt wiederum in Arundel (3676-4094), wo sich Tristan erneut der Ehefrau versagt und deswegen nun mit ihrem Bruder Kaedin in Konflikt gerät, leitet zum dritten großen Erzählblock (4094-5719) über. In ihm werden die Wiederbegegnung im Blanken Lande, die Narrenepisode und Tristans endgültige Flucht aus Cornwall erzählt. Den Abschluß markiert der schon erwähnte Hinweis auf das lieplîche Zusammenleben Markes mit seiner Königin. Dieser Hinweis sowie vergleichbare Trug-Schlüsse am Ende des ersten Arundel-Teils und der Waldleben-Episode rechtfertigen fürs Erste die hier vorgenommene Segmentierung ebenso, wie mögliche Beobachtungen etwa zum Programm der Handlungsräume (Karke - Karidol/Tintajol - Karke - Tintajol) oder zum Personal (Kaedin). Es zeichnet sich solcherart eine Strukturierung des epischen Prozesses ab, die schon auf dieser noch sehr grobrasterigen Ebene zu erkennen gibt, daß in Heinrichs Text auch für solche Geschehnisfolgen gewandelte strukturelle und Sinnzusammenhänge konstituiert sind, die etwa von der konkurrierenden GotfritFortsetzung Ulrichs von Türheim her geläufig sein mögen. Gleichwohl gestatten die in den Grundzügen von Handlungsverlauf und Szenenaufbau bestehenden Übereinstimmungen zwischen dem, was bei Ulrich und dem, was bei Heinrich seit Tristans zweitem Karkeaufenthalt erzählt ist, eine Konzentration zunächst auf jene Romanpartien, welche dieser beiden Fortsetzungen grosso modo gemeinsamen Erzählstrecke vorausliegen. 2. Die Welt der Ehe und die Welt des Ehebruchs: Die erste dieser Romanpartien ist Tristans Hochzeit mit der weißhändigen Isolt aus Arundel. Auch davon hatte Ulrich von Türheim bereits erzählt. Jedoch gewinnt Heinrichs Gestaltung gerade mit Blick auf diese Alternative ihr Profil: ein Profil juristischer und gesellschaftlicher, ethischer und ästhetischer Verbindlichkeit. Tristan wirbt um seine künftige Gattin, sîns herzen vrouwe (685), mit eben jener herzenliebe, mit welcher er bisher der blonden Isolt zugetan war15, und er verehelicht sich mit ihr in einem Heiratsprozeß, der in mannigfachen Details kaum anders denn als prononcierter Gegenentwurf zu Ulrichs Erzählung zu lesen ist.16 Die ausgewogene Beteiligung beider Brauteltern, die Unterscheidung von Verlobung und Heirat 17, Konsensgespräch18 und geistliches Ritual19, Gegenseitigkeit der Treueschwüre (651ff.), Mor14 Vgl. 1079, 1133, 1505, 3383, 3471, 3696; vgl. Sedlmeyer (1976), S. 96f. Vgl. 137ff., 312ff., 344ff., 363f., 744ff. 16 Vgl. oben II.2. 17 Vgl. 502ff., 648ff. 18 Vgl. 452ff., 481ff. 19 Vgl. 502ff., 635ff., 860ff. 15 80 gengabe20 und Aufnahme Tristans, der hier nicht ellender Ritter, sondern Herr eines imposanten Gefolges ist21, in die herzogliche familia (vgl. 1267ff.): All dies erhebt diese Ehe über jeden Zweifel an ihrem Status. Zugleich sind die konkreten herrschaftlich-pragmatischen Ehegründe, also die militärische Bedeutung des Riol-Bezwingers für das Karker Herzogtum, hier im Vergleich mit Ulrich marginalisiert.22 Kongruent sind der Rang dieser Ehe und seine Repräsentation in einem Hochzeitsfest, das die Erzählung deutlich mit der Aura des Herausragenden umgibt.23 Hier wird also gerade nicht eine „Scheinehe“ geschlossen24, sondern ein Bund bestêt, als iz solde sîn (653). Scheinhaft ist weniger die Ehe, als ihr sexueller Vollzug (849ff.), und zwar dies lediglich in der Perzeption der Hofgesellschaft. Darum dürfte die breite Darstellung des Hochzeitsfestes nicht als Ausdruck bloß einer textintern eher funktionslosen Freude an höfischen Repräsentationsformen zu bewerten sein.25 Sie versteht sich vielmehr als Element einer Erzählregie, welche auf die Konfliktarmut, um nicht zu sagen Idealität, der Konstellation in Arundel zielt, welche – mit einem Wort – hier bereits die möglichste Annäherung an den vorneweg anvisierten (vorläufigen) Schluß anstrebt. Und wie zur Bestätigung dessen ist auch das verweigerte Beilager noch in Szene gesetzt. In dieser Episode wird die Entschärfung des handlungslogisch Unvermeidlichen gerade dadurch vorbereitet, daß der Erzähler die Situation im Brautgemach gegenüber Ulrich von Türheim zweifach zuspitzt. Zunächst ist ausdrücklich die Beidseitigkeit des Verlangens in einem Geschehen hervorgehoben, das unmittelbar vor seinem sexuellen Höhepunkt in einer Peripetie abbricht. minne und lust, die giengen entwer under in hin und her. [...] er begerte ir, sie begerte sîn. (761-765) Dann aber erobert nicht Tristan die Braut, die, wie es in genauer Schilderung anschaulich geworden war (685ff.), ir magettuome zur Stimulierung des Bräutigams (718ff.) eine vesten gebûwet hatte (728f.). Stattdessen kommt Minne, die vreche stürmerinne, [...] dort her sturmrûschende (789f.). Sie erobert die wohlverschlossene Kemenate und führt Isolt aus Irland mitten in Tristans Herz.26 So scheitert der Versuch des Ehevollzugs abrupt, und enttäuscht ist nicht nur die Braut, sondern auch die 20 Vgl. 498ff., 854ff. Vgl. 1516ff., 1919ff. 22 Vgl. Deighton (1979), S. 245. 23 Vgl. 513, 561, 578. 24 Sedlmeyer (1976), S. 107 u.ö. 25 Vgl.zuletzt Behr (1989), S. 221f. 26 An dieser Stelle kommt es wohl weniger auf Reminiszenzen vergangener Formulierungen Gotfrits an (so Deighton [1979], S. 248f.), als auf die zielstrebige Koordination der Bilder Burg, claustrum, Erstürmung zum Zweck dichter und pointierter Szenengestaltung. Daß es auch hier ein Dingsymbol ist, durch welches die Geliebte schlagartig präsent wird, nämlich der blonden Isolt Ring an Tristans Hand, der beim Liebesspiel mit der Braut in seinen Blick gerät, versteht sich fast von selbst; vgl. Haug (1989a), S. 610; Czerwinski (1989), S. 21ff., 348f. u.ö. 21 81 planmäßig gegen alles Wissen um die Logik der Geschichte aufgebaute Erwartung der Rezipienten. Die höfische Gesellschaft indes hält das Beilager für vollzogen und stellt dies ebenso wie sich selbst in Messe, Festessen und Turnier dar (840-950). Es vergehen mehrere Nächte, in denen Tristan stets als ein ron (957) neben der weißhändigen Isolt liegt, ehe sie ihren hölzernen Gatten zur Rede stellt, und dabei wird in ihren Vorwürfen die zweite, wichtigere Konfliktaufladung kenntlich, mit der Wohlbekanntes hier neu erzählt ist: nu liget ir rechte als ein man, der nie herzenliep gewan. irn kôset noch enredet nicht; (1029ff.) Tristan hat sich im Brautgemach nicht nur als Mann, sondern auch als Gesprächspartner verweigert. Der Gedanke an die Geliebte in Cornwall bewirkt Abstinenz und Aphasie.27 Nur sehnsuchtsvolle Seufzer – ach! ach, Isôt, Isôt, Isôt! –, welche die Braut fälschlich auf sich beziehen muß, kommen über seine Lippen. Aber eben diese Vergrößerung der Distanz unter den Eheleuten ermöglicht es, die Fixierung des status quo, auf welche dieser erste große Erzählkomplex in Heinrichs Tristan hinauswill, als Versöhnung erscheinen zu lassen. Der Held begründet seine Keuschheit mit einem Gelübde, das er in der höchsten Todesnot des Drachenkampfes der Jungfrau Maria gegeben habe. Die Glaubwürdigkeit dieses Berichts speist sich für Isolt gerade aus jener ausführlichen Genauigkeit von Tristans Erzählung, durch welche sie als Lüge offenbar wird für jene, die mit dem Umriß der Geschichte vertraut sind. Die Gattin, anders als bei Ulrich (TT 359ff.) von einer Nebenbuhlerin nichts ahnend, fügt sich – freudig, möchte man sagen – in das, was sie für die Gegebenheiten halten muß: „[...] und ob ich maget blîbe biz an mînen tôt, dar umb gelîde ich nimmer nôt. lât mich sîn, als ich nu sî, und sît mir sus mit triuwen bî und redet mit mir understunt und versaget mir iuwern munt nicht, als ir ê habet getân.“ Isôt die maget, Tristan der man, die beide hie versuonten sich mit rede harte minneclich. (1098-1108) So führt der Erzähler das im Schlußteil des Gotfritschen Romans in Gang gesetzte Geschehen um Isolt aus Arundel zu einem raschen, freilich nicht definitiven Abschluß.28 In seinen situativen Einzelheiten – dem Zusammenleben als lieb mit liebe leben sol (1120) und der Freude der Herzogshofes (1124ff.) – ist dieser Abschluß dem im Anfang von Heinrichs Roman ausphantasierten Erzählende nahe, âne daz 27 28 Vgl. 809, 1026ff., 1104f. Vgl. Sedlmeyer (1976), S. 98: „momentaner Stillstand“. 82 eine, daz sie nicht mit sîner minne hête pflicht. (1121f.) Es ist also nicht nur ein rascher und vorläufiger, sondern auch ein erzwungener Schluß. Anstatt die konstellativen Aporien aufzulösen, stellt er sie nur still. Das Wagnis, das darin liegt, artikuliert sich noch nachträglich in jener Distanzierungsgeste, mit welcher der Erzähler Isolt Weißhands Gebaren beim Abschied von Tristan kommentiert (1492f.). Mit einem scheinbaren Schluß bricht die Geschichte gewissermaßen ab, um sogleich wieder zu beginnen. Daß ein solcher Neuanfang möglich werde, ist die vorderhand wichtige narrative Funktion der spezifischen Inszenierung, die die Arundeler Hochzeit in der Tristanfortsetzung Heinrichs von Freiberg erfährt. Sowenig wie dasjenige Ulrichs von Türheim zielt sein Erzählen auf ein rasches und definitives Ende. Vielmehr ist hier mit alternativen Darstellungsmitteln derselbe narrative Zweck, die Öffnung des Erzählraumes angepeilt. Ulrich hatte von der geringen rechtlichen Stabilität der Karker Ehe bis zur alsbaldigen Veröffentlichung des Skandalons des verweigerten Beilagers seinen Romanbeginn so konfliktgesättigt erzählt, daß von dort bündig – zusammengefügt in Kaedins Zorn und der daraus entwickelten Wette mit Tristan – zu neuen Wiederbegegnungen in Cornwall, also in die Geschichte der ersten und eigentlichen Isolt zurückgelenkt werden konnte. Heinrich hingegen reduziert, wie vorläufig immer, das Konfliktpotential dieses Arundel-Teils, aus dem sich Handlungsgeschehen eines fortsetzenden Erzählens entbinden ließe, und entwirft einen möglichen Schluß zu Gotfrits offenem Ende. Genau dies ist die Voraussetzung dafür, daß die Kontinuation des böhmischen Autors nicht nur ein Weitererzählen zu Neuem hin, sondern, so will ich im folgenden darlegen, zunächst eine Wiederholung, ein Neuerzählen von schon Gegebenem werden kann. Dies allerdings hat, nicht weniger als die Konstellationen etwa des Brüsseler Tristan, Weiterungen für den Begriff der Fortsetzung selbst zu Folge. Die Erzählung setzt, ein knappes Jahr nach dem Hochzeitsfest (1133), neu ein und führt in eine neue, nicht vom fortgesetzten Torso vorstrukturierte Welt. Wie stets ist es die adlige Jagd als Grenzüberschreitung zwischen der Welt des Hofes und dem nicht völlig Verfügbaren, welche den Helden mit dieser anderen Welt in Berührung bringt, und wie in Tristan als Mönch ist der Artushof ihr Zentrum und Impulsgeber für den Kontakt. Der König hatte ûz küniclîches sinnes kraft zu êren aller ritterschaft einer tavelrunde erdâcht, (1315-1317) und schickt nun Boten in die Welt mit einer Einladung an sämtliche Ritter, sich zu Britannien in Aventiuren zu beweren (1361) und gegebenenfalls Mitglied seiner Tafelrunde zu werden. Tristan begegnet einem von Artus’ Gesandten auf der Rückkehr von der Falkenjagd. Er tritt damit in diese alternative epische Welt ein29, deren Alteri29 Daß dies noch im Herzogtum Arundel seinen Platz hat, daß Tristan den Boten an den Karker Hof führt und dort bewirtet, hat wenig Gewicht: die eine und die andere Welt überlappen sich hier gleichsam, Grenzverwischung findet dadurch nicht statt. Tristan ist des Knappen Gastgeber, er bewirtet ihn, nur er spricht mit ihm (1280ff., 1294ff., 1349ff., 1405ff.). Der Karker Herzogshof bildet allein die stumme, anonyme höfische Kulisse der Begegnung. 83 tät von der Topik des Knappenauftritts30 signalisiert, im Gespräch thematisiert (12051208) und – nicht anders als im anonymen Kurzroman31 – letztlich im Rückgriff auf literarische Tradition konstituiert wird.32 Zunächst bleibt der Protagonist in dieser Sphäre, ja er bewegt sich in ihr Zentrum, was von dorther durch die arthurische Einladung, zugleich aber auch von Tristan her begründet ist. Nachts allein im Bett liegend, wo vor kurzem noch die blonde Isolt an Frau Minnes Hand sein Herz gestürmt hatte, verschwistern sich in Tristan sîn manheit und îr minne33: im was die tavelrunde mit stolzlîcher stiure zu niuwer âventiure in sîn manlîch herze kumen. (1464-1467) Der Einbau der Artuswelt in den Roman führt, so scheint es, an eine Überwindung jener Asymmetrie zwischen minne und Aventiure heran, welche das Erzählen von Tristan überhaupt kennzeichnet. Der Preis dafür ist jedoch die Ausblendung aller Eheprobleme. Sie gewinnt darin epische Gestalt, daß die Initiation in den Kreis der Tafelrunder als Tugendprobe inszeniert ist: an die tavele kein zage tar gesitzen noch kein man, der untriuwe ie gewan sô breit sam ein gespalden hâr. ist aber, daz er gesitzet dar, der êrste bizze meldet in und wirt wan laster sîn gewin.34 Tristan jedoch wird sogleich von Artus und Ginover als vorzüglichster Ritter in den Kreis der Tafelrunder eingeführt (1981ff.) – ungeachtet seiner an Marke begangenen Sünden sowie des Isolt aus Karke vorgelogenen Keuschheitsgelübdes und trotz des Betruges an ihr, der darin besteht, daß er um seiner Geliebten willen nach Karidol zieht. Ein Widerspruch ist dies nicht, denn es sind in diesem Erzählteil alle Erinnerungen an die Arundeler Welt, an ihre Handlungselemente und Problemkonfigurationen getilgt. Der weißhändigen Isolt Zustimmung zu Tristans Aventiurefahrt (1494ff.) ist gewissermaßen der epische Akt dieser Eskamotierung. Die Sphären von Karke und 30 locus amoenus (1155ff.), descriptio des Knappen (1171ff.), französische Konversationsformeln, die mit einer Ausnahme (4067f.) nur im Artusteil begegnen (1199ff., 1850, 2031), schließlich der Leitterminus aventiure (1207: frühester Beleg im Text, vgl. auch 1260, 1356, 1430 und programmatisch 1447ff., sowie Sedlmeyr [1976], S. 114f.). 31 Vgl. TaM 1ff.und dazu oben III.2. 32 1216ff.; vgl. auch 1168ff. mit Wirnt, Gwigalois 1415ff., und dazu FT (Bechstein) 1176f. (Kommentar); FT (Bernt), S. 75f. 33 1421, vgl. auch 1457ff., 1621ff. 34 1382-1388. Diese Konkretisation der Aufnahme in den Artuskreis nach dem Schema der Tugendprobe könnte man sich zum Beispiel im Vergleich mit der Gründungsgeschichte der Tafelrunde im zeitgenössischen Apollonius-Roman klarmachen: Heinrich von Neustadt, Apollonius bes. 18763ff. Zur Geschichte der Tugendproben Warnatsch (1883); Kern (1984), S. 128ff. 84 Karidol sind hinfort gegeneinander abgeschottet35: Dort weiß man nicht, wohin Tristan zieht, und wird später nicht wissen, wo er gewesen ist.36 Man kann es auch gar nicht wissen, denn der Protagonist ist in Britannien und dann in Cornwall ein anderer als er in Arundel war: Er kommt von jenseits des Meeres und gleichsam aus einer früheren Geschichte, ist Rîwalînes sun37 und der süeze Parmenois38, er führt ein eigenes Gefolge, nicht eines aus Karke39, und seine Begleiter und Helfer sind nicht, wie später, der Schwager Kaedin, sondern, neben Kurvenal, seine Verwandten Gawan und Tantrisel. Dieser Hiatus zwischen den beiden Welten wird schließlich auch sichtbar, wenn die motivische Nähe der Artusteil-Eingänge bei Heinrich von Freiberg und in Tristan als Mönch zu genauerem Nachlesen motiviert. Hier wie dort fungiert die Einladung des Hofes als stimulans actionis, aber im Kurzroman war der Zwiespalt zwischen Minne und Ehe gerade dadurch mit der Problematik ritterlicher Ehre verknüpft und so zum Trilemma kompliziert worden, daß der Ritter sein Liebste mit sich nach Karidol führen muß. Diese entscheidende Kautele fehlt in Heinrichs Tristanfortsetzung, es bleibt beim Dilemma und dieses wird – für die Dauer des Artusteils – ohne Rest ausgeblendet. Artusthematik, die dort als Episierung einer Problemverschärfung genützt wird, leistet hier das Gegenteil. Tristan und mit ihm die Erzählung lassen Arundel und die dort lokalisierten Konflikte spurlos hinter sich zurück. Weil dies ein Abbruch, nicht ein narrativ vollzogener Desintegrationsakt ist, an welchem die Relikte des Hinterlassenen wohl aufzuweisen wären, geht Tristans Integration in die Tafelrunde und die Welt des Hofes fast ohne Hindernisse vonstatten. Wichtiger als die augenscheinliche Qualifikation im unentschieden bleibenden Gawankampf, welcher die Gleichrangigkeit der Gegner zeigt40, sind dabei die ritterlichen Leistungsnachweise. Gawan macht sie auf gemeinsamem Ritt nach Karidol als die Geschichte des Protagonisten bewußt. Der Sieger über Morgan, Morolt, den Drachen und Urgan (1887ff.) ist es, der im Ornat seines erbezeichens, des Ebers (1943f.), 35 Anders Sedlmeyer (1976), S. 112. Vgl. 1498, 3946ff. (daß Tristan in einer zweiten Erzählung Kaedin einen neuen Grund seiner ehelichen Abstinenz vorgaukelt, ist allein sinnvoll, wenn der Bruder der betrogenen Ehefrau von den Ereignissen in Karidol und Tintajol nicht weiß). 37 Fünf der zwölf Belege für diese Abstammungsbezeichnung gehören in den Artusteil (1226, 1508, 1569, 1894, 2098), nur zwei in die Sphäre Arundels (304, 4022). Analoges gilt für das Komplement sun Blanschefliuren (1457: Artusteil; der zweite Beleg, 6416, steht in des Erzählers Totenklage um Tristan). 38 Zwölf von 22 Belegen dieser Herkunftsbezeichnung gehören in den Artusteil, darunter, mit Signalcharakter, der erste Vers dieses Erzählkomplexes (1129) und der erste von Tristans Fahrt nach Karidol (1448, weiter: 1509, 1517, 1733, 1811ff., 1821, 1831, 1841, 1986, 2596, 2623). 39 1513ff.: zwanzig Ritter aus der Schar von 500 Kriegern, welche Tristan zum Arundeler Krieg aus Parmenie hatte kommen lassen (vgl. GT 18784ff.) und welche, engelsgleich und paradiesisch wie dieses, mit dem Gefolge des Herzogs von Arundel wohl konkurrieren können (561, 578, 1534ff.). Ich notiere solche Kleinigkeiten, weil sie als Neuerungen im Vergleich mit Eilharts Artuserzählung (ET 5016ff.) die Selbständigkeit Tristans gegenüber dem Bereich Karkes akzentuieren. 40 Vgl. Harms (1963), S. 137ff.; Sedlmeyer (1976), S. 113. 36 85 in die Burg einzieht, der von Artus mit dem Begrüßungskuß empfangen und der durch die Aufnahme in die Tafelrunde als Tugendprobe vor andern ausgezeichnet wird. Auf den Ehebrecher Tristan darf, so ist Heinrichs Erzählung angelegt, diese Bestätigung und Auszeichnung nicht bezogen werden.41 Tristans Integration in den Artuskreis, die bisher stets vorausgesetzt war, ist ein in seinen Schritten nachvollziehbarer, zunächst auch präzise räumlich gedachter Weg. Von der Ankunft in Britannien führt er über die Herberge in einer Stadt, den Zweikampf mit Gawan, den Ritt nach Karidol und die Begrüßung durch das Königspaar zielstrebig zum Platz an der Tafelrunde. Sie ist – in der Geometrie des Bildes wie als Bild der Wertigkeit – die Mitte dieser konzentrisch gedachten Welt42, und als Tafelrunder ist Tristan ganz im Zentrum des Artushofes als einer normativen Instanz. Jedoch ist sozusagen nicht der ganze Tristan in diesem Zentrum, sondern nur jener Ritter, den Gawan auf dem dahin führenden Weg im Spiegel seiner Gegner rekapitulierend namhaft gemacht hatte. In Karke war Tristan Befreier und Gatte, hier nun ist er herausragender Ritter – und vorerst nicht mehr. Er selbst, also Liebender der cornischen Königin, muß er erst noch werden, Isolt mit den blonden Haaren muß nicht nur in des Arundeler Tristan Herz, sondern nun auch dem Artusritter zu Bewußtsein kommen – und sie muß also in den Text kommen. Dies wird, nicht ganz ungeschickt, in einer zweiten Phase der Integration Tristans in die Artuswelt eingefädelt (2016-2332), in welcher eben dessen Identität thematisch ist. Erzählt wird, daß Tristan im Aventiurewald und auf dem Feld davor die Artusritter Keie und Dalkors besiege und daß er allem insistierenden Fragen zum Trotz seine Siege erst nach sechs Wochen einbekenne.43 Dieser Abschnitt entbehrt einer Handlungsmotivation44, denn der Hinweis auf Verschwiegen- und Bescheidenheit des Helden (2152ff.) bemüht sich nur um die Plausibilisierung einer Inkognito-Inszenierung, welche er selbst nicht rechtfertigen kann. Gibt es keinen handlungslogischen, dann allerdings gibt es einen erzähllogischen Grund, und dieser ist dem Erzählten selbst eingeschrieben. Tristan und Keie bleiben sich in ihrem Zweikampf anonym, denn vor Morgengrauen schon (2059ff.) waren sie auf âventiure in den Wald gezogen. Weil indes ihre Tjost Tristan seine altbekannte Helmzier kostet (2069ff.), bleibt er dann über den Tagesanbruch hinaus und auch seinem zweiten Gegner unbekannt (2105f.). Das nachts im Wald verlorene Identitätszeichen findet sich erst nach dem Kampf gegen den bisher stets unbezwingbaren Dalkors (2019ff.) wieder, welcher ûf einem grüenen plân (2102) und anscheinend nach Sonnenaufgang (vgl. 2150) stattfindet. von danne reit her Tristân 41 Vgl. Sedlmeyer (1976), S. 112. Im Zentrum der runde Tisch (1324ff.), darum Burg und Stadt Karidol, umschlossen wie von einem Ring von der âventiure tan (1600f., 1674). Diese konzentrische Welt ist das Gravitationsfeld, in welchem das Aventiurehandeln der Artusritter vorzüglich seinen Platz hat (vgl. auch 2051, 2062). 43 Vgl. 2282; zum Aufbau Sedlmeyer (1976), S. 201f. 44 Gerade Heinrichs öfters zu beobachtende Motivierungssorgfalt (vgl. Steinhoff [1981], Sp. 727) läßt die Leerstellen einer ersparten Begründung hervortreten. 42 86 wider ûf den vordern plân. sîne strâlen er dâ vant, ûf sînen helm er sie dâ bant; gein Karidôle reit er sân. (2135-2139) Damit ist seine Anonymität aufgehoben: Jeder erkennt Tristan, aber keiner identifiziert ihn als denjenigen, der er ist. Das meint hier zunächst den Sieger über Keie und Dalkors, präludiert aber als epische Entfaltung einer Identitätsproblematik das eigentliche Thema.45 Die Identität des besten Ritters der Tafelrunde mit dem Helden der beiden Tjosten wird nämlich gerade in dem Moment offenbar, als im inszenierten Zufall die blonde Isolt in der Artuswelt Präsenz gewinnt und der beste Ritter als der berühmteste Liebende erscheint: Als Gawan Tristan bittet, um seiner selbst und der Königin willen die Wahrheit über den Aventiurensieger (2303ff.) nicht länger zu verhehlen, fügt sich der Befragte. Das einst stumpfe Motiv, daß Tristan in Isolts Namen auch tut, wogegen er sich sonst heftig sträubt46, macht die Königin mit Blick auf Anschlußepisoden (2333ff.) bewußt und läßt Tristan zu seiner Eigentlichkeit als Liebender kommen – auch physiologisch: Alsiufzende antwortet er Gawan (2309). Erst hier koinzidieren minne und âventiure, welche den Protagonisten nach Karidol auf den Weg gebracht hatten, gleichsam auch öffentlich: vor den Repräsentanten des Hofes; erst jetzt ist Tristan ganz als er selbst, als Ritter und Liebhaber, in den Artuskreis integriert; erst hier gewissermaßen ist jener drohende Identitätsverlust definitiv abgewendet, als welcher Tristans Entscheidungssituation vor der Werbung um Isolt Weißhand erzählt worden war.47 Die weiteren Partien des Artusteils im Tristanroman Heinrichs von Freiberg setzen eben dies voraus. Gawans Arrangements führen Tristan im Kreise der Tafelrunder zur blonden Isolt. Erzählt wird ein Rückkehrabenteuer, dem wie stets und stets unbemerkt ein Moment des Déjà vu anhaftet. Der Takt der Episoden, die Inszenierung der Jagd, der Empfang der Artusritter auf Markes Burg, die Sensenfalle und das ihr zum Trotz, wenn auch blutig gelingende Beilager der Liebenden, die Kissenschlacht der Artusritter, in deren Verlauf sich diese zu Tristans Schutz alle selbst verwunden, schließlich der Abschied Artus’ und seines Gefolges folgen dem Gefüge der Ereignisse bei Eilhart (ET 5152-5463). Konstitutiv sind dabei ein Überbietungsschema des list-Handelns48 sowie Tristans Rolle als fest ins Kollektiv eingebundener Artusritter, welche die vorausgegangenen Integrationsphasen fixiert hatten und welche der Protagonist nun als seine ‘Verkleidung’ gebrauchen kann. 45 Das nimmt dem Keie-Kampf (und der Tjost mit Dalkors) jede 'Zufälligkeit' und gibt ihm wenn schon nicht „tiefere Bedeutung“, so doch narrative Funktion: gegen Haupt (1971), S. 117. 46 Vgl. ET 5124ff., danach der Prosaroman Z. 2801ff. 47 Vgl. oben S. 75f. 48 Vgl. Haupt (1971), S. 67f., über die Wolfseisen-Episode bei Eilhart. 87 list ist hier kein moralisches und erst in zweiter Linie ein intellektuelles Prädikat.49 Er ist die Befähigung zu einem Handeln, welches ein Gegenüber nicht sogleich – im wörtlichen: bei Dunkelheit, wie im übertragenen Sinn – durchschauen kann, und der Ort seines Vollzugs ist das Spannungsfeld zwischen der unüberwindlichen, weil jedes Hindernis überwindenden gegenseitigen Attraktion der Liebenden einerseits und dem alden haz und arcwân50 Markes andererseits. list wider list (2697) vollzieht sich dabei in mehreren Schritten. Von Tantrisel erfährt Tristan die Gelegenheit zur Liebesnacht mit Isolt, wogegen Marke seinen list (2698) der Sensenfalle setzt. Daran verletzt sich Tristan und liegt doch seiner Geliebten bei. Aber dies besudelt das Bett der Königin, nämlich mit dem Blut der Wunden, so daß nur weiterer listenreicher vunt51 einer Entdeckung des Betrugs zu steuern vermag. Es ist Keies Einfall, alle Artusritter sich selbst verwunden zu lassen, auf daß der Ehebrecher im Gesamt der blutenden Helden unidentifizierbar bleibe52, und es ist Keie, der dies noch zu überbieten trachtet, indem er sich mit listen (2925), aber vergeblich, im Schutz des selbst angezettelten Chaos um seine Verwundung drücken will. Der letzte list (2982) in dieser Sequenz schließlich ist der Einfall von Artus: Als am Morgen nach der durchtobten Nacht Marke angesichts der Schar humpelnder Tafelrunder um Vergebung für die Sensenfalle ersucht, macht Artus seine Zustimmung von der Gewährung einer Gegenbitte abhängig und erreicht mit ihr, daß der cornische König abermals Tristan in seine Huld nehmen muß. Dieser Schlußtakt des Erzählabschnitts, nach welchem die Artusrunde fast spurlos wieder von Tintajol und aus der Welt des Romans verschwindet (3002ff.), ist dreifach deutlich auf das Eintreffen der Tafelrunder an Markes Hof bezogen.53 Er fügt so den narrativen Zusammenhang zur geschlossenen Form und läßt zugleich seinen Prozeßcharakter hervortreten. War zunächst nur um Tristans willen für alle Artusritter der vride Markes erbeten worden, so nimmt hier am Schluß der König speziell und ausdrücklich Tristan in seine huld auf, obwohl dieser ihn erneut mit Isolt betrogen hatte. Darin steckt das zweite Konstituens des Erzählzusammenhangs. Es ist allein Tristan, um dessentwillen der ganze Zug der Artusritter nach Tintajol inszeniert wird (2333ff.): Nur er braucht Markes vride54, nur er wird den Frieden brechen und den schlafenden Gastgeber (2796) betrügen, nur er muß in Markes Huld kommen, um 49 Vgl. Curschmann (1964), S. 24f.; Ragotzky (1981), S. 1ff., 63ff., 141ff. Anm.1 u.ö. Zur List auch Czerwinski (1989), Register s.v. 50 2686, 2699; vgl. auch 2568f., 2599ff., 2991. 51 2867, 2875, 2881, 2890. 52 Zu dieser Semiotik des Körpers vgl. unten V.2. 53 1. thematisch, insofern es erst um vride (2462ff.), dann um huld (2980ff.) geht, die Marke Tristan zu gewähren genötigt wird; 2. durch Markes wortspielende Freundschaftsformel, der Gast Artus habe zu gebieten, nicht zu bitten (2500, 2989); darum gruppiert sich 3. das Motiv der königlichen Gewährung einer Blancobitte, welche nachträglich spezifiziert wird und dem Gebetenen Konflikte bereitet (2491ff., 2984ff.). Dieser Handlungsmechanismus des rash boon, eines Versagens im Vollzug herrscherlicher milte und Großzügigkeit, ist in Markes Geschichte wohletabliert: in der Gandin-Episode; vgl. GT 13188 und dazu Christoph (1989), S. 27ff., sowie auch Grubmüller (1991), S. 5ff. 54 Vgl. 2462f., 2516f. 88 längerfristig bei Isolt sein zu können. War im vorangegangenen Erzählteil Tristan in zwei Phasen in den Artushof integriert worden, so stiftet nun die von Marke gewährte Sicherheitsordnung (vride) gewissermaßen die komplementäre Beziehung und fesselt das ganze Kollektiv der Tafelrunder an den Ehebrecher55: Alle freuen sich für Tristan über die vride-Gewährung (2516f.), alle sind durch Markes Falle bedroht (2829ff.) und in Todesangst (2843f.), alle sind demgemäß für Keies rettenden Vorschlag dankbar (2887ff.), alle tragen schließlich Tristandes zeichen (2972) – nicht den Eber, sondern klaffende Wunden.56 Die neue Rolle, welche Tristan mit der Integration in den Artuskreis ausfüllt, funktioniert offenbar, so wie später das Narrenkleid, als ein Instrument, unter den Augen Markes die erneute Zusammenkunft mit der geliebten Isolt zu ermöglichen. Das Wiederbegegnungsabenteuer ist eine unter mehreren Verkleidungsepisoden, und es scheint, als ob es dabei weniger auf die „Sanktionierung der Liebesvereinigung“57 durch den Artushof, als auf eben diesen instrumentellen Charakter ankäme.58 55 Daß es dazu der völlig homogenen Geschlossenheit des Kreises der Tafelrunder (!) bedarf, zeigt die Episode, in welcher Keie ohne Verwundung an den Sicheln von Markes Falle davonzukommen versucht, und gerade Gawan als der erste Repräsentant dieses Kollektivs das zunichte macht (2921-2932). 56 Was hier außer Frage steht, daß alle Artusritter betroffen und in die Pflicht genommen sind, obwohl Marke Artus nicht wie im Tristrant (ET 5260ff.) explizit in die Aufgabe der Friedewahrung eingebunden hatte, das muß in Eilharts Wolfsfallen-Episode erst diskursiv festgestellt werden, vgl. ET 5363ff. 57 Gottzmann (1989), S.217. 58 So würde mir erklärlich, daß die scharfen Widersprüche zwischen der Bewertung der arthurischen Kissenschlacht und Selbstverstümmelung einerseits (toben unde vaste wüeten 2907, grôze unzuht 2949, usw.) und der Bewertung des Einfalls zu diesem Geschehen und seiner Akteure andrerseits (vuocheit und spêher list 2867, kündekeit 2921, Artûs die küniclîche vrucht entredte sie hübeschlîch 2950f., usw.) nicht in den Blick geraten; vgl. auch unten S.71. 89 3. Positionsbestimmungen: Sowenig wie in Eilharts Tristrant oder im Tristan als Mönch ist die Artuserzählung von Heinrichs Fortsetzung als Ganzes oder in ihren Teilen „ziemlich funktionslos“.59 Sie erzählt vielmehr in deutlicher Zweiteilung (Karidol - Tintajol) und finaler Ausrichtung die Integration Tristans in den Artushof und deren Transformation zur Reintegration in Markes curia. Dies kann sich, insofern soziale (Re)Integrationsprozesse immer die Identität des Einzelnen betreffen, nicht anders als unter der thematischen Doppelperspektive von Ritterschaft/Sozialität und Liebe/A-Sozialität vollziehen. Die in sich gedoppelte Integrationsphase schaltet dies als Sanktionierung von Tristans Ritterstatus (Aufnahme in die Tafelrunde) und Koinzidieren von Minne und Aventiure (Zweikämpfe, Inkognitoinszenierung) hintereinander, die Reintegrationsphase verschachtelt es als Wiederbegegnung mit der blonden Isolt und Tristans stufenweise (vride - huld) Rückkehr in Markes Gunst. Auch in solcher Geschlossenheit des strukturellen und thematischen Umrisses des Artusteils zeigt sich dieser als Markierung eines grundsätzlichen Neubeginns in Heinrichs Tristan. Die Zäsur, die an seinem Anfang steht, ist indes in einer Romanfortsetzung, zumal, wenn sie strukturell an der Vita ihres Protagonisten orientiert wäre, ein sperriger Befund, sieht es doch so aus, als seien hier narrative Kontinuität und Diskontinuität nebeneinander gesetzt. Damit stellt sich die Frage nach dem handlungschronologischen Ort dieses zweigliedrigen Erzählzusammenhangs der Artushandlung innerhalb der Tristangeschichte. Mein Instrument, mit welchem ich diesen Ort vermessen will, ist die Klage des Erzählers im Schlußteil des Romans um den soeben gestorbenen Tristan. In neun strophenähnlichen Versgruppen ist hier das gewissermaßen heldenbiographische Gerüst der Tristangeschichte von der Geburt des Protagonisten bis zur Heirat in Karke herausgeschält. Dies in einer Weise, die Interpretationsschwierigkeiten bereitet hat: „As a resume of Tristan’s life before drinking the potion, it is accurate, if somewhat sketchy, but if the summary of later events is based on Gottfried’s work it is a most one-sided view of the hero’s career [...].“60 Vor allem die siebente Versgruppe muß das bezeugen: Tristant, der ritterschefte pflac vil unde vil und mangen tac durch ir edele minne, der blunden küniginne, und im dô zu Tintajol was mit Isôten alsô wol und durch sie vuor in fremde lant und ritterlîch mit sîner hant brach durch ir minne manic sper: 59 Haupt (1971), S. 126; ähnlich schon Rosenhagen in einer Rezension der Ausgabe Bernts (in: ZfdPh 40 [1908], S. 234). 60 Deighton (1979), S. 255; vgl. auch Sedlmeyer (1976), S. 101 Anm. 1. 90 vor leide in liebe tôt lac er. (6455-6464) Nirgends aber steht geschrieben, daß dies notwendig und allein auf Teile von Gotfrits Torso zu beziehen wäre. Dort gibt es ja auch „no references to Tristan’s breaking lances in foreign lands for Isolde in the manner of the Arthurian knight.“61 Es gibt diese Referenzen jedoch bei Heinrich von Freiberg. Nicht lediglich in der Manier eines Artusritters, sondern als solcher tjostiert Tristan hier um Isolts willen in fremdem Land (1208). Die siebente Versgruppe der Erzählerklage um den Protagonisten ist also zwanglos auf den Artusteil des Romans zu beziehen und sie gibt ihn auch noch im Hinweis auf das Beilager der Liebenden (2787ff.) angemessen wieder. Nimmt man das curriculum vitae des Protagonisten, wie es der Folge der Stationen62 gemäß ist, als organisierendes Schema dieser Trauerrede an63, dann gewinnt man eine Basis für die Neubestimmung jener Stellung, die der Artusteil im Erzählgefüge einer aus Gotfrits Torso und Heinrichs Fortsetzung gebildeten Tristangeschichte innehat. Die Aventiurefahrt in Isolts Diensten wird nämlich zwischen dem Minnetrank in der sechsten und der Petitcreiu-Episode in der achten Versgruppe der Erzählerklage genannt. Was Fortsetzung scheint, ist demnach ein wiederholendes Neuerzählen vom Ausgangspunkt einer handlungschronologisch erheblich früher liegenden Phase der Erzählung. Es trügt der Eindruck eines fortschreitenden narrativen Kontinuums, wie er zwischen Arundel- und Artusteil dadurch zustande kommt, daß Artus’ Bote den Protagonisten bei der weißhändigen Isolt abholt. Schon die Signale einer ganz anderen Welt, die den Beginn der Artuserzählung unübersehbar prägen, machen diesen Eindruck zunichte und sie erweisen sich jetzt als Signale einer Rückkehr zu Früherem. Ein solcher Fall ist, wie an der Verknüpfung von Wolframs Willehalm-Schluß und Ulrichs von Türheim Rennewart-Eingang zu sehen sein wird64, nicht singulär. Heinrich geht mit dem Artusteil im Zeichen „wiederholender Handlungsführung“, wie schon Spiewok eine eigentlich unbegriffene Beobachtung auf den Begriff brachte 65, hinter seinen eigenen Romananfang und fast den ganzen zweiten Teil von Gotfrits Torso zurück und beginnt neu zu erzählen: nach dem Entstehen der Liebe zwischen Tristan und Isolt und nachdem Marke bereits argwöhnisch geworden ist 66, jedoch noch vor der Petitcreiu-Episode. Sollte dies eines der ‘Geheimnisse’ von Heinrichs Text sein, so wäre es doch – auch dies ist nicht einmalig – auf offenem Platze versteckt. Ausdrücklich nennt der Erzähler das Erzählte niuwe ritterschaft (1425) und niuwe[] âventiure (1466) und 61 Deighton (1979), S. 256. 1. Blanscheflur, 2. Erziehung durch Rual, 3. Schwertleite und Morgankrieg, 4. Moroltkampf usw.; vgl. auch TaM 1919ff. 63 In Übereinstimmung mit der Forschung: Hilbrink (1954), S. 111; Sedlmeyer (1976), S. 101; Deighton (1979), S. 255. 64 Vgl. unten VI.2. 65 Spiewok (1963), S. 383; vgl. auch Stein (1983), S. 346f. 66 Nur dann ist in der Sensenfallen-Episode vom alden haz und arcwân (2686, 2699 u.ö.) Markes gegenüber Tristan sinnvollerweise die Rede. 62 91 niuwe[] smerzen (2354). Daß aber dieses narrative Niuwen nicht nur ein erneutes, sondern ein erneuertes, ein wenigstens neu akzentuiertes Erzählen meint, das legt der poetologische Gebrauch des Wortes nahe67, und das wird man auch plausibel finden, denn sonst erübrigte sich ein solches Neuerzählen. Auch daß dieses nicht auf die Substitution vorgefundener Textteile, sondern auf die Reibungen mit diesen aus ist, läßt sich vermuten. Andernfalls hätte sich die Wiederholung, so wie Strickers Karl gegenüber dem Rolandslied, als Ersatz, nicht als Fortsetzung geriert. Diese Bestimmung der Position, die von der Artuserzählung im Gesamtzusammenhang einer aus Fragment und Fortsetzung gefügten Tristangeschichte besetzt wird, verweist auf jene Partien von Gotfrits Roman, welche Heinrichs niuwe maeren als ihre Alternative benötigen und voraussetzen. Es sind jene Partien, die Kurt Ruh unter den Titeln „Marjodo und Zwerg Melot“ sowie „Das Gottesurteil“ zusammenfaßte.68 Mit Blick darauf treten Akzentuierungen und Innovationen in der wiederholenden Fortsetzung, also auch ihre Sinnkonstitutionsleistungen deutlicher hervor. Erzählt wird hier wie dort eine Episodenfolge, in der Ehebrecher und Betrogener list wider list69 setzen. Tristan besudelt dabei das Bett der Königin sowie den Estrich davor mit seinem Blut70 und besudelt so die Ehre des Königs. Es ist klar, daß dies in Gotfrits Aderlaß-Szene auf Marjodos Ebertraum71 als epische Realisierung der Traummetapher bezogen ist. Doch auch die von Heinrich erzählte Sensenfallen-Episode bezieht sich auf Marjodos Traum und wiederholt insofern diese Realisation. Der Text signalisiert das: Der hier von der Jagd und also aus dem Wald nach Tintajol kommt, wie der Eber im Traum des Höflings in den königlichen Hof eingebrochen war (GT 13515ff.), um die Ehre Markes zu besudeln, der war eben im Wappenzeichen des Ebers schon in die Welt des Artushofes eingetreten.72 Dieses Verfahren wiederholt sich auf anderer Ebene als Realisierung einer nicht wie das Eberbild von Marjodos Traum ins Erzählte selbst eingelassenen, sondern den Akt des Erzählens mit konstituierenden Metapher.73 Gotfrit erzählt Tristans direktesten und stürmischsten Weg zur blonden Isolt, nämlich den Bettsprung, als den poinder und die ritterschaft (GT 15191). Es ist dies die einzige und vielleicht ironische Referenz auf das Verhaltensmuster ritterlichen Frauendienstes, die Gotfrits Text zwischen Gandin- und Petitcreiu-Episode vornimmt. Was indes hier nur metaphorisch den kürzesten Weg zu Isolt beschreibt, das wird von Heinrich als aventiurehafter Umweg im Dienste Isolts zu ihr hin über die Tjosten gegen arthurische Ritter und Markes Falle hinweg ausagiert: Ritterschaft. Dies ist die offensichtlichste Neuorientierung, welche die Fortsetzung im Modus wiederholenden Neu67 Etwa Wolfram, Parzival 4,9; Stricker, Karl 115ff.; Frauenehre 41ff.; Konrad, Engelhard 152ff.; Heinrich von Mügeln 110-112. Vgl. Kibelka (1963), S. 219ff.; Wachinger (1973), S. 123f.; Brandt (1981); Ragotzky (1981), S. 10ff. 68 GT 13455-15050, 15051-15768: Ruh (1980), S. 219ff. 69 FT 2698, GT 13872f. 70 FT 2800ff., GT 15198ff. 71 GT 13532ff.; vgl. Wessel (1984), S. 238ff. 72 FT 1943ff.: der einzige Beleg bei Heinrich von Freiberg; vgl. GT 4940, 6618ff. 73 Zum Begriff der realisierten Metapher vgl.Ruberg (1976). 92 erzählens vornimmt74, und als ihr Fluchtpunkt fungiert Tristans Aufnahme als Primus in den Kreis der Tafelrunder. Sperrig verhält sich hierzu der zweite wichtige Akzent in Heinrichs Artuserzählung. Die Wertigkeit der Tafelrunde, welche der Erzählzusammenhang zugleich voraussetzt, ist in der Sensenfallen-Episode bedroht. Im Vorangegangenen unternahm ich einen Versuch, funktional zu erklären, warum die manifesten Widersprüche in der Bewertung dieses Geschehens und seiner Akteure außerhalb der Wahrnehmung geblieben sein mögen.75 Dieser Versuch ließ indes die Frage offen, warum es solcher Wertungen an dieser Stelle überhaupt bedarf. Mit Hinweisen auf stoffgeschichtliche Traditionshintergründe einer spielmännischen version commune dieses Erzählzusammenhangs sowie die Lizenzen, welche die Handlung aus der schwankhaften Logik ihrer Konstellation bezogen haben mag, wird diese Frage kaum zu beantworten sein. Versucht man hingegen, frühzeitige Harmonisierungen widersprüchlicher Befunde zu vermeiden und Antinomien auf verschiedenen Ebenen des Textes nicht von vorneherein auszuschließen, dann wird sich an dieser Stelle soviel sagen lassen: Es geht bei der Bewertung der arthurischen Kissenschlacht nicht um Artuskritik, und darum schlägt sie auch nicht als Relativierung auf den Status des Protagonisten durch. Es geht aber wohl darum zu zeigen, wie hoch der gesellschaftliche Preis der Liebe zwischen Tristan und Isolt berechnet wird. Dieser Preis für Tristandes missetât (2846) ist Tristandes zeichen als Signum der grôzen unzucht (2949) der Artusritter. Und dies wäre denn doch eine radikalisierende Neuakzentuierung gegenüber Gotfrit, weil hier zu erkennen wäre, daß diese Minne nicht nur den stets im Zwielicht der Intrige von Marjodo und Melot stehenden Hof Markes bedroht, sondern daß sie zu den Normen höfischer Sozialität überhaupt quersteht, wie sie in der Gestalt der Tafelrunde gegenwärtig sind. Der Neueinsatz von Heinrichs Artuserzählung auf einer handlungschronologisch bald nach dem Minnetrank situierten Stufe der Tristanerzählung zielt, so ist zu sehen, nicht auf die Repetition eines vorgegebenen narrativen Kontinuums ab. Er schließt selektiv bei von Gotfrit Vorerzähltem an, um ein Minnegeschehen als Ehebruch in gegenläufigen Richtungen widersprüchlich zu akzentuieren, um den Status des Protagonisten zu erhöhen, zugleich aber die negativen gesellschaftlichen Folgen seines Handelns zu pointieren. 4. Widersprüche und Fortsetzungssituation: Vergleichbare Widersprüchlichkeiten prägen bei Heinrich auch die anschließende Sequenz der Episoden bis zu Tristans zweiter Wendung nach Arundel. Erzählt wird die Entdeckung der Liebenden, Gericht, Verurteilung zum Tode und Flucht des Paares ins Waldleben. Dafür muß der Protagonist in Markes Hofstaat integriert sein, und in diesem Augenblick werden Artus und sein Gefolge funktionslos: er nam urloup 74 75 Vgl. oben Anm. 105ff. Vgl. oben S. 88 Anm.58. 93 und reit von dan: bî Marken bleip her Tristan (3003f.). Die Zäsur ist ausgeprägt. Wie am Beginn des Artusteils die Welt von Arundel bleibt nun die der Tafelrunde mit dem Einsetzen eines neuen Erzählabschnitts so gut wie spurlos76 zurück. Wie dort so suggeriert auch hier die Identität der Protagonistenfigur einen Zusammenhalt der von Tristan durchschrittenen Räume, den es nicht gibt. Es handelt sich vielmehr um eine Sequenz gegeneinander abgedichteter Erzählwelten, die jeweils strikt funktional auf den Protagonisten bezogen sind. Tristan ist zum wiederholten Male in die Welt Markes und der blonden Isolt zurückgekehrt, und damit stehen die Liebenden erneut (3006), und ohne daß es in dieser Welt noch einer Begründung bedürfte, unter dem Zwang der Trankwirkung.77 Durch ihr aldez erbespil (3029) wird Marken abe gestoln aber vil der êren sîn (3026f.). Dabei geht es weniger um das Liebesspiel selbst, das wie ein Erbe unausweichlich ist, als um das erneuerte Mißtrauen (3045ff.) und die listeclîchen (3070) Reaktionen des Opfers. Der König ertappt das Paar mit der wâren tât (3059) und anders als früher hat er diesmal Zeugen (3086ff.). Isolt und Tristan werden also im königlichen Gericht zum Tode verurteilt, doch auf dem Wege zur Hinrichtung gelingt dem Helden listig (3208) die Flucht (‘Kapellensprung’) und dann die Befreiung Isolts vom Scheiterhaufen. In Begleitung Tantrisels und Kurvenals fliehen die beiden vaste in den walt (3319). All dies steht, wie der vorausgegangene Artusteil, in jener Tradition des Tristanstoffes, welche die Texte Berols und Eilharts vertreten.78 Das von dort her Bekannte wird jedoch mit bezeichnenden Modifikationen79 in einer Weise neu erzählt, die es, wie schon das rekurrente ‘abermals’ signalisiert, wiederum auf Partien von Gotfrits Tristan beziehbar macht: auf Baumgarten, Aderlaß und Bettsprung, auf Konzil, Gottesurteil und Tristans schließliche Verbannung. Daß es Heinrich von Freiberg zuvörderst auf diese Referenz ankommt, ist schon vor seiner Gestaltung des Waldlebens als Intertext von Gotfrits Grottenerzählung unübersehbar. Denn den niuwen âventiuren und smerzen des Artusteils folgt in den Abschnitten, die hier zunächst im Blick sind, ein Geschehen, an dessen Anfang niuwer muntschal (3031) steht. Dieser führt zur 76 Nur einmal noch taucht Artus wieder auf: als Scheme benützt ihn Marke für seine List der scheinbaren Abreise (3063), welche zur Entdeckung des Liebespaares führt. 77 Daß im Kontrast zwischen der aufwendigen und hypothetischen Erklärung des Aussetzens der Trankwirkung im Astrologieexkurs und ihrer kommentar- und begründungslosen Wiederkehr die schicksalshafte Nichtverfügbarkeit der minne für die Liebenden und zugleich ihre freie Disponierbarkeit für den Text zu gesteigertem Bewußtsein kommen, vermerke ich nur am Rande. 78 Vgl. Berol 805ff.; ET 3943ff. 79 Am auffallendsten wohl in Änderungen gegenüber Eilhart: Es ist nicht die Mehlstreuepisode, welche zur Entdeckung führt, sondern eine vorgetäuschte Reise Markes, von welcher er überraschend zurückkehrt; nach dem Kapellensprung spart sich Heinrichs Text Tristans Warten im Dornbusch, die Episode um den Aussätzigenherzog, sodann Markes Racheanschlag auf Utant und die Furcht der Fliehenden vor Verfolgung; neben Kurvenal haben Tristan und Isolt aus Gründen, welche vom Ende des Waldlebens her einsichtig sind, in Tantrisel einen zweiten Begleiter. Weiteres Vergleichsmaterial bei Wiegandt (1879), S. 25ff.; Singer (1897), S. 83; FT (Bernt), S. 172; Sedlmeyer (1976), S. 120f. 94 Entdeckung des Ehebruchs, welcher, wie stets in der Tristangeschichte, triuwe-Bruch – gegenüber Marke (3964ff.) – und zugleich triuwe-Wahrung – gegenüber Isolt – ist. Widersprüchliche Akzentuierungen enstehen dabei insofern, als in diesem Dilemma beide Antagonisten positiv gezeichnet werden. Marke ist der gerechte König, der in betont normgemäßem Prozeß80 durch die Verurteilung der Liebenden seine Ehre wiederherzustellen sucht. Und auf der andern Seite ist Tristan, dessen königsgleiche fürstliche Abkunft gerade hier immer wieder betont wird81, der getriuwe, der untriuwe nie gewan in dem reinen herzen sîn. (3145-3147) Diese Wertung ist, wie es der Relationalität des Begriffs entspricht, auf die triuwe gegenüber Isolt (als Treuebruch an Marke) perspektivisch bezogen. Indes läßt es der Erzähler dabei nicht bewenden. Ist Marke durch die Rechtsförmlichkeit seiner Rache objektiv gerechtfertigt, so sind es Isolt und Tristan dadurch, daß die Flucht vor Markes Schergen als Eingriff Gottes in die Geschichte inszeniert wird (3192ff.). Ein altes Motiv ist hier mit neuem Sinn ausgestattet: Gott selbst sanktioniert die Flucht und der edele künic, der guote man (3339) akzeptiert diese Deutung ausdrücklich.82 Bezogen auf die vergleichbaren Partien im fortgesetzten Roman ist das hier Erzählte also mehrfach und auf widersprüchliche Weise radikalisiert. An dieser Stelle, erstmals in der integralen Tristanhandlung, ist der Ehebruch öffentlich und unbestreitbar. Allerdings geht damit nicht nur eine gesteigerte Rechtfertigung des königlichen Handelns, sondern zugleich auch eine solche der Liebenden einher.83 Wie schon in der vorangegangenen Artuserzählung ist auch hier das gesellschaftsfeindliche Potential der Minne betont und im Gegenzug doch zugleich der Status Tristans und seiner Freundin erhöht. Es lassen sich demnach antinomische Akzentuierungen beobachten, welche den Widerspruch zwischen der Gesellschaft hier und den Liebenden dort straff spannen, ohne indes die Geschichte aus dem schwebenden Zustand der Unentschiedenheit herauszukippen. Und so auch in der Waldleben-Episode. Schon mit den rhetorischen Publikumseinreden und der Thematisierung der Nahrungsfrage (3348ff.), auch mit der Speisung des Paares durch die Minne (3370ff.) stellt sich die Erzählung neben jene von der Minnegrotte.84 Aber die Referenz ist kontrafaktischer Art. Tristans und Isolts Leben in der Waldhütte hat einen vom Minnegrottendasein grundsätzlich ge80 Die Täter werden bei handhafter Tat entdeckt (3086), es gibt Zeugen (3087), die Öffentlichkeit des Verfahrens (3104ff.) sowie die adligen Prärogative des Angeklagten (3118ff.) werden genau gewahrt. Auch daß Heinrich die Aussätzigenepisode ausspart, in welcher Eilhart Markes Rache an den Liebenden als so barbarisch wie rechtswidrig erzählt hatte (v.a. ET 4296ff.), mag sich von der Tendenz her erklären, das Verhalten des Königs als nicht ungerechtfertigt erscheinen zu lassen. 81 3130, 3133, 3199, 3207, 3234. 82 3342ff. Der altcechische Tristan (4287f.), nicht aber sein König Marke (ebd. 4453ff.), übernimmt diese Deutung. 83 Vgl. Sedlmeyer (1976), S. 121. 84 Vgl. Sedlmeyer (1976), S. 293f.; Deighton (1979), S. 275f. 95 schiedenen Fiktionalitätsstatus. Nicht Entrückung, sondern Flucht wird hier erzählt. Das Speisewunder ist nur eine Minnemetapher und suspendiert nicht von einer pragmatischen Lösung der Nahrungsfrage (3354ff.). Die Zeit ist den Liebenden nicht amorph (GT 17140ff.), sondern auf ein halbes Jahr bemessen (3381ff.). Aus Rinden, Laub und Schilf ist ihre Hütte (3328ff.), nicht aus Geschmeide, Marmor und Kristall als allegorischer Wunderbau aufgeführt. Hatte der sogenannte Münchner Tristan Gotfrits Minnegrotte handfest zum wäldlerischen Liebestempel gemacht, indem er sie der Allegorese entledigte85, so erzählt Heinrich, dies gewissermaßen noch überbietend, das Waldleben als kontrafaktische Realisierung der Grottenallegorie. Denn die Laubhütte des Liebespaares besteht just aus den verwelkten Überbleibseln jener amönen Gegend, in welcher die Grotte lag. Deren zeitlose Zeit ist endgültig vergangen, und deswegen, nicht etwa weil sie an der falschen Stelle suchten, müssen Tristan und Isolt sie verfehlen: nu suochten die gehiuren aber die fossiuren, die meister Gotfrit hât genant la fossiure a la gent amant, der minne gruobe, der minne hol, dar inne in vor was sô wol, und sie der nicht envunden. [...] (3321-3327) Die Geschichte wiederholt sich und sie wiederholt sich doch zugleich nicht. Es ist derselbe Ort, aber eine andere Zeit – zum Zeichen, daß sich mit der Zeit auch der Status der Liebenden verändert habe. Ihrer gesteigerten Rechtfertigung in der Fluchtszene folgt ein Exil, welches im dezidierten Gegensatz zur Minnegrottenentrückung die Aura der minne zerstört: Erhöhung und Erniedrigung der Liebenden folgen unmittelbar aufeinander. Und dem in ihm erreichten Niveau gemäß ist auch das Ende des Waldlebens erzählt. Als Marke nach Halbjahresfrist zufällig Isolt allein mit Tantrisel in der Wildnis entdeckt und als beobachteter Beobachter ihrem listig lügenreichen Dialog entnehmen muß, seit der Flucht sei sie stets von Tristan getrennt gewesen, da holt er seine Gattin an den Hof zurück. Tristan aber, von Tantrisel darüber informiert, wie die Königin Marke überlisten konnte, ist an der stunt von herzen inneclîchen vrô (3650f.). Um neue Konflikte in Tintajol einen weiten Bogen schlagend (3656ff.), kehrt er drâte (3677) zur weißhändigen Isolt nach Arundel zurück. Erst dort und dann gerät das Erzählte in die Bahnen jener Episodenfolge, welche als Anschluß an die Karker Hochzeit und Abschluß des Tristanromans auch von Ulrich von Türheim her bekannt ist. Tristans Weg von Arundel fort und durch die Welt der Tafelrunde und des Markehofes nach dorthin zurück war in den letzten drei Abschnitten dieser Studie im Blick. Indes, so war dabei zu sehen, trügt die Wegmetaphorik, insofern sie ein narratives Kontinuum insinuiert. Erzählt sind deutlich voneinander abgesetzte Episoden85 Vgl. Herold (1911), S. 72; Peschel (1976), S. 112ff.; Deighton (1979), S. 108ff. 96 folgen mit jeweils eigenen, gegeneinander abgeschotteten Erzählwelten. Daß Erzählte ist so organisiert, daß, versuchte man ihm über seine Zäsuren hinweg syntagmatisch narrative Kohärenz einzulesen, Widersprüche sich auftun würden: Widersprüche derart etwa, daß Tristans Ehe in Karidol und Tintajol völlig ausgeblendet ist, daß der Erste der Tafelrunder zum Tode verurteilt wird, daß der exemplarische Liebende am Ende des Waldlebens so gut wie schmerzlos von der blonden zur weißhändigen Isolt sich wendet. Auf der Ebene des Handlungsganges oder einer im neuzeitlichen Sinn verstandenen Identität der Protagonistenfigur wird man die erste Hälfte von Heinrichs Roman nicht völlig stimmig bekommen, denn offenbar ist anderes belangvoll, um dessentwillen ‘Inkohärenzen’ der angedeuteten Art ignoriert, gebilligt oder gesucht werden: Darunter an erster Stelle der stete Rückbezug auf frühere Stadien der Tristangeschichte, wie er in der Neuaufnahme szenischer und konstellativer Modelle aus Gotfrits Roman (list- und arcwân-Handeln, Gerichtsprozeß, hoffernes Waldleben) sowie immer wieder auch in der epischen Realisierung von metaphorisch Vorgegebenem (Ritterschaft, Besudelung des königlichen Betts, Laubhütte) zutage tritt; daß auf solche Realisierung das Klischee vom ‘Realismus’ späthöfischen Erzählens nicht sich stützen kann, bedarf kaum der Erwähnung. Neuaufnahme ist dabei ein Akt der Selektion und Segmentierung, sie reproduziert nicht ein vorgefundenes narratives Kontinuum, und sie fügt, die Zäsuren in Heinrichs Text zeigen es, auch nicht das aus dem fortgesetzten Roman herausgefilterte szenische, motivische und thematische Material zu neuer Kontinuität zusammen.86 Wichtiger nämlich ist ihr das Deutungspotential, welches dem Bezug auf Gotfrits Torso und in Konkurrenz zu diesem eingeschrieben ist. Und auch diese Deutungen, so war in den bisherigen Analysen zu sehen, ließen sich nur paradoxerweise auf eine Reihe bringen. Der Freiberger beginnt im ersten Teil seines Romans nach der Karker Hochzeit und einer tiefgreifenden Zäsur gewissermaßen neu zu erzählen. Dabei radikalisiert er nicht den Konflikt zwischen den Liebenden und der höfischen Gesellschaft, zwischen minne und êre, den die Tristangeschichte episch faßt. Jedoch verschärft er in einer Reihe gegenläufiger Akzentuierungen die Wertungsprobleme, welche jene Handlungs- und Figurenkonzepte aufgeben, in denen der genannte Konflikt erzählerisch 86 Dieses Selektions- und Segmentierungsverfahren erklärt sich nicht dadurch, daß Heinrich neben dem Referenztext von Gotfrits Tristan noch eine andere Quelle benützte, denn auch dieser gegenüber geht seine Fortsetzung auswählend und neustrukturierend vor. Die Makrostruktur von Eilharts Episodenfolge: Entdeckung / Gericht / Flucht / Waldleben / Verbannung Tristans Artushof / Wolfseisen - Arundel / Heirat, ist bei Heinrich nämlich, um nur hiervon jetzt zu reden, gewissermaßen geradezu von ihrem Ende her aufgerollt: Arundel / Heirat - Artushof / Sensenfalle - Entdeckung / Gericht / Flucht / Waldleben / Rückkehr Tristans nach Arundel. Manche jener Differenzen im Einzelnen, zumal an den Scharnierstellen der drei großen Erzählteile, welche zwischen Eilharts und Heinrichs Text bestehen und der Quellenforschung Probleme aufgaben (vgl. die oben Anm. 1 genannten Untersuchungen), erklären sich eben im Kontext dieser grundsätzlichen Neuorganisation des Episodenmaterials. - Wie fast immer in diesen Studien erweist also auch hier der Blick auf Stoffquellen und Parallelen eines Erzählzusammenhangs dessen konzeptionelle Eigenständigkeit, und ihren impliziten methodischen Prämissen gemäß haben solche Synopsen auch stets allein heuristische Funktionen. 97 verwirklicht wird. Tristans Ehe und seine Aufnahme in die Tafelrunde und die wüsten Ereignisse der Nacht der langen Sensen, Markes juristische und der Liebenden göttliche Rechtfertigung, diese Sanktion und der Status der Liebenden während des Waldlebens (wie er zumal im Rückverweis auf das Grottendasein bei Gotfrit deutlich wird), die erzählten Episoden also und auch die in ihnen, sei es strukturell, sei es im Erzählerkommentar oder in intertextueller Bezüglichkeit angelegten jeweiligen Wertungen sperren sich harmonisierender Deutung. Die Kohärenz des Erzählzusammenhangs ist jedenfalls nicht eine der immanenten Widerspruchsfreiheit. Wohl aber es gibt eine funktionale Einheit dieser Widersprüche, denn sie halten die erzählte Geschichte in der Schwebe, lassen ihr Ende offen. Was in den bisher erörterten Romanteilen sich ereignet, kann Vorgeschichte zum guten wie zum schlechten Schluß, zur harmonischen Lösung des Konflikts zwischen Liebe und Gesellschaft wie zu seiner katastrophischen Quittierung sein. Gotfrit hatte, so machte etwa Klaus Grubmüller von der Problematik des Gottesurteils her deutlich, „nicht irgendeine ‘Lösung’, sondern de[n] Konflikt“ erzählt.87 Dies ist die Sicht des Freibergschen Textes nicht. Er zielt nicht auf die Permanenz des Konflikts, sondern auf dessen Lösung, aber so, daß diese hinausgeschoben, anstatt von vorneherein determiniert ist. In der Suspendierung solcher Determination, so lautet meine These, liege die Funktion des in einem frühen Stadium der Geschichte von Tristan und Isolt neu einsetzenden und alternativ akzentuierenden Erzählens dieser Tristanfortsetzung. Ihr Proprium, wenn man so will, ist zunächst gewissermaßen das Tertium zwischen permanentem Konflikt und eiliger Konfliktlösung: nämlich die aufgeschobene und nicht vorhersagbare Lösung. Interpretiert man Heinrichs Tristan in dieser Weise, dann greift man zunächst ganz grundsätzlich die Situation eines Fortsetzers, der nicht schnellstmöglich zu Ende kommen, sondern Erzählraum gewinnen, also in einer gewissen Unabhängigkeit gegenüber vorfindlichen Festlegungen und Strukturierungen, weitererzählen will. Die Zäsuren eines immer wieder neu einsetzenden narrativen Vorgangs, welchen das Augenmerk meiner Interpretation bisher auch galt und weiterhin gelten wird, sind offenbar eine der Funktionen dieser Situation. Sie erscheinen als Instrumente, mit dem narrativen Kontinuum die zielstrebige Logik des Erzählten zu zersetzen, sie erscheinen als Darstellungsmittel, welche, ebenso wie die Widersprüche von Handlungskonstellationen und die Antinomien von Wertsetzungen, eine teleologische Entwicklungsdynamik der Geschichte gar nicht erst entstehen lassen oder gegen die Erwartungen von Rezipienten unterlaufen, die mit der Stofftradition vertraut wären.88 Prognostizieren läßt sich, wenn man der Perspektive allein seines Textes sich anvertraut, am Ende von Heinrichs Waldlebenepisode der Fortgang des Geschehens nicht. Möglich hingegen ist (fast) alles, und darum hat auch jener partielle Trugschluß, welcher dieses Ende markiert, seine vorläufige Plausibilität: der künic [Marke] nam die künegîn [Isolt] und vuorte sie mit im hin wider 87 88 Grubmüller (1987), S. 163. Vgl. etwa Haug (1989a), S. 602f. 98 heim und lebete mit ir sider gar minnenclîchen alle vrist. (3604-3607) So wäre die Erzählung jedenfalls mit dem Strang dieser einen Ehegeschichte an jenem Ziel, welches der Erzähler zu Anfang (281ff.) sich schon imaginiert hatte. Dabei ist der erreichte Status keineswegs völlig instabil. Als Isolt und Marke das nächstemal ins Licht der Erzählung geraten, da findet sie Tinas von Litan, der eine Wiederbegegnung der Königin mit Tristan zu arrangieren gekommen ist, gar minnenclîchen [...] sitzen bî einander (4145f.). Beschäftigt sind sie mit dem Schachspiel der Liebenden: ir ougen blicke lieplîch vlugen über das bret ofte entwer und verschränken sich von einem hin zume anderen her, von einem her zume anderen hin.89 5. Wiederbegegnungen: Dem Zustand ehelicher Wertrealisierung in Tintajol wäre seine Auflösung schon eingeprägt, wenn denn jene Handlungszüge, zu denen er freisetzt, im Erzählprozeß auch auf ihn bezogen würden. In der Umkehrung der Heinrichs Romanfortsetzung eröffnenden Konstellation nämlich, in welcher Tristans Entscheidung zur Ehe die blonde Isolt für Marke hätte frei machen können, ermöglicht jetzt eben deren Rückkehr zum Gatten die erneute Wendung des Liebhabers zur weißhändigen Arundeler Herzogstochter. Nach einer abermals unübersehbaren Zäsur (3676) langt Tristan dort an, wo er schon einmal war. Und der Roman gewissermaßen auch.90 So häufen sich die Sprachformeln des Wiederholens. Blanschemanis erwartet erneut (3689) hoffnungsfroh ihren Gatten, der indes wiederum (3701) die blonde Isolt im Herzen trägt und aber als ein ron (3714) im Bett liegt. Abermals wird die formale Verbindlichkeit der Ehe hervorgehoben (3870ff.), abermals spielt Tristans herrschaftliche Einbindung ins Karker Herzogtum kaum eine Rolle (vgl. 4016ff.), und abermals muß er sich, diesmal vor Kaedin, legitimieren mit einem vermeintlichen Gelübde, welches – wie das ganze Rechtfertigungsgespräch – bis in die Formulierungen hinein auf entsprechende Partien des ersten Arundel-Teils zurückverweist.91 Anlaß zu diesem Rechtfertigungsgespräch ist, daß Isolt Weißhands Bruder Kaedin in der Episode vom ‘Kühnen Wasser’ von Tristans Verweigerung des Ehevollzugs 89 4148-4151. Der Trugschluß dieses versöhnten Zusammenlebens von König und Königin ist freilich zugleich ein Gegenentwurf zu ihrer Versöhnung nach der Heimberufung von Isolt und Tristan aus der Minnegrotte, welche auf dem ausdrücklichen Verbot des Spiels der Blicke zwischen den Liebenden und auf Markes Verblendung beruhte (GT 17716ff.). 90 Vgl. Sedlmeyer (1976), S. 140. 91 Vgl. etwa 3826 : 1000, 3836 : 1001 und 1012, 3837f. : 1009, 3876 : 1043, 3894ff. : 1053ff., 3897 : 1054, 3914ff. : 1082ff., 3924 : 1089. 99 erfährt und ihn zur Rede stellt. Die Folge ist die zweite Fahrt nach Cornwall, welche Tristan mit Kaedin unternimmt, um diesem zu beweisen, daz sie das hundel [Petitcreiu] habet baz, mîn vrouwe dort, mîn ander Isôt, wen mirz noch ie alhie erbôt Isôt die wîzgehande. (3978-3981) Der an dieser Stelle einsetzende Erzählzusammenhang stimmt bis zum Ende der Folie und darüberhinaus bis zum Abschluß der Nampotanis-Episoden im Gerüst von Handlungszügen und Szenenaufbau grundsätzlich zu Ulrichs von Türheim Tristanfortsetzung. Heinrichs augenfälligste Abweichung liegt dort, wo er zwischen der Wiederbegegnung der Liebenden im Blanken Lande und der Narrenepisode auf die Verfolgung Kurvenals durch Pfelerin (Pleherin bei Ulrich), die Aussätzigen- und Knappenepisode sowie das zweite Gespräch Markes mit seinen Höflingen verzichtet. Der jüngere Text führt also jenen Prozeß der Straffung der Wiedersehensepisoden, welchen schon Ulrich gegenüber Eilhart in Gang gesetzt hatte, weiter. Dabei wird, ähnlich wie in der Kurzfassung des Türheimschen Tristan, schon durch die Selektion des Episodenmaterials jene viertaktige Erzählstruktur zerstört, nach welcher Ulrich die Folge der Wiederbegegnungen und die Kaedin-Kassie-Geschichte geordnet und also gedeutet hatte.92 Stoffgeschichtliche Selektionsakte freilich sind stets Vorgänge der Neuorganisation und Neuinterpretation des Erzählten. Ich folge diesen Vorgängen im zweiten Teil von Heinrichs Roman nun mit schnelleren Schritten als in den vorangegangenen Abschnitten dieser Studie und markiere dabei vor allem jene Stellen, an denen ich auch in den szenischen Details des Erzählten das bedeutungsvoll Spezifische von Heinrichs Text sehe. Wie es in der Geschichte des Stoffes Tradition hat, kann die weißhändige Isolt in der Episode vom ‘Kühnen Wasser’ ihr eheliches Mißgeschick nicht für sich behalten. Der Vorgang selbst, der Tritt in die Pfütze ist allerdings bei Heinrich in spezifischer Weise und intertextueller Auseinandersetzung mit alternativen Erzählweisen inszeniert. Thomas hatte Isolts Pferd in eine Pfütze treten lassen und sich dann in einer extrem komplizierten Motivierung mit dem Problem auseinandergesetzt, wie das emporspritzende Wasser an die Innenseite der Oberschenkel der Reiterin hatte gelangen können.93 Heinrich hingegen läßt die Pfütze aus dem Brunnen eines locus amoenus gespeist sein, er läßt Isolt zum Blumenpflücken vom Pferd steigen und zu Fuß ins Wasser treten.94 Dies zielt auf eine Lösung des Begründungsproblems und darauf, die Szene in die Welt des Höfischen hereinzuholen: Räumlich wird sie aus dem Grenzsaum der höfischen Welt in deren amönes Zentrum verlagert, ästhetisch aus dem Be92 Vgl. oben II.3.4. Thomas 1143ff. (und dazu den Kommentar von Bonath S. 359ff.); vgl. auch Tristrams Saga cap. LXXXII. Ulrich (TT 386ff.) und Eilhart (ET 6144ff., danach der altcechische Tristan 6424ff. sowie der Prosaroman Z.3335ff.) motivieren anders oder gar nicht. 94 3767ff. Zur Stoffgeschichte des Motivs (Diarmaid und Grainne) vgl. Schoepperle (1960), S. 413ff. 93 100 reich des Häßlichen und Zufälligen in jenen des Wohlbegründeten und Schönen verschoben, denn es ist das ästhetische Interesse Isolts, welches, als Blumenpflücken episiert, das Geschehen in Gang setzt (3762ff.). Daß das Ziel des aufspritzenden Wassers mit einem Zitat des hübsche[n] Nîthart (3780) als jener kleine Anger verblümt wird, aldâ die brûnen bluomen stân95, unterstreicht diese Tendenz zur höfischen Inszenierung, welche an dieser Stelle als Signal auch für das Folgende fungiert. Denn anders als in den Vergleichstexten wird im vorliegenden Roman Tristans Verweigerung des sexuellen Ehevollzugs im Anschluß an die Episode vom ‘Kühnen Wasser’ gerade nicht der Öffentlichkeit des Karker Hofes, sondern allein Kaedin bekannt.96 Es kann darum nicht zum Skandal und Rechtskonflikt zwischen dem Gatten und der familia der Braut kommen.97 Dies seinerseits erlaubt es, die Abreise Kaedins und Tristans nach Cornwall (wie Tristans frühere Fahrt zu Artus) als aventiurehaften Auszug höfischer Ritter im Dienst der minnenclîchen wîp (4028) in Szene zu setzen und unvergleichlich viel knapper als bei Ulrich zu erzählen (4025ff.). In diesem Rückgriff auf ein konventionalisiertes Handlungselement wie darin, daß schon Tristans Bereitschaft zur Begründung seiner ehelichen Abstinenz den erzürnten Schwager Kaedin besänftigt98, bemerkt man jene schon im Pfützentritt der Blanschemanis angedeutete Tendenz zu höfischer Stilisierung, welche hier nun als Strategie möglichster Konfliktvermeidung fungiert. Auch in solcher Drosselung von Antagonismen kommt Tristans zweiter Karker Aufenthalt mit seinem ersten als dessen Wiederholung überein. Gleichwohl bleibt selbstverständlich nicht alles beim alten, denn anders als die erste verändert Tristans zweite Einkehr bei der weißhändigen Isolt nicht seinen Status. War jener Erzählzusammenhang vorwiegend kausal als vorläufiger Abschluß der an Gotfrits Fragmentende offenliegenden Handlungsstränge begründet, so ist nun hier die Episode in Arundel vor allem final als Motivierungskomplex für die Rückkehr zur blonden Isolt angelegt. Sie ist deswegen gegenüber den vorangegangenen Erzählabschnitten (Waldleben usw.) deutlich abgegrenzt, hingegen mit den folgenden durch Thema, Personenkonstellation und Raumkonzeption verknüpft. Tristan muß seine Rede über die Schönheit der blonden Isolt augenscheinlich verifizieren, er reist darum mit Kaedin, und die Reise ist als Überbrückung räumlicher Distanz szenisch elaboriert (4056ff.). Der Weggang von Arundel, die Rückkehr zur Geliebten ist diesmal nicht als Eintritt in eine neue Welt erzählt. Solches hat auch insofern seine Logik, als es sich nur für Kaedin um eine neue Welt (4392), für Tristan aber um die Rückkehr in Bekanntes handelt (4104); und dies so sehr, daß die Erzählung und ihr Protagonist eine narrativ markierte Motivierung der Reise auch von der 95 3782; das Zitat wird 5966ff. wiederholt, es bezieht sich offenbar auf (Pseudo-)Neidharts Lied 74,IV (Beyschlag = Haupt XXIX,2ff.); vgl. Milnes (1949), S. 133f. Bei Bertau (1972/73), S. 1038f., sind aus den braunen in einer wahrhaft interpretationswürdigen Fehlleistung blaue Blumen geworden. 96 3817, 3860ff., 4016. Heinrich steht mit diesem Detail anscheinend in der Thomas-Tradition: vgl. Tristrams Saga cap. LXXXIIIff.; Sir Tristrem Str. CCLXVff.; und dagegen ET 6181ff., TT 460ff. 97 Vgl. oben S. 26, 28f. 98 Vgl. 3888ff., 4004ff. 101 blonden Isolt her, wie sie in Ulrichs Episode vom gefleckten Reh gegeben wird, entbehren können. Das Handlungsgeschehen nun, das im derart Vertrauten seinen Platz hat, ist durch Selektion des stoffgeschichtlich verfügbaren Episodenmaterials prägnant zweiteilig geworden. Es umfaßt die Wiederbegegnungen der Liebenden im Blanken Lande sowie in der Folie. Wie in der Türheimschen Tristanfortsetzung dienen dabei Stationen beim Truchsessen Tinas in Litan99 als kohärenzstiftende Strukturierungszeichen. Sie grenzen die Wiederbegegnungsepisoden gegeneinander und gegen ihr narratives Umfeld ab. Solche Grenzziehung ist indes eine Weise zugleich der Vermittlung zwischen benachbarten Erzählzusammenhängen, und dieser narrativen Funktion seiner Szenen ist die Handlungsrolle des Truchsessen gemäß. In der Schachspielepisode (4144ff.), deren kunstvolle Regie das Spiel des ehelichen Liebespaares Marke und Isolt im Zeichen weiblichen list-Handelns zum Bild des Ehekrieges verformt, vermittelt Tinas das Zusammentreffen der außerehelich Liebenden im Blanken Lande. Während Markes Hofjagd wird Isolt dort in prunkvoller Prozession vor dem Versteck Tristans und Kaedins erscheinen, zärtlich das Hündchen Petitcreiu streicheln und so dem Geliebten zum Wettsieg über Kaedin verhelfen. Lediglich ein kleiner Schwächeanfall der Königin, welcher der minne smerze geslagen an das herze [was] (4617f.), verzögert das Arrangement des nächtlichen Beilagers der Liebenden im Zelt, nach welchem nun Tristan, inzwischen zu Tinas zurückgekehrt, seinerseits krank wird. Diese Krankheit, von der der Held dank einer Arzneimittelsendung Isolts wieder genesen kann (5034ff.), schlägt motivisch eine erste Brücke zum Liebestod100, strukturell und thematisch wiederholt sie Isolts Minne-Schwächeanfall im Blanken Land101, handlungslogisch verklammert sie die dortige Wiederbegegnung mit derjenigen in der Narrenepisode. Denn erst das elende Äußere des Rekonvaleszenten bringt Tantrisel, der zwischen den Liebenden den Boten spielt, auf die Idee, Tristan könne in der Verkleidung eines Narren erneut zu Isolt ziehen.102 Heinrich hat diesen Erzählzusammenhang von Tristan als Narr episodisch fest gefügt. An seinem Anfang wie an seinem Schluß markiert die Betonung der Diskrepanz zwischen dem Status des Protagonisten und seiner Erscheinung103 die Äußerlichkeit einer Narrenrolle, welche diesen Status nicht verändert. Dazwischen kommt vor allem dem Motiv, daß der Narr am Ohr gezogen werden könne, verklammernde und strukturierende Funktion zu. Das Ohrenziehen als Instrument gesellschaftlicher Kon99 Vgl. 4095ff., 5011ff., 5681ff. Die Konstellationsanalogien (Trennung, Isolts Heilungsmonopol und ihre Hilfsbereitschaft) sind so klar wie die Unterschiede (Minnekrankheit statt Kampfwunde, ungestörte Hilfe aus der Distanz statt des durch Blanschemanis vereitelten Hilfsversuchs aus der Nähe, Heilung statt Tod); vgl. Sedlmeyer (1976), S. 129. 101 Nach der Liebkosung Petitcreius erleidet Isolt ihren Schwächeanfall (4606ff.), nach der Liebesnacht mit dieser wird Tristan krank (5025ff.). Beidemale handelt es sich um Formen der Minnekrankheit (4617ff., 5034f., 5050ff.), deren Bezüglichkeit stoffgeschichtlich nicht vorgegeben ist. 102 5099ff. In der Folie de Berne zum Beispiel ist die Narrenverkleidung Tristans eigener Einfall (105ff.), bei Eilhart gibt Tristans namenloser Neffe (ET 8695ff., vgl. auch Prosaroman Z. 4696ff.), bei Ulrich Isolt selbst den Rat (TT 2418f., 2479ff.). 103 Vgl. 5140f., 5689f. 100 102 trolle und damit als Bild für das Verhältnis des verkleideten Tristan zu Markes Hof gelingt nur in der Öffentlichkeit dieses Hofes (5202ff.), nicht aber in der Heimlichkeit von Isolts Kemenate (5474ff.), und es kann schließlich bei Tristans Flucht in einer gut erfundenen Lüge die Tötung von Markes Mann Pfelerin durch den Narren begründen (5635ff.). Heinrich entwickelt diese Episodenklammer aus einem Motiv Eilharts104 und erreicht eine Geschlossenheit seiner Narrenerzählung, welche der strengen funktionalen Begrenzung von Tristans Narrenrolle entspricht. Das mit dieser Rolle bei Eilhart105, Ulrich106 oder in der Berner Folie107 – wie rudimentär auch immer – verwobene Motiv von der Selbsterniedrigung Tristans im Frauendienst spart der Text ebenso aus wie die komischen Möglichkeiten, den Liebhaber im Schutze der Verkleidung vor dem König seine wahre Beziehung zur Königin aussagen zu lassen. In der Narrenrolle kommt weder, wie in vergleichbaren Passagen von (Pseudo)Konrads von Würzburg Halber Birne, das bedrohliche Innen des Subjekts zum Vorschein, noch wirkt sie katalytisch im Hinblick auf die Freilegung gesellschaftlicher Defizite.108 Hofgesellschaft und Königin bleiben wertstabil, denn die Verkleidung dient, instrumentell ganz auf den Handlungsfortgang bezogen, lediglich dazu, die huote des Hofes zu unterlaufen: Sie ist eine unter mehreren Möglichkeiten Tristans, Isolt wiederzusehen. Was hier aufscheint, ist nichts als die Distanz zwischen der Welt der Liebenden und der des Marke-Hofes. Sie findet in Heinrichs Text in der Ausstattung von Handlungsräumen109, Handlungsmustern (Überlistung) und unterschiedlichen Handlungsrollen wie denjenigen des Artusritters und des Narren gleichermaßen ihr Bild. Dabei zeigt sich diese Funktionsäquivalenz von Tristans Rollen auch noch an deren Folgen. Artusritter- und Narrenrolle bewirken einerlei: Chaos am Hof als Bedingung der Möglichkeit des Liebesvollzugs.110 So ändert sich nichts. Wieder muß Tristan die Geliebte vor der drohenden Entdeckung verlassen. Erst nachträglich identifiziert Pfelerin den Narren und verfolgt ihn. Jedoch kann Tristan den Verfolger töten und 104 Vgl. ET 8836, ähnlich ET 8905. Vgl. ET 8830ff. usw.; dazu Prosaroman Z. 4770f. 106 Vgl. TT 2525f. 107 Vgl. Folie de Berne 124ff. usw. 108 Die Wahl des schwankhaften Verweistextes ist an dieser Stelle weniger arbiträr, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Pseudo-Konrads Halbe Birne weist nämlich verblüffende Parallelen der Konstellation und des Motivinventars mit der von Heinrich erzählten Folie Tristan auf, welche ich hier nur ausschnittsweise benenne: ein Helfer rät zur Narrenrolle (128ff.: FT 5099 ff.); der Narr prügelt die Knechte des Königs (194ff.: FT 5212 ff. usw.); es gilt die Handlungsnorm, Toren ihre Torheit nachzusehen (203ff.: FT 5304ff. u.ö.); der Narr liegt vor der Tür der Dame (207ff.: FT 5341ff., 5452ff.); eine Hofdame versucht die Begegnung von Narr und Dame zu vereiteln (238ff.: FT 5379ff.). Solche Beobachtungen mögen eine Neuinterpretation der Halben Birne vor dem Hintergrund von Tristan-Konstellationen mit Rücksicht auf Gattungsgrenzen überschreitende intertextuelle Bezüge anregen, welche auch zu bedenken hätte, daß der Ritter Arnolt als Narr eben so bei seiner Königin liegt (340ff.), wie Tristan bei Blanschemanis und Kaedin bei Kamele. Vgl. auch Müller (1983). 109 Vgl. Waldlebenepisode (3319ff.), den Fluß, der Markes und Isolts Ort im Blanken Lande scheidet (4635, 5016), das Zelt als Ort der Liebesbegegnung im Blanken Land (4680ff.). 110 Vgl. 2895ff., 5219ff. 105 103 über Litan nach Gamaroch entkommen, wo er dem Freunde Kaedin bei seiner Affäre mit Kassie hilfreich ist. Auch dieser letzte große Erzählzusammenhang vor dem Liebestod ist in Heinrichs Tristanfortsetzung seinen Grundzügen nach wie bei Ulrich von Türheim erzählt, und von den handlungslogischen Rahmenbedingungen her gab es zu Änderungen auch keinen Anlaß: Im Kampf gegen Nampotenis, der sich für die ehebrecherische Besudelung seiner männlichen Ehre rächen will, empfängt Kaedin den Tod und Tristan jene vergiftete Wunde, an welcher er den Liebestod sterben wird. Dabei ist die Rolle des betrogenen Ehemanns, in der schon von Ulrich vorgezeichneten Linie, positiv akzentuiert.111 Ihm flechten Kaedin und der Erzähler Kränze positiver Epitheta112, er hat sich nicht durch Neigungen zu zwanghaft übermäßiger huote disqualifiziert und ihm sind, bei Heinrich anders als beim Türheimer, der Betrüger und sein Handlanger nicht nur als Landesnachbarn, sondern auch als fürstlich bewirtete Gäste (5805ff.) konkret rechtlich verpflichtet. Wie durch Tristan gegenüber Marke, so ist hier durch Kaedin mit dem Ehebruch zugleich die Verletzung verbindlicher Treueverpflichtungen gegenüber dem Betrogenen vollzogen. Damit scheint auch in Heinrichs Roman jener Zusammenhang der Liebesgeschichten Kaedins und Tristans auf, welcher bereits im Zentrum meiner Interpretation von Ulrichs Tristanfortsetzung stand. Freilich ist dieser strukturelle Nexus hier nicht, wie dort, durch die Verwendung einer identischen Strukturformel für die beiden Erzählordnungen der Liebesgeschichten unterfangen, und er kann es schon deswegen nicht sein, weil Heinrich bei der Konstruktion der Wiederbegegnungsabenteuer von Tristan und Isolt diese Formel nicht benützte. An die Stelle der Strukturanalogie treten jedoch motivische Korrespondenzen113 und solche der Handlungskonstellation114, sowie vor allem ein eindeutiger Erzählerkommentar: Her Tristan, was iuch ê wol in dem gezelde bî Tintajol, dô iuch die küneginne gap ire süeze minne und die maget Kamelîne alsô efte Kâedîne 111 Vgl. auch Sedlmeyer (1976), S. 131f., und oben S. 37. Vgl. 5744ff., 5805ff. 113 Der Weg zur sexuellen Erfüllung ist für Tristan wie für Kaedin ein grenzüberschreitender Durchgang durch den gehegten Wald als Zwischenbereich zwischen Wildnis und höfischer Zivilisation (4345ff., 5638, 6031ff., 6053ff., 6105, 6156f.); umgekehrt ist die Verfolgung des Ehebrechers durch den Betrogenen oder dessen Helfer in beiden Fällen bis in die Wortwahl hinein (5563ff., 6182ff.) analog erzählt. Bezüge zwischen den beiden Liebesgeschichten stiftet auch die jeweilige Motivation der Trennung des Paares durch die Furcht vor Entdeckung (5498ff., 6098), sowie die Stilisierung von Kaedins Sterben zu einem Liebestod in wörtlicher Vorwegnahme der späteren Klage des Erzählers um Tristan (6232, 6420 usw.). Vgl. weiterhin Sedlmeyer (1976), S. 100, 132. 114 Die ehebrecherische Dreieckskonstellation; die Jagd als Möglichkeit, den Ehemann zwischenzeitlich aus dem Gesichtsfeld zu befördern; die Vergnügungen des Freundes des Liebhabers bei den Hofdamen der Geliebten. 112 104 mit irem zouberküsselîn? des wil er nû ergetzet sin.115 Dieserart ist die Kaedin-Kassie-Handlung auf die Geschichte Tristans, aber auch auf die darin eingeschlossene kleine Episode mit Isolts Hofdame Kameline bezogen, die Ulrich Kamele nannte. Solche Handlungskoordinierung ist bei Heinrich wie bei seinem Vorgänger eine der zentralen Sinnkonstitutionsleistungen der Tristanfortsetzung, wenn sie auch zu andern Ergebnissen als im konkurrierenden Text führt. Dies wird sich deutlicher zeigen lassen, nachdem die Ergebnisse der bisherigen Untersuchungen, insofern sie die narrative Struktur des Freibergschen Romans betreffen, in einen Gesamtzusammenhang gebracht worden sind. 6. Strukturelle Kohärenz und Trug-Schlüsse: Bei allen Unterschieden des Erzählten wie seiner Deutung im Akt der Narration ist den Gotfrit-Fortsetzungen Ulrichs von Türheim und Heinrichs von Freiberg dies gemeinsam, daß sie den Stoff in einer fünftaktigen Grobstruktur organisieren, die sich aus einem Einleitungsteil (Hochzeit in Karke), einem dreigliedrigen Hauptteil und einem Schlußteil (Liebestod in Karke) zusammensetzt. Und wie der Blick auf die stoffgeschichtlichen Relationen von Ulrich zu Eilhart sowie von Heinrich zu jenen beiden zeigt, sind die narrativen Ordnungen Aktualisierungen je eigenständiger Erzählkonzeptionen, sind sie also von den spezifischen Begriffen der Tristangeschichte nicht abzulösen, welche die Fortsetzungen jeweils vermitteln. Differenzen der narrativen Fügung sind und indizieren unterschiedliche narrative Sinnkonstitution. Ulrich erzählte im Hauptteil seines Romans die Wiederbegegnungsabenteuer von Tristan und Isolt sowie die Affäre zwischen Kaedin und Kassie als Exposition, Durchführung und Reprise eines strukturell vermittelten Themas. Heinrich bricht dieses Ordnungsmodell auf, erweitert das Erzählte unter stoffgeschichtlichem, nicht aber auch erzählstrukturellem Rückgriff auf Eilharts Tristrant um einen umfangreichen ersten Teil (‘Artushof’ bis ‘Waldleben’), strafft dafür die zweite Reihe der Wiederbegegnungen des Liebespaares und bringt alles in eine neue dreigliedrige Ordnung. Deren äußere Grenzen und interne Strukturierung werden stets von einem Aufenthalt Tristans in Arundels Hauptstadt Karke markiert. Schematisch verkürzt läßt sich das so gewonnene Gerüst des Handlungssubstrats von Heinrichs Tristan etwa wie folgt darstellen116: 115 6079-6086 (Text im Anschluß an Hs. F; die Handschriften OE formulieren dies nicht als Erzählerfrage an den Protagonisten, aber ansonsten gleichlautend). 116 Dabei dient die Auswahl der Stichworte in erster Linie der Identifikation der Erzählblöcke, erst in zweiter Linie dem Hinweis auf strukturelle Bauformen des Romans. Zwei Zuordnungsentscheidungen des Schemas bedürfen gesonderter Begründung: 1. Artushandlung und ersten Teil der Markehandlung rücke ich trotz der mit dem Rückzug der Tafelrunde aus der Welt von Tintajol gegebenen Zäsur zueinander, vgl. zur Begründung oben S.79 und Anm.14. - 2. Tristans Ehevollzug mit Isolt Blanschemanis (Karke III) gehört erzählchronologisch zwischen die Phase der Vorbereitung und jene des Vollzugs von Kaedins Ehebruch mit Kassie (5951-5972), er ist dort mit der Anfertigung von Nachschlüsseln zur Burg des Nampotenis bei einem Karker 105 KARKE I (Isolt Weißhand) Heirat Verweigertes Beilager Fest (Schein der Ehe) Tristans vermeintliches Gelübde Abschied KARIDOL / TINTAJOL I (Artus / Marke) Tafelrunde Sensenfalle Gericht Flucht Waldleben KARKE II (Isolt Weißhand) Verweigertes Beilager Kühnes Wasser (partiell zerstörter Schein der Ehe) Tristans vermeintliches Gelübde Abschied TINTAJOL II (Marke) Tinas Blankes Land Tinas Folie Flucht Tinas KARKE III (Isolt Weißhand) Ehevollzug GAMAROCH (Nampotenis) Kaedin und Kassie Flucht (Kaedins Tod, Tristans Verwundung) KARKE IV (Isolt Weißhand) Liebestod Die Stichworte greifen verschiedene Aspekte der einzelnen Episoden, Handlungsraum, Personage, Motive und Thema heraus, weil der Zusammenhalt epischer Makrostrukturen stets als Komplexion unterschiedlicher Textebenen aufgebaut wird. Erst so können Korrespondenzen zwischen den Erzählabschnitten als Elementen der Sinnkonstitution des Romans sichtbar werden, von denen einige, die sich aus den vorgetragenen Interpretationen zwanglos ergaben, bereits in das Schema eingetragen sind. Andere Strukturzusammenhänge, die dank der Simultaneität und Abstraktions- Schlosser zusammengekoppelt; das Schema rückt die Episode hingegen an ihren handlungslogischen Ort innerhalb der Tristangeschichte. 106 leistung des Schemas jetzt leichter zu sehen sind, als bei den Schritten sukzessiver Textaneignung, kommen hinzu. Auf der thematischen Fluchtlinie von Heinrichs Roman liegen die vier großen und narrativ elaborierten Liebesbegegnungen von Tristan und Isolt in den Episoden ‘Sensenfalle’, ‘Waldleben’, ‘Blankes Land’, ‘Folie’.117 Wenn man diese so auf eine Reihe bringt, zeigt sich ein naheliegender Zusammenhang zwischen dem jeweiligen Handlungsraum und zugehörigen Inszenierungsformen. ‘Waldleben’ und ‘Blankes Land’ sind an der Peripherie der höfischen Welt situiert und von deren Zentrum durch Grenzmarkierungen118 geschieden. Nur unter dieser Bedingung können die Liebenden ganz unverstellt bei sich sein. In der Mitte des Hofes hingegen (‘Sensenfalle’, ‘Folie’) gelingt dies nur bei komplizierter Absicherung durch die Übernahme spezifischer Rollen (Artusritter, Narr). Das Alternationsschema aber, das darin steckt, läßt sich seiner Tendenz nach über die Tristan-Isolt-Handlung hinaus zurückverfolgen. Schon der Wechsel des Protagonisten von Arundel zum Artuskreis war ein Wechsel aus dem Zentrum einer höfischen Welt an den Rand einer anderen (Aventiurewald) gewesen. Daran schließt der Viertakt der eben genannten Wiederbegegnungsepisoden an, der zwischen ‘Waldleben’ und ‘Blankem Land’ von Tristans zweitem Aufenthalt am Karker Hof unterbrochen wird. So ergibt sich folgende Sequenz: Arundel I Aventiurewald Sensenfalle Waldleben Arundel II Blankes Land Folie Zentrum höfischer Welt Peripherie höfischer Welt Zentrum Peripherie Zentrum Peripherie Zentrum Begegnungen mit Isolt Tristan schreitet bis zum Vollzug der Ehe mit Isolt Weißhand gewissermaßen höfische Welt in ihrer ganzen Ausdehnung ab. Dabei muß er im Zentrum und an der Peripherie dieser Welt distinkte Aktionsmuster befolgen. Erst im Gamarochteil kann ein Liebender, nämlich Kaedin, in der Mitte des Hofes als er selbst und ohne jede Verkleidung mit der Geliebten zusammensein – und das endet tödlich. Was ich hier fasse, läßt sich auf einer anderen Textebene bei geringfügig verschobener Episodenselektion als strukturierte Folge von Integrations- und Desintegrationsprozessen beschreiben und in die Kaedin-Geschichte hinein verlängern. Tristans ritterliche Aufnahme in die Tafelrunde führt über die Reintegration in Markes Hofgesellschaft zur völligen sozialen Desintegration, zur Flucht in die Zweisamkeit hoffernen Waldlebens, also ins Liebesglück mit der blonden Isolt. Das Schema wiederholt sich in der Narrenepisode (Integration als Narr am Hof119 und Desintegration wiede117 Die nicht erzählte, sondern als Voraussetzung ihrer Entdeckung nur stichwortartig resümierte Liebesbegegnung vor dem Gerichtsverfahren gegen die Liebenden (3005ff.) kann unter erzählstrukturellen Gesichtspunkten an dieser Stelle unberücksichtigt bleiben; vgl.oben S.92f. 118 Vgl.Anm.109. 119 Dies scheint eine der Funktionen der Teilnahme des Narren etwa am höfischen Mahl (5263ff.) zu sein. Marke reitet erst zur Jagd aus, als dieser Integrationsprozeß abgeschlossen ist: 107 rum als Flucht) sowie im Gamarochteil (Integration Kaedins und Tristans durch fürstliche Bewirtung und Desintegration als Flucht). Während aber diese letzte Flucht in den für Kaedin sofortigen, für Tristan nur verzögerten Tod führt, mündet die vorausgegangene Flucht des Narren in den Vollzug der Ehe mit der weißhändigen Isolt. Die zentralen Erzählblöcke des Hauptteils von Heinrichs Romanfortsetzung schließen jeweils mit einem Desintegrationsprozess, mit Tristans Flucht. Diese führt beim ersten Mal zur minne mit der blonden Isolt im Wald, beim zweiten zum Ehevollzug in Karke, beim dritten Mal in den Tod. So bildet sich in einer teleologisch gerichteten Struktur des Handlungssubstrats – gleichsam mythologisch – der thematische Zusammenhang dieses Erzählens ab: minne, Ehe und Tod. Dieser Dreisprung ist schließlich auch mit der Funktion der Kaedin-Figur in den drei mittleren Hauptstücken des Romans koordiniert. Die völlige Abwesenheit von Tristans geselle und Isolt Weißhands Bruder im ‘Karidol / Tintajol I’-Teil bestätigt den Befund, hier seien mit dem Eintritt in die neue Welt zunächst des Artushofes und mit dem Neueinsatz der Erzählung erheblich vor der Karker Hochzeit alle Bezüge zum Problem von Tristans Ehe gekappt. Umgekehrt und handlungslogisch als von den Freunden zu entscheidender Schönheitswettbewerb zwischen den beiden Isolten (‘Blankes Land’) greifbar, sind diese Bezüge im Abschnitt ‘Tintajol II’ auf der Ebene der Figurenkonstellation gerade auch durch Kaedin repräsentiert. In der GamarochErzählung endlich vertauschen Tristan und der Karker Herzogssohn ihre Rollen als Protagonist und Begleiter. Das Thema der ekstatischen Liebe als Bruch von Ehe und Treue ist hier einer neuen Konfiguration des epischen Personals eingeschrieben. Kaedin, so zeigt es diese Bündelung struktureller Beobachtungen an Heinrichs Tristanfortsetzung, ist keine nebenher mitlaufende, mehr der szenischen Dichte als der Sinnkonstitution des Erzählens verpflichtete Charge. Er figuriert als Repräsentationsinstanz der wichtigsten Stadien eines epischen Prozesses, dessen von verschiedenartigen Verklammerungen der Episoden und Episodenreihen besorgte intratextuelle Kohärenz hier ausschnittsweise skizziert wurde. Diese Rekonstruktion erlaubt die Bildung von Kriterien zur Abschätzung des strukturellen Ranges, welcher einzelnen Episoden im Gesamtgefüge der Erzählung zukommt – auch wenn dieser Rang nicht durch narrative Ausfaltung von vorneherein signalisiert ist. Solches Auseinandertreten von Erzählumfang und struktureller Bedeutung ist vor allem bei jenen Trug-Schlüssen der Geschichte von Tristan, Isolt und Marke zu beobachten, bei welchen diese Interpretation begann.120 Am Anfang des Romans, so zeigte sich, ist die Auflösung aller Konflikte zum Greifen nahe: Tristan heiratet die Arundeler Herzogstochter und die blonde Isolt wäre damit frei zu harmonischem Eheleben mit ihrem Gatten Marke. Diese ganz zu Anfang imaginierte Gleichgewichtslage ist im Erzählprozeß immer wieder präsent, auch wenn sie nicht ohne Trübungen erreichbar sein kann, denn schließlich gäbe es sonst keinen epischen Ablauf. „[...] pfleget mir des tôren wol, daz ich immer dienen sol.“ der künic reit hin, der tôre bleip. (5313-5313) 120 Vgl. oben S. 79ff. 108 Schon Tristans Hochzeit in Arundel und das Skandalon des nicht vollzogenen Beilagers sind so in Szene gesetzt, daß an die Stelle barscher Kränkung und spannungsvollen Konflikts versöhnliches Einvernehmen treten kann121: Die weißhändige Isolt tet ir tugent an [Tristan] schîn und lebete mit im alsô wol, als lieb mit liebe leben sol âne daz eine, daz sie nicht mit sîner minne hête pflicht. sus lebete er alsô minneclich mit ir, daz sîn vrouten sich der herzoge und die herzogîn und ir bruoder Kâedîn; der vroute sichs vil swinde mit alle dem hovegesinde. (1118-1128) Die Versöhnung ist gegenseitig und gesellschaftlich sanktioniert. Der Ort derart auf Konfliktarmut gestellter Freude des Hofes liegt genau an der strukturellen Grenze zwischen den Erzählteilen ‘Karke I’ und ‘Karidol / Tintajol I’, und ähnlich exponiert sind die korrespondierenden Stellen. Nach dem Waldleben und vor Tristans erster Rückkehr nach Arundel (‘Karke II’) sowie genau an der Episodengrenze zwischen der Flucht des Narren Tristan und der Gamaroch-Erzählung findet der narrative Prozeß auch auf seiner Kehrseite zu entspannten Gleichgewichtskonstellationen122: künic Marke der guote ûz einvaltigem muote [...] lebte mit der künegîn gar lieplîch unz an iren tôt, [...]. (5713-5718) Willkürlich erzwungen ist dies nicht. Es gründet wie selbstverständlich auf den geänderten, dem Glück von König und Königin günstigen gesellschaftlichen Bedingungen in Tintajol. Isolt ist in der solidarischen triuwe der höfischen Sozialität aufgehoben123, und Marke kann der einvaltic guote sein, weil die Instanzen des stets neu geschürten zwîvel und arcwân vom Hof verschwunden sind. Tristan der Narr hatte sie, nämlich Antret, den Zwerg Melot von Aquitan und Pfelerin, Schritt für Schritt – darin steckt erzählerische Systematik – ausgeschaltet. Er hatte den Lauscher taub geschlagen124, den Späher geblendet125 und dem Verfolger erst das Pferd betäubt und ihn dann selbst getötet (5553ff.). So verschränken sich, wie in Karke, auch in Tintajol die harmonische Geordnetheit der von Neid, Zwietracht und Mißtrauen gesäuberten höfischen 121 Vgl. oben S. 75ff. Vgl. oben S. 80. 123 Vgl. 5631ff., 5705ff., und auch 5554ff. 124 Vgl. 5210ff., 5228ff., 5432ff. 125 Vgl. 5281ff., 5432ff. 122 109 Gesellschaft und das zweisame Wohlleben ihrer anerkannten Leitfiguren Isolt und Marke. Handlungslogisch in engster Nachbarschaft hierzu kommt nach den ersten Schritten in die Welt des Nampotenis hinein schließlich auch Tristans Geschichte mit Blanschemanis zur Ruhe (‘Karke III’): Tristan mit Isôten sider lebte schône und alsô wol, sam ein man zu rechte sol leben mit liebem wîbe: er wart nu gein ir lîbe noch küener wan daz wazzer, da von ir ê wart nazzer der brûnen bluomen anger, der anger, der swanger was der brûnen blüemelîn. (5962-5971) Das sind epische Schlüsse, happy end in Tintajol und Karke. Zugleich wird damit jenes Versprechen eingelöst, daz sie nicht lenger blîbe maget, wan biz er mit Tristande quême wider zu lande (4046-4048), mit welchem Kaedin sich, an der Seite des Protagonisten zum Blanken Lande aufbrechend, von seiner Schwester trostreich verabschiedet hatte. Der Vollzug der Ehe in Arundel, von dem sich Ulrich zynisch distanzierte126, und den Eilhart, die Machtdimension der Sexualität freilegend, als Tristrants Rache an der blonden Ysalde dafür motivierte, daß sie ihn in der Rolle des Aussätzigen hohnlachend von Markes Hof hatte vertreiben lassen127, dieser Vollzug gewinnt bei Heinrich strukturellen Sinn als ein von langer Hand vorbereitetes mögliches Ende der Tristangeschichte. Es ist dieses auch durch keine Erinnerung an die Geliebte in Tintajol mehr getrübt und es enthält längst obsolet gewordene Konflikte nurmehr in der Form einer erzählerischen Reminiszenz an das ‘Kühne Wasser’ (5966ff.). Diesen Schluß hatte sich der Erzähler ganz zu Anfang des Romans vorgestellt und mit ihm beendet er noch in der Klage um den Tod Tristans, welche in dieser Studie schon einmal zur Bestimmung der relativen Chronologie der Geschichte dienen konnte128, die Revue der Stationen der Protagonistenvita. Ohne jeden Hinweis auf die Ursachen des Trauer erweckenden Todes! Der wol ervarne Tristant, der in Arundêl daz lant 126 Vgl. TT 3098ff. ET 7034-7080: den entscheidenden Vers ET 7073, Tristrant heirate Kaedins swestir dorch den zcorn (auf die blonde Isolt), bezeugen zwei der drei Handschriften (DB) und das Stargader Fragment (St), H hat on zorn; vgl. ET (Bußmann), S. 26a-d. 128 Vgl. oben IV.3. 127 110 quam zu dem vürsten Lovelîn und in von den vînden sîn mit sîner hant erlôste und im aldâ zu trôste erwarp die wîzgehande Isôt: der lac ouch hie zu Karke tôt. (6473-6480) Je zweimal und stets an strukturell entscheidender Stelle kommen in Heinrichs von Freiberg Tristanfortsetzung die Geschichten von Tristan und der weißhändigen Isolt sowie von Marke und Isolt mit den blonden Haaren zu gutem Ende. Beim zweiten Mal, am Ende der Narren- und vor der Kaedin-Kassie-Episode, sind die beiden Erzählstränge handlungslogisch synchronisiert, ist die Welt des Romans so gut wie in Ordnung.129 Heinrichs Roman erzählt gegen die auf einen katastrophischen Schluß zueilende Logik der Geschichte, gegen ihre Prädetermination, gegen die Permanenz des Konflikts, um eine Lösung hinauszuschieben und als deren Möglichkeit nicht nur die tödliche Katastrophe, sondern auch das glückliche Ende zu plausibilisieren. Daß dies – wenn auch nur für einen kurzen Augenblick – sein kann, ist wesentlich die Funktion jener narrativen Strategien, welche die langen Episodenreihen der Erzählung prägen: die Wiederholungsmuster eines neueinsetzenden, auf vorausgegangene Stadien der Tristangeschichte zurückbezogenen Erzählens, die Strategien ausgewogen gegenläufiger Akzentuierung des Erzählten. Der Plausibilisierung der Möglichkeit eines guten Ausgangs dient auch jene Abschottung verschiedener epischer Welten (Arundel, Artushof, Tintajol) gegeneinander, welche nicht nur den Erzählprozeß teleologischer Zielstrebigkeit beraubt, sondern als Form der Konfliktregie auf der Ebene des Erzählten die Aufspaltung des der Geschichte eingeschriebenen Problemgeflechts in seine Elemente (Isolts Ehe, Tristans Ehe, seine Ritterehre, die Unbedingtheit ihrer Liebe, die Ansprüche des Karker Herzogtums etc.) sowie deren Koordination ermöglicht. Daß nach der Folie und unmittelbar vor der Nampotenis-Handlung die epische Welt momentan so in Ordnung sei, wie es der Romanbeginn entworfen hatte, und daß dieser Gleichgewichtsstatus gegen aus der tradierten Logik der Tristangeschichte gespeiste Erwartungen seine Plausibilität habe, ist eine Funktion des episodenreichen Erzählprozesses von Tristans Verheiratung über die Wiederbegegnungen mit der Geliebten bis zum Vollzug der Karker Ehe. Dieser Gleichgewichtszustand ist für jedes Verständnis von Heinrichs Tristanfortsetzung zentral, weil die Geschichte von ihm aus überraschend (anstatt in der Konsequenz einer längst durchschaubar gemachten Prozeßlogik wie selbstverständlich) der Katastrophe entgegengeht. Diese ScheinSchlüsse, in denen das Handlungsgeschehen momentan, aber an strukturell wesentlichen Stellen innehält, sind epische Vergegenwärtigungen der Möglichkeit eines nicht katastrophisch-tödlichen Ausgangs. Und man braucht wohl kaum zu betonen, daß sie selbst ebenso wie die Strategien, welche die Schein-Schlüsse narrativ plausibilisieren, den Text des böhmischen Autors spezifisch von den Erzählungen Eilharts und Ul129 Vgl. Sedlmeyer (1976), S. 171. 111 richs abgrenzen.130 Ein mögliches gutes Ende der Geschichte von Tristan und Isolt, Marke und Blanschemanis ist dort stets außer Reichweite. Hat sich Heinrich auf jene Romane als seine stofflichen Quellen bezogen, so doch im Modus einer Neukonstitution des Erzählten, die für seinen Text sehr spezifisch ist. Warum solche Gleichgewichtszustände der Tristangeschichte sich nicht halten lassen, sondern nach kurzer Dauer in die Todeshandlung wegkippen, ist im letzten Teil dieser Textanalyse zu fragen. 130 Tristrants Ehevollzug mit Ysalde von Arundel erzählt Eilharts Text als Konsequenz seiner ersten Cornwallfahrt, als Rache des Liebhabers an der widerspenstigen Geliebten; vgl. oben Anm. 114. Der strukturelle Ort der Episode ist von dem bei Heinrich grundsätzlich unterschieden, sie ist schon deswegen kein Trugschluß, noch nicht einmal ein möglicher, sondern auf ein Weitererzählen hin angelegt. An der motivischen Oberfläche des Textes signalisieren das Tristrants Zorn auf Ysalde, der eine Auflösung, und sein Gelübde, die Geliebte ein Jahr meiden zu wollen (ET 7059ff.), das eine Einlösung verlangt. Spätere Hinweise auf ein glückliches Zusammenleben Tristrants mit der weißhändigen Gattin fehlen ebenso, wie entsprechende Inszenierungen der Ehe von Marke und Ysalde Blondhaar (etwa nach dem letzten Abschied der Liebenden: ET 8944ff.) Dementsprechend ist auch die höfische Gesellschaft in Tintanjol anders konstituiert. Sie teilt sich nicht, wie bei Heinrich und vor ihm bei Ulrich, in eine anonyme Solidargemeinschaft und die Gruppe der benennbaren Intriganten: Auch von namenlosen Helfern Markes haben die Liebenden Bedrohung zu gewärtigen (ET 8944ff.), Antret, Melot und Pleherin können nicht Schritt für Schritt als Gegner ausgeschaltet werden (als Narr schlägt Tristrant Antret, der im manch herzeleit mit logene und mit wârheit bevorn getân habete [ET 8773ff.], aber der Geschlagene, seiner Sinne unberaubt, überlebt. Zuvor schon hatte Pleherin Kurvenal, ihn mit Tristrant verwechselnd, verfolgt, ohne dabei getötet worden zu sein [ET 6812ff.]). Mit Blick hierauf zeigt Heinrichs grundlegender Umbau des Episodengefüges ebenfalls seine Logik. Sowenig wie diejenige Eilharts findet auch Ulrichs Geschichte zu einem Entspannungszustand, aus dessen Perspektive die nachfolgende Todeshandlung den Charakter des Überraschenden gewönne. Der Verfolger Pleherin zwar wird erschlagen (TT 2779ff.), auch an Antret und Melot, wie es zum Motivinventar der Narrenepisode gehört, rächt sich Tristan (TT 2547ff.), doch unschädlich macht das die Neider nicht: Antret entdeckt den Narren im Bett der Königin (TT 2707ff.) und denunziert den Liebenden beim König (TT 2830ff.). Der Fortexistenz des Systems von Neid, Beobachtung, Denunziation und Intrige an Markes Hof gemäß ist das Zusammenleben von König und Königin, nachdem Tristan in Richtung Karke entflohen ist. Nicht die Liebe, juristische Argumente nur bewegen Marke, mit Isolt ein Einvernehmen zu suchen (TT 2827ff.), und das dieserart begründete Dasein ist darum so elend, daß Brangäne aus Kummer über Isolts ungemach stirbt (TT 3360f.). Kaum zu Unrecht also sorgt sich Tristan, gerade noch der Verfolgung durch Marke entronnen, um seine Geliebte (TT 2843ff.); nicht völlig anachronistisch ist der Fluch, welchen der Seefahrer, der Tristan und Kaedin nach Gamaroch übersetzt, Marke hinterherruft (TT 2938ff.). Allein jenseits des Meeres der Vollzug der Ehe von Blanschemanis und Tristan scheint einen Zustand jener konfliktarmen Harmonie zu stiften, von welcher Heinrich erzählt. Daß aber der Schein trügt und das Einverständnis allein den flüchtigen Augenblicken sexueller Lust gilt, das zeigt sich nicht erst an Isolt Weißhands vorsätzlichem Anteil an Tristans Tod (vgl.oben S. 72ff.), sondern vielleicht schon im Kommentar des Erzählers: waz si in dem herzen hâten, wer solte dâ nâch vrâgen? (TT 3098f.: der erste dieser beiden Verse ist nicht gut bezeugt, er fehlt den Handschriften HR; vgl. auch oben S. 71.) 112 7. Liebestode: Beim Glück der Ehepaare in Tintajol und Karke hat Heinrich den Erzählprozeß seines Romans für einen Augenblick stillgestellt, und darum mußte hier auch die Interpretation, über Gebühr, wie es scheinen könnte, innehalten. In Gang kommt sie nun wieder, wie der Erzählprozeß selbst, durch Impulse, die sie nicht unmittelbar aus der Geschichte Tristans bezieht. Kehren wir, gleich dem Text, noch einmal zu Kaedin zurück. Wie sein Freund hat er Liebesaffären mit zwei Damen, welche ihm schon von den Verknüpfungsregeln der Alliteration131 zugeordnet werden: Kameline und Kassie. Kaedin ist dabei sehr unterschiedlich erfolgreich, so zwar, daß Glück in der Liebe und Sicherung der eigenen Existenz sich reziprok verhalten, weil sie sich unter den gegebenen Bedingungen offenbar gegenseitig ausschließen. Dies möchte im Zusammenhang eines Tristanromans nicht völlig ohne Bedeutung sein.132 Die erste der beiden Geschichten hat ihren Ort des Nachts in jenem Zelt im Blanken Lande, in welchem auch Tristan und Isolt zusammenkommen. Nicht im Zeichen ihrer glückenden Liebe steht indes die Episode, sondern in demjenigen von Kaedins Versagen bei Isolts Hofdame Kameline von der Scheteliure. Es ist die Geschichte vom Werber, der alles verschläft, weil die Umworbene sich mittels eines Zauberkissens seiner erwehrt.133 Eine der Funktionen dieser Geschichte ist es, daß das Verschweigen der Vereinigung Tristans mit seiner Geliebten als Form narrativer Dezenz arrangiert werden kann.134 Kaedins Versagen wird an der Stelle von Tristans Glück erzählt. Ein zweiter Sinn der episodischen Substitution liegt in einer Aussage über die vorübergehend suspendierte Geschichte: Epischer Vorder- und Hintergrund sind perspektivisch aufeinander bezogen. So wie es von einem Zauberkissen bewirkt wird, daß Kaedin als ein stoc oder als ein erstochen boc135 auf Kamelines Lager liegt, so war es in letzter Instanz der Zaubertrank, der Tristan beinahe scheintot (774) als ein ron136 an der Seite der weißhändigen Isolt verharren ließ. Insofern die KamelineEpisode ganz auf die Verspottung (4951ff.) jenes Mannes zugeschnitten ist, welcher, dem Zauberzwang gehorchend, wider die eignen Triebe im Bett der Frau keusch geblieben war, holt sie im Medium der Übersetzung in eine neue Figurenkonstellation jene teilöffentliche gesellschaftliche Sanktionierung des verweigerten Beilagers nach, die Tristan in Arundel erspart geblieben war.137 Beobachtbar ist hier ein Verfahren der Substitution einer Geschichte durch eine zweite, welches sich schon als konstitutiv für die Nampotanis-Handlung in Ulrichs 131 Ähnlich stellt ja auch Gotfrit Melot und Marjodo an die Seite Markes, vgl. Wessel (1984), S. 240. 132 Schon deswegen wird man die völlige Ausblendung der Kaedin-Teile zum Beispiel bei Stein (1983), S. 347, für wenig begründet halten. 133 Vgl. Harvey (1961), S. 15ff.; Schmid-Cadalbert (1985), S. 173ff. 134 4881f.; ganz anders Ulrich (vgl. TT 1700ff.). 135 4913f.; vgl. dazu etwa Moriz von Craun 1277 und Reinitzer (1977), S. 5f. . 136 957, 3714; vgl. auch Sedlmeyer (1976), S. 126f. 137 Die Bezüge zwischen den Szenen gehen bis ins Idiomatische, vgl. vor allem 4957 mit 837, 850, 868 usw. 113 Tristanfortsetzung erwiesen hatte und welches auch die entsprechenden Partien bei Heinrich trägt. Zugleich können die substituierenden epischen Einfügungen nicht nur mit der substituierten Geschichte, sondern auch untereinander bezügereich koordiniert sein. Dies ist Heinrichs Fall. Die Konfiguration der Kameline-Episode, so war schon früher zu sehen, wiederholt sich unter umgekehrtem Vorzeichen in Gamaroch.138 Kaedins Affäre mit der Hofdame Isolts, das ist ihr zweiter wesentlicher Aspekt, und jene mit Kassie hängen strukturell zusammen und bilden so die Verflechtungen zwischen Tristans Minne zur cornischen Königin und seiner Ehe mit der Arundeler Herzogstochter ab. Beide Isolt-Beziehungen des Protagonisten sind in dieser Tristanfortsetzung in Konstellationen der Geschichte Kaedins übersetzt. Hinsichtlich der Gamaroch-Erzählung als des gewissermaßen ersten Teils der Todeshandlung läßt sich dabei die grundsätzliche Nähe von Heinrichs Gestaltung zu jener bei Ulrich von Türheim konstatieren; Akzentuierungen im Einzelnen, so die Inszenierung des Ehebruchs mit Kassie als Treueverletzung gegenüber Nampotenis139, sind dadurch nicht ausgeschlossen. Übereinstimmung zwischen den beiden Fortsetzungsalternativen herrscht indes nicht nur im der Stofftradition folgenden handlungslogischen Aufbau des Erzählabschnitts, im motivischen Inventar und im Bezug der Kaedin- auf die Tristangeschichte. Sie herrscht auch im die Interpretation entscheidenden Verhältnis der beiden gesellen zueinander.140 Die Rolle, die Tristan in dieser Episodenfolge spielt, und Kaedins Abhängigkeit von ihr machen die Liebe zu Kassie in Heinrichs Tristanfortsetzung wie in der ein gutes halbes Jahrhundert älteren zum Anwendungsfall der Tristanminne in einem neuen epischen Weltzusammenhang, welcher außerhalb der Determinationen von Tristans Geschichte selbst liegt. Auch hier ist der neue Protagonist Kaedin ein anderer Tristan und Nachahmer seines Freundes. Auch hier ist die Erzählung imitatorischen Handelns als modellhafte Episierung identifikatorischer Rezeption des Tristanromans zu verstehen. Und hier wie bei Ulrich führt der Mangel kritischer Distanz, der Versuch der in den Text hereingeholten Rezipienteninstanz, sich an Tristans Stelle zu setzen, in den Tod: den smerzen aller smerzen Nampotenîs dô selber rach: durch Lîfrenîsen er stach sîn sper unz an sîn schîben: 138 Vgl. oben S. 103ff. Vgl. oben S. 103. 140 Tristan ist Kaedins Ratgeber in der Affäre mit Kassie, er läßt sich zunächst die Situation genau schildern (5727ff.); er verfaßt den Brief, welcher der Verständigung der Verliebten dient (5840ff.), und ist also auch hier der Urheber der Idee, Nachschlüssel für den Zutritt zu Nampotenis' Burg Gamarke zu besorgen (5876ff.). Später ist es wiederum allererst Tristan, auf dessen Anweisung hin der Freund nach den von Kassie verfertigten Wachsabdrücken sieht (5924ff.), ist er es, der die Qualität der Doubletten prüft, Kaedin Hoffnungen macht, den Termin seiner Begegnung mit der Geliebten festlegt (6012ff.) und, in Gamarke angekommen, die Ängstliche mit gutem Zuspruch tröstet (6064f.). Erst so beruhigt ist Kassie zur Liebe mit Kaedin in der Lage. 139 114 der ie reinen wîben sîn dienest ritterlîch erbôt, der lac hie durch die minne tôt, der reine süeze Kâedîn. (6226-6233) Gleich Tristan stirbt Kaedin den Liebestod, und bis in die Formulierungen der Totenklagen hinein141 bestätigt der Text das Verhältnis funktionaler Identifizierung zwischen den beiden. Im Gegensatz zu Ulrichs Tristan ist dieses episierte Rezeptionsmodell indes bei Heinrich nicht das einzige, es steht ihm eine poetologische und inhaltliche Alternative zur Seite. Der Text entwirft im erzählten Handlungsgeschehen der Kaedin-Kassie-Episoden das Muster einer, weil identifikatorisch, falschen Wahrnehmung und Aneignung der Tristangeschichte. Zugleich konzipiert er im Modus der Kommentierung des Liebestodes Anweisungen zur richtigen, die Distanz zwischen der werltlîche[n] minne (6851) Tristans und Isolts und der wâren minne zu Christus (6858) erwägenden Rezeption seiner selbst. Dies ist die Funktion von Heinrichs geistlichem Epilog und der ihn vorbereitenden Textstellen. Der Zusammenhang dieses Epilogs mit der narratio des Freibergschen Romans war für die Forschung lange problematisch.142 Ihre Crux ist es, eine Interpretation begründen zu müssen, welche darauf verzichtet, die den Epilog konstituierende Dichotomie von wahrer und falscher minne als Differenz zwischen einer Uneigentlichkeit der narratio und Eigentlichkeit der Epilogaussage zu reproduzieren.143 Das Erzählen des Erzählten nämlich ist nicht weniger eigentlich als seine Kommentierung in den Rahmenpartien des Textes. Den Zusammenhang beider sichern zunächst „die geistlichen Denkformen der Typologie und der Allegorese [...].“ Heinrich „deutet die Symbole der Tristanminne, den Weinstock und die Rebe, die sich auf dem Grab der Liebenden umschlingen, in antitypischer Allegorese um: Weinstock und Rebe sind nicht nur Sinnbild unvergleichlicher diesseitiger Liebe, sondern zugleich auch Hinweise auf die ‘wahre’ Gottesliebe, auf den ‘wahren Rosendorn’ Christus, der mit der ‘wahren Rebe’ Christenheit in gegenseitiger Liebe verbunden ist.“144 Indes das Spektakuläre dieses der Erzählung gegenüber – so klingt es – dissonanten Schlußakkords relativiert sich mit Blick auf die Tristantradition sowie die Schlußteile von Heinrichs narratio. Einerseits verfällt die Tristanminne schon im ältesten deutschen Tristanroman, und sei es auch nur nebenhin und vorübergehend, so doch an einem ihrer Höhepunkte, geistlicher Kritik (ET 4709-4723: Waldleben); deren Instanz – und mit der Verfügung über Frömmigkeit, Gebet, Beichtsakrament und Schriftlichkeit ein Hort der Zivilisation in der Wildnis – ist der Klausner Ugrim. Zum anderen ist Distanzierung von dieser Minne unter dem Aspekt der Heilsbewahrung schon an Heinrichs Roman141 Vgl. 6232 und 6454 usw. Vgl. Eyrich (1953), S. 157, 160; Sedlmeyer (1976), S. 141; Deighton (1979), S. 289f.; Stein (1983), S. 347f. 143 So etwa Hilbrink (1954), S. 80, 123ff., 137. 144 Thelen (1989), S. 628. 142 115 beginn in Tristans Hinwendung zur weißhändigen Isolt angesagt145, ist sie sodann in einem Dreischritt von Textelementen entwickelt, welcher Rekapitulation und Wertung der ganzen Geschichte vornimmt und sichert: Es handelt sich um den Erzählerrückblick anläßlich von Tristans Tod, um Kurvenals Klage über die Welt und um den Epilog selbst.146 Gemeinsam bilden diese Textabschnitte eine Kommentarsequenz, die, ähnlich wie in Ulrichs Tristan oder dem Alexanderroman Ulrichs von Etzenbach147, das Erzählkontinuum mit reflektierenden Passagen durchsetzt.148 Damit ist nicht gesagt, daß Reflexion und Narration hier auseinanderbrächen. Sie verschränken sich vielmehr, etwa so, daß die Weltabsage, welche Kurvenal propagiert, in Markes conversio (6800ff.) vollzogen wird. Diese Sequenz durchsetzt indes nicht nur die Erzählung des Handlungsgangs, in ihr ist zugleich das Kommentieren perspektivisch aufgefächert und thematisch entwickelt. Es sprechen nacheinander der Erzähler der narratio, die Figur Kurvenal und die der Epenwelt gegenüberstehende Textfigur des Autors (im Epilog).149 Diese Entwicklung der Thematik des Kommentierens vollzieht sich im Medium seiner Metaphorik derart, daß aus dem Liebe-Tod-Motiv der erzählerischen Totenklage die Dichotomie von wahrer und falscher Minne im Epilog, aus der bewundernden Rekapitulation einer Heroenvita der contemptus mundi von Kurvenals Totenrede wird. Auffächerung der Kommentatorenperspektive im Schlußteil von Heinrichs Tristan heißt also gleichzeitig prozeßhafte Entfaltung der Kommentarthematik und impliziert zudem, so ist zu zeigen, Wandlungen des Kommentarmodus von der Unmittelbarkeit der Geschehnisrekapitulation über die Polysemie bildhaften Sprechens 145 Vgl. oben S. 76f. Erste diesbezügliche Andeutungen bei Rosenhagen in seiner Rezension der Ausgabe Bernts, in: ZfdPh 40 (1908), S. 233; Sedlmeyer (1976), S. 68; Deighton (1979), S. 289. 147 Dazu Medert (1989), S. 148ff.; Thelen (1989), S. 626f. 148 Der strukturelle Zusammenhang ist gut durchschaubar: 146 Verse 6316-6413 6414-6480 6481-6619 6620-6650 6651-6841 Geschehen TRISTANS Tod Kommentar Totenklage und Rückblick des Erzählers ISOLTS Tod Weltanklage Kurvenals MARKE und Kurvenal Bestattung MARKES conversio 6847-6890 Epilog Kein Zufall wird es sein, daß Heinrich dieses Verfahren der perspektivischen Ausfaltung eines Gedankenganges als Strategie seiner Bedeutungssicherung auch dort schon nützt, wo die Tristanminne erstmals in den Schatten geistlicher Wertung gerät, als sich nämlich Tristan der Sündhaftigkeit seiner Liebe zur schönen Isolt bewußt wird und zur Ehe mit der weißhändigen entschließt: Der Protagonist entwickelt zunächst die Argumentation in der direkten Rede des ‘inneren Monologs’ (204ff.: Perspektive von Tristan her), dann versucht der Erzähler im Astrologieexkurs die Grundlage der anstehenden Entscheidung zu plausibilisieren (225ff.), um schließlich Tristans Überlegungen im Modus des Erzählerberichts aufzunehmen und zu konfirmieren (269ff.: Perspektive auf Tristan hin). 149 116 zur ausgeführten Allegorese. Damit geht einher die Ausweitung des Geltungsbereiches der einzelnen Schritte der Kommentarsequenz, welche nacheinander den Einzelfall Tristan, die Welt überhaupt unter tropologischem Aspekt und schließlich die Welt auch in ihrem heilsgeschichtlich-eschatologischen Zusammenhang erfassen. Auf verschiedenen Ebenen zugleich ist also die Einbindung des Epilogs in eine Sequenz von das Erzählte ausdeutenden Textteilen zu verfolgen. Nachdem sie dieserart rekonstruiert wurde, muß diese Sequenz nun freilich zu Analysezwecken wieder in ihre Elemente zerlegt werden. Zwischen Tristans Tod und den dadurch ausgelösten Reaktionen in der epischen Welt markiert der Erzähler, daß seine Erzählung nun an ihr jâmerzil (48) gekommen sei. Seine Klage (6414-6480) um den Protagonisten150 ist als ein rückblickendes Innehalten auch formal deutlich aus dem sie umgebenden Erzählfluß herausgehoben.151 Sie rekapituliert in einer Selektivität, hinter der sich eine spezifische Deutung der Tristangeschichte verbirgt, jene Stationen, die der Protagonist in dem aus Gotfrits Torso und Heinrichs Fortsetzung gefügten Erzählzusammenhang durchschritten hatte, nämlich: 1. Tristans Geburt und Blanscheflurs Tod 2. Erziehung durch Rual 3. Schwertleite und Morgankrieg 4. Moroltkampf 5. Drachenkampf 6. Minnetrank 7. ritterschefte im Dienste Isolts 8. Urgankampf und Rückgewinnung Petitcreius 9. Arundelkrieg und Heirat mit Isolt Weißhand. Die Auswahlkriterien dieses Vitenabrisses stimmen zu denen etwa der Neunerfolge von Illuminationen in der Kölner Gotfrit-Ulrich-Handschrift (B).152 Es sind andere Kriterien als diejenigen neuzeitlicher Leser, solche nämlich, die Tristans Geschichte als Heroenvita erscheinen lassen. Von Gotfrit her gelesen ist hier jener „shift from minne to ritterschaft“153 endgültig fixiert, der insbesondere im zweiten Abschnitt dieser Textanalyse sich bereits abzeichnete. Es handelt sich um eine Akzentverlagerung, die nicht Heinrich von Freiberg allein gehört, aber jedenfalls sein Tristanverständnis 150 Vgl. auch oben IV.3. Neun strophenähnliche Versgruppen, verbunden durch eine symmetrisch gefügte doppelte Anaphernreihe (6414: Der..., 6420: Der..., 6429: Tristant..., 6436: Tristan..., 6445: Der..., 6449: Tristan..., 6455: Tristant..., 6465: Der..., 6473: Der... [der regelmäßige Wechsel der Namensformen Tristant und Tristan nur in F]), deren jeweils erste Zeile dem Protagonisten positive, indes den Bereich ethisch indifferenter Panegyrik (êrenrîch, ellenthaft, hôchgemuot, wol ervarn) kaum verlassende Epitheta zuschreibt. Der Schlußvers dieser Quasistrophen variiert jeweils den Zusammenhang von Liebe, Leid und Tod. Vgl. Rosenhagen in seiner Rezension der Ausgabe Bernts, in: ZfdPh 40 (1908), S. 233; Hilbrink (1954), S. 111f.; Sedlmeyer (1976), S. 45. 152 Vgl.unten X.1. 153 Deighton (1979), S. 262. 151 117 (auch) prägt.154 Man könnte sagen, dieses versuche von der Tristanfigur, bevor sie gänzlich geistlicher Kritik anheimfällt, zu retten, was von ihr zu retten ist. Indem es indes eine Totenklage ist, welche die Rittervita profiliert, ist diese zugleich auch in den Zusammenhang von Liebe, Leid und Tod gestellt. Das schafft, aller formelhaften Konventionalität seiner Durchführung ungeachtet, die Basis für Kurvenals Leichenrede, welche in dichter Metaphernballung das Schicksal des Ritters und seiner Dame zum Beleg für den üblichen Lohn der Welt exemplarisiert. Des treuesten Gefährten Kurvenal Rede über der Welt Lohn folgt auf die Vollendung von Isolts Liebestod und entspinnt sich aus einer gestisch und rhetorisch habitualisierten Totenklage: er jach: „sich, werlt, diz ist dîn lôn, den dû zu jungest gibest in, die dir zu dienest iren sin, lîp und herze neigen: den kanstu kurze erzeigen die valschen in der letzten stunt. du strîchest in honic in den munt den alden und den jungen: swan sie dan mit den zungen dar nâch grîfende sîn, sô tröufest dû in galle dar în. dîn rôsenbluome birt den dorn, 154 Vgl.auch Gawans Rückblick auf die Stationen der Tristanvita (FT 1887ff.) und den Ritterkatalog am Anfang des Preisgedichts auf Johann von Michelsberg (FT [Bernt], S. 239-248): zu den recken ich wol zel den armen ritter Tristant, wan mir daz ist von im bekant, daz er ein guoter ritter was. (22-25) Hier ist die angesprochene Perspektivverschiebung in der Marginalisierung der Minnethematik zum beiläufigen Epitheton arm und der Hervorhebung von Reckentum und Ritterschaft vielleicht noch prägnanter, als es im Tristanroman selbst wohl möglich gewesen wäre. Vergleichbare Akzentuierungen finden sich in Thomasins Wälschem Gast (1051), Konrads von Stoffeln Gauriel (3860), Albrechts Jüngerem Titurel (2034, 2161ff.), Reinfried von Braunschweig (20162), Friedrich von Schwaben (4818), Hugos Renner (1222, 16189, 21640) oder in (soll man sagen: ironischer?) Brechung im Spruch von den Tafelrundern (153f.), welche von den Morolt-Nennungen im Parzival angeregt sein mag (vgl. Schröder [1981], S. 84). Nicht übersehen läßt sich allerdings, daß demgegenüber die Mehrzahl der produktiven Rezipienten Tristan gerade nicht als Ritter, sondern als Minnesklave, Opfer des Minnetranks und Liebestodes exemplarisiert. Eine Stellenauswahl wird genügen, dies zu belegen: Heinrich von Veldeke (MF 58,35; vgl. auch 57,16); Bernger von Horheim (MF 112,1); Reinmar von Zweter 25; Marner III,2 V. 21; Der von Gliers (SMS 8.2,43); Anonymi (HMS III,442b und Kolmarer Handschrift [Bartsch] 55,7); Lancelot III,479,11ff.; Heinrich von dem Türlin, Crône 11562f.; Heinrich von Neustadt, Apollonius 164ff., 175; Des Elenden Knaben Der Minne Freud und Leid (Minnereden I, S. 46-55), 343; Herz und Leid (Hätzlerin II,47), 127; Der Traum (ebd. II,5), 221; Des Minners Klage (in Hadamar, Jagd S. 147-162), 646,1; Hermann von Sachsenheim, Spiegel 155,33f. 118 und swâ du weize und ander korn hin wirfest, swenne daz ûf gât, sô birt niur distelen die sât. dîn zucker ie des smeckens pflac, daz enzunte sîn nâchsmac. dîn süeze die sûret, dîn vröude die trûret zu jungest an des endes zagel. dîn sunnenglast des schûres hagel bringet mit ir schîne: daz wol an Rîwalîne wart ouch schîn, den dû betrüge und im daz helmel vür züge, unz daz er leit des tôdes nôt. nu liget sîn werder sun ouch tôt, Tristan, der liebe hêrre mîn, und Isôt die künegîn. sich, werlt, die hât dîn süezikeit gecleidet in des tôdes cleit.“ 155 Erneut ist hier die beklagte Geschichte als eine ganze begriffen, nun aber nicht, wie in des Erzählers Leichabdankung, unter dem Aspekt von Tristans curriculum vitae, sondern unter dem ihrer äußeren Klammer, dem die Generationenkluft überspringenden Verweisverhältnis zwischen Riwalins Ende am Anfang und dem seines Sohnes am Schluß der Erzählung.156 Insofern sie es hier am Ziel wie dort am Beginn belegt, bestätigt die integrale Geschichte als exemplarischer Fall das allgemeine Wissen um den elenden Lohn der Welt, deren Verheißungen den Einzelnen foppen wie der Halm, welcher der Katze vielversprechend und herausfordernd, aber unerreichbar vor dem Gesicht spielt.157 Ihren Dienern lohnt die Welt, welche hier zwar nicht als mundus oder Frau Welt geschlechtlich festgelegt, doch deutlich als Personifikation158 begriffen ist. dienest und lôn, sin, lîp und herze, damit geht es an. Die Rede ist, unüberhörbar, von einem Minneverhältnis, und, so ist ausgesagt, die von dieser Welt stammenden Liebhaber seien auch die Liebhaber dieser Welt. Was der Genetiv der Heinrichs Epilog eröffnenden Hörerapostrophe – zusammen mit dem gleichlautenden ersten Vers von Kon155 6620-6650. Bernt hat 6624: kurze aus handschriftlichem kurke F hergestellt, sinnvoller läse man mit O dücke, E tücke. 156 Dieser Zusammenhang wird unterfangen von jener motivischen Verweisfähigkeit, welche den der Kurvenal-Rede unmittelbar vorangehenden Liebestod Isolts auf Blanscheflurs Liebestod um Riwalin zurückbezieht, vgl. 6528f.: GT 1728; 6537 usw.: GT 1726ff.; 6541ff.: GT 1185ff. (zum Teil wörtliche Zitate). Hierzu Eyrich (1953), S. 154; Sedlmeyer (1976), S. 133. 157 6644 hat FT (Bechstein), Kommentar zur Stelle, mißverstanden, wie das im Kontext von Weltabsagen nicht ganz ungeläufige Bild an anderer Stelle zeigt: Bruder Wernher (HMS II,233b); Meißner J II 2.9f.; TA (Schröder) *A 69,12ff.; vgl. auch Friedrich von Schwaben 3064. 158 Vgl. Schnell (1985), S. 351ff. 119 rads thematisch einschlägigem Der Welt Lohn – im Synkretismus seiner objektiven und subjektiven Bedeutungsmöglichkeit als identisch ausgibt – ir werlde minner159 –, das steht schon in Kurvenals Weltabsage am Anfang: Weltliche Minne ist das Exempel für die Liebe zur und den Dienst an der Welt.160 Den unvermeidlichen Lohn für diesen Dienst läßt Heinrichs von Freiberg Erzähler durch Kurvenal als sein Sprachrohr an dieser Stelle in einer Reihe von Metaphern und Kontrastformeln veranschaulichen: Honig - Galle, Rose - Dornen, Weizen - Disteln, Säen - Gedeihen/Ernten, Zucker - brennender Nachgeschmack, Süße - Säure, Freude - Trauer, Sonnenglanz - Hagelschlag. Das ist im einzelnen Bild stets traditionsgebunden161 und überrascht doch durch die Dichte der Metaphernfügung, die ich so in vergleichbaren Weltabsagen nicht nachweisen kann.162 Die redundante Extension von Kurvenals bildhaftem Sprechen läßt daher vermuten, es komme auf die Metaphern selbst an: weil sie das Tertium sind, welches die Liebe-Leid-Tod-Problematik der vorausgegangenen Klagerede des Erzählers mit der religiösen Thematik des Epilogs zusammenschließt, weil in ihnen nicht nur der Tod der Liebenden, sondern ihr Leben und ihre Liebe als dessen Voraussetzung ins Licht geistlicher Einsicht gebracht werden. Die Metaphernsequenz von Kurvenals Monolog koordiniert weltliche und geistliche Minne, indem sie jene der Logik einer Bildwelt unterwirft, welche zur Bezeichnung dieser fest etabliert ist. Was bei Gotfrit wie Rose und Dornen, Süße und Säure, Liebe und Leid oxymoral gebunden163 oder wie die Metapher vom Säen und Ernten sentenziös gefaßt ist (GT 12239f.) und was auch bei Heinrich noch einmal momentan zusammenkommt 159 FT 6847; Konrad, Kleinere Dichtungen I 1, V.1. Zu Konrads Gedicht zuletzt Brandt (1987), S. 1190ff.; Kokott (1989), S. 78ff. 160 Die angedeutete oder vollzogene Engführung von Minnethematik und Weltabsage in der DienstLohn-Figur ist in der Literatur des späteren Mittelalters nicht selten: Neidhart Lied 54, 55, 56 (Beyschlag = Haupt 95,6ff.; 82,3ff.; 86,31ff.); Ulrich von Singenberg (SMS 12.20, 25ff.); Hardegger (HMS II,135b f.: Nr.8); Johann von Ringgenberg (SMS 13.1, 92ff.); TA (Schröder) *A 69,4 ff. und dazu unten X.8.; Ulrich von Etzenbach, Alexander 7784f., 17371ff., 18578ff.; sowie vor allem Konrads Der Welt Lohn (Kleinere Dichtungen I 1, V.4ff., 117ff. usw., 264ff.; vgl. dazu Schilling [1979], S. 107f.) und in dessen Tradition Der Guotære (HMS III,41a ff.: I,15); Kolmarer Handschrift (Bartsch) 118; Michel Beheim Nr. 279; Weltlohn (Closs) 44ff., 116ff., 233ff. Vgl. daneben auch Konrads von Würzburg Lied 6 (Kleinere Dichtungen III; dazu Wachinger [1989]); Wilder Alexander (KLD 1,II 7-9), Frauenlob (Stackmann/Bertau) IV,19. 161 Das Material zur Aufarbeitung der metapherngeschichtlichen Filiationen ist teilweise gut zugänglich. Ich nenne nur ganz knapp wenige Beispiele: Fechter (1958); Fechter (1964), S. 48ff.; Lange (1966); Salzer (1967); Spitz (1972), pass.; Ohly (1977), S. 93 ff.; vgl.auch Stammler (1959), pass. und die folgenden Anmerkungen 165, 169. 162 Auch nicht zum Beispiel in der einflußreichen Predigt De fallacia mundi aus den pseudoaugustinischen Sermones ad fratres in eremo (PL 40, Sp. 1290-1292; vgl. dazu Stammler [1959], S. 20f.; Schilling [1979], S. 103f.), welche den contemptus mundi zwar in langen Reihen von Kontrastformeln (bona - mala, vita - mors, gaudium - moeror, quietas - turbatio, pax - discordia, sanitas - infirmitas, lux - tenebra, risus - fletus usw.) höchst eindrucksvoll rhetorisch gestaltet, indes nur ganz ansatzweise auch entfalteter Metaphern sich bedient: mella tua [=mundus] et dulcedo tua asperitatem habent [...] (Sp. 1290). 163 Vgl. etwa GT 60, 206, 12275 usw.; das Material bei Freytag (1972), S. 143ff. 120 (6420), wird von Kurvenal in die gerichtete Abfolge der Dienst-Lohn-Logik auseinandergelegt. Anderen Bildern wie dem vom Sonnenglanz, das Gotfrit immer wieder der blonden Isolt zuordnet164, oder dem von Bilsensamen und Lilien oder Rosenblüten165 wird hier ihr metaphorologisches Komplement als Konsequenz zur Seite gestellt: Der sonnenglast bringt schûres hagel, und aus Weizensamen wachsen Disteln. Hier artikuliert sich anderes und mehr als ein verständnisloses Zurückfallen hinter das hochgespannte Postulat der Liebe-Leid-Annahme in Gotfrits Tristanfragment. Hier wird dessen metaphorische Umwertung vollzogen, so daß ein neuer, geistlicher Horizont sich öffnet. Denn die Welt, der zu entsagen Kurvenal nahelegt, verweist durch die Sequenz der ihr zugeordneten Bild- und Kontrastformeln im Modus der Negation stets auf einen geistlichen, zumal mariologischen Assoziationshintergrund: Die Absage an die Welt, welche auch die Welt der Liebe von Tristan und Isolt ist, wird in eine Bildreihe gefaßt, deren Elemente ebensogut der Tradition des Marienpreises wie jener des contemptus mundi entstammen.166 Dieserart wird von Kurvenal die Wahrnehmung der Tristanminne auf die Einsicht in die wâre minne vorbereitet, entspringt die geistliche Kritik an jener Tristanminne eben aus der Logik ihrer schon bei Gotfrit und dann bei Heinrich genützten Bildlichkeit. Heinrich läßt Kurvenal die Bilder als Bilder ernst nehmen und gewinnt ihnen derart eine Rezeptionsregel für die von den Bildern repräsentierte weltliche Minne sowie die zugehörigen Lebensformen ab. Diese Lektüre liest die Totenklage Kurvenals als das entscheidende Verknüpfungselement zwischen dem Verlauf der Tristanhandlung und ihrem Abschluß im Kloster sowie zwischen den in die Erzählung inserierten Wertungen der Tristan-Isolt-Liebe und ihrer Umwertung im Epilog. Handlungsablauf und Kommentarelemente sind hier gleichermaßen koordiniert. Kurvenals Weltabsage schlägt den Bogen zum Abschluß des Erzählgeschehens, und dieses gibt jener Recht, insofern Tristan und Isolt auf der 164 Etwa GT 8284, 8576f., 9460, 10165, 10891, 11010, 11026 = 11512, 12569f., 17587; siehe auch FT 787, 1626f., 4441, 4524ff. Vgl.Wessel (1984), S. 324ff. 165 GT 12232ff., vgl. auch 17988f. 166 Das sah zuerst Eyrich (1953), S. 158. Die mariologische Bildlichkeit hat umfassend Salzer (1967) gesammelt. Ich kann damit nicht konkurrieren und stelle darum nur zu drei Beispielen wenige Belege vorwiegend aus höfischer Literatur kontrastiv zusammen (vgl. auch die Anm. 164 genannte Literatur). Honig ohne Galle = Maria: Konrad von Fussesbrunnen, Kindheit Jesu 513; Konrad von Würzburg, Goldene Schmiede 1012; Hansens Marienlieder 1941f. - Honig mit Galle = die Welt: Hartmann, Armer Heinrich 108; Walther 124,36f.; Freidank 30,25f.; Jüngerer Titurel (Wolf) 1099,4; Meißner J II,2. - Rosen ohne Dornen oder Dornen überstrahlend = Maria: Salzer (1967), S. 14f., 183ff. - Rosen mit Dornen = die Welt: Meißner J II,2; Heinrich von Neustadt, Apollonius 16427ff. - Süße ohne Säure und Bitterkeit oder Saures versüßend = Maria: Reinmar von Zweter 14,9; Mönch von Salzburg G 5,78 (mit G 5,43). - Süßes sauer oder bitter machend = die Welt: Wolfram, Titurel 17,4; Freidank 31,10f.; Friedrich von Sonnenburg 22,11; Reinolt von der Lippe (HMS III,51b: II,3); Jüngerer Titurel (Wolf) 1099,3f.; Kreuzfahrt des Landgrafen Ludwig 7624f.; Ulrich von Etzenbach, Alexander 4872, 17372, 17388ff., 18604f., 26867ff.; vgl. auch Hartmann, Armer Heinrich 700ff.; Walther 69,22ff.; Neidhart Lied 55 II,5 V.8 (Beyschlag = Haupt 82,19; 83,19). 121 Burg Tintajol bestattet werden (6785ff.). Dort stiftet Marke ein Kloster, in das er sich selbst von der Welt zurückzieht.167 Nur und ausgerechnet dem Sprecher des contemptus mundi selbst bleibt die conversio versagt, seiner Hand fällt die Herrschaft über die hinterlassenen Königreiche zu.168 Parallel dazu hängen Kurvenalrede und Weltentsagung des Königs auch auf der Ebene der Bildlichkeit zusammen. Sieht man nämlich die Versuche, vom Namen des Klosters – a l’estelle sente Mariâ [...] zu sente Merienstern169 – zu chronologischer und gesellschaftlicher Situierung des Textes zu kommen, als gescheitert an 170, dann wird der Blick auf das Patrozinium selbst und darauf frei, daß Markes Kloster in übertragener Verweisfähigkeit als positive Reaktion auf die mariologisch assoziationshaltige Weltabsage verstanden werden kann. Als eine Reaktion zudem, der in Böhmen die Plausibilität einer ‘Realitätsfiktion’171 zugekommen sein mochte; in einer literarischen Landschaft nämlich, für welche die mariologische Auslegung tatsächlich existierender Klosternamen bezeugt ist.172 Der König wendet sich von der Welt ab und Maria zu und folgt so im aktualen Vollzug der Logik der Bilder des contemptus mundi-Abschnitts. Kurvenals Rede schlägt über den Abschluß des Geschehens hinaus aber auch den Bogen zum Epilog von Heinrichs Roman. Die geistliche Transzendierung der Tristanminne, die dort impliziert war und in einem metaphorisch aufgerissenen Assoziationshorizont mitgedacht werden mußte, wird hier explizit vollzogen. Modus dieses Vollzuges ist die Allegorese des Grabwunders, und das heißt, daß sich der Sprecher des Epilogs wie zuvor Kurvenal der Logik der Bilder anvertraue. In Rosenstock und Weinrebe auf dem Grab der Liebenden und im Vorgang ihrer Verschlingung entdeckt der Epilog eine geistliche Wahrheit. Diese hat im Kreuzestod Christi sowie in den rôten rôsen seiner Wundmale (6864ff.) ihre Mitte und reicht als derart heilsgeschichtlich perspektivierte sehr viel weiter als die Wahrheit der Liebe von Tristan und Isolt. 167 Vgl. 6800ff. Eilhart hat Markes conversio nicht (vgl. ET 9504 ff.), bei Ulrich ist sie als die Bußübung des Königs für die sündhafte schulde der Liebenden stilisiert (TT 3671ff.). 168 6813ff. Mit der Weltentsagung allein sind offenbar die Probleme gerechter weltlicher Herrschaft nicht zu lösen. So nützt der Herr die Möglichkeit, dem Mann jenes ‘Weltleben’ aufzuhalsen, vor welchem dieser (und mit ihm der Text) gewarnt hatte. Der Text spaltet also die Erfüllung widerstreitender Ansprüche auf und weist sie verschiedenen Rollenträgern zu; zu einem alternativen narrativen Verfahren in ähnlicher Situation Brackert (1984), S. 95ff. Dieser Herrschaftsaufgabe wie der narrativen Verknüpfungsfunktion seines Monologs entspricht übrigens Kurvenals Rolle in der ganzen Liebestodhandlung: er ist - anders als bei Eilhart (ET 9256ff.) und Ulrich (TT 3306ff.) - Tristans Bote zur blonden Isolt und bringt diese nach Karke, er klärt Marke von ende zu ende (6725) über die fatale Geschichte auf und tritt dann als Alleinerbe an. Kurvenal ist jene Figur, die beim Sterben der Liebenden den Zusammenhalt der Handlung verbürgt. Heinrich rekonstruiert damit gegen seine deutschsprachigen Quellen der Estoire-Tradition gerade Elemente jener Version des Liebestodes, welche Thomas (2131-2156) entschieden verworfen hatte: Il sunt del cunte forsveié (2151); vgl. Deighton (1979), S. 247; Brackert (1984), S. 98. 169 6804, 6808. 170 Vgl. FT (Bernt), S. 186ff.; Sedlmeyer (1976), S. 243f.; Bumke (1979), S. 258 und Anm. 66. 171 Eine Prägung Kurt Ruhs (Wernher, Helmbrecht S. XVI). 172 Zum Beispiel bei Konrad von Haimburg für die Kartausen Gaming und Smichov (bei Prag), vgl. Franz Josef Worstbrock, in: 2VL Bd. 5 (1985), Sp. 185. 122 Der Gesamtzusammenhang der Erzählung, und das begreift immer auch Gotfrits Torso mit ein, wird so zum Negativexemplum, zum spiegel (6848), in dem der werlde minner (6847) die Vergänglichkeit werltlîche[r] minne (6851) erkennen mögen, auf daß sie herze, muot und sinne hin zu der wâren minne wenden, die unzurgenclîch immer ist (6857ff.). Eine solche antiidentifikatorische Rezeptionsanweisung ist in der Tristanepik des 13.Jahrhunderts noch völlig singulär173, und ebenso ist es das Verfahren der Allegorese, dessen sie sich bedient. Diesem übrigens kommt umsomehr Gewicht und Überzeugungskraft zu, als die hergestellten Zeichenrelationen von der Schrift und den Traditionen ihrer Aneignung unbezweifelbar autorisiert sind.174 Damit hat meine Interpretation ihr Material ausgebreitet. Es bleibt, die freigelegten Elemente dieser Tristanfortsetzung zusammenzulesen. Zwei Modi der Kommentierung, Deutung und Anleitung zur rechten Rezeption der ganzen Tristangeschichte nützt, so war zu sehen, Heinrich von Freiberg im mit der Gamaroch-Handlung anbrechenden Schlußteil seines Textes. Einerseits macht er von der Möglichkeit des perspektivisch verschiedenen Sprecherrollen (Erzähler, Kurvenal, Autor) zugewiesenen, den Gang der Handlung einhaltenden Kommentierung Gebrauch. Diese wendet sich retrospektiv auf das Erzählte, die Vita des Protagonisten seit den Tagen Riwalins, zurück und bekommt eben so sukzessive den Blick auf das eigentliche Ziel des Erzählens frei, auf seine Funktion als speculum weltverfallener, heilsferner Liebe. Darin ist die Regel einer richtigen Wahrnehmung der Geschichte als Distanzierung und Abwendung von ihr hin zur Gottesminne formuliert. Dem steht komplementär die Erzählung der Kaedin-Kassie-Nampotenis-Geschehnisse als indirekter Kommentar zur Seite, als episches Modell, welches die notwendigen Folgen einer rezeptiven Identifikation mit dem Protagonisten des Tristanromans drastisch vor Augen führt: den Tod als Preis der ehebrecherischen Sünde. Hier wie anderswo gerät der Erzählliteratur das schlechte Falsche – im Erzählen als Kommentar – plastischer und dramatischer als das gute Wahre – im Kommentar zur Erzählung. Vergegenwärtigt man sich nun aber, daß die identifikatorische Aneignung der Verhaltensnormen und Rollenmuster der Tristanfigur nicht nur Kaedin als seinerseits episch figurierten Rezipienten in den Tod stürzt, sondern auch Tristan selbst zum Sterben bringt, denn eben als Begleiter seines Imitators empfängt er die lebensgefährliche Wunde175, dann liegt die Pointe von Heinrichs Tristanfortsetzung und dieser 173 Vgl. aber Prosaroman Tristrant und Isalde Z. 5174ff. Zur Rose als Bild Christi vgl. Hilbrink (1954), S. 128 Anm. 3, 130; Deighton (1979), S. 290; Thelen (1989), S. 629. Der Weinstock oder die Rebe als Bild des Volkes Israel und der Kirche sind biblisch geläufig (etwa Ps. 79,9ff.; Jes. 5,1-7; Jer. 2,21 usw.; Ez. 5,1ff.; Hos. 10,1; Matth. 21,33ff.; Joh. 15,1ff.; Apoc. 14,18). Bildlichkeit des Verflechtens ist vor allem in der Umschreibung der trinitarischen Perichorese und der Inkarnation gebräuchlich (vgl. Kern [1971], S. 189ff., 254ff.), zur Aussage des Verhältnisses von Christ und Christus - der Epilog bittet Gott, daz er lâ vlechten sich in uns den wâren blüenden rôsendorn (6878f.) - vgl. Hilbrink (1954), S. 129. 175 Der Anteil der weißhändigen Isolt von Karke am Tod Tristans und seiner Geliebten ist dabei eventuell weniger belangvoll: Unter den Bedingungen der Traditionsgebundenheit des Erzählens, die sich als Erwartungshaltung eines Publikums gegenüber der Tristangeschichte aktualisiert haben mag, ist Isolt Weißhands Lüge vom schwarzen Segel handlungslogisch wohl unver174 123 Interpretation auf der Hand. Das mögliche nicht-katastrophische, gute Ende der Geschichte und ihrer Protagonisten, das am Rande der Nampotenis-Handlung für einen Augenblick aufscheint und auf dessen Plausibilisierung hin Heinrich seine ganze Erzählung angelegt hatte, tritt genau deswegen nicht aktual und dauerhaft ein, weil Kaedin Tristan zu imitieren unternimmt. Dem Fall ihrer Anwendung in einer anderen als der ihr eigenen (epischen) Realität hält die Tristangeschichte mit ihren Normen und Handlungsmustern selbst nicht stand. Unter dem Rezeptionsaspekt gesprochen heißt das: Die Tristangeschichte gehe bei Heinrich von Freiberg tödlich aus, weil sie falsch – eben identifikatorisch – rezipiert werde. Die Logik der Rezeption determiniert die Logik der Geschichte. Damit dies möglich und deutlich werde, dispensiert sich der Erzählvorgang seit seinem Neueinsatz nach der Karker Hochzeit von jener auf einen tragischen Telos zulaufenden Zielstrebigkeit des Handlungsgeschehens, die er im fortgesetzten Epentorso vorgefunden hatte. Es ist schwer vorstellbar, wie eine solche Logik der Rezeption der Geschichte als Logik dieser selbst unter den gegebenen Bedingungen strukturell anders hätte epische Gestalt gewinnen können, als in der von Heinrich gefundenen Form. Und das Besondere dieses narrativen Prozesses liegt weniger in der Erzählung einer identifikatorischen Tristanrezeption, denn so war im Prinzip schon Ulrich von Türheim verfahren, als vielmehr darin, diesem Rezeptionsverhalten Kaedins allein den tragischen Ausgang anzulasten dadurch, daß bis kurz vor Schluß immer auch ein anderer, guter Ausgang möglich wäre. Wie dieses potentielle happy end selbst so hat Heinrichs Roman, den Nexus von Handlungsverlauf und Rezeptionsmodus bestätigend, auch die Bedingung eines guten Schlusses im Blick: die richtige, nicht identifikatorische Rezeption der integralen Tristangeschichte als eines warnenden Exempels, die im Modus der Kommentare präsentative Gestalt gewinnt. Wenn man so interpretieren kann, dann allerdings würde sich an wenigstens dieser Stelle das Verhältnis von fortgesetztem und fortsetzendem Roman relativieren, geriete das vermeintlich sichere Gefälle zwischen Klassiker und Epigone ins Fragliche. Denn dann hätte Heinrich einen der aus neuzeitlicher Perspektive zentralen Aspekte von Gotfrits ästhetischem Programm besser verstanden176, als ihm gemeinhin zugetraut wird, und er hätte ihn als Erzähler produktiv rezipiert: Gedenkt man ir ze guote niht, von den der werlde guot geschiht, sô wære ez allez alse niht, zichtbar, aber sie vollzieht nur, was von früher her angelegt und begründet ist, und Heinrich hat sie aus dem sinnkonstituierenden Wertungsgefüge seiner Erzählung ausdrücklich herausgenommen als schlechten Scherz: ez was ein toerisch ungelimpf (6390); vgl. oben S. 71. 176 Damit übrigens stünde er nicht völlig allein, wie sich, so meine ich, etwa an Reflexionen in Rudolfs Willehalm von Orlens (hier kontingentiert Rezeption eine Unbestimmtheit des Textes, und macht ihn so erst identifizierbar, vgl. 112ff., 2152ff. u.ö.) oder am Crane Bertholds von Holle zeigen ließe, welcher kommunikative Umsetzung als Bedingung seiner selbst in die Inszenierung seines Konstitutionsprozesses aufnimmt (vgl. 2692 ff. und jene Stellen, an denen das Erzählen seine Abhängigkeit von den Spöttern im Publikum erzählt: 1272ff., 1600ff., 1891, 2131ff. usw.; ich akzentuiere anders als von Malsen-Tilborch [1973], S. 140ff.). 124 swaz guotes in der werlde geschiht. Und weiter in Gotfrits sechster Prologstrophe: êre unde lop diu schephent list, dâ list ze lobe geschaffen ist: swâ er mit lobe geblüemet ist, dâ blüet aller slahte list.177 Am Anfang seiner Erzählung thematisiert Gotfrit programmatisch die Abhängigkeit der Kunst von ihrer Aufnahme durch ein Publikum. Und darin steckt im Kern schon jenes rezeptionsästhetische Axiom178, welches die Erzählung, den Text, von der Rezeption her determiniert sieht und welches Heinrichs Tristanschluß gewissermaßen in malam partem erzählerisch entfaltet, insofern er den Protagonisten der Erzählung schließlich an deren identifikatorischer Rezeption scheitern läßt. 177 178 GT 1-4, 21-24. Vgl. dazu Eifler (1975), S. 376; Peschel (1976), S. 28ff.; GT (Krohn), Bd. 3 S. 14ff.; Haug (1985), S. 195ff. 125 ZWEITER TEIL ARABEL UND WILLEHALM, RENNEWART UND MALEFER ZWEI STUDIEN ZU DEN WILLEHALM-FORTSETZUNGEN ULRICHS VON DEM TÜRLIN UND ULRICHS VON TÜRHEIM 126 V. ERSTE STUDIE: DIE NARBEN DER HELDEN UND DIE FESTE DES HOFES. ULRICHS VON DEM TÜRLIN ARABEL 1. Zugänge: Die Weiterführung dieser Studien, der Schritt von einem ersten Teil über die TristanRomane des fortgeschrittenen 13.Jahrhunderts zu einer Analyse der WillehalmRomane Ulrichs von Türheim und Ulrichs von dem Türlin ist im Lichte der hier leitenden Fragestellungen nicht so sehr der Wechsel von einer Liebes- zu einer Kriegshandlung, noch gar jener zwischen zwei ohnehin kaum scharf zu scheidenden poetologisch-stilistischen Traditionslinien. Konkurrierenden Fortsetzungskonstellationen stehen nun vielmehr solche komplementärer Art zur Seite. Das verändert das Inventar der Einsicht versprechenden Analyseinstrumente. Ich kann hier nicht zwei in ihren Grundzügen stoffgleiche Fortsetzungen interpretierend gegeneinanderspielen. Überhaupt – zumal unter den gegebenen Stoffquellenkonstellationen der deutschsprachigen Chanson de geste-Tradition – lassen sich Möglichkeiten des erkenntnisfördernden Vergleichs wechselnder Erzählversionen eines epischen Zusammenhangs nur in viel geringerem Maße als beim Tristan nützen. Hinzu kommt, daß die Gegebenheiten der Forschungssituation, ja auch die zu bewältigenden Textmengen den im folgenden gesuchten Zugang nicht erleichtern. Denn, zu Anfang dieses Untersuchungsteils sollte vielleicht eine Zahl einmal die epischen Dimensionen vergegenwärtigen, der deutschsprachige Erzählzyklus um Willehalm von Oranse umfaßt in seiner repräsentativen handschriftlichen Gestalt etwas mehr als 60.300 Reimpaarverse. Und von diesen gehören nur die knapp 14.000 Verse des Wolframschen Mittelstücks nicht zur terra incognita der mediävistischen Germanistik. Der Versuch, dieses Gelände unter immer auch erzählgeschichtlicher Fragestellung ein Stück weit zu vermessen, steht nicht zuletzt darum im Zeichen merklicher Anfangsschwierigkeiten; schon die Profile der Überlieferungsgeschichte des großepischen Konglomerats sind nicht alltäglich.1 Vor solchen Problemen stünde aber nicht nur die literarhistorische Bemühung um den integralen Zyklus, vor ihnen steht vielmehr, in abgestuftem Grade, auch bereits die Arbeit an dessen einzelnen Teilen. Insbesondere gilt dies für den Roman Ulrichs von dem Türlin. Hier ist alles noch ganz unfertig und schon die Formulierung eines Werktitels, die Bestimmung des Textumfangs bedeuteten Festlegungen, denen allgemeine Zustimmung kaum sicher wäre. Seit W.J.C.G.Casparsons Abdruck der Handschrift 2° Ms.poet.et roman.1 der Murhardschen und Landesbibliothek Kassel2 und dann allgemein seit Samuel Singers 1 2 Vgl.unten X.2. W.I.C.G.Casparson (Hg.), Wilhelm der Heilige von Oranse. Erster Theil, von Tvrlin oder Vlrich Tvrheim, einem Dichter des schwäbischen Zeitpuncts. Cassel 1781, bes.S.IVf. Vgl.dazu ders., 127 kritischer Ausgabe 1893 hieß Ulrichs Text Willehalm. Indes hat die von Werner Schröder im Anschluß an seine Neuausgabe von Wolframs Spätwerk vor einem Dezennium begonnene Überprüfung der Textgeschichte nicht nur Singers Edition ihres Fundaments, sondern auch Ulrichs Text seines eingeführten Forschungstitels beraubt. Arabel sollte er nach Schröders Willen heißen, der damit dem Beispiel der Umbenennung des Türheimschen Willehalm in Rennewart durch Alfred Hübner3 folgte und seine Entscheidung ganz pragmatisch mit dem Wunsch begründete, die drei Teile des Willehalm-Zyklus auch nach ihren Titeln bequem auseinanderhalten zu können.4 Jüngst hat Hans-Joachim Behr demgegenüber vorgeschlagen, den alten Titel zu wahren und Verwechslungen durch den Zusatz 'Vorgeschichte' auszuschließen. Indes macht schon Behrs Kritik an Schröders Umbenennung die Problematik seiner eigenen Nomenklatur deutlich: jene verschleiere "die richtige Erkenntnis Singers, daß Ulrichs Text in erster Linie Wolframs Dichtung ergänzt und sich allein aus dieser ableitet [...]."5 Aber auch dies steht in Frage – von der Dichotomie zwischen klassischer Originalität und nachklassischer Unselbständigkeit, welche sich in Behrs Problemzuspitzung auch verbirgt, ganz zu schweigen. Timothy McFarland hat eben dies plausibel zu machen versucht: die genuine Selbständigkeit des Textes, der erst auf späteren Bearbeitungsstufen zu einer 'Vorgeschichte' für Wolframs Willehalm (und den Rennewart) umredigiert worden sei.6 Damit steht eine von der Überlieferungsgeschichte her kaum definitiv zu entscheidende Kontroverse an, die im Rahmen literarhistorischer Textinterpretation erst noch auszufechten wäre. Ihrem Ergebnis nicht vorgreifend, empfiehlt sich Schröders Arabel-Vorschlag doch aus praktischen Gründen in einer Arbeit, welche wie die vorliegende immer auch den gesamten Willehalm-Zyklus im Blick hat. Dies freilich nur unter der Bedingung, daß mögliche Implikationen der Titelwahl bewußt werden. Die Neubenennung ist keineswegs nur ein so bewußtlos pragmatischer Vorgang, wie Schröder insinuiert. In der Substitution von Willehalm durch Arabel steckt auch das banalste Geschlechterklischee von Kampf und Liebe, denn aus dem "Rittergedicht", das der Türlinsche Text seit dem Titelblatt von Singers Ausgabe war, ist bei Schröder ein "Minneroman" geworden.7 Dies aber, so bequem der neue Titel sein mag, wäre eine Konnotation, welche hier nicht übernommen werden kann, weil sie, so soll im folgenden auch dargetan werden, als Kernthese einer Arabel-Interpretation nicht haltbar ist. Der Versuch, das Forschungsobjekt des folgenden Kapitels auch nur zu benennen, hat bereits die zentralen Probleme und – sofern sie jedenfalls den engsten Raum der 3 4 5 6 7 Ankündigung eines deutschen epischen Gedichts der altschwäbischen Zeit aus einer Handschrift der Fürstlichen Hessen-Casselischen Bibliothek. Cassel 1780. Vgl.TR (Hübner), S.VII. Vgl.Schröder (1985), S.6ff. Zuerst Schröder (1980), S.7; sodann AlA (Schröder), S.XI. Behr (1989), S.125f., Anm.4. McFarland (1987), S.58ff. Schröder (1984), S.6 u.ö.; vgl.unten S. V.3. 128 Diskussion um die bloße Sicherung der Überlieferung verließen8 – auch schon die Vertreter dessen versammeln müssen, was man Ulrich von dem Türlin-Forschung nennen könnte, evozierte ein solches Wort nicht die ganz unangemessene Vorstellung eines wissenschaftlichen Diskussionszusammenhanges. Denn den gibt es nicht, und besonders auffällig ist "bei einem gedichte von der dunkelheit des vorliegenden" 9 die reziproke Relation von weitestgehendem wissenschaftlichem Desinteresse und den Ausmaßen des überlieferungs-, text- und literaturgeschichtlichen Problemgeflechts, das sich mit der Arabel stellt. Nicht erst die Grundzüge einer Interpretation des Gedichts sind bislang allenfalls skizziert worden, schon deren Textbasis ist noch ganz unvollständig, und dies darum, weil die Textgeschichte hier so verwickelt ist wie bei keinem anderen höfischen Roman des 13. Jahrhunderts.10 In der überwiegenden und repräsentativen Zahl der Fälle begann die WillehalmTrilogie mit einer mitten im Satz abbrechenden, fragmentarischen Version *R von Ulrichs Arabel. Eine auf die konkreten historischen Konfigurationen des Erzählens von Willehalm und Arabel bezogene Untersuchung hat darum kaum eine andere Wahl, als eben diese Redaktion, "offenbar die Vulgata des 14.Jahr-hunderts"11, zur Grundlage der Interpretation zu machen – wer immer ihr Urheber gewesen sein, wie fern sie dem Autor Ulrich gestanden und wie wenig sie in einem anachronistischen Sinne auch authentisch sein mag. Die Untersuchung hat indes handfeste Schwierigkeiten damit, daß sie kaum eine andere Wahl hat. Sie kann beim gegenwärtigen Stand des textgeschichtlichen Wissens um die Arabel und demjenigen ihrer editorischen Erschließung nicht mehr zur einzig vollständigen Ausgabe zurück, "weil aus Singers kritischem Text der von ihm angenommenen ersten 'Arabel'-Bearbeitung (*A) durch Ulrich von dem Türlin selbst der in der Heidelberger Handschrift A (nebst zugehörigen Fragmenten) vorliegende nur mit Mühe und derjenige der seiner Ansicht nach zweiten Bearbeitung (*R), deren Abweichungen sämtlich in den Apparat verbannt sind, wohl überhaupt nicht zuverlässig zu entnehmen sind."12 Andererseits liegt in Schröders 'Arabel'-Studien bislang erst der Text *R 1-199 (und entsprechend *A 1-194) in neuer Herstellung vor.13 Ich 8 Vgl.dazu vor allem Suchier (1873) und Bushey (1982); stilgeschichtliches Material haben Klinkott (1911) und Popp (1937) zusammengestellt, Aspekte der epischen Deskriptionstechnik untersuchte Hennig (1959). 9 Carl Kraus, Rezension von TA (Singer), in: AfdA 22 (1895), S.50-63 (hier S.63). 10 Vgl.dazu X.3. 11 Schröder (1985), S.10. 12 Schröder (1982), S.15. 13 Es fehlen noch 118 Einunddreißiger einer Ausgabe, die sich zudem erst sukzessive zum Plan einer kritischen Neuedition gemausert hat (vgl.Schröder [1988a], S.7f.; ders.[1988b], S.5ff.) und mit mancher Uneinheitlichkeit belastet ist, welche zu den unvermeidlichen Begleiterscheinungen einer solchen Fortsetzungsedition gehören mag (vgl.meine Rezension in: Arbitrium 9 [1991], H.2). Am gravierendsten ist dabei sicherlich das Fehlen des Erzählergebets *R 135,16-139,27 (insgesamt 152 Verse) im Augenblick der Abfahrt Willehalms und Arabels von Todjerne, welches der Ausgabe unbemerkt anscheinend auf dem Weg ihrer Drucklegung verloren ging; vgl.Schröder (1984), S.190. Der Text ist gedruckt in Singers Apparat zu 135,14. Auch in seinen textanalytischen Teilen wird dieses Kapitel wiederholt die Form der Auseinandersetzung mit 129 behelfe mir im folgenden, indem ich für das letzte Drittel des *R-Textes (200,1317,10) zwar Singers alte Zählung beibehalte (Si 195,1-312,10)14, jedoch nach einer Kopie von Schröders *R-Leithandschrift B (Ms. germ.fol. 1063) zitiere. Die dieser Handschrift am Ende der Arabel fehlenden Textstücke15 ersetze ich mit dem (gegebenenfalls am Fragment 6 = Cod.vindob.3035 kontrollierten) Wortlaut der Handschrift V.16 Die Ordnung des Erzählens, zu dessen Wortlaut schon man sich derartige Brücken bauen muß, ist zunächst kaum schwer zu durchschauen. Offenkundig ist das Zusammengesetztsein der Arabel Ulrichs von dem Türlin17 aus drei großen Erzählblöcken, oder, wechselt man den Wertungshorizont, ihr Zerfallen in drei Teile. Sie lassen sich nach Stoffen, Handlungsschemata und Motiven gegeneinander absetzen. Ein erster Arabel-Hauptabschnitt, so hat Timothy McFarland entsprechende Beobachtungen gebündelt, "steht inhaltlich wie thematisch Wolfram und der Welt der Chanson de geste am nächsten."18 Das Mittelstück sodann lasse sich als "Minne- und Abenteuerroman" in der Tradition höfischer Brautwerbungsgeschichten verstehen und transformiere die Chanson de geste des ersten zum "späthöfischen Repräsentationsroman" des Schlußabschnitts.19 Dieses Modell eines epischen Wandlungsprozesses vom ersten zum dritten Teil des Textes ist McFarland ein Beispiel Werner Schröders Arabel-Interpretation annehmen. Dies kann deswegen nicht unterbleiben, weil die Textausgabe stets in Begleitung gleichermaßen detaillierter wie pointierter Deutungen auftritt. Doch haben diese mit nur einem Auge das Verständnis des Romans selbst, mit dem andern aber die Apologie bestimmter ästhetischer und zugehöriger methodologischer Prämissen im Blick. Daß meine Kritik daran zuweilen auf ironische Töne nicht gänzlich verzichtet, wird im Verlauf der Ausarbeitung dieses Kapitels eingetretene Wirkung tagtäglicher Reibung an Schröders Studien sein; legitimiert fühle ich mich durch den Kritisierten, einen großen Kritiker, selbst: "Streit ist das Salz der wissenschaftlichen Auseinandersetzung und Polemik der Pfeffer" (Schröder [1989], S.X; vgl.dazu die Rezension von Bernd Schirok in: ZfdA 119 [1990], S.353-359, hier v. a. S.358f.). Freilich kann man sich dieserart die eigene sachbezogene Argumentation auch versalzen. Ich hoffe, dies zu vermeiden werde im folgenden gelungen sein. 14 Das Kürzel Si verweist auf die Abschnitts- und Verszählung seiner Ausgabe. 15 Teils wegen Blattverlustes: gut ein Drittel von fol.24 ist ausgeschnitten; teils wegen des Textendes mit Si 307,15. 16 Cod.vindob.2670; ich benütze Hegers Faksimile-Ausgabe. Beim Zitieren löse ich Abkürzungen auf, schreibe Eigennamen groß, interpungiere sparsam und zeige Änderungen am handschriftlichen Text (außer im Fall der Majuskeln am Zeilenanfang) durch spitze Klammern <> an. Zur Begründung dieser Auswahl vgl.Schröder (1982), S.17; die "relative Ausnahmestellung von H"(Cpg 395; Schröder [1988b], S.254) schloß diese Handschrift als Ersatz für die Lücken in B aus. 17 Vgl.die ausführliche Inhaltsangabe X.4. 18 McFarland (1987), S.61. Daß McFarlands Versuch der Textgliederung terminologisch problematisch geriet, insofern er einen Gattungsbegriff anwendet, der ein undefiniertes Konglomerat stofflicher, thematischer und poetologischer Textelemente sowie literarhistorischer Traditionszusammenhänge umgreift und nicht auf den Text, sondern nur dessen Teile zielt, dies tut der Triftigkeit seiner Beobachtungen weniger Abbruch als der Reichweite des daraus entwickelten Erklärungsansatzes. 19 Ebd.S.65. 130 "typische[r] Entwicklungsformen der späthöfischen Großepik."20 Doch bedeutet dies vielleicht nicht viel mehr als eine erste Annäherung an das Problem des erzählfunktionalen Nexus der drei Teile, nach der Kohärenz des etappenweise gegliederten epischen Prozesses. Dessen triadische Ordnung ist schon deswegen unübersehbar, weil sie dem Erzählten auch topographisch eingeschrieben ist. Die Welt des ersten, chanson de gestehaften Teils ist in Südfrankreich, in den abendländischen Grenzmarken zur den Heiden als Glacis dienenden iberischen Halbinsel situiert, das Mittelstück spielt im Orient, die Welt der höfischen Feste dann schließlich liegt wieder zwischen der französischen Hafenstadt Rivetinet und Munleun (Laon). Getrennt werden die Räume vom Meer, aufeinander bezogen sind sie ganz oberflächlich schon durch die die mediterrane Grenze überwindende Seefahrt. Topographie und Handlungsgang der Erzählung begegnen sich in der erzählten Reise und überkreuzen sich dort. Zweimal befährt Willehalm die See, als er nämlich, auf dem Schlachtfeld von Runzeval unglücklich in die Hand der Sarazenen gefallen, in des Königs Tybalt Hauptstadt Todjerne verschleppt wird, und sodann, als er nach Jahren mit Tybalts Gattin Arabel auf die Christeninsel Montanar flieht und von dort zur südfranzösischen Küste weitersegelt. Darin bildet sich, noch ganz simpel, jener Nexus zwischen den drei Erzählblöcken des Epos ab, der immer wieder ins Blickfeld der folgenden Analysen treten wird. Willehalms beide Seefahrten lassen sich auf ein narratives Grundschema von der 'Ausfahrt' des epischen Helden und seiner Rückkehr beziehen. Neue Dimensionen ihres Sinns treten so schnell zutage. Jene zunächst, daß die Seereise nach Todjerne und die Rückpassage über Montanar nach Rivetinet je ein Ausschnitt umgreifender Desintegrations- und Reintegrationsprozesse sind, welche die Erzählung nur zum Teil in der Form einer Seereise erzählt. Ausfahrt und Rückkehr sind Prozesse, welche andere, nicht oder nicht gleichermaßen auffällig auch in topographische Semantik gefaßte Vorgänge fortsetzen und ihrerseits von solchen fortgesetzt werden, in denen solch andere sich sinnfällig verdichten. So wird an der Geschichte des Protagonisten im ersten Hauptteil der Arabel die Struktur eines freilich nicht retardationsfreien Desintegrationsprozesses sichtbar, dessen Ausgangsniveau die vorangestellte Geschichte seiner Eltern bezeichnet. Dieser erste Hauptteil der Arabel (*R 7,1-55,17) beruht stoffgeschichtlich ganz auf rekapitulierenden Andeutungen in Wolframs Willehalm21 und ist gut durchschaubar in drei Erzählschritte gegliedert: 1. Heimrich von Naribon und seiner Söhne Enterbung, 2. Willehalms erste tat (*R 30,3) im Heidenkrieg sowie Loys' Krönung und Hochzeit, 3. die zweite Runzeval-Schlacht mit Willehalms Gefangennahme. Schrittweise und von Episoden glanzvoller gesellschaftlicher Auszeichung unterbrochen hat sich der Protagonist vom Zentrum seiner Herkunft und dann auch den Wertinstanzen 20 21 Ebd. Am wichtigsten WW 5,16-7,22. 91,24-92,3. 145,16-146,11. 220,14-23. 293,28-294,13. Seit der vor allem auf das Namensmaterial der Arabel gestützten Untersuchung von Suchier (1873), S.36ff., gilt der Willehalm in der Forschung als deren einzige Quelle. 131 seiner Welt entfernt. Konkret gerät das in jenem strategischen Lapsus, welcher die Gefangennahme als Kulminationspunkt dieses Weges in die Vereinzelung und den personalen Wertverlust erst ermöglicht: der Margraue iagte sere nach, im was zu iagen also gach, daz in sin ors so sere vertruoc.22 Ganz konkret ist hier die Entfernung von der Truppe, das Ausbrechen aus dem Kriegerkollektiv, welches Sippschaftsverband und Reichsheer zugleich ist23, als Schritt in die Niederlage episches Bild geworden. Der Desintegrationsprozeß setzt sich sodann in der Verschleppung nach Todjerne fort und gelangt, nach kurzer Begegnung mit der Königin, erst dort im heidnischen Kerker an seinen tiefsten Punkt. So endet in der Arabel die Ausfahrt des Helden. Nur ein Teil von ihr war seine erste Seereise, in welcher sich die Bewegungen des Protagonisten und die topographische Ordnung der erzählten Welt verschränken. Demgegenüber ist die Flucht über die See, gemeinsam mit der aus der Situation der Gefangenschaft heraus erworbenen Frau, ihrerseits lediglich Etappe eines umfangreicheren Vorganges, der sich insgesamt als Aristie des Helden lesen lassen wird – darum genügen hier vorerst wenige Markierungspunkte. Aus dem Kerker heraus führt er über wachsende Annäherung an Arabel und ihre Liebe, über Befreiung, Entführung der Frau nach Frankreich zu einer Sequenz hochcharistokratischer Zeremonialhandlungen. Im Glanz wiedererrungener Ehre kehrt Willehalm auf diesem Wege dorthin zurück, wo seine Geschichte begann. Ulrichs Arabel-Roman erzählt, akzentuiert man das Geschehen so, den Durchgang des Protagonisten durch eine 'Gegenwelt'. Doch stellt sich diese hier, im Gegensatz zu vergleichbaren späten höfischen und zumal Artusromanen, nicht als das schlechthin Andere, Unverfügbare und Unbegreifliche vor, sondern als bestimmte Negation der eigenen Welt: als die permanent bedrohliche, zugleich in ihren zivilisatorischen Idealen auch vertraute Welt der Heiden. Im Bild des Durchgangs aber geraten Ausfahrt und Rückkehr des Helden zusammen. Sie verknüpfen nicht nur je für sich zwei der drei großen Romanteile, sie sind selbst als Des- und Re-Integration, als Prozesse von Distanzzuwachs und -minderung aufeinander bezogen. Daran aber – und dies wäre der zweite perspektivische Zugewinn einer Einordnung der beiden Seereisen Willehalms in übergreifende Abläufe – erweist sich die Trias großer Erzähleinheiten in Ulrichs Text als Geflecht interdependenter Elemente eines epischen Prozesses. Primär ist nicht die Isolation der Romanteile, welche erst im Nachhinein überspielt wäre, primär ist ihre Permeabilität. Abendland, Morgenland und wiederum Abendland oder Innenwelt, Außenwelt und Innenwelt oder Chanson de geste-Teil, Minneund Abenteuerroman sowie späthöfischer Repräsentationsroman, ihre drei großen Abschnitte also sind in Ulrichs Arabel in ursprünglicher Übergängigkeit konzipiert. 22 *R 48,25-27; vgl.auch *R 103,24ff. Si 231,6ff. Aus Anlaß von Poydwiz' tödlicher Niederlage verallgemeinert Wolfram solche Erfahrung in sentenzartiger Weise (vgl.Pörksen [1971], S.138): swer die sinen ie verkos, der wart eteswenne ouch sigelos (WW 412,19f.; vielleicht ein Zitat nach Zatzikhoven, Lanzelet 131f.). 23 Vgl.*R 33,22ff. 36,28ff. 39,5ff. 40,23ff. 132 Daraus ergibt sich eine erste Interpretationsregel für die Arbeit an diesem Text. Sie muß auf das Transitorische zielen, auf die prozeßhafte Verflechtung der narrativen Elemente. Bisherige Bemühungen um Ulrich von dem Türlin waren hingegen, der Komplexität des Textes und der Unterentwicklung des Forschungsstandes gemäß, auf die Isolierung einzelner Textsegmente gerichtet. Selbst Werner Schröders Edition bietet ja, aus entstehungsgeschichtlich gut vertretbaren Gründen selbstverständlich, einen entlang der Grenzen der drei Erzählteile parzellierten Text. Solches Zerlegen des epischen Kontinuums auch bei der Textanalyse, die Mißachtung der Episodizität der Episoden, also ihres Vernetztseins mit immer anderen, generiert zum Teil allererst Problemgebilde, welche bisherige Interpretationen stark beachtet haben.24 Umgekehrt scheint mir der Versuch, die Episodizität der Arabel-Episoden, ihre prozeßhafte Übergängigkeit in folgende Erzählabschnitte, ihre teleologische Funktion für vorangegangene interpretierend zu fassen, eine der wichtigen Voraussetzungen jedes seiner Komplexität angemessenen, integrativen Verständnisses des Romans. Dieser Versuch wurde oben mit der von Willehalms Reisen durch die Romanwelt ausgehenden Annäherung an das Prozeßhafte der Arabel-Handlung begonnen. Doch trat dabei erst der strukturelle Zusammenhang dieses Weges als Durchgang durch eine 'Gegenwelt' vor Augen, noch nicht auch, was im Modus dieses Weges geschieht und was dessen Sinn wäre. Einen Zugang zu solcherart thematischen Zusammenhängen gewährt die Erzählung Ulrichs von dem Türlin am bemerkenswertesten Punkt epischer Redundanz. Was der Erzähler erzählt, berichtet sein Held später nochmals vor den Großen des fränkischen Reiches. So ist in dem riesigen Komplex höfischer Festhandlungen, welcher die Arabel beschließt und in welchem der Bericht Willehalms – er steht zusammen mit Arabel auch im Mittelpunkt dieser Feiern – seinen Platz hat, dasjenige gegenwärtig, was dem Protagonisten vor dem Fest widerfuhr und worauf also das Fest selbst bezogen ist. Zugleich entstehen mit der Wiederholung des Erzählten Möglichkeiten intratextueller Kontrastierung. Ich erwarte also von dem scheinbar redundanten Erzählen vom Erzählen des längst schon einmal Erzählten wichtige Sinnbildungsleistungen für den Text insgesamt. Das rechtfertigt sich schon deswegen, weil die eigentlichen Adressaten von Willehalms Bericht die Rezipienten der Arabel, nicht jene Zuhörer in Orange sind, welche sich gegebenenfalls auch mit einer bündigen Erzählerbemerkung des Inhalts hätten begnügen müssen, Willehalm habe seine Geschichte erzählt. Die Funktion der in Rede stehenden Binnenerzählung ist zunächst keine andere als diese: Kontraste zu erzeugen, die Abbildung von Willehalms Bericht auf die auktoriale Erzählung desselben Stoffes zu ermöglichen. So setzt die erzählte Figurenrede gegenüber der auktorialen Erzählerrede Akzente, und zwar durch Selektion, Variation und Extension. Willehalms Bericht wählt aus dem Komplex des überhaupt Erzählten die Strecke von seiner Gefangennahme bis zum Untergang der heidnischen Verfolger vor Montanar aus und verknüpft das durch wenige abschließende Worte (Si 242,2-15) 24 Der Exkurs X.5. führt das an Beispielen vor. 133 mit der gegenwärtigen Berichtssituation. So kommt dem Ereignis der Gefangennahme eine singulär herausgehobene, initiale Bedeutung zu. Alles, was Willehalm sonst noch zu erzählen weiß, erscheint als unmittelbare oder indirekte Folge der Niederlage, mit welcher der chronologische Bericht beginnt: der iamer wart min wisel, do schumpfentúr mich nam zu gisel, daz doch an vnprise ergie; ich gebot noch vnder helme nie durch vinde kraft sicherheit. do ich vf dem iagen mich verreit in poynder kraft vf daz mer, der künige entschumpfiertes her sahen, daz mich das ros vertrúc. [usw.] (Si 231,1-9) Nicht Elternvorgeschichte oder Enfance Guillaume (mit Enterbung und Erziehung am Kaiserhof) oder die historiographieähnliche Einbettung des Willehalm-Romans in die Reichsgeschichte, vielmehr der schändlichste Augenblick im Dasein des Protagonisten, der Moment der Zerstörung seiner adeligen Heldenhaftigkeit wird durch die Selektionsleistungen des textinternen Erzählaktes zum motivationalen Fluchtpunkt alles Erzählten. Kaum heißt es über Gebühr Späteres vorwegzunehmen, wenn ich hinzusetze, daß sich von diesem Punkt aus alles fortan Erzählte zu Stufen der Heldwerdung des Protagonisten zusammenfügt. Eben dies konturieren selektive Akzentuierungen in Willehalms Erzählung seiner eigenen Geschichte, und nur ganz am Rande sei angedeutet, daß die Auswahl des Helden auch insofern Signifikanz gewinnt, als ihr alternative Modelle der Schwerpunktbildung zur Seite stehen. So schon in der exordialen Inhaltsankündigung der Arabel: wie ez von erste muoste ergen, wer der graue was von Naribon, wie er durch todes gelt ze lon enterbte siniv werden kint, war sie kæmen vnd wie auch sint wart gevangen der Akvrnoiz, vnd wie div kuengin de Araboiz mit im entran vnd wart getauft [usw.] (*R 4,10-17) Weitere Schwerpunkte bildet Willehalm dort, wo sich seine Erzählung von der vorangegangenen der Erzählerfigur Ulrich nicht in der Auswahl, vielmehr in der Darstellung der Ereignisse unterscheidet. Solche Variation geschieht freilich auf Schritt und Tritt, und anders ist narrative Wiederholung – sieht man von der redundanten Montage identischer Textelemente ab – auch gar nicht denkbar. Indes nimmt an einer Stelle Variation auffallenderweise die Form ausdrücklichen Widerspruchs an. Daß nach Willehalms Befreiung aus dem Turm in Todjerne er und Arabel einander beige- 134 legen haben - des kraft den heidentuom betwanc, den bestuont ein krankes vræwelin (*R 131,12f.) –, daran läßt der Erzähler keinen Zweifel (*R 130,2ff.). Ganz anders im Bericht des Protagonisten: div minne da wart von mir entwert minne sueze vnd minne lihens. owe des verzihens an minne durch glaubens eren! mich kunde wol pinen leren manic süzer vmmevanc. doch was ich des niht so kranc, ich hete wol minne dienst getan. sus bin ich noch ir minne an, daz weiz ich wol vnd got. (Si 237,18-27) Die Funktion dieses Widerspruchs zwischen auktorialer Erzählung und Willehalms Selbstaussage, die Bedeutung des Beilagers noch in Todjerne wie der Sinne seiner späteren Leugnung wird im folgenden bedacht werden müssen. Hier indes gibt der Bruch in der Erzählung zunächst den Blick auf Probleme von minne und Sexualität frei. Des glaubens eren, konkret der sakramentale Rang der Ehe, so zeigt es Willehalms Darstellung, setzt voreheliche Enthaltsamkeit voraus. So wird, durch intratextuelle Kontrastbildung, das Problematische am sexuellen Vollzug von minne und damit zugleich ein Makel der von Willehalm eroberten Frau sichtbar: Arabel ist nicht mehr Jungfrau, sie ist längst Mutter erwachsener Söhne25, und weiter, vielleicht gewichtiger noch, sie war schon eines andern, heidnischen Mannes Gattin. do ich vz dem kærkær kam, div küngin mich mit armen nam ir minne kus si mir bot. [...] div küngin fuorte mich nu in da Tybalt vnd si in liebe lagen. [...] swen minne ie twanc, der sol versten, ob mich iht minne twunge da, do ich ir lac ane huote so na, der min sel vnd min hertze gert. (Si 237,5-17) Die Sachverhalts-'Variation' des erzählenden Helden rückt Fragen der minne und des Status der Geliebten in den Horizont seiner Aristie und läßt zugleich ahnen, daß der heidnische Gegner Tybalt hier auch die Rolle eines sexuellen Konkurrenten übernimmt. Arabel und Willehalm aber offenbaren dabei einen höchst überraschenden Aspekt ihrer Zusammengehörigkeit als der nicht makellose Held und seine nicht fehlerfreie künftige Gemahlin. Der Versuch, dies vor der Hofgesellschaft in Orange 25 Etwa Emereiz, vgl. *R 40,3. WW 72,19ff. usw. 135 mindestens partiell zu unterdrücken, macht erst darauf aufmerksam, akzentuiert es als ein für den Text und seine Interpretation belangvolles. Dritter Modus der Akzentuierung des wiederholt Erzählten ist nach Selektion und Variation die Extension der Redeinhalte. Am auffälligsten geschieht dies im exordialen Teil von Willehalms oratio (Si 229,26-230,31). Es handelt sich um einen Panegyrikus auf den Rang Heimrichs und seiner Sippe, dessen sich die erben [...] niht schamen sollten, tragent si doch als er fürsten namen (Si 230,3f.). Gepriesen wird der aristokratische Status Arabels und betont seine, Willehalms, besondere Rangsteigerung durch den Gewinn der Frau und des Kaisers ehrende Präsenz in Orange: wirde ist das Leitwort dieses enkomiastischen Redeteils26, es sichert die Möglichkeit, von der vnwirde (Si 230,31) der acht Jahre zurückliegenden Gefangennahme überhaupt angemessen sprechen zu können und macht das Problem der sozialen Ungleichrangigkeit des Markgrafen Willehalm und der Königin Arabel bewußt. Zugleich zeichnet sich hier ein gewisser Schlußpunkt in der Aristie des Helden sowie im Prozeß der wechselseitigen Wertsteigerung von höfischem Kollektiv und herausragendem Einzelnem ab. Dreifach also akzentuiert Willehalms Rückblick auf das bis dato Erzählte vor magen, vriunden und man in Orange die eigene Geschichte und erlaubt es so, die wichtigsten dargestellten Problemfelder in Ulrichs von dem Türlin Arabel zu umreißen. An ihnen wird sich die folgende Argumentation orientieren. Einerseits und stets geht es um Willehalms Gefangennahme als das in diesem Text zentrale Moment ritterlicher Gewalt, geht es um diese Verletzung heroischer Identität, um Willehalms Wunde und den Prozeß seiner Heldwerdung, in welchem diese sich zur Narbe schließt. Anderseits geht es im Text und den folgenden Interpretationen um die Dimensionen dieses Prozesses. Arabel-minne und Religionsfragen, minne-Konkurrenz mit Tybalt, Heidenkampf sind solche Dimensionen. Drittens geht es um den Status der ArabelFigur und ihre Transformation zu Kyburg, sowie schließlich auch um die fröude des christlich-fränkischen Sippen- und Lehensgefüges im Abendland. Daß all dies in primärer, ungeschiedener Einheit mit Willehalms Aristie verschmolzen und allenfalls heuristisch zu scheiden sei, setze ich hier einmal voraus. Doch wie die Analyse muß auch der narrative Prozeß, in der Zeit sich entfaltend, diese Einheit immer schon in die Sukzession auseinanderlegen – sofern er nicht bei der Simultaneität des allegorischen Bildes oder der mehrere Bildempfänger anvisierenden Metapher seine Zuflucht sucht. In Ulrichs Roman geschieht das so, daß bei der Darstellung des Prozesses der Heldwerdung von Episodengruppe zu Episodengruppe eine nach der andern der genannten Dimensionen vom Erzählen als sein Thema erfaßt wird – übrigens etwa in der hier angeführten Reihenfolge. Der Gang der Argumentation hält sich darum an die Stufen von Willehalms Aristie seit der Gefangennahme, folgt diesen schrittweise und bringt so analog zur Erzählung nach und nach das komplexe Themengeflecht der Arabel in den Blick. 26 Si 229,30. 230,1.5.7.16.25.26.28; vgl.unten S.183f. 136 2. Narben und Wunden. Die Stigmata des Helden: Unter den Helden höfischer Romane, und stünden sie auch in französischer Chanson de geste-Tradition, kommt dem Protagonisten der großen mittelhochdeutschen Willehalm-Trilogie eine Ausnahmestellung zu. Sein Körper ist nicht makellos, er trägt die Spuren vergangener Geschichte als bleibende Narbe an sich. Solche Narben, von schwärenden Wunden wie jener Tristans aus dem Moroltkampf oder jener des Anfortas zu unterscheiden, denn sie zeigen nicht eine aktuelle, sondern eine vorübergangene Verletzung, die aber dauerhaft an, sind an den Helden der Texte selten zu beobachten – so oft sie auch als Folge zahlloser Tjosten plausibel sein könnten. Der Grund wird in der "ungewöhnliche[n] Akzentuierung" schöner, das heißt unversehrter "Körperlichkeit"27 liegen, die die höfische Dichtung auszeichnet, letztlich darin, daß im Bewußtsein der mittelalterlichen Adelskultur die Integrität des Körpers den Adel des Helden nicht nur auf Grund einer (tendenziell beliebigen) Zeichenkonvention zu erkennen gibt, sondern dieser Adel ist.28 Umso auffälliger, wenn ein Protagonist ein solches Zeichen trägt, gar ohne daß dieses geistlicher Semantisierung unterzogen würde29, und um so bemerkenswerter, wenn es, nicht durch Haar oder Kleidung zu bedecken, den Helden unübersehbar entstellt.30 Dieserart ist Willehalms Narbe, und darum kann sie zum Anlaß eines Cognomens werden, das seine Identität benennt, auch immer wieder für das nomen proprium steht: Willehalm ist der mit der kurzen Nase, der Akvrnoiz (oder, bei Wolfram, ehkurneys), das heißt Guillaume au cort nes.31 Diese Nasennarbe ist die unauslöschliche 'Bezeichnung' des Helden, die auch dann noch funktioniert, wenn das gesamte übrige Zeicheninventar, welches die Identifizierung des Kriegers sichern soll, zerstört, vertauscht, unkenntlich geworden ist: letzte Verläßlichkeit gewährt dann nur das körperliche, das dem Körper selbst dauerhaft eingeschriebene Zeichen.32 Wolfram hat dies in der berühmten Anagnorisis27 Schulz (1983), S.55. Vgl.Czerwinski (1989), bes.S.19ff.; Haferland (1989), S.225ff. 29 Wie zum Beispiel in der Legendenerzählung, wo - eine Möglichkeit - die Narbe Kaiser Heinrichs als Zeugnis göttlichen Wunders, zugleich als Erinnerungszeichen vorangegangener gött-licher Prüfung fungiert, vgl.Ebernand, Heinrich und Kunegunde 1671-1846; ein vergleichbares Motiv etwa Sächsische Weltchronik 160,34ff. In beiden Fällen ist die Narbe Zeichen für den Riß in der Welt, den Gottes Eingriff hinterließ. Umgekehrt - ein anderes Beispiel - gemahnt Gawains vom Axthieb des Grünen Ritters stammende Halsnarbe (Gawain and the Green Knight 2311ff. 2498) stets an zurecht erlittene Strafe for his vnleuté (2499; vgl. Haug [1989d], S.14ff.; ders. [1991], S.349); das Requisit des grünen Gürtels, den Gawain über der Narbe trägt, verdoppelt das Stigma nur, damit es (für die Reaktion des Artushofes, vgl. Anm 32) funktionalisierbar werde. 30 Bei der rechtlichen Beurteilung von Narben und Wunden wird seit den Germanenrechten das augenfällig Entstellende als wesentliches Kriterium beachtet, vgl.Grimm (1955) II, S.186; vgl.auch ebd. I, S.130ff. 31 Vgl.Wathelet-Willem (1985). 32 Man kann es selbst nicht verfälschen (vgl.Strickers Daniel 3542ff.), sondern allenfalls die Eindeutigkeit der Zuordnung von Zeichen und Bezeichnetem stören und so die Bezeichnungsfähigkeit des körperlichen Signums aufheben (deswegen müssen sich die Artusritter selbst an Markes Sensenfalle verletzen, damit der gezeichnete Tristan nicht als der Ehebrecher erkennbar werde, der er ist; vgl.S.111, 117; nach derselben Logik, freilich in andern Konstellationen mit 28 137 Szene nach der ersten Alischanz-Schlacht erzählt33, und Ulrich hat daran erinnert (*R 11,23ff.). Der als einziger Überlebender in Arofels Rüstung von der Walstatt kommt, soll sich Gyburc, die Orange bewacht, zu erkennen geben: 'do ir durh aventiure bi Karlen dem lampriure nach hohem prise runget und Romære betwunget, Eine masen die ir enpfienget do durh den babest Leo, die lat mich ob der nasen sehen. so kan ich schiere daz gespehen, ob irz der marcrave sit: alerst ist inlazens zit. (WW 91,27-92,6) Gegen das 'äußere' Zeichen des heidnischen Panzers stimmen die Person, ihr Name und ihre körperliche Zeichnung zusammen, der Held ist mit sich identisch: der helm und diu goufe wart uf gestricket und ab gezogen. diu künegin was unbetrogen: die masen si bekante. mit vreuden si in nante: 'Willelm ehkurneys, willekomen, werder Franzeys.' (WW 92,12-18) Seit der Rückkehr des Odysseus nach Ithaka ist die Narbe als Gnorisma nichts Ausgefallenes.34 Ungewöhnlicher schon, daß das Motiv nicht nur als erzähltechnianderm Sinn, funktionieren auch Episoden in Karl und Galie, 18,27ff., und in Gawain and the Green Knight: hier wird der Protagonist des allein ihn treffend bezeichnenden Signums beraubt, indem alle lordes and ladis bat longed to be Table [2515] einen grünen Gürtel nach Art desjenigen tragen, der Gawains Narbe zeichenhaft verdoppelt; vgl.Anm.29). All dies funktioniert und muß funktionieren, weil es die Kategorie physiognomischer Ähnlichkeit in diesen Texten offenbar nicht gibt, und manches spricht dafür, es habe in der Kultur des europäischen Mittelalters eine entsprechende Wahrnehmung nicht oder nicht in der uns verständlichen Form gegeben - ein mentalitätsgeschichtliches Problem ersten Ranges; vgl.dazu meine Rezension von: Frantisek Graus (Hg.), Mentalitäten im Mittelalter. Methodische und inhaltliche Probleme. Sigmaringen 1987, in: IASL 15,1 (1990) S.218-228 (hier S.220 mit Literatur). Wie leicht deswegen an den Texten vorbei formuliert wird, demonstriert Czerwinskis (1989), S.25, Rekurs auf die im folgenden zitierte Anagnorisis-Szene vor Oranse: der Held könne sich Gyburc nicht in symbolischer Kommunikation, nur mit Taten und "durch die Enthüllung seines Antlitzes zu er-kennen geben;" das nun, physiognomische Ähnlichkeit, ist es gerade nicht, sondern, ausweislich des Zitats, das Vorzeigen des konkreten Körperzeichens. 33 Vgl.neuerdings Kiening (1989), S.72f. 34 Dazu Auerbach (1977), S.5ff. In der mittelhochdeutschen Epik begegnet das Motiv etwa Berthold von Holle, Crane 937ff. 1045ff.; Wolfdietrich D 505,4. 1974,2ff.; in der Übersetzungsliteratur etwa Gesta Romanorum (Keller), S.171 (als ein Beispiel für die Eustachius-Legende), oder Albrechts von Halberstadt Ovid-Übersetzung (Met.XIII, 262ff.; nach Wickrams Text 13, 382ff.): im 138 sches Scharnier funktioniert, vielmehr selbst zum Sprechen gebracht wird: daß also in der Narbe eine Geschichte geronnen ist, an welche als an einen Teil der heroischen Identität des Wiedererkannten mit dem Vorzeigen des Wundmals erinnert wird. Dies geschieht indes im Zusammenhang der deutschen Willehalm-Epik erst mit Ulrichs Arabel35, nur in ihr (sieht man von der Parallele in ihrer alemannischen Bearbeitung ab) ist in der mittelhochdeutschen Erzählliteratur Willehalms Gesichtsverletzung in ein entfaltetes Episodengefüge eingeflochten: Karls Romzug, die Befreiung Papst Leos und Willehalms Nasenverletzung dabei bilden einen der Höhepunkte des ersten Teiles des Romans.36 Die Narbe, die bei Wolfram fast ganz in ihrer GnorismaFunktion sowie in einem Cognomen aufging, von dem man sich fragen kann, inwiefern der Epentext auf sein stets literales Verständnis hin überhaupt ausgelegt ist, diese Narbe wird solcherart selbst zum Thema. Das heißt, ihr Sinn, ihre Bezeichnungsfähigkeit müßten geklärt werden. Ich versuche dies, indem ich das Stigma in drei verschieden abgemessenen Verweisungszusammenhängen beobachte. Episodenintern steht Willehalms kurze Nase zunächst für einen Sieg. Im Rachekampf für Papst Leo der Markys liez hie [in Rom] kindes spil, daz manigen schiet da von leben. ir [der Römer] hohfart sich nit wolte ergeben, wan des Margrauen herte, div was in da boese geuerte. der Markys dicke hurte dan, biz er erstreit die letze in an. div wunde im wart, doch kom er dan. (*R 13,24-31) Wenn später jedoch an diesen Sieg des Reichsheeres über die aufständischen Ketzer in Rom und an Willehalms Rolle dabei erinnert wird, bleibt die lebenslänglich entstellende Verletzung gerade unerwähnt: Willehalm, so der Papst, dient [...] vns ze Rom vil, da Romer <...> neides zil mich blante<> vnd von freuden schiet. sein swert alda durch mich verschriet daz manich witib do bewaint. (Si 287,11-15) Leo könnte die Wahrheit seiner Rede und den frühen Ruhm Willehalms durch dessen Narbe bezeugen, doch eben dies unterbleibt: Heldentaten, da unterscheidet sich feudalaristokratische Ehrkonzeption von den Gebräuchen studentischen Corpswesens, sind durch den körperlichen Makel gerade nicht zu bezeichnen. Der Zusammenhang Streit mit Aiax zeigt Ulysses, in die Rüstung des toten Achill gekleidet, seinen Heroenstatus mit seinen Wunden vor. 35 Zur Quellensituation vgl.Geith (1977), S.275 Anm.58. 36 Es handelt sich um Episoden, an denen dem Redaktor ein verbesserungsfähiger historischer Widerspruch im *A-Text auffiel, so daß eben hier der *A- und der *R-Text deutlich divergieren; vgl.dazu X.6. 139 von Narbe als Zeichen und römischem Befreiungskampf als Bezeichnetem währt nicht über die Grenzen der Episode selbst hinaus37, das Zeichen ist gewissermaßen für andere Semantisierungen frei. Welcher Sinn sich dem Signum im Text konkret anlagern kann, wird auch vom soziokulturellen Zeichensystem mitentschieden, aus dem das Erzählen stammt. Solches mit Blick auf Willehalms Wundmal ausschnitthaft zu zeigen heißt auch, jenen Horizont an Assoziationsmöglichkeiten aufzureißen, in welchem dieses Mal seine Bezeichnungsfähigkeit für Rezipienten des 13.und 14.Jahrhunderts entfaltet haben mochte. Als Moment der Desintegrität des heroischen Körpers, des Häßlichen also, durchbricht die Narbe das feudale Gesetz, daß Adel, mit den Worten der Lex Salica38, sich corporea nobilis, incolumna candore, forma egregia darstelle, legitimiere, ja eben dies sei. Der vernarbte Held stört jene Grundregel der höfischen Welt, die man "metonymische Zeichenbeziehung" nennen könnte, die "unmittelbare Gegenwart des Repräsentierten im Repräsentierenden."39 Umsomehr verletzt diese aristokratische Ordnung derjenige, der an der Nase verstümmelt ist, denn er erinnert an eine nicht häufige, aber schwere und vor allem schändliche Strafe. Die deutsche Strafrechtsgeschichte kennt das Nasenabschneiden, unterschiedlichen Orts und zu verschiedener Zeit, bei Raub, Diebstahl und Kuppelei oder, im späten Mittelalter, bei Störungen städtischer Ordnung.40 Es handelt sich um eine oft ablösbare Strafe für Nichtadelige, zumal Unfreie und Ehrlose, und immer wieder auch für Frauen. 41 Als nicht kodifizierte, sogenannt arbiträre Strafe ist die Nasenverstümmelung, zusammen mit der Blendung, für Aufrührer und Verräter zu belegen.42 Solche doppelte Verstümmelung an Augen und Nase, grausame Inanspruchnahme des Rechtes des Siegers, hat in der deutschen mittelalterlichen Literatur ihre Reflexe – die, soweit ich sehe, stets in Rom passieren: aufständische Römer, eine dem Stadtadel ausgelieferte Kaiserfamilie, ein schismatischer Papst können hier die Opfer solch gräßlichen arbiträren Strafvollzuges sein.43 Daß dabei Blendung und Nasenverstümmelung als Folge von Hochverrat gemeinsam auftreten, anderseits die Blendung selbst nicht selten an Stelle der Hinrich37 Zu einer gewissen Einschränkung zwingt in der ganzen Trilogie nur Wolframs Anagnorisis-Szene (do ir, sagt Gyburc, nach hohem prise runget und Romære betwunget, Eine masen [...] ir enpfienget WW 91,27-92,1), doch akzentuiert die Stelle gerade nicht Willehalm als Sieger, vielmehr, so zeigte sich, die Eindeutigkeit des Körperzeichens (am einzig Überlebenden eines vernichtend geschlagenen Heeres). So vertauscht sich die Zei-chenrelation zwischen der Narbe und der Geschichte vom Kampf in Rom: diese bezeichnet das Wundmal, nicht umgekehrt. 38 Karl August Eckhardt (Hg.), Lex Salica. 100 Titel-Text. (Germanenrechte N.F., Abteillung Westgermanisches Recht [1]) Weimar 1953, §1, 7ff. 39 Haferland (1989), S.225, vgl.S.75ff., 236ff. u.ö.; vgl.auch Czerwinski (1989), S.53ff., 243ff. u.ö. 40 Vgl.His (1964), S.512, 520; Conrad (1962), S.438f. Freidank 63,14-17 läßt üble Nachrede mit dem Verlust der Nase bedroht sein. 41 Vgl.Grimm (1955) I, S.468f. II, S.296; His (1964), S.520; frühneuzeitliche Belege, die den Aspekt der Schande an der Nasen-verstümmelung hervorheben, im DWb 7 (1889), Sp.402, sowie in Sprichwortsammlungen (etwa Wander Bd.III, Sp.947ff.). 42 Vgl.His (1964), S.521; Schultz (1889) II, S.176. 43 Vgl.Kaiserchronik 7796ff., 14274ff.; Lohengrin 7497 f. und dazu Sächsische Weltchronik 166,25f. 140 tung steht44, läßt die Schwere der Strafe, deren entehrende Wirkung auch die literarischen Texte betonen45, noch einmal hervortreten und es determiniert ziemlich eindeutig, in welcher Weise die Narbe in Willehalms Gesicht als sozial wirksames Zeichen verstanden werden konnte.46 Das nach unmittelbarem Erzählkontext und textübergreifendem semantischem Horizont dritte Bezugssystem, auf das es für die Einschätzung der Bezeichnungsfähigkeit von Willehalms Stigma und seiner Ursprungsgeschichte ankommt, ist der Roman als ganzer. Auf sein motivationales Zentrum hin ist Willehalms Verwundung derart erzählt, als ob es mindestens so sehr wie auf die Narbe selbst auf eben dieses Verweisungsverhältnis ankäme: div wunde im wart, doch kom er dan.47 Dies stiftet den Zusammenhang mit der nächsten Kampfsituation, in welcher Willehalm, unverwundet zwar, gefangengenommen wird. Der Kampf im Reichsheer Karls des Großen gegen die stadtrömischen Ketzer48 und die Schlacht im Reichsheer Loys' gegen die Heiden geraten in ein komplementäres Nahverhältnis, welches auch von andern Verflechtungssträngen gesichert wird. So von der gemeinsamen Signalfunktion beider Episoden für das Ende von Willehalms Kindheit und den Beginn seiner Ritterkarriere49, eine motivische Klammer, die in einer den Handlungsablauf innehaltenden Retrospektive am Schluß des Berichts über Willehalms Gefangennahme durch die Sarazenen noch einmal betont wird: Karl in mit vlizze zoch, bis er von kindes iarn kam vnd ritters orden an sich nam, als div aventuere von im giht 44 Vgl.His (1964), S.519; so übrigens auch in der Arabel bei der Blendung Leos durch die Römer (*R 13,10ff.). 45 Vgl.Kaiserchronik 14277; WW 91,26; Strickers Daniel 1334ff.; Lohengrin 7500. 46 Zugleich ist damit ein motivgeschichtliches Problem der Arabel aufgegeben. Ich benenne es, ohne weiter zu seiner Klärung beitragen zu können: In Ulrichs Erzählung von Karl, Leo und Willehalm ist das doppelte Verstümmelungsmotiv zwar enthalten (vgl. Geith [1977], S.57, und unten S.483 Anm.125), doch wird es gleichsam auf zwei Figuren verteilt, wird Willehalm um seine Nase gekürzt beim (erfolgreichen) Versuch, den geblendeten Papst von den Römern zu befreien. Das sieht aus, wie wenn die Geschichte der Entstehung von Willehalms Narbe in ihrer Entfaltung über die knappe Andeutung im Willehalm und die ausgeführte Erzählung der Arabel aus einem motivischen Nukleus herausgesponnen worden sei, wie wenn die vielleicht assoziative Verklammerung von Karl-Leo- und Narbengeschichte eben an diesem Motivkern angesetzt habe. Die Blendung des Papstes ist in den Vergleichstexten durch Gottes Eingriff in die Geschichte reversibel, Narben hinterläßt das selten; vgl.aber Sächsische Weltchronik 149,29; Karlmeinet 323,24ff. 47 *R 13,31 (Zusatz gegenüber *A). 48 Diese Akzentuierung des Konflikts von Papst und Römern als eines zwischen Orthodoxie und Ketzerei (*R 12,18f.) ist nicht selbstverständlich, andere Kriegsgründe bieten im entsprechenden Zusammenhang etwa Kaiserchronik 14328ff.; Sächsische Weltchronik 149,23f.; Karlmeinet 322,40ff.: möglich also, daß auch dieser Akzent der Arabel die Parallelität der beiden Kämpfe Willehalms, hier nun hinsichtlich der Gegner Willehalms und damit hinsichtlich des Typus 'Glaubenskrieg', unterstreichen sollte. 49 Vgl.*R 13,24f. 42,14f. 141 (*R 50,22-25) Daneben springt vor allem das Verweisungsverhältnis der Handlungsstrukturen von Romzug und Gefangennahme ins Auge. Im Hinblick auf Willehalm wäre es gewissermaßen chiastisch zu nennen - dort Sieg trotz Versehrung der Integrität des adeligen Körpers, hier Niederlage trotz seiner Unversehrtheit. Es steckt darin aber auch ein Moment der Stufung: so wie in Rom der Sieger Willehalm ein Körperteil verliert, so büßt auf Runzeval das siegende Reichsheer sein wichtigstes Mitglied ein. Der siegende Körper, der des Helden zunächst, der des christlichen Heeres sodann, bleibt nicht unversehrt.50 Die Funktion dieser epischen Engführung scheint mir die Neusemantisierung von Willehalms Wundmal für den Bereich jenseits der Karl-Leo-Episode zu sein. Das körperliche Zeichen wird bei Ulrich von dem Türlin vom Sieg über die Gegner des Papstes auf die Gefangennahme im Heidenkrieg verschoben. So erst sind die gesellschaftlich konventionalisierten Regeln der Bedeutungszuweisung erfüllt: das schändende Zeichen im Gesicht des Helden bezeichnet seine Schande auf Runzeval. 51 Das Verhältnis von Repräsentiertem und Repräsentierendem wird so - nicht genetisch, aber funktional - meto-nymisch. Eben dies ist dort fixiert, wo der Protagonist in der Arabel zum ersten Mal genannt ist, an jener exponierten Stelle al-so, an welcher er seinen überhaupt ersten Auftritt auf der Bühne der riesigen Willehalm-Trilogie hat: im Zentrum ihres ersten Teils, so heißt es da nämlich, werde erzählt, wie wart gevangen der Akvrnoiz (*R 4,15). Meine Interpretation setzt die Disponibilität vorgegebener epischer Elemente für den Autor der Arabel-Version *R voraus. An Willehalms Narbe, der Verknüpfung ihrer Entstehung mit der Karl-Leo-Geschichte und an dem Handlungsgerüst, an Willehalms Gefangennahme und der sozialen Zeichenhaftigkeit von Nasenverstümmelungen war nichts zu ändern, denn all dies war im fortgesetzten Roman Wolframs, im historischen Wissens- und im sozialen Zeicheninventar des hohen und späteren Mittelalters determiniert. Ebensowenig war an den wenigen motivationalen Nexus zwischen diesen Elementen zu rütteln. Wohl aber konnten Zeichenrelationen und Motivverschränkungen derart disponiert werden, daß an der Nasennarbe ihr soziokulturell verständlicher Sinn sichtbar und so das in der Karriere des Helden für lange folgenreichste Geschehen seinem Sinn gemäß bedeutet werde, daß die Metonymie der Zeichenrelationen dieser aristokratischen Welt intakt blieb. Das wäre Ulrichs Lösung für den Umgang mit dem in der Fortsetzungskonstellation vorgegebenen, nicht veränderbaren doppelten Skandalon seiner Protagonistenfigur. Der Text läßt erkennen, daß der Markgraf allererst mit dem Makel der Niederlage gegen die Übermacht sarazenischer Könige jenem Schandmal gerecht wird, daß er seit seinem römischen Sieg trägt: min pris noch nie mail gewan ane daz mich veberkraft nu vie. (*R 103,22 f.) 50 51 Vgl.unten S.163. "In den französischen Chansons wird gesagt, daß die Pairs Karls d.Gr. die verkürzte Nase [Willehalm] als Schande angerechnet hätten, während sie freilich nicht wußten, bei welcher Gelegenheit er die Verletzung empfangen hat." (San-Marte [1873], S.81) 142 3. Stufen der Aristie Willehalms I: So unüberhörbar sein Cognomen es sagt, so unübersehbar zeigt es sein Körper, daß der Held Schmach erlitt. Ganz drastisch führt die Erzählung diese Schmach vor, wenn sie die Folgen der Gefangennahme Willehalms durch die Heiden zeigt. Ihr episches Bild ist der Heidenbezwinger im heidnischen Zwinger, ist der Christenheld, wie er in Todjerne im Turm in Ketten liegt. Dies ist die brutalste Etappe eines bereits früher herauspräparierten Prozesses, welcher Willehalm aus dem Zentrum seiner Herkunftswelt herausführt und schrittweise von diesem entfernt. Die 'Ausfahrt' des Helden endet in der Arabel am Punkt größter Distanz zu seiner adeligen Existenz52, zu seiner Sippe53, zur Welt der Christen.54 In einer auf Freilegung mythischer Strukturen konzentrierten Lektüre des Romans Ulrichs von dem Türlin könnte man dies als einen descensus ad inferos, die hier freilich ins Gewand heidnischer Adelskultur verkleidet sind, als das Sich-Verlieren Willehalms in einer Gegenwelt, als sein Sterben und seinen Tod lesen. Ebenso, wenn man die Figuren des höfischen Romans von allen Personalitätskonstruktionen ablöste und radikal als Rollenträger verstünde: Willehalm der Held ist im Kerker von Todjerne tatsächlich tot. Doch kommt es auch hier darauf an, die Übergängigkeit aller Stationen dieses Textes wahrzunehmen, diesen Tod als Voraussetzung der epischen Auferstehung, als Bedingung der Restitution der Heldenfigur zu sehen. Wäre das nicht seine narrative Funktion, dann hätte an diesem Todespunkt über dem Helden auch das Erzählen ein Ende. Es sind darum schon die Gefangennahme und die Kerkerhaft Willehalms selbst, teils von ihrer narrativen Inszenierung, teils von unscheinbaren Momenten des Erzählten her daraufhin angelegt, die Wiederherstellung der Heldenfigur zu fundieren. Die Arabel erzählt Willehalms Niederlage gegen die zahlenmäßig überlegene Schar von Heidenkönigen in einer Form, als ob es sich um einen Sieg handelte. Auf beides, aufs Erzählte wie auf die ihm widersprechende Erzählform, kommt es offenbar an. Deswegen häufen sich, wann immer von dem Vorgang die Rede ist, die Heldenpreisformeln: hat schumpfentuer mich nu swach geseit, doch gedenke ich wol, daz min hant was prises vol, swie swacheit nu guertet mich. bin ich krank, doch wolt ich tusent ritter eine besten.55 Ähnlicher Entlastung des Unterlegenen dient daneben die retrospektive Einführung der von Willehalm unmittelbar vor seiner Gefangennahme besiegten Könige von 52 Vgl.auch *R 97,14ff. 102,26-103,5. 105,10. 165,3. Vgl. *R 86,24ff. 54 Daß dies Nähe zu Gott nicht ausschließt, versteht sich; vgl. *R 60,20f. 86,27f. 109,24ff. 55 *R 83,14-17; vgl.103,6ff. Si 231,1ff.21 u.ö. 53 143 Kandulag, Belinar und Tussangule56; ihr dient die Betonung sarazenischer Überlegenheit und der Umstand, daß nicht Schwäche im Kampf, vielmehr eine Folge waffentechnischer Unglücksfälle, der Verlust einer Lanze, zweier Schwerter und des Streitrosses, Willehalms Unterlegenheit begründet: einer lanzen [...] het er nit. ob im schumpfentuere geschiht, nieman sol im daz wizzen.57 Schließlich wird von diesem Interesse an der Beschönigung der Schmach einer Niederlage her die von Wolfram (WW 294,2ff.) übernommene Konstruktion transparent, daß der Held bei der Verfolgung längst besiegter und also fliehender Gegner in Gefangenschaft gerät. Denn strikt hält er sich an Heimrichs väterlichen Rat halt ivch in der vinde sla. ein haupt an iagen, der fluht ein zagel (*R 25,24f.) und ist derart noch als Gefangener der Überlegene nach jener Grundregel ritterlichen Kampfcomments, die in einer Formulierung des Jüngeren Titurel lautet: er ist unrehter zuhte, swer nicht gevehten muge, daz er [vliehe, gevangen git sich e der ellens riche, der hohe er besorget [...].58 Doch zeigt die Geschichte freilich auch den Unterlegenen nicht gefeit davor, daß jene, die er überragt, ihm Schande zufügen, seine Ehre zerstören. Sie tun es in der Arabel durch Ankettung59 und Einkerkerung. Auch darin aber sind Fundamente künftiger Erlösung und kommender Widerherstellung des Helden angelegt. Schon auf dem Weg ins Gefängnis begegnet Willehalm ein erstes Mal der Königin Arabel in einer Szene, die Befreiung aus der elendesten Situation verheißt: Minne will nu hie minne wern div zwei, div noch vnminne gruezet. den wirt noch minne so gesuezet, swie in des doch si vngedaht. (*R 57,12-15) Ein Vorschein davon ist die pflegliche Fürsorge, die der kostbaren Geisel (*R 58,27ff.) vom ersten Augenblick an durch die Heidenkönigin zuteil wird.60 Abgesichert wird das auf der Ebene des Erzählens derart, daß die Fesseln gegenseitiger minne und die Kerkerketten metaphorisch ineinandergreifen – nach der Befreiung etwa so: er lit in minne slozzen hie: ir blanker arm in vmmevie, da div keten was e gelegen.61 56 Vgl. S.199ff., 476f. und X.8. *R 49,19-21; vgl. *R 50,1ff. 104,1ff. Si 231,22ff. 58 Jüngerer Titurel 846,2ff. 59 Vgl.Anm.64. 60 Vgl. *R 56,19ff. 60,1ff. 60,22ff. 61,2ff. 61 *R 131,3-5; vgl.auch *R 57,4ff. 60,4f. 94,30ff. 99,8ff. 57 144 Arabel also, der Willehalms hertze von Beginn vancnuesse iach (*R 57,4), durchkreuzt, unterstützt vom Metapherngebrauch des Erzählers, den Versuch der Zerstörung des Helden in der Geiselhaft. Durch Ketten, langen bart vnd reides har (*R 82,30) hindurch erstrahlt Willehalm darum auch nach jahrelangem Kerker im diaphanen, das heißt auf seinen Adel hin durchsichtigen schin (*R 80,18) körperlicher Schönheit.62 er ist noch ein schoenr degen, swie er gevangen si gelegen (*R 96,13f.), erkennt Arabel, und nach geglückter Flucht erzählt sie Willehalm, auch andere hätten bekannt, daz si in manlicher kuer nie gesahen ritters lip (*R 152,20f.), swie ir wært verwesen gar (*R 152,18). Zu dieser Wertung waren die Witwen der drei von Willehalm getöteten Heidenkönige gelangt: auch ihre Funktion besteht unter anderem darin, durch die Bitte um Begegnung mit dem Besieger ihrer Gatten zu ermöglichen, daß der Protagonist am Hof König Tybalts als das erscheint, was er dort gerade nicht ist: der Sieger.63 Auf solches gewissermaßen oxymorales Spannungsverhältnis, wie es am Körper Willehalms unmittelbar zu sehen ist, zielen, das sollte hier skizziert sein, die gegenläufigen Akzentuierungen in den Episoden von Gefangennahme und Inhaftierung. Auf die Größe der demütigenden Ketten64 und das Maß von Arabels Fürsorge, auf die Willehalm von den Feinden angetane Schmach wie auf die von Arabel handelnd und vom Erzähler redend erwiesene Ehre kommt es gleichermaßen an. Eben darin ist das Transitorische selbst dieser untersten Stationen auf dem Wege des Helden angelegt. Sein sozialer Tod im Todjerner Turm ist schon der erste Schritt zur gesellschaftliche Wiederauferstehung. Deren Etappen sind im folgenden nachzuzeichnen. Es geht also, nachdem bisher die 'Ausfahrt' des Helden ausschnittsweise analysiert worden war, jetzt um die Heimkehr Willehalms – und das ist geographisch wie sozial gemeint: Heimkehr nach Südfrankreich, aber auch Rückkehr in die Heroenrolle des Heidenbezwingers. Es geht um die gesellschaftliche Tilgung des Makels der Niederlage oder, um es anders in einer naheliegenden Körpermetapher zu sagen, darum, wie die soziale Wunde der Gefangennahme verheilt und sich zur Narbe schließt. Denn erst unter dieser Voraussetzung kann sich das Geschehen in der von Wolfram erzählten Weise fortsetzen. Die ersten Etappen dieses Prozesses sind, wie alles in Ulrichs von dem Türlin Roman, leicht an den Requisiten des Helden, an seinem topographischen Ort, an seiner sozialen Umgebung abzulesen. Auf eben Angedeutetes, auf Arabels Barmherzigkeit und ungebrochen panegyrische Akzentuierungen des Erzählers folgen nach acht Jahren der Gefangenschaft die ersten, noch kurzen Freigänge Willehalms aus der Haft. So wechselt er zwischen dem Raum in der Tiefe und jenem in der Höhe 65, zwischen Kerker und Palast66, wird er wiederholt der Ketten ledig und dann wieder in sie ein- 62 Zum Begriff der Diaphanie Czerwinski (1989), Register s.v.; ebd.S.271: "Adel ist soziale Schönheit." 63 Vgl.Schröder (1983), S.182. 64 Vgl.*R 56,12ff. 59,8ff. 60,22f. 83,4f. 97,13. 98,5ff. 65 Vgl.*R 97,20. 101,15f. 102,1. 122,25. 129,23 u.ö. 66 Vgl.*R 95,21 usw. 86,1. 95,6. 102,19. 145 geschlossen.67 Aber auch der Geschichte anderer Requisiten ist diese progredierende Stufenfolge der Restitution des Helden eingeschrieben. Anders als zuvor wird Willehalm nach der Abfahrt Tybalts von Todjerne erst nach ranggemäßer Neueinkleidung (*R 98,13ff.) bei Arabel vorgelassen. Als diese ihn später aus dem Turm befreit hat, erhält er als erstes seine Rüstung zurück68, ohne sie doch sogleich anlegen zu dürfen (*R 132,10ff.). In Einzelteilen noch wird sie von Arabels Damen auf das Fluchtschiff transportiert, und erst als er, Helm und Schwert noch unter Frauenkleidern verbergend (*R 132,28f.), dort unter Deck gegangen ist, wird Willehalm wieder, der er war: in sin harnasch was er snel (*R 134,22). In unterschiedenen Etappen, so sieht man, kommen die Figur und ihre in den zugehörigen Requisiten – ysenhosen (*R 132,16), kovffen vnd hærsnier (*R 132,17), halsberg (*R 132,21), hurtenir, brassel vnd kursit (*R 132,24), senftenier vnd stiualikin (*R 132,26), helm vnd swert (*R 132,28), die sich erst zur Einheit der Rüstung fügen müssen – Gestalt gewordene Rolle als Heidenkrieger69 allmählich zusammen, und eben so, schrittweise, vollzieht sich die Aristie des Protagonisten auch als Angleichung an Arabel. Zuvörderst, das heißt vor allen anachronistischen Emotionalitätskonnotationen der entstehenden Minnebeziehung, ist diese Angleichung eine des sozialen Rangs. Als ihr wichtigstes Zeichen fungiert das gemeinsame Schachspiel: auch was von richer gezier daz schachzabel gemachet, daz ez Arabel nit enswachet: ez wart ir braht von Arabi. Kyllois sitzet sinr sælden bi.70 67 Vgl.*R 98,3ff. 101,17. 123,13. *R 129,24-130,1; vgl.auch 124,30ff. 127,12ff. 69 Daß das Requisit gewissermaßen die Rolle des Heroen ist, formuliert dieser auch selbst: kum ich in harnasch alsam e, aller heidentuom vnd noch me, ich wæne, vrawe, bestuende mich niht (*R 121,9-11) Dasselbe im Rückblick Si 238,1ff. 70 *R 100,2-6. terribile, miserum, conludere rege: so ist wahrscheinlich am prägnantesten im Ruodlieb (IV,197) die soziale Signifikanz des Schachspiels formuliert. Nur Könige, Gleiche also, nicht aber Könige und Bauern spielen mit Königen und Bauern. Darum ist das Schachspiel, am Ursprungsort des Rittertums, vor Troja, erfunden (Konrad, Trojanerkrieg 40959), Teil königlicher, wenigstens hochadeliger Erziehung (etwa Rudolfs Alexander 1867; Prosa-Lancelot I 34,25; Konrads Engelhard 756f.) und Zeitverkürzung (etwa Konrads Rolandslied 681f. und dazu Schilling [1979], S.134 Anm.16; Heinrich von dem Türlin, Crône 22114f. 29222ff.; TT 1014ff.; FT 4144ff.; Konrads Trojanerkrieg 5972ff.; Reinfried von Braunschweig 23291. 2899; Seifrits Alexander 3014ff. - an den beiden letztgenannten Stellen im Kontext eines Zitats nach Iwein 62ff.; vgl.Murray [1962], S.428ff.). Die Ausnahmen von dieser Ständeregel bestätigen sie: in ihnen geht es um fingierte Rollen und die listige Funktionalisierung sozialer Statusdifferenz (GT 2217ff.; Konrad Fleck, Flore 4650ff. 5054ff.; Salman und Morolf 224ff.), oder, wie in der Arabel, genau um das Überspielen gesellschaftlicher Grenzen (ebenso Seifrits Alexander 5243ff.). 68 146 Insofern kann es für einen geschickten, die Dichte seines Erzählens steigernden Schachzug Ulrichs von dem Türlin gelten, daß er auch die wesentlichen Themen des Erzählabschnitts zwischen Tybalts Abschied von Todjerne und der Befreiung Willehalms metaphorisch mit dem Spiel verknüpft: für das Reden über die zwischen Arabel und Willehalm wachsende minne wie für den theologischen Diskurs, die erste Christenlehre, der sich die Heidenkönigin unterziehen muß, ist das Schach der wichtigste Bildspender.71 Beides aber sind Modi der gegenseitigen Annäherung jener Figuren, um die es im Text geht. Sie vollzieht sich übrigens auch auf der Ebene der Sprache, insofern nämlich Willehalm seine Kerkerjahre zum Studium des Arabischen nützte, und Arabel später überraschend Französischkenntnisse offenbart.72 Parallel dazu wird im Vorgang der Wiederherstellung des adeligen Helden solche Annäherung ebenfalls wiederum auch räumlich vollzogen. Bei ihrer ersten Begegnung zu Füßen der Königin, so kann man mutmaßen, auf riche[m] küssin lagernd (*R 56,20), beim zweiten Mal, als er den drei königlichen Witwen vorgestellt wird, vf ein riche gestuele im Kreis Arabels und ihres Gefolges plaziert (*R 83,2), sitzt Willehalm während der Schachspielszenen in schon vertrauter Nähe neben der Königin (*R 99,20): div kuengin bi der hant in nam vnd satzt in neben sich: 'ir sit so hoch wol, daz ich iuch eren sol: des dunket mich.'73 Völlig unmittelbar ist die Nähe der Körper eine soziale Geste, und eine umso bemerkenswertere zumal, als sie sich zwischen gesellschaftlich sehr Ungleichen, zwischen Königin und Markgraf vollzieht – eine Kategorie sozialer Wahrnehmung auch bei der Textrezeption, welche mittelalterlichen Hörern und Lesern selbstverständlicher war als wissenschaftlichen Interpreten. Als körperliche Annäherung setzt sich der Prozeß sozialer Angleichung zwischen Arabel und Willehalm nach der Befreiungsaktion mit Kuß und Beilager beschleunigt fort. Daß damit die Rekonstruktion der Willehalm-Figur noch nicht völlig abgeschlossen sein kann, indiziert im großen schon die bloße Existenz des dritten Arabel-Teils mit seinen ausgeführten Zeremonialereignissen und im kleinen zum Beispiel die auch im vollen Harnisch noch spürbare Unvollständigkeit seiner Ausrüstung: nu han ich leider nit ze wer, heißt es bei der Entdeckung der heidnischen Verfolgerflotte, wan als ein swert gelangen mac.74 Doch ist an dieser Stelle eine neue Stufe im Prozeß der 71 Vgl.*R 100,13ff. usw. 113,10ff. Beides, Schach als Minnemetapher (Reinmar MF 159,1; Walther 111,22; Heinrich von Neustadt, Apollonius 18332ff.) wie die allegorische Auslegung des Spiels auf Theologoumena (vgl.Schilling [1979], S.135f.; Cramer [1979], S.266f. [und Diskussion S.356f.]), ist nicht traditionslos, doch bemerkenswert das dichte bildhafte Ineinanderspielen der Themenfelder Minne, Glauben, sozialer Rang. 72 Vgl.*R 60,30f. 108,8f. 148,5. 172,25. Si 235,10f.20; vgl.WW 83,18f. 105,27. 192,6ff. 73 *R 105,28-31. Vgl.Peil (1975), S.308, 320; Suntrup (1978), S.141, 167; Nitschke (1989), S.200ff. 74 *R 155,16f. Ohne Pferd und Lanze besitzt der Ritter eine zu geringe Reichweite - ganz davon abgesehen, daß er erst zu Lande wieder den für seinen Kampf nötigen festen Boden unter den Füßen hat (vgl.*R 155,14f. 157,10ff. 157,30f. 158,13ff. usw.). Erst als Willehalm den Heiden 147 Aristie des Heidenkriegers erreicht, die wesentlich durch den Gewinn der heidnischen Königin markiert wird. Als soziale wie als räumliche Annäherung trat das bisher in den Blick, noch nicht aber als auch eine Liebesgeschichte. Eben die minne ist jedoch die wichtigste Diskursebene, auf der dieser höfische Roman die gegenseitige Annäherung eines männlichen und eines weiblichen adeligen Körpers erzählt. Man hat darum die Arabel auch einen Minneroman genannt. Insbesondere Werner Schröder hat die Kategorien seines Arabel-Verständnisses in einem solchen Terminus gebündelt und offenbar von ihm her, so zeigte ich früher, auch noch bei der aus pragmatischen Gründen sinnvollen Neubetitelung von Ulrichs Roman sich leiten lassen.75 Grundsätzlich sei das überwiegend als Vorgeschichte zu Wolframs Willehalm überlieferte Erzählwerk Ulrichs von dem Türlin "als Minneroman konzipiert."76 Gemeint ist damit, Ulrich habe einen Liebesroman geschrieben, denn mit dem vorausgesetzten minne-Begriff sind Emotion, Sentiment und Innerlichkeit derart konnotiert, daß er vom Liebesbegriff der bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr zu unterscheiden ist: "Was die Minne alles vermag, welche Freuden sie schenkt, welche Leiden sie verursacht, wann und warum sie bald das eine und bald das andere tut, das ist für diesen Autor der Hauptgegenstand seines Nachdenkens."77 Die hermeneutische Problematik einer Argumentation, die derart vom Autorbewußtsein her den Erzähltext in den Griff zu bekommen versucht, läßt sich an dieser Stelle ignorieren.78 Nicht zu übersehen ist aber ein zweiter sachlicher Schwachpunkt der These Schröders, der sich als Folge seines ahistorischen minne-Konzepts begreifen läßt, ja, in dem dieses sich vor allem ausprägt. Ich meine die Akzentuierung jenes Konzepts in der dichotomischen Zuspitzung, "Willehalm der Heidenbekämpfer" werde "bei Ulrich zum begehrten Minneritter" und wie es ihm gelinge, "Arabels Minne zu wecken und zu gewinnen, das [sei] das Thema."79 Jedoch geht es "in der minne weder um 'Liebe', die Reduktion aufs Innere, noch um 'Staatsraison' [hier als Heidenkrieg, P.S.], die aufs Äußere", sondern vielmehr gerade um die "Einheit von Affekt auf Montanar unerreichbar ist und den ersten schweren Angriff auf ihre Flotte führte, sieht man ihn wieder zu Pferd - so seinen Status ostendierend: der Markis was nach leide snel, vor Arabeln er vf saz, vnd wart ie ros gesprenget baz, des enweiz ich niht fuer war. (*R 180,10-13) 75 S.oben S.127. 76 Schröder (1984), S.6 u.ö.; zusammenfassend ders.(1985), S.19ff. 77 Schröder (1984), S.6. Ähnlich schon fünfundzwanzig Jahre früher, als solches Argumentieren auf der Höhe der Zeit war, Hennig (1959), S.352f. 78 Auf die spezifischen Bedingungen der germanistischen Mediävistik hat dies zuletzt zugespitzt Kalkofen (1989), S.14ff.: "Jenseits des Autorbewußtseins"; vgl.etwa auch Japp (1977), S.85ff.; Kuhn (1980a), S.138f.; Simon (1990), S.227ff. 79 Schröder (1984), S.6. 148 und Sozialität [...]."80 Auch wenn darüber kein Einverständnis erzielt werden könnte, so wäre doch immerhin die Entgegensetzung von minne und Heidenkampf weder, nach den vorangegangenen Untersuchungsteilen, im speziellen Fall, noch, man sehe auf die sogenannte Kreuzzugslyrik oder Wolframs Willehalm, überhaupt so evident, daß sie nicht mehr expliziert werden müßte. Hier ist freilich nicht der Ort einer solchen Explikation, vielmehr der einer Darstellung von Funktionen der minne in der Arabel und ihrer Bedeutung für den Protagonisten als Heidenbekämpfer; einer Darstellung also, die als Kritik an Werner Schröders 'Minneroman'-Deutung sich verstanden wissen will. Der Leitfaden, an dem die Analyse sich orientiert, den sie zwischenzeitlich aber auch aus dem Blick verlieren wird, ist das wichtigste der "DivanGespräche Arabels und Willehalms"81 in jener Episode, welche nicht nur unverfänglicher, weil falscher Goethe-Assoziationen ledig, sondern auch triftiger als zweite Schachszene (*R 102,18-115,17) bezeichnet würde. Nennungen des Spiels markieren gewissermaßen die Sektorengrenzen dieses ausgedehnten Diskurses82, welcher zunächst die Situation Willehalms, dann jene Arabels reflektiert. Der Gefangene schilt jene seinen und Arabels Adel verletzenden Bedingungen der Kerkerhaft (*R 102,26ff.), schildert und bewertet sodann die Situation seiner Niederlage auf Runzival, dabei ansonsten makellosen pris betonend (*R 103,10ff.), bevor er erneut die Umstände seiner Gefangenschaft beklagt (*R 105,4ff.). Die Königin verspricht, bei Tybalt für eine Linderung von Willehalms Zustand zu werben (*R 105,14ff.), ane daz, daz ir ymmer hie gevangen sit, ane ob iv der goete helfe git, daz ir ivch ergebt in vnser e. (*R 106,4-7) Natürlich verwahrt sich der Häftling gegen das Ansinnen (*R 106,8), doch gerät er mit Arabels nächsten Spielzügen auf dem Schachbrett in Bedrängnis. Vom Makel des Helden also wird im ersten Segment dieser großen Redeszene gesprochen, zugleich aber auch indirekt von dem Punkt seiner Unverwundbarkeit und unüberwindlichen Stärke, von seiner religiösen Überlegenheit und der Allmacht seines Gottes. Auf beides ist die minne zwischen den Protagonisten bezogen – ganz äußerlich schon, denn die Spielszene ist der Raum auch der später spezifisch heidenkriegerisch akzentuierten Liebeserklärung des christlichen Gefangenen an die sarazenische Königin. Davon soll alsbald gehandelt werden, nachdem zuvor auf die Bedeutung der minne für Willehalm selbst, ihren direkten Anteil an seiner Heldwerdung eingegangen wurde. Dazu ist über die Schachepisode hinaus auf spätere Abschnitte der Erzählung auszugreifen, und dies ist möglich, weil minne in der Arabel nicht, wie Schröders Formu80 Czerwinski (1989), S.267. Umpolungen nach dem Schema, statt Affekt und Emotionalität sei minne in hochmittelalterlicher Erzählliteratur Politik und Gesellschaftlichkeit, reproduzieren nur die Dichotomie unter anderem Vorzeichen; vgl.etwa Rusinek (1986) im Anschluß an Ruh (1977), S.83. 81 Schröder (1984), S.216. 82 Vgl.*R 102,22f. 106,19ff. 113,10ff. 149 lierungen es nahelegen, ein Wachstumsprozeß ist, dessen Phasen zu berücksichtigen wären. Sie ist vom Augenblick der ersten Begegnung Willehalms mit Arabel an schlagartig, begründungslos und in voller Gegenseitigkeit ganz da und dies im Akt des Erzählens von Anbeginn schon in den Metaphern des Schachspiels und der Gefangenschaft: ir blicke im minne schach nu seit (*R 56,31) – sin hertze ir vancnuesse iach (*R 57,4). Was Ulrich von dem Türlin als Wirkung dieser minne auf den Helden erzählt, nimmt Vorgaben aus dem Willehalm auf. Dort vergalt Gyburc allez daz er ie verlos83, mächtiger in ihrer quasi-religiösen Kraft, als selbst des grales stiure (WW 279,27), und darum von jener erlösenden Wirkung, der Willehalm auch in der Verzweiflung gewiß ist: wan [Gottes] helfe und ir trost, ich wære immer unrelost vor jamers gebende [.] (WW 456,19-21) Ähnlicher Weise ist auch bei Ulrich Arabels minne Kompensation erlittenen Verlusts, hier der Ehre und Heldenidentität, ist sie als Ent-Schädigung auf jenen schmachvollen Zustand des Gefangenen bezogen, mit dessen Thematisierung auch die Gespräche der großen Schachepisode begannen: Arabels gúte, so Willehalms Worte, mir mit minne hat versniten leit daz ich han erliten, do mich schumpfentúr von sælde schiet. der wirde neic alder heiden diet, der minne mich slúzet mit minne.84 Der Gewinn Arabels stellt förmlich den durch Niederlage und Gefangenschaft beschädigten Helden wieder her. Es gibt für diese aus Schande und Gefängnis befreiende Kraft der Arabel-minne auch Artikulationen, in welchen wie bei Wolfram Erlösungsassoziationen hineingespielt werden.85 Vor allem aber ist sie als von heilender Wirkung auf den Körper des Helden beschrieben: sie slúzet ihn, weil er aufklaffte, weil Niederlage und Ehrverlust, so wie es diese Interpretation wiederholt betonte, am Körper des Helden als offene Wunden schwären, solange sie nicht heilkräftig geschlossen werden. Das eben kann Arabels minne und deswegen ist sie für Willehalms Heldwerdung unerläßlich. Am deutlichsten wird der Text dort, wo er die Versehrung des Helden, deren Körperlichkeit aus historischer Distanz nur noch an der Nasennarbe sichtbar ist, mit berühmtesten Verwundungen der Epenwelt zitierend in eine Reihe rückt. So nämlich, wie div hóhste kúngin – und es ist nicht die Gottesmutter gemeint, sondern Tybaldes wip, ein Araboysin – Willehalm durch minne lones gewin erlóst hatte (Si 199,24-26), so wäre von ihrem Adel, ihrer Schönheit, ihrer minne (man kann das hier nicht auseinandernehmen) sogar Anfortas [...] geheilt worden, des luppic wunde vil iamers gab. (Si 83 WW 280,5; vgl.WW 279,6ff. und Bumke (1959), S.176ff. Si 196,25-29; vgl.*R 197,12f. Si 201,6. 219,31. 237,6ff. 85 Vgl.Si 198,13ff. 199,23ff. 206,12f. 230,20ff. 84 150 200,6f.) Und mit einer tödlichen Verletzung läßt sich auch diese endlos schwärende Wunde noch überbieten: vnd do Ypomidon in dem balab daz ros treip gein rache bet do er den minnenden Gamuret zu valle iaget durch den adamas daz Herzelauden vnvræude was, des wunde wær wol geheilt.86 Moment der Aristie des geschändeten, unterlegenen Helden, nämlich Heilung des von siegreichem Feind versehrten Heldenkörpers, könnte Arabel mit ihrer minne auch in extremsten Fällen sein.87 Dies sagt der Text im Literaturzitat aus. Aktualiter ist die heidnische Königin samt ihrer minne wesentliches Funktionselement auf Willehalms Weg zurück in die auf Runzeval verlorene Identität als siegreicher Heidenkrieger: sie läßt die Wunde am Körper des Helden zur Narbe sich schließen. Direkt auf Willehalms Makel also ist einerseits der Gewinn der heilkräftig schönen Königin und ihrer minne bezogen, zugleich aber auch auf den Punkt seiner Immunität und des Makels Arabels. Dies entfaltet das Gespräch, welches beide in der großen Schachszene führen, in seinem zweiten Teil. Beim Spiel der Könige ist die Königin aus Todjerne, wie es nicht anders sein kann, dem Gefangenen überlegen. Sie findet seine Dame ungedeckt und spottet: kunnet ir so hueten vrawen, her Markis? (*R 107,2f.) Ausgangspunkt ist also die Schachmetaphorik, zunächst in einem Diskurs über Frauen-minne. Doch springt die Szenerie abrupt in einen andern Aggregatzustand um, wobei wohl das Thema von huote und Fürsorge als Mittler des Assoziationsvorganges fungiert. Willehelm ersuefzt vnd sach si an (*R 107,6) und betet auf Französisch zur Gottesmutter für Arabels Erlösung. Aus jenem über Frauen- wurde ein Diskurs über Gottes-minne, denn Willehalm erfleht gewissermaßen die göttliche huote für jene Dame, die er als die seine künftig zu beschützen haben wird, und die höchst erlösungsbedürftig ist: nu senfte dines kindes zorn, vnd bite daz iht werde verlorn so schoen ein menschen bilde! min gelaube wuerde wilde, wirt si von irretuom verleitet. (*R 107,23-27) Arabel aber hat das Gebet verstanden (*R 108,4ff.) und fragt nach dem Wunder der Jungfrauengeburt (*R 108,22ff.). So entwickelt sich ein Religionsgespräch, in dem 86 Si 200,7-13. Vgl.Wolframs Parzival 105,13ff.; Albrecht, Jüngerer Titurel 943ff.; Ohly (1976), S.52ff. 87 Der Gewinn der Frau, ihre minne also ist selbst das remedium (vgl.auch WW 154,20ff.), nicht ist die Frau nur Ärztin, die sich anderer Heilmittel bedient (der kategoriale Unterschied wird deutlich beim Blick auf die entsprechende Anfortas-Anspielung Wolframs [WW 99,29f.], ihn ignoriert Ehlert [1986], S.51ff.). Und: es ist keine minne-Krankheit oder minne-Wunde (vgl.dazu etwa Stebbins [1977], S.78ff.; Schnell [1985], Register s.v.'Liebe als Krankheit') welche Arabels minne heilt. 151 Willehalm, drohender Gefahren ungeachtet (*R 109,18ff.), einen in *R gegenüber *A besonders mariologisch akzentuierten (*R 110,9-111,17) zeitlichen Abriß der Heilsgeschichte (*R 109,15ff.) und sodann in der Form einer Schachallegorese eine Darstellung der Zeitlosigkeit der himmlischen Ordnung gibt (*R 113,1ff.); an seinem Zielpunkt hat so der Diskurs als theologischer zu jener Schach-Bildlichkeit zurückgefunden, von welcher er als minne-theoretischer seinen Ausgang genommen hatte. Kaum rechtfertigt demnach das hier nachgezeichnete Gespräch die Feststellung, die "Religion spiel[e] in diesem Roman eine ganz sekundäre Rolle."88 Und das umso weniger, als Willehalms Christenlehre fugenlos in eine Liebeserklärung an Arabel übergeht, welche ihrerseits in eine Beteuerung ungebrochener Bereitschaft zum Heidenkrieg mündet: also diz gestein [des Schachs] wert des hymels ordenunge, die ritter alt wis vnd ivnge goetlichiv helfe gruezet, swer sich mit dienste im suezet vnd in zwein gantzes hertzen giht. kuenginne, han ich nu iht geseit, daz iwer hertze nit meinet, so sit ir, sueziv, so gereinet ob allen wibes gueten, daz ir min wol kuennet hueten. vnd wært ir nit, ich wolte nit leben! iwer schoen ist mir zu leben gegeben. die wile ich ivch weiz, so leb ich wol. vf iwer gnade ich kummer dol. alliv bant div sint mir smæhe, swanne ich ivch, reiniv, sæhe vnd iwer guete mir hulde jæhe. Owe, vnd solt ich noch strit den trost mir iwer minne git durch ivch mit den heiden striten, ich sluege noch slag durch helm so witen, daz Apollo noch Teruigant vnd swie die goete sint genant, mit helfe nit moehten heilen. owe, der mirs so wolte teilen, wie vroelich ich griffe zu! (*R 114,14-115,9) Der ausführliche Blick auf den Verlauf des Gespräches in der zweiten Schachspielszene und das ungekürzte Zitat des Schlusses von Willehalms Rede waren nötig, um zu zeigen, worauf es der Kritik an Werner Schröders Minneroman-Konzeption der 88 Schröder (1984), S.217. 152 Arabel ankommen muß: die Unauflöslichkeit von minne und Religion als Dimensionen, in welchen sich Willehalms Heldwerdung ausfaltet. Die Dichotomisierung von Fragen der Liebe und solchen des Glaubens und ihr Gegeneinanderausspielen gar auf Kosten der Religionsthematik zerlegen eine im Text gegebene Einheit. Thematisch ist in beiden Fällen eine Relation zwischen Liebendem und Geliebtem, deren formale Regel stets vom Begriff der minne abgedeckt wird. Und um eben diese sozusagen zweite Dimension erweitert sich in der Folge der Schachspielszenen mit Arabel der Prozeß der Aristie, welcher zunächst – dort nämlich, wo Arabel und der Duktus des Erzählens die Versuche der Zerstörung der heroischen Identität durch Gefangennahme und Kerkerhaft unterliefen – weitgehend eindimensional auf den Protagonisten in seiner fast totalen Isolation bezogen war. Das Vernarben von Willehalms Schandmal, der Gewinn Arabels, die Bekämpfung der Sarazenen, Gottesdienst und Frauendienst des Helden also89, sind funktional unauflöslich verflochten und eben diese Vernetzung läßt sich an der thematischen Gesprächsführung in der zweiten Schachepisode beobachten. Eins also sind die wahre minne zu Arabel, der permanente Heidenkrieg als ritterliche Form der Gottesminne und die Restitution des Helden unter den Bedingungen jener Chanson de geste-Welt des Willehalm-Stoffes, in welche Ulrichs Arabel eintritt. Die Reaktion der Königin auf Willehalms Liebeserklärung macht dies gleichermaßen deutlich wie die schon im Prolog des Textes angezeigte Trennung von wahrer und falscher minne. Arabel mit liebe was in ir hertze kommen ein minne zu Willehalm und seinem Gott, div si von minne zu Tybalt, Apollo und Tervigant schiet, der minne liebe ir widerriet daz si minne durch minne liez. waz ir div Minne dar vmme gehiez, ob si sich minne [zu Tybalt und seinen Götzen] durch minne [zu Willehalm und Gott] bewæge, vnd dannoch minne in minne pflæge? ich wæne sin wol vnd weiz sin niht, ane daz der minne liebe giht, daz ir liebe mit got wil haben pfliht. (*R 115,22-31) Ein vielleicht an Gotfrit geschultes90 modisches Wortspiel veranstaltet der Text, welches nur aufzulösen ist, wenn man sich auf der Objektseite der minne jeweils den gemeinten Mann mit seinem Götterhimmel zusammendenkt. Und das heißt auch, den minne-Begriff formal als eine Beziehungsregel zu verstehen. So gut wie für das Wolframsche gilt für das von Ulrich Erzählte: "Arabels Ehebruch und ihr Abfall vom 89 90 Vgl.*R 114,18. 115,3. Vgl.Thelen (1989), S.298. 153 Islam lassen sich so wenig trennen wie ihre Liebe zu Willehalm und ihr Übertritt zum Christentum."91 Gleichfalls nur unter dieser Bedingung der Zusammengehörigkeit von Heidenkönig, Heidentum und Heidengöttern einerseits, anderseits Heidenbekämpfer, Christentum und dreifaltigem Gott ist jene Differenzierung sinnvoll, die den Minneterminus seit seiner Einführung in den Text begleitet. swa minne ir sueze kan so bewisen, div lib vnd sel nit krenket, swa minne in minne sich so bedenket, der minne wil ich sueze iehen: als Arabel liez hie minne sehen. minne sueze wol an ir minne schein. Und dann, wie zur Bestätigung der gerade konstatierten Einheit: ir minne nit wolte wesen ein: si minnete hie vnd minnete auch dort. des wisheit sliuzet allen hort, des minne ir wart vnd auch div hie. (*R 6,10-19) Von Anbeginn also sperrt sich die Arabel dagegen, daß in der Weise Werner Schröders minne und Religion gegeneinander in Stellung gebracht werden. Sie gehören als Dimensionen, in denen sich der Rückweg des Protagonisten in seinen früheren Rang vollzieht, a priori zusammen. Über minne kann bei Ulrich von dem Türlin offenkundig gar nicht ohne diskursive Spezifikation gesprochen werden, welche den Nexus von dies- und jenseitiger minne dadurch betont, daß sie diese zum Kriterium jener macht. Eben darin unterscheidet sich die tödliche minne auf Seiten der Heiden von jener lebendigen christlichen. Im Gespräch des Arabel-Erzählers mit Frau Kiusche und Dame Minne, welches auf der Ebene des Erzählens an jener Stelle steht, die auf der Ebene des Erzählten das Brautlager Willehalms und Kyburgs innehat (Si 303,18-305,15), wird das exemplarisch diskutiert. Cristen súze vnd auch der heiden (Si 304,31), so zeigt es das Schicksal Gahmurets, sind inkompatibel: Belykan im doch næher lac dan Hertzelaude mit 91 Schröder (1989), S.479. Daß Schröder in seiner Willehalm-Interpretation allerdings diese Einsicht sofort wieder eskamotiert und aus dem Ineinander eine Abfolge von Ursache und Wirkung macht, zwingt ihn in den methodischen Fehler, Gyburcs entsprechende Äußerungen als widersprüchlich, vielmehr, da der klassische Text per definitionem von solchen Makeln frei ist, als mehr oder weniger 'eigentlich' oder 'richtig' zu qualifizieren. Um des "ihrer Wachsamkeit anvertrauten Gefangenen" willen, so liest Schröder Wolfram, "verläßt sie ihren Mann Tybalt, um seinetwillen schwört sie Tervigant ab und läßt sich taufen. Ihre Begründung: 'durh des hoehisten gotes hulde / ein teil ouch durh den markis' (310,18f.) begegnet auch in umgekehrter Reihenfolge (216,1-3; 9,18f.), die eine in öffentlicher Rede, die andere im privaten Gespräch. Sie weiß, daß die zweite Version Ursache und Folge richtiger wiedergibt." (ebd., S.479f.) Zutreffend ist vielmehr erst das Tertium der anscheinend konkurrierenden, in Wahrheit komplementären Äußerungen, daß nämlich eine Hierarchie zwischen liebes vriundes minne und minne von der hoehsten hant (WW 9,18f.) gerade nicht angegeben werden kann (vgl.Bumke [1959], S.173, 176ff.): sie widerspräche den Konstitutionsbedingungen der Figuren dieser Epik. 154 gantzer liebe. Das ist der Grund, weswegen der Minne súze gelich einem diebe dem edeln ritter leben stal, während ihre súze sich hie guetlichen hal an Arabeln, div nu Kyburc heizet. (Si 304,12-17) Die mit dem Namenswechsel aufgerufene Taufe ist das Unterscheidungskriterium rechter und falscher minne: swaz ich, Frau Minne, sie, Willehalm und Kyburg, nu minne wer, der sueze niht sterbens hat gewalt.92 Die Verbindungs- und die Trennlinien von christlicher, heidnischer, weltlich immanenter und geistlich transzendenter minne liegen also genau quer zu jener Zuordnungsmatrix, welche Schröders Interpretation fundiert. Nicht zwischen Liebe hier und Glauben da liegt die Leitdifferenz der Arabel, sondern zwischen Christentum und Heidenschaft. So ist es auch dem Sujet und den Traditionen, den französischen wie den deutschen, der Wilhelmsepik gemäß: Heidenischiv minne vnminne gert, div kristen minne liebe wert. (*R 116,1f.) Die Engführung von Liebeserklärung und Glaubensthematik, der Diskurs, der die kategoriale Unterschiedenheit von rechter und falscher minne auf der Grenze von Christentum und Heidenschaft verortet, zeigen, daß die minne geheißene epische Beziehungsregel mit bürgerlichem Sentiment nichts gemein hat. Sie zeigen, daß 'Minneroman' die Arabel auch darüber hinaus nur in jenem höchst problematischen Sinne heißen könnte, der aus einem agonalen Interdependenz- und Funktionsgeflecht ein Element herausbricht und es verabsolutiert, der eine Dimension der Aristie des Protagonisten schon für das Ganze nimmt. Doch gehört all dies, die minne der Dame und ihr Gewinn, der Ruhm des dreifaltigen Gottes und der schrittweise Aufstieg des epischen Helden unauflöslich zusammen. Es gibt Stellen, wo der Text dies in unvergleichlicher Dichte formuliert: ich wil dich durch kristen ruom, sueze, kússen in dem heidentuom Tybalde zu leide. (Si 256,9-11) Falsche minne endet letal. Auch der Umkehrschluß gilt: tödlicher Ausgang erweist die minne als die unrechte. So ist es in den Reflexionen eines kommentierenden Erzählers formuliert. Die Erzählung hätte es aber auch episch zu vergegenwärtigen, hätte die falsche als Kontrast der richtigen minne zu erzählen. Sie tut dies in doppeltem Anlauf, weil es ihr schwerfällt! Falsche minne hat in Ulrichs Arabel ihren festen Ort in Todjerne und daß dies so bleibe, ist der erste Schritt zu ihrer Bewältigung. Doppelt ist sie dort gegenwärtig: einerseits in der Liebe des sarazenischen Königspaares Tybalt und Arabel, anderseits in den Leidensgeschichten dreier heidnischer Königinnen. Jene erste Konstellation ist wenig überraschend, denn in Arabels Konversionsgeschichte, im Umsprung von der Tybalt- zur Willehalm-minne zugleich den falschen gegen den richtigen Minnetypus auszuspielen, ist die wahrhaft nächstliegende Möglichkeit der Kontrastbildung und 92 Si 305,10f. Die Begriffe 'rechte' und 'falsche' minne haben zum Beispiel in der Eneide-Forschung eine gewisse, nicht eben klärende Rolle gespielt, dazu bündig Ruh (1977), S.84f. Hier wird 'falsche' minne, ohne daß auf solche Diskussionen Bezug genommen wäre oder sollte, ganz strikt als Synonym für minne mit oder unter Ungetauften verwendet; vgl.etwa auch Albrechts Jüngerer Titurel 4029,2ff. 155 also der epischen Diskursivierung. Der Struktur des Kontrasts gemäß bildet die minne Tybalts zu Arabel in diesem Roman eine Hintergrundgeschichte zur richtigen minne mit dem französischen Markgrafen. In komplementären allegorischen Horizonten erweist sie sich als falsche und darum hätte sie nach den in der Welt der Arabel geltenden Regeln auf ein tödliches Ende hinauszulaufen.93 Doch ist eben dies aus Gründen unmöglich, welche sich aus der Fortsetzungssituation von Ulrichs Roman, aus seiner Verpflichtung auf die Bedingungen einer längst vorstrukturierten Epenwelt ergeben. Das letale Ende der falschen minne Tybalts und schließlich auch Arabels kann nicht gezeigt werden, weil dieser eine ganz andere, erlösungsgewisse und heilserfüllte Zukunft bestimmt ist, und jener als prominentester und unversöhnlichster94 aller zu bekämpfenden Heiden nicht nur für Willehalms Aristie bei Türlin, sondern bis in die Schlußpartien des Rennewart hinein noch gebraucht wird. Da nach den Gesetzen der Erzählung nicht geschehen kann, was nach ihren Gesetzen unumgänglich ist, geschieht etwas stattdessen. Zu beobachten ist ein Verfahren narrativer Substitution der raffinierten Art, daß Substituiertes und Substitut handlungslogisch ineinander verschränkt sind. Es sind nämlich die drei Witwen aus Kandulag, Tangronet und Tussangule, an denen die in der Tybalt-Geschichte suspendierte Regel von den letalen Konsequenzen falscher minne wieder in ihr Recht gesetzt wird. Tybalt, als er in den Garten kommt, sich von Arabel zu verabschieden, begegnet dort in den Witwen gewissermaßen jenem Normgefüge, dem er selbst nur unter den Ausnahmebedingungen seiner besonderen Rolle im großepischen Konglomerat der Willehalm-Romane entrinnen konnte.95 Die Witwen von Kandulag, Tangronet und Tussangule sind in Todjerne, um zu zeigen, daß ihre Könige nicht da sein können: sie fielen als Minneritter und notwendig, denn die ihre war eine falsche minne; sie fochten im Heidenkrieg auf der falschen Seite. Darum vollzieht sich an ihnen mit regelhafter Normalität, was auch Tybalt von Rechts wegen ereilen müßte und nur aus Gründen der Handlungslogik nicht widerfährt. Strukturell vergleichbar den achtzig Witwen in Brandigan, die Erecs (und Enites) Gelingen gegenüber Mabonagrin (und seiner Freundin) als herausragenden Sonderfall kenntlich machen96, dokumentieren die drei klagenden Witwen in Todjerne Tybalts Geschichte als Ausnahme. Schon die Dreizahl der stets einen Geschichte, Hartmanns Witwenschar quantitativ unter-, qualitativ aber in ihrer perfectio überbietend, zeigt sie gegenüber dem Singulären als das Normale an. Die drei Witwen repräsentieren drei Geschichten falscher, tödlicher minne und also dasjenige, was von Tybalt nicht erzählt werden kann. Noch einmal die Blickrichtung gewechselt, werden die betrauerten Könige nicht deswegen von Willehalm getötet, weil sie ihm als Kämpfer unterlegen wären – das wären handlungslogische Niederlagen, die gar nichts Erstaunliches hätten97 –, sie leben und sterben vielmehr, sozusagen ersatzweise, aus erzähllogischen Gründen, weil Willehalm Tybalt aus handlungslogischen Gründen nicht erschlagen 93 Vgl.X.7. Vgl.TR 26813ff. 95 Vgl.X.8. 96 Vgl.Hartmann, Erec 8195ff. 97 Vgl.*R 79,16ff. 81,12ff. 94 156 darf. Es geht abseits des von der Willehalm-Arabel-Erzählung determinierten Ausnahmefalles der Tybalt-Geschichte um dessen Substitut als Repräsentation der trotz des Ausnahmefalles geltenden Regeln vom letalen Ende falscher minne. So wichtig wie der thematische Aspekt ist dabei das narrative Verfahren.98 Es wiederholt ein Muster, welches schon in den Gotfrit-Fortsetzungen begegnet war: Eine Geschichte kann aus Gründen ihrer eigenen Gesetzlichkeit nicht so weitererzählt werden, wie es die in der narrativ konstituierten Welt gültigen Regeln zugleich verlangen. Darum wird sie für eine bestimmte Strecke in eine andere von paralleler Thematik, analogen Konstellationen oder homologer Struktur übersetzt. Die KaedinKassie-Nampotenis-Erzählungen Ulrichs von Türheim und Heinrichs von Freiberg in diesem Sinne als narrative Substitute, als alternative 'Geschichten stattdessen' zu verstehen, stellte sich bei der Analyse dieser Tristanschlüsse als hilfreich heraus. Ganz ähnlich erweisen sich nun auch die in der Witwen-Episode der Arabel aufgerufenen Geschichten als solche Substitute. Man könnte von daher, nämlich als epischen Hinweis auf alternative Erzählungen, die geringe narrative Integration der Witwen-Episode in ihrem Erzählumfeld begründen (und wäre so wenigstens der Gefahr des Rückgriffs auf Kategorien entgangen, die ohne die Schwäche des epigonalen Autors zu dichter Verfugung nicht auskommen können): sie prägt sich etwa als tableauhaft statischer gegenüber sonst vorwiegend progredierend handlungs- oder sprachhandlungsreichem Erzählduktus, auch als genaue zeitliche (Fest) und räumliche (Garten) Grenzziehung, schließlich in einer deutlich zäsurierenden Erzählerbemerkung (*R 66,4-21) aus. So wichtig wie oder wichtiger als syntagmatisch kontinuierliche Verflechtung mit dem um sie herum angeordneten Handlungsgeschehen ist für die Witwen-Episode der Arabel offenbar ihr paradigmatischer Status. 4. Stufen der Aristie Willehalms II: Das Thema des tödlichen Ausgangs falscher minne, das sich im Todjerne-Teil von Ulrichs Arabel exkursorisch beobachten ließ, ist eine der Verflechtungsformen von minne und Religion. Beides sind, ich rekapituliere, Dimensionen, in denen die Aristie des Helden in diesem Roman sich vollzieht. Dorthin ist nun der Bogen zurückzuschlagen. Zu sehen war an den ersten Stufen dieses an und durch Willehalm geschehenden Prozesses, wie sie zunächst, in Arabels und des Erzählers Ehrerbietungen dem Inhaftierten gegenüber, ganz nur den isolierten Helden in seiner Selbstbezüglichkeit erfassen, wie sie erst später, in den Schachspielszenen, in die neuen Dimensionen der minne und Religion ausgreifen. Damit ist ein Muster vorgegeben, welches auch die nächsten, hier jetzt zur Diskussion stehenden Stufen von Willehalms Aristie 98 Ihm gegenüber tritt die von Schröder (1983), S.220f., gepriesene, bloß motivierende Funktion der 'Witwen-Episode' zurück. Sie hätte auch, sowenig wie der in solchen Fällen nicht selten berufene Stoffhunger oder die höfische Freude an orientalisch-exotischer Prachtentfaltung, die bemerkenswerte Ausdehnung des Erzählabschnitts nicht zu begründen vermocht. 157 prägt. Erneut folgt der Zugewinn an Mehrdimensionalität erst im Anschluß an eine ganz auf den Helden bezogene Prozeßphase. Doch weitet sich die Aristie nun nicht in Dimensionen der minne (zur Dame und zu Gott), sondern in solche des Agonalen: schließlich werden die Verletzung Tybalts und der Heidenkrieg zu Bestandteilen der Aristie. Nach der großen zweiten und wichtigsten Schachspielszene berät sich Arabel mit vier ihrer Hofdamen, welche von nun an stets in ihrer Nähe und, so später bei Taufe und Hochzeit, Personal einer partiellen Verdoppelung des Handlungsgeschehens sein werden. Dann, nachdem sie sich zur Flucht mit dem Geliebten und zur Taufe schon entschlossen hat, befragt sie in einer dritten Schachepisode den noch Gefangenen nach seiner Macht und dem Schutz, den er ihr gewähren könnte, und gemeinsam verabreden sie die Flucht. Damit ist im Prozeß der Restitution Willehalms als einer Heldenfigur ein Etappenziel erreicht, an dem die Erzählung den wiedergewonnenen, freilich noch immer defizitären Status des Protagonisten nunmehr in Aktionen vorführen kann – während bisher, der Ohnmachtssituation der Geisel gemäß, deren Handeln stets allein ein Sprechen war. Die Rede ist von der Befreiung Willehalms aus dem Turm, dem Sexualakt mit Arabel und von der Flucht zu Schiff. Werner Schröder hat diesen Erzählzusammenhang als Einheit der gemeinsamen Flucht Arabels und Willehalms vorgestellt, wenigstens bis zur Kaperung des Fluchtschiffes, und betont, daß bis dahin die heidnische Königin "der führende Kopf des Unternehmens" sei.99 Demgegenüber werde ich im folgenden versuchen, einzelne Episoden dieses Textausschnitts deutlicher voneinander abzuheben. Dabei wird sich auch zeigen, daß Schröder auf eine (geistesgeschichtliche) Weise vom Kopf, von der intellektuellen Planung der einzelnen Fluchtschritte her gedacht und geurteilt hat, welche die Bedeutung körperlicher Stärke in diesem Text und seiner Kultur unterschlägt. Damit verfehlt er die Konstitutionsbedingungen der Willehalm-Figur, aber auch die spezifischen Konturen Arabels als einer starken, kämpfenden Frau. Diese zeichnen sich deutlich schon in der ersten der hier zu untersuchenden Episoden ab, in der Arabel Willehalm aus dem Turm zieht: si sprach 'wol vf vnd svmt ivch niht! min munt des kristentuoms giht. sitzt vaste, wir ziehen ivch wol.' ob ich nach wane sagen sol, Arabeln kraft erzeigt sich hie, wan ez ir wol von hertzen gie. swie div prisvn wær vil hoch, Arabel in vz mit kreften zoch, [...] (*R 129,17-24) Die topographische Ordnung ist mit sozialem Sinn gleichsam aufgeladen: Arabel zieht den Gefangenen zu sich herauf, auf ihr Niveau. Es ist die 'Kraft' ihres gesellschaftlichen Ranges als Königin und als Minnedame, die sie dazu befähigt. Es ist eine 99 Schröder (1984), S.223. 158 Form der Befreiung aus Erniedrigung und zugleich aus dem Status eines ohnmächtigen Objekts der Ereignisse. Der Held gewinnt Handlungsfreiheit zurück, wird wieder zum Subjekt der Geschichte und, denn eben dies ist mittelalterlicher Adel, geht damit einen großen Schritt seiner Heldwerdung. Dabei sollte nicht übersehen werden, daß dem frühere Schritte vorausgegangen waren, daß dies auch von der Seite Willehalms her nicht voraussetzungslos geschieht. Denn dem ist in der Befreiungsepisode bis in die Marginalien des Motivischen hinein Geltung verschafft: Es ist gerade nicht ausschließlich Arabel die Befreierin, Willehalm hat vielmehr eigenen Anteil an seiner Freiheit. Sie könnte ihn nicht aus dem Turm ziehen, hätte er sich nicht zuvor mit einer Feile von den Ketten gelöst.100 Es ist diese Verschränkung von Passivität und Aktivität, die den momentanen Zustand im Prozeß der Rekonstruktion des Heros genau bezeichnet. Schon der nächste Schritt jedoch, die folgende Episode, treibt den Vorgang weiter voran, ihn über die Einbeziehung Arabels und auch des Christengottes hinaus erweiternd mit Blick auf den ärgsten Feind. Dies zu sehen muß man genau auf die Schrittfolgen der Erzählung achten, auch dort, wo diese mit kleinen, schnellen Bewegungen trippelt. Arabel zieht Willehalm aus dem Kerker (*R 129,24) und schließt diesen ab (*R 129,25) – verhindert also ein Zurückfallen Willehalms an den Ort der Schande. Dann bringt sie ihn, zusammen mit ihren Hofdamen, von dort weg in den Bereich aristokratischer Ehre, in den Palas (*R 129,26). Immer wieder also ist räumliche Ordnung bis ins Kleinste semantisiert. Dort im Palas erhält Willehalm seine Waffen zurück (*R 129,28ff.). Auf diese wichtige Etappe im Prozeß der Wiederherstellung Willehalms, auf die Aneignung von Harnisch und Schwert als Aneignung der Kriegeridentität folgt unmittelbar – die Aneignung der Frau. In einer Situation größter Entdeckungsgefahr und bis in den Wortlaut hinein völlig präsenter Bedrohung durch die Ungläubigen (*R 129,31) fügen sich den Küssen auf das Schwert als Besiegelung der einen Aneignung die Küsse der Frau als Besiegelung der zweiten ohne Lücke an.101 Dichter als hier könnten die Waffen als 'Geliebte' und die Geliebte als 'Waffe' des Helden nicht ineinandergespielt werden. Daz swert er kuzt wol drizec stunt. div kuengin ir roten munt vaste an den sinen dructe. (*R 130,1-3) Aus diesen Küssen entsteht, als Arabels Damen sich zurückgezogen haben (*R 130,12), zum unpassendsten Zeitpunkt, wie es scheinen will, der Sexualakt: das über- 100 Daß die Idee mit der Feile und das Werkzeug selbst von Arabel stammen (*R 122,13ff. 127,18ff. 128,5f.), paßt sich da gut ein: als Reflex des Anteils der Königin auch schon an den früheren Stufen der Aristie Willehalms. 101 Gebärdenhaft drückt sich in diesen Küssen Wiedersehensfreude und minne aus, doch sind eben dies hier Formen der Aneignung; vgl.Jones (1966); Peil (1975), v.a. S.312f., 315, 324; Dietz-Rüdiger Moser, in: HRG II (1978), Sp.1320-1322. 159 haupt erste, was Willehalm tut, kaum daß er in neuerrungener Handlungsfreiheit wieder zum Subjekt des Geschehens wurde. Freilich sieht es trotz aller Metaphorik der Liebesglut (*R 130,4ff.) nur so aus, als habe diese Unverzüglichkeit mit brennender Emotionalität, gar ungezügelter, archaischer Triebhaftigkeit etwas zu tun. Traut man aber diesem Anschein, welchen das Erzählte im Horizont bürgerlicher Konzepte von Affektivität und Sexualität erweckt, dann bleibt außer der Moralisierung nichts. Dies zumal, insofern die Parallelität zwischen diesem Beilager und dem nicht lange zurückliegenden Sexualakt von Arabel und Tybalt unübersehbar ist. Werner Schröder hat die bis ins Detail gehenden Übereinstimmungen aufgelistet102 und gefolgert, es verleite den "Erzähler seine Vorliebe für pikante Szenen, das Paar noch kurz vor dem Aufbruch in dasselbe königliche Bett zu führen, in welchem Arabel wenige Wochen zuvor mit Tybalt gelegen hatte. Und um die Geschmacklosigkeit voll zu machen, wird die Liebesnacht mit neuem Partner beinahe mit denselben Worten geschildert wie die mit dem früheren. Man könnte meinen, für diese Frau" – will sagen: im Gegensatz zu Wolframs Gyburc – "sei ein Mann wie der andere."103 Wie zu Lachmanns Zeiten verfällt der Erzähler, um so leichter, als es sich nach Schröders Verständnis um einen Epigonen handelt, nicht allein intellektuellem und ästhetischem, sondern zudem moralischem Verdammungsurteil. Der Autor eines Romans aus dem späten 13.Jahrhundert bekommt die Verhaltensweisen seiner adeligen Helden an den Kriterien einer bürgerlichen Privatmoral gemessen.104 So versteht man nichts.105 Dabei ist gerade in der Form konvergierender Episoden die Stoßrichtung jenes Liebesaktes unmittelbar vor der Flucht doch mit großer Eindeutigkeit klar gemacht. Dieser ist – offensichtlich, möchte ich sagen – nach den Regeln des vorausgegangenen zwischen Arabel und Tybalt inszeniert, damit er als Reaktion darauf erkennbar werde. Der Episodenparallelismus 'umschreibt', was in Willehalms Rückblick direkt gesagt wird, daß er und Arabel sich in jenem Bett liebten, da Tybalt und si in liebe lagen. (Si 237,11) Es geht demnach nicht um ein Ehebruchsproblem, sondern um den Bruch von Tybalts Ehe. Der Christ nimmt die Frau seines heidnischen Gegners, diesen so doppelt schändend, in Besitz: Sexualität ist 102 Vgl.Schröder (1984), S.223f. Schröder (1985), S.21; vgl.ders.(1984), S.223ff.; (1989), S. 484. 104 Daß diese Privatmoral ihrer eigenen historischen Kontingenz inne zu sein vorgibt, indem sie Koran (vgl.Schröder [1984], S.222) und paulinische Ehelehre (ebd., S.225) zur Beurteilung von Sexualität und Ehebruch in der Arabel heranzieht, macht das Verfahren nicht besser: jener war so wenig für Ulrich von dem Türlin verbindlich, wie diese für seinen Kriegerhelden. 105 Es ist auch nicht ausreichend, als alternative Deutung demgegenüber die Liebe als "nur integratives Element einer auf 'vröide' basierenden Lebensform" zu begreifen und dann die eindimensionale Deutung anzubieten, die Liebesnächte Arabels mit Tybalt und dann mit dem Markgrafen ähnelten deswegen einander "so demonstrativ [...], weil in beiden Fällen die enge Bindung des Paares herausgestellt werden soll." (Behr [1989], S.135) Zwar ist hier minne mit Recht so relativ formal als eine Beziehungsregel gefaßt, daß Anachronismen vermieden sind, doch ignoriert diese Interpretation Hans-Joachim Behrs so gut wie die Schrödersche jene Episodenkonvergenz, um die sie sich scheinbar bekümmert. 103 160 auch und auch hier eine Machtfrage106 – Tybalt muost hie lieb erarnen (*R 131,17). Zeichenmächtiger läßt sich nicht ins epische Bild bringen, daß der Gewinn Arabels zur Verletzung Tybalts und der Heiden überhaupt werden soll. Der Sexualakt rückt in den Horizont des Heidenkrieges, weil in der agonalen Welt des abendländischen Adels die Restitution des geschändeten, verlorenen Helden sich gar nicht anders vollziehen kann, denn als sei es sexueller, sei es militärischer Sieg über die Heiden. Auf dieser Stufe wird als Dimension der minne (zu Arabel) der Haß auf Tybalt und seine Völker sichtbar: sein tot ist ebenso wie Willehalms Genesung der Sinn von Arablen minne (*R 158,4). Das Beilager ist ein atavistischer Akt der Auslöschung der konkurrierenden, falschen Minnebeziehung und der Überhebung über den abwesenden Gegner als Moment eigener Rangsteigerung. In ihm wird der Kampf mit Tybalt als Begegnung aristokratischer Körper vollzogen, doch nicht direkt im Modus der aventiure, sondern mittelbar als minne, also nicht mit dem Instrument der Waffen, vielmehr dem der Geliebten. Weil sie dieserart substituiert werden, sind am Beginn der Episode das Schwert und die Königin in den Küssen des Helden funktional identisch. Schon hier, wie später auch, gibt Willehalm Arabel Küsse, deren Funktion es ist, daß sie beweinte sit Terramer (*R 70,6). Wohl läßt sich darum sagen, "Ulrich entwickel[e] eine beinah raffiniert zu nennende Erotik des Mundes und des Kusses"107, doch steht sie nicht abseits oder im Gegensatz zum agonalen Christen-HeidenKampf, sondern ist sein Element. Man sieht dies schließlich auch an dem noch zu beschreibenden trophäenhaften Gebrauch, der in Orange und Avignon von erbeuteten Requisiten gemacht wird: Das aus Tybalts Besitz stammende Zelt, in welchem vor Avignon Arabels und Willehalms Ehrung durch das christliche Kaiserpaar sowie der Heidin Taufe gefeiert werden, zeigt auf seiner Prunkseite nicht umsonst Tybalts Bett, darin der Sarazenenkönig und seine Frau einander lieben (Si 260,25ff.). Willehalms Gefangenschaft ist durch die Befreiung aus dem Turm beendet. Von ihr durch den Liebesakt mit Arabel geschieden, in welchem der Agon als Dimension der Aristie des Helden konkret wurde, ist es nicht mehr Funktion der Flucht über Meer, den Helden aus der Gefangenschaft herauszuführen. Anders als die kaum abgrenzbaren Phasen eines homogenen Prozesses verhalten sich Befreiung und Flucht zueinander. Der Skopus der Flucht und ihre neugewonnene Sinndimension erschließen sich zumal von dem Erzählschema her, in welchem sie funktioniert, und aus episodenexternen Kommentaren. Der Handlungsgang selbst, etwa von der Zurüstung oder vom Ablegen des Fluchtschiffes einerseits bis zur Überwältigung der sarazenischen Wachmannschaft oder der Landung in Montanar oder dem Untergang von Tybalts Armada anderseits ist kaum in allen Details kommentarbedürftig. Zwei seiner Höhepunkte sind das heimliche Besteigen des Schiffes und später dessen Kaperung; 106 Dieser Logik gehorcht auch Willehalms Beschimpfung seiner Schwester in Oransche, vgl.WW 153,24f. und unten Anm.122. "Innerhalb der Machtbeziehungen gehört die Sexualität nicht zu den unscheinbarsten sondern zu den am vielseitigsten einsetzbaren Elementen: verwendbar für die meisten Manöver, Stützpunkt und Verbindungsstelle für die unterschiedlichsten Strategien." (Foucault [1977], S.125) 107 Ruh (1978), S.122; vgl.auch Hennig (1959), S.353ff. 161 Situationen des Rollentausches also. Willehalm nämlich birgt Helm und Schwert unter Frauenkleidern, Arabel hingegen hat seinen Halsberg angelegt, als sie an Bord gehen (*R 132,20ff.28f.); bei der Eroberung des Schiffes sodann greift sie mit einem Ruder in den Kampf ein (*R 146,14ff.). Zweierlei wirkt hieran belangvoll. Zum einen erscheint die Königin in der Rolle der kämpfenden Frau, geht es um die Darstellung ihrer Stärke: man muoz kraft an mir schauen (*R 132,20). Es ist die Kraft von Arabels gesellschaftlicher Geltung108, die in den Hieben des Ruders für die Sarazenen tödlich wird und Willehalm zum Sieg verhilft – jene kraft, welche sie zu Vorzeiten, ehe sie Willehalm begegnete, ihrem Gatten Tybalt mitteilte (*R 40,6f.), ihn so zur Lebensgefahr für die Christen machend, und auf welche auch späterhin die Christenheit rekurrieren muß. Deswegen ist, was Ulrich erzählt, zugleich auch die Erfüllung eines erwartbaren, weil von Wolframs Romans vorgeprägten Rollenmusters – so wie dann Gyburc ist jetzt schon Arabel die kämpfende Frau. Anderseits aber wird, so scheint es, in den genannten Situationen auch der Grad gegenseitiger Annäherung von Arabel und Willehalm dadurch demonstriert, daß Elemente der jeweiligen Rolle, partiell und momentan, situationsgemäß, austauschbar werden.109 Indes ist solche Reziprozität von einem sehr viel fundamentaleren Wandel jener Beziehungsregel unterschnitten, welche bis zur Befreiung aus dem Kerker zwischen Arabel und Willehalm gilt. Macht und Ohnmacht, Aktivität und Passivität, Subjektund Objektstatus waren bis dahin gemäß ihren Rollen zwischen Königin und Häftling eindeutig verteilt. Das eben ändert sich, als Willehalm endgültig aus dem Turm kommt und wieder zum Subjekt des Geschehens wird. Im Vorhinein bringt dieser Umschlag für Arabel, die ihn, aufmerksam gemacht von ihren Hofdamen (*R 118,10ff.), voraussieht, den Zwang zu einer Versicherungsstrategie mit sich, und eben daran wird der Umschlag selbst am deutlichsten sichtbar. Die Planung der einzelnen Befreiungs- und Fluchtaktionen ist vor allem Arabels und ihres Gefolges Werk110, doch ginge dies nicht an, ohne daß sie sich vor Willehalms Befreiung und dann nochmals vor dem Besteigen des Fluchtschiffes der helfe (*R 120,25) und triuwe (*R 133,4f.) Willehalms versicherte: mueget ir den heiden mich erwern, vnd mine vrawen mit mir ernern, ob wir iv volgen hinnen? (*R 120,15-17) Die Flucht über Meer ist nicht mehr Teil der Befreiung Willehalms, sie ist Gemeinschaftsunternehmen mit wieder konventionell verteilten Geschlechterrollen. Nicht mehr erleichtert Arabel dem Markgrafen die heidnische Gefangenschaft und befreit ihn daraus – diese Situation ließ die Erzählung schon hinter sich. Vielmehr führt jetzt er die Königin an seiner Seite und muß sie schützen. Die Macht ist beim Helden und 108 Vgl.etwa auch WW 319,12. Eine vergleichbare Vorstellung liegt einer Imagination Deidamies beim Abschied von Achill in Konrads Trojanerkrieg (29090 ff.) zugrunde. 110 Vgl.*R 122,4ff.31. 127,14ff. 132,10f. usw.; Schröder (1984), S.223. 109 162 die Frau, die folgenden Analyseschritte werden das selbst in dieser Zuspitzung bestätigen, ist weitgehend ihr Objekt. Die Verteilung der Rollen bei Willehalms und Arabels Flucht wie die ihrer narrativen Umgebung eingeschriebenen schematypischen Elemente von Brautwerbungserzählungen111 lassen den Vorgang als Brautraub, als Entführung der künftigen Gattin erscheinen. Und übrigens ist schließlich eben dies auch die Perspektive, in welcher er von Wolframs Willehalm (WW 153,26f.) wie von andern Stellen der Arabel oder ihrer alemannischen Bearbeitung (AlA 494ff.) aus erscheint – so in den Reizreden von Arabels Seemann Kandaris in Montanar gegenüber den Sarazenen: wir fuern si hin, got geb vns heil!112 Quasi autoritativ abgesichert ist diese Deutung der Flucht als Brautentführung, vom Beginn des Textes an, durch eine Erzählerbemerkung des Prologs: als er [Gott] sante Thomam auch sant, daz er bekerte Indyam daz lant, dem Markys alsam geschach: er braht si dannen, der man iach vil wirde vnd bi vns kristen sach. (*R 6,25-29) er braht si dannen: das Verhältnis von Befreier und Befreiter ist eindeutig. Wie zuvor Arabel Willehalm befreite, so befreit nun umgekehrt er die heidnische Königin aus Todjerne und der Gewalt der Sarazenen, entführt er sie, um sie schließlich, denn das ist der Telos des Zitats der Legendenfigur, vom falschen Glauben hin zum Christengott befreien zu können (vgl. *R 5,27-32). So gehören das Entweichen aus dem Turm und die Flucht ins Abendland – doch anders als erwartet – zusammen als reziproke Szenen gegenseitiger Befreiung. Nicht deswegen allerdings wurde hier auf dem Entführungscharakter der Flucht von Arabel und Willehalm insistiert, sondern weil erst so eine vielleicht noch entscheidendere, jedenfalls weiträumigere Episodenklammer der Arabel sichtbar wird. Denn in der hier begründeten Perspektive, so stellt sich heraus, erzählt Ulrich von dem Türlin nacheinander zwei Entführungshandlungen, deren Objekte erst Willehalm als gefangener und verschleppter Krieger, dann Arabel als gewonnene und mitgeführte Braut sind. Daß sich die Vorgänge ineinander spiegeln, ist schon auf der Ebene motivischer Details durch die Verdoppelung der Seereise und dadurch signalisiert, daß Willehalm die von der sich entführen lassenden Braut erbetene Schutzzusage mit einer Ausschlußklausel versieht, welche sich eben auf den unmittelbarsten Anlaß seiner eigenen Gefangennahme113 bezieht: swer vns der vart irren wil, den mache ich lebens ellende, mir enbreste daz swert an der hende. 111 Dazu schon Gustav Rosenhagen in seiner Rezension von TA (Singer), in: ZfdPh 26 (1894), S.417-421 (hier S.419); vgl.auch McFarland (1987), S.61f., und unten S.164ff. Literatur zum Brautwerbungsschema oben S.38 Anm.68. 112 *R 170,15; vgl.*R 155,12f. 167,15ff. 169,22ff. 113 Vgl.*R 50,12. 104,27f. Si 232,3f. 163 (*R 134,12-14) Wesentlicher jedoch wird die Entführung Arabels durch die Bedeutungen des Erzählten als Reaktion auf Willehalms Überführung nach Todjerne ausgewiesen. Daß diese und die mit ihr zusammengehörende Gefangennahme auf dem Schlachtfeld von Runzival gewissermaßen – ließen sich denn über die höfischen Epenfiguren zugedachte psychische Konstitution positive Aussagen machen – die zentrale, alles andere determinierende traumatische Versehrung Willehalms bedeutet, braucht hier nicht noch einmal hervorgehoben werden, meine ich. Bisher weitgehend unterbliebene Beachtung aber verdient die komplementäre Folge des Ereignisses, daß nämlich das Christentum seinen Sieg in der Schlacht mit dem Verlust seines wertvollsten Mitgliedes bezahlt.114 Die Entführung des besten Kriegers, des Ziehkindes des großen Karl (vgl. *R 27,22) und Königsmachers (vgl. *R 31,1ff.) nach Todjerne, das (zeitweilige) "Ausscheiden des Helden aus dem ihm genuinen Personenverband des fränkischen Lehensstaates" betrauert die christliche Adelsgesellschaft als "ihre eigene Versehrtheit."115 Des edeln ritters [...] fliesen, so heißt es im Rückblick, als sich durch Willehalms Rückkehr nach Frankreich die offene Wunde der Abtrennung des Helden vom Körper seiner Sippe zu schließen beginnt, het gemachet wunt alles der Franzoyser lant.116 In völliger Spiegelbildlichkeit dazu erzählt Ulrichs Arabel die Folgen der Brautentführung für die Heiden. Denn die Königin, die Willehalm in seine Gewalt bringt, ist als Terramers Tochter und selbst zweifach gekrönte Herrin über vierzig Könige 117 die adeligste, die schönste aller sarazenischen Damen in der Welt des Romans, der schoene die bluomen veberschoenet.118 Auch sieht man ihren Status an Größe und Rang ihres Gefolges selbst noch bei der heimlichen Abreise von Todjerne.119 Arabels wirde, so heißt es, gelich den goeten steig (*R 133,15), und darum ist die Frauenentführung die schmerzhafteste Verwundung, die der Christ den Heiden und ihren Götzen antun kann: der goete scham, der heiden spot wart diz danne enpfliehen.120 Die Abtrennung der höchsten Königin vom Leib der Heidenschaft zielt so über den Gewinn Arabels und die Schändung Tybalts – beides zugleich Formen der Rangsteigerung Willehalms – hinaus auf die Verletzung des gegnerischen Sippen- und Lehensverbandes selbst ab: er soll so entscheidend geschwächt werden, daß er seine Bedrohlichkeit verliert. Wol vns, so, begrüßt später die französische Königin Arabel, daz iwer minne so zame 114 Das Ausmaß des Verlusts spiegelt sich unter anderem in dem Zugewinn, den Willehalms Gefangennahme für al den heidentuom (*R 58,12) bedeutet: vgl.*R 58,2ff. 88,16ff. 115 Behr (1989), S.134; vgl.*R 51,16ff. 59,19ff. 116 Si 196,5-7; vgl.auch Si 199,16ff. Die Rede vom Körper der Sippe und seiner Verwundung, metaphorisch, wie sie für uns ist, könnte theoretisch an die Untersuchung Czerwinskis (1989), besonders an seine Parzival-Interpretation (S.83ff.) anschließen, doch ist es zunächst, so zeigt das Zitat, die Sprechweise des Textes selbst. 117 Vgl.*R 133,14ff. 163,27. Si 270,4f. 118 *R 65,7; vgl.etwa auch TAF 783ff. 119 Allein vier Hofdamen und der Fürst Mamurtanit, die Arabel mit ins Abendland bringt, sind ranghöher als selbst der Entführer Willehalm; vgl.Si 257,14ff. 289,22ff. 120 *R 70,14f.; vgl.Si 201,2f. 164 der heiden zorn hat gemachet! ir kraft von vns nu wirt geswachet. wol vns, daz wir ivch, liebe, han.121 Und wiederum ist es eine 'Metaphorik' der Körperlichkeit, in welcher diese Wirkung der Brautentführung auf den heidnischen Sippenverband und seinen Exponenten formuliert ist: Tybalt ez beginnet krenken, So er iwer [=Arabel] niht ensiht. (Si 216,24f.) Gegen die reflexhafte Identifizierung des mittelalterlichen mit unserem eigenen Wortgebrauch ist zu betonen, daß es sich dabei weder um Kränkung noch um Eifersucht handelt, sondern um ein Krank- und Schwachmachen, um eine leibliche Versehrung des heidnischen Körpers durch Abtrennung seines schönsten Gliedes. Und eben deswegen konnte in einem ganz strengen Sinne davon die Rede sein, daß sich Willehalms Gefangennahme und Verschleppung nach Todjerne einerseits, Arabels Entführung von dort in den Okzident anderseits spiegeln: der Brautraub vergilt die Entführung des christlichen Helden mit Gleichem. Das Verhältnis dieser Schlüsselphasen der Arabel, die jeweils zwischen zwei ihrer drei großen Erzählblöcke die Brücke (übers Meer) schlagen, wird vom Prinzip des Talion geregelt. Weil all dies als 'Vorgeschichte' bei ihm nicht in die Strukturen des erzählten Handlungsgeschehens selbst eingelassen, sondern reflexiv geworden in den Sprachbewegungen der Erinnerung aufbewahrt ist, kommt dieser Regelmechanismus des Talion in Wolframs Text deutlicher zum Ausdruck, wenn sein Willehalm, im Bild des Gütertausches, von der Logik der Rache spricht: Tybalde ich Gyburge nie het enpfüeret, wan daz ich rach daz unserem künege hie geschach. swaz Tybalt hie geborget hat, Gyburc daz minnen gelt mir lat. (WW 153,26-30) Die Formulierung ist in der Forschung nicht ohne Resonanz geblieben122 und wäre in der Tat als "Entschuldigung" der "Entführung Arabels"123, welche Schuld ja voraussetzte, schwer in eine Willehalm-Interpretation einzubauen. Im trilogischen Zusammenhang der Willehalm-Romane indes bezieht die Aussage von den durch das Talionsprinzip geregelten Strukturen der Arabel-'Vorgeschichte' her ihre Plausibilität und begründet umgekehrt deren hier vorgetragene Deutung. Glied um Glied verstümmeln sich Heiden und Christen gegenseitig,und da diese Logik, welche, einmal in Gang gebracht, von der Kategorie der Schuld nicht mehr erreicht wird, gegen ihre Suspendierung immun ist, verlängert sich das in Ulrichs Text Erzählte nach Vergangen121 Si 265,20-23; vgl.*R 158ff. Vgl.v.a. Maurer (1951), S.195; Bumke (1959), S.75 Anm.46; Schmid (1978), S.268; Ruh (1980), S.161f.; zusammenfassend Decke-Cornill (1985), S.200f. 123 Kartschoke (1968), S.288: die Schwierigkeiten schlagen auf die Übersetzung durch, die in 153,27 "hätte ich nicht auch rächen wollen" durch das hinzugefügte "auch" Willehalm weitere Motivationen (Liebe zu Arabel) unterstellt, von welchen an dieser Stelle von Wolframs Text gerade nicht gesprochen wird. 122 165 heit und Zukunft hin ins Unabschließbare. So wie die Arabel-Entführung Willehalms Gefangennahme vergilt, so gilt schon von dieser, daß sie durch rache geschæhe, weil des Heroen werdekeit – als Racheakt, so versteht sich (*R 103,26ff.) – hat gevalt vil helde, des Terramer engalt. (*R 83,27.30f.) Und ebenso bleibt dann selbstverständlich der Brautraub seinerseits nicht unvergolten: darauf ist der Roman Ulrichs von dem Türlin seit Beginn angelegt124, und davon erzählt derjenige Wolframs, wie nämlich rache wider rache wart gegeben.(WW 305,30) minne habe immer schon auch die Dimension des Heidenkampfes; die Zuordnung von Held und Geliebter, so ergab sich früher, sei stets zugleich die antagonistische Gegenüberstellung von Christ und Heide. Dies kann anders nicht sein in einer epischen Welt, deren basale Dreieckskonstellation der Figuren Willehalm, Arabel, Tybalt ihre nicht minder grundlegende Zweiteilung in Recht- und Falschgläubige überlagert. Doch stellt sich für das Erzählen die Frage, wie es den Heidenkrieg, den Kreuzzug als Dimension der minne episch zeigen soll. Die Lösung der Arabel besteht darin, jenes Spiegelungsverhältnis zwischen Willehalms Gefangennahme und Arabels Entführung, als dessen bewußtseinsgeschichtlicher Kern das Talionsprinzip greifbar war, auch auf die situativen Kontexte der sich spiegelnden Vorgänge zu erstrecken. Wie die Festsetzung des Helden konkreter Teil der Schlacht auf Runzival war, so ist nun der Raub der Braut wiederum ganz handfest Heidenkrieg – dies in zwei deutlich unterscheidbaren Etappen, die einen aus Brautwerbungserzählungen gut bekannten Handlungsmechanismus ausprägen: die Heiden bemerken die Entführung und müssen als Verfolger besiegt werden. In einer ersten Etappe geschieht dies bei der gewaltsamen Übernahme des Fluchtschiffes. Die causa dieser Episode liegt darin, daß Arabel ohne die List einer vorgetäuschten Urlaubsreise und die so in Kauf genommene sarazenische Begleitung nicht an ein Schiff zu kommen wußte. Doch verfängt eine solche kausale Begründung nur, wenn man das Erzählte für das überhaupt Denkbare hält125, denn die Ausgangssituation, auf die sie sich beruft, bedarf als Resultat narrativer Selektion selbst der Erklärung. Diese wird eine finale sein. Es kommt nicht zum Kampf, weil die Ausgangslage in Todjerne nichts anderes zuließ, sondern es ist alles in der erzählten Weise arrangiert, damit es zum Kampf komme. Und dieser ist ganz schemagerecht so angelegt, daß den Sarazenen zwischen Tod und Taufe ein Tertium nicht gegeben ist. Hier findet also Kreuzzug statt. 'wol vf, vil suezer amis, so ruft Arabel den Geliebten an Deck, daz der heidenliche pris dem kristentuom iht an gesige, vnd der gote kraft iht ob gelige, so wær wir armen gar verlorn. (*R 146,3-7) Schockweise werden die Heiden erschlagen oder ertränkt, und nur die Bereitschaft zur conversio verlängert ihr Leben. div gottes guete sanktioniert den dieserart errun124 125 Vgl.*R 4,18f. 65,12ff. 94,10ff, 102,4ff.u.ö.; vgl.auch WW 305,30f. Vgl.Schröder (1984), S.223; ders.(1988b), S.225. 166 genen Sieg und schickt liehtes weter, daz si ervræwet. (*R 148,20f.) Auf diesen siegreichen Kampf hin sind offenkundig die Handlungsstrukturen der gesamten Fluchtinszenierung ausgelegt. Nur so nämlich wird die Brautentführung, ein erstes Mal, episch sinnfällig zum Heidenkrieg, und derart der oben induzierte Zusammenhang von minne und Kreuzzug narrativ bestätigt. Die Episode von der Kaperung des Fluchtschiffes zeigt den Gewinn der Braut als Vernichtung der Heiden und umgekehrt. Zugleich kann man sie lesen als Zusammenfassung und Beleg der in diesen Studien herausgearbeiteten Interpretationslinien: sie bündeln sich an dieser Stelle wie in einem Fokus. Denn offensichtlich sind minne und Kampf auch hier noch Dimensionen von Willehalms Heldwerdung.126 Das Heroische bricht, als Willehalm an Deck stürmt, aus der Latenz in die Aktualität auf. Ein Leichtes ist es darum der Erzählregie, ihn als Befreier erscheinen zu lassen, der Arabel und ihre Chargen, nämlich Kandaris und die Hofdamen, aus der Bedrohung durch die sarazenische Wachmannschaft (*R 145,20ff.) erlöst. Arabel greift selbst, mit einem Ruder um sich schlagend, in den Kampf ein: an ihrer Befreiung ist sie aktualiter so mitbeteiligt, wie zuvor Willehalm – am Erzählrequisit der Feile war es zu eobachten – an der seinen aus dem Turm. Doch nicht nur die Königin erfüllt hier das vorgeprägte Rollenmuster der kämpfenden Frau. Auch Willehalm und die Heiden zeigen sich in ihren paradigmatischen Rollen. Die Einzelszene verknotet darum nicht nur die bisherigen Leitlinien der Arabel Ulrichs von dem Türlin, sie zeigt zudem, und handlungschronologisch zum überhaupt ersten Mal in der ganzen Trilogie, deren immer wieder durchgespielte Grundkonstellation: den christlichen Helden, wie er sich, von Arabel unterstützt, heidnischer Bedrohung erwehrt. Die zweite Etappe der Entführung Arabels als Heidenkrieg gewinnt die Erzählung wiederum in Analogie zu jener Schemasequenz des Brautwerbungsmusters. Innerhalb dessen ist bei der "Heimführung der Braut [...] zwischen dem einfachen und dem doppelten Schema zu unterscheiden." In jenem "nimmt der Brautvater mit Heeresmacht die Verfolgung der Entführer oder Flüchtigen auf, welche sich zum Verfolgerkampf stellen müssen, der mit der Versöhnung oder Tötung des Brautvaters endet. Die Heimführung der Braut wird darauf beendet, und die Werbungshandlung schließt ab mit der Hochzeit [...]."127 Den Brautvater durch den Brautgatten sowie seinen Tod durch seines Heeres Untergang substituiert, ist dies eine Beschreibung des Handlungsgerüstes auch im hier analysierten Arabel-Teil. War der Krieg auf dem Fluchtschiff beinahe ein Einzelkampf Willehalms gegen eine gerade noch überschaubare Gegnerschaft128, so weitet er sich nun in gigantische Dimensionen: galiden vngezalt, nicht nur voller seemännischer Besatzung, sondern auch mit mehr als 30000 Rittern an Bord129 bedrohen die Christen auf Montanar, werden indes mit Steinschleudern auf Distanz gehalten (*R 178,6ff.) und schließlich von Gott in einem ge126 Er hat seinen Panzer nicht nur, wie in Todjerne, gesehen, er trägt ihn jetzt (*R 134,22); nicht nur küßt und trägt er, wie dort, das Schwert, nun benützt er es auch (*R 146,11ff.). 127 Schmid-Cadalbert (1985), S.92f. 128 Die Zahl der Getöteten schwankt zwischen 108 (Si 239,24) und 190 (*R 141,13.25). 129 *R 155,3. 170,30ff.; vgl.auch 154,7f. 166,21f. 170,1f. 167 waltigen Sturm versenkt (*R 184,18ff.). Dabei scheint belangvoll: die Bedingung der großen Zahl, welche nach den Regeln kreuzzugsepischer Hyperbolik allererst die Tötung von Heiden zu einem wirklichen Sieg macht, ist jetzt erst erfüllt; Tybalt, nicht einer seiner Helfershelfer, ist nun der vernichtend Geschlagene; Gott selbst hat direkt und sichtbar in die Geschichte eingegriffen (*R 185,4 ff.). Das sind drei Parameter, welche den ersten vom zweiten Untergang der Heiden im Verlauf von Willehalms und Arabels Seereise von Todjerne nach Rivetinet unterscheiden. Redundant ist diese Etappenverdoppelung darum nicht. Wohl erscheint wiederholt die Entführung der Braut als Vernichtung der Sarazenen, doch sind so, wie das erzählt ist, der Held und sein Gott jeder als ein Sieger gezeigt – jenes für Willehalms Aristie, dieses für die Heiligkeit des Krieges von wesentlicher Bedeutung. Die Versenkung von Tybalts Armada vor Montanar durch die Hand Gottes markiert eine wichtige Zäsur auf dem Weg des Protagonisten sowie die Grenze zwischen dem zweiten und dem dritten Hauptabschnitt von Ulrichs Arabel.130 Bis zum Einsetzen der Handlung von Wolframs Willehalm ist nun in der *R-Fassung – anders als in einer *A-Version des Textes mit Reimpaarfortsetzung – alle von den Heiden ausgehende Bedrohung gänzlich gebannt. Willehalm ist faktisch und endgültig im Besitz Arabels, was freilich noch gesellschaftlicher und kirchlicher Absegnung bedarf. Er kehrt in den Okzident zurück, wo in einer umfassenden, die differenzierte Semantik höfischer Zeremonialhandlungen nach allen Seiten hin ausspielenden Folge von Festereignissen der Restitutionsprozeß der Heldenfigur in deren soziale Reintegration hinein verlängert und die Einbindung der eroberten Frau in das Gesellschaftsgefüge des christlichen Frankenreiches vollzogen wird. Die erzählte Geschichte zwar ist demnach an dieser Schnittstelle noch nicht am Ende, wohl aber das, was im Verlauf dieser Interpretation einmal Durchgang des Helden durch eine Gegenwelt genannt wurde: der Weg durch das Reich der Heiden, der sich als Prozeß der Zerstörung heroischer Identität und ihrer Rekomposition in den Modi des Brautgewinns, der Schändung Tybalts, der Vernichtung der sarazenischen Bedroher und Verfolger vollzog. Damit kommt auch der Weg der Heiden durch die Welt dieses Romans an sein – vom Zusammenhang der Trilogie her gesehen freilich vorläufiges – Ziel. In der Episode von Willehalms Gefangennahme waren sie auf der Flucht zum Meer131, als dessen 'Verjagen', ihnen die Chance zur koberunge (*R 49,8) gebend, jenen Weg in den Abgrund unterbrach, welcher nach vielen Zwischenstationen jetzt mit dem Untergang der heidnischen Armada endet – auch dies eine epische Klammer, die die Episodenfolge zwischen Runzival und Montanar zur Einheit fügt – : die heiden warn in gotes pflege zu hymmel oder zu helle. (*R 187,2f.) In der Entfaltung des Erzählmusters von der Verfolgung des Brauträubers ist die Minnehandlung der Arabel aktualiter zum Heidenkrieg geworden, in dem sich die Aristie Willehalms bewähren und fortsetzen konnte. Beobachtbar war dies als ein etappenweise erzählter Prozeß, dessen Stationen sich teils direkt, teils mittelbar über die zunächst minne-geprägten, dann agonalen Außenbeziehungen des Helden auf 130 131 So auch McFarland (1987), S.61, 63. *R 46,11. 48,18ff. 168 dessen Aristie bezogen, und die von der verbalen Sicherung des Adelsstatus über minne und Religion, den Wiedergewinn ritterlicher Handlungsfreiheit, die Schändung des minne-Konkurrenten und die Vernichtung der Heiden allmählich die Vielfalt der Dimensionen der Willehalm-Figur als Minneritter und Heidenkrieger entfalteten. Die Erzählung konstituiert so ihren Protagonisten als eine auf ihre Konstitutionsbedingungen hin transparente, zugleich differenzierte und konsistente Figur. Wohl muß die Gesellschaft sie sich als solche noch einverleiben, doch die Wunden der Niederlage und Schmach sind verheilt. Eine Narbe nur bleibt, die am Körper der Heldenfigur bezeichnet, daß deren Integrität und Intaktheit eine verlorene und erst allmählich wiedergewonnene ist. Differenziert ist darum die Figur Willehalms nicht nur in der Synchronie vielfältiger Dimensionen, sondern auch in der Diachronie ihrer in den einzelnen Etappen beobachteten Geschichte. 5. Arabel und Kyburg: Als sie vor langer Zeit beim Todjerner Hochfest erstmals in der Welt des Romans und der Romantrilogie erschien, war Arabel sogleich ganz und vollständig, in strahlender unwandelbarer Schönheit gewissermaßen zeitlos da. So kam es ihr als der künftigen Frau des Helden und Protagonistin des Erzählten zu. Und doch hat auch Arabel, wie Willehalm, später bei der Ankunft in Frankreich eine distinkte 'Geschichte'. Dabei ist sie, anders als ihr Geliebter, keine geschlossene und ungespaltene Figur. Der Wechsel – ein Sprung vielmehr als ein sukzessiver Entwicklungsgang – vom Heiden- zum Christentum, von Tybalt zu Willehalm, vom Rang der Königin zu dem der Markgräfin macht sie zu einer sozusagen aufgebrochenen Figur: genauer, weil diese Metaphorik immer schon vom Bild einer intakt einheitlichen Personalität ausgeht, könnte man mit vertauschter Perspektive auch sagen, es sei eine zweiteilige Figur. Jedenfalls ist es das, was ihr Name formuliert, welchen der Text immer wieder als Arabel vnd Kyburg wiedergibt, darunter nicht "eine Art Hendiadyoin: 'Arabel bzw.Gyburg'" verstehend132, sondern eine Verdoppelung; der Plural zugehöriger Verbformen wäre sonst unsinnig.133 Die beiden Seiten der Figur, die sich nach deren 132 133 Schröder (1988b), S.259. darnach si giengen vf die burc, Arabel vnd Kyburc dem Marcgrauen an der hant. (*R 183,27-29) Arabel vnd Kyburc vieln nider vf div knie [...]. (*R 185,16f.) Die Pluralform des Verbums in *R 185,17 ist von Schröder mit W Wo E gegen alle übrigen Handschriften ausgemerzt, hier aber wieder eingesetzt worden: ich will gerade ihren Sinn erweisen. Die Formel Arabel vnd Kyburg begegnet außer an den genannten Stellen auch *R 94,16. 127,22. 160,12. Si 224,14 (dies auch AlA 907). Zu beachten ist darüberhinaus, daß die Figur vor 169 Namen als Arabel und Kyburg auseinanderhalten lassen, folgen nicht, wie es die von bürgerlichen Personalitätskonzepten gesteuerten Reflexe moderner Leser voraussetzen, quasi entwicklungsgeschichtlich aufeinander, sondern sie treten als simultane Dimensionen aggregativ zusammen. Arabel ist immer und von vorneherein auch Kyburg134: nur weil sie im Verlauf der Handlung dies werden wird, was sie von Anfang an schon war, nimmt sie in der Epenwelt Gestalt an; und es wäre ein Rettungsversuch moderner Personalitätskonzepte von nur metaphorischer Geltung, sagte man, Arabel sei insofern immer schon Kyburg, als es dem Roman auch um ihre durch den Taufnamen bezeichnete Erlösungsfähigkeit gehe. – Umgekehrt wird Kyburg immer auch Arabel bleiben: schon die Permanenz des Heidenkrieges in der Welt des epischen Zyklus mit der steten Präsenz des Motivs der Rache für Willehalms Brautraub hält dies fest. Analog der Befund hinsichtlich Arabels Amtstitel. Mit großer Gebärde entsagt die heidnische Königin noch in Todjerne (*R 133,14ff.) und dann wieder in Oransche (Si 243,12) ihren Kronen und nimmt so ihre neue soziale Stellung ein: des wil ich mich nicht schamen, ob man margrafin haizzet mich. (Si 289,4f.) Trotzdem ist sie bis ans Ende des Textes immer wieder auch Königin genannt.135 Nur wenn es um chronologische Sukzessivität sich handelte, könnte von Anachronismen gesprochen werden. So aber ist es die Simultaneität von Arabel und Kyburg, ist die Markgräfin stets auch noch Königin, nämlich ihrem angeborenen gesellschaftlichen Rang nach. Das bedeutet, daß Ulrichs Arabel-Roman den Wechsel der Protagonistin von Todjerne nach Frankreich wohl als Reise in erzählte Handlung umsetzen, aber nicht als sukzessiven Prozeß des allmählichen Übergangs von Tybalt, Götzen und Königskrone zu Willehalm, Gott und Markgräfinnenwürde erzählen kann. Arabels fundamentaler Wechsel von dort nach hier geht in die epische Figur nicht als personaler Entwicklungsprozeß ein, sondern als Verdoppelung: Nicht 'durchläuft' die Figur auf ihrem Weg durch die Welt des Romans sukzessive Erfahrungsphasen, welche sich ihr, sie verändernd, einprägten, vielmehr geschieht Veränderung hier nach einer "Logik der Simultaneität"136 als unvermittelter Sprung von der einen auf die andere Seite einer als Aggregation ihrer Gegensätze aufgebauten epischen Figur. ihrer Taufe bereits Kyburg (*R 57,31), lange danach noch Arabel (Si 287,31. 289,1. 304,2 [vgl.Singers Apparat zur Stelle]) genannt werden kann. 134 Ähnlich, wie die Legende den Heiligen auch als Sünder schon heilig nennt. 135 Eine Stellenauswahl: *R 175,23. 187,21. Si 243,25. 245,13. 251,19. 252,17ff. 265,1. 271,29. 290,28. 298,25; vgl.auch TAF 327. 479. 919. 927, sowie WW 248,23. 259,18. 260,2. 263,7. 265,3. 279,7. 297,4. 298,18. 312,16. Solche Disponibilität einander scheinbar ausschließender Bezeichnungen begegnet in der Arabel auch in anderm Zusammenhang (vgl.Schnell/Vedder [1983]). Sie ist überhaupt in der zeitgenössischen Epik nicht singulär, wie die Beobachtungen etwa Zatloukals (1974), S.422, an den Titeln des indischen Johannes im Jüngeren Titurel und Neudecks (1989), S.117 Anm.53), an jenen Yrkanes im Reinfried von Braunschweig erkennen lassen. Ich verstehe das nicht als Zeugnis späthöfischer Beliebigkeit, vielmehr gerade als erklärungsbedürftige Alterität des epischen Figurenaufbaus im 13.Jahrhundert. 136 Czerwinski (1989), S.348, 365; vgl.zudem auch das Register s.v. 'Aggregation', 'Sprung'; sowie auch Haug (1989a), S.130f. 170 Wie ihr Gegenüber Willehalm hat also auch Arabel eine 'Geschichte'; aber nicht im Modus eines kontinuierlichen Prozesses, sondern als Konglomerat simultan gegebener alternativer Möglichkeiten, zwischen denen sie sprunghaft, freilich nur in einer Richtung, wechselt. Geschichte heißt hier demnach nicht, daß das Geschehene in die Tiefen der Zeit zurücksinke, um nur noch als mnemonisches Sediment der Biographie, als Erinnerung oder Trauma, in den Instanzen der Persönlichkeit zugänglich zu sein. Das Geschehene ist vielmehr in seiner Präsenz vom Gegenwärtigen gar nicht zu unterscheiden – nur deswegen geschieht es ja überhaupt in der Welt des Epischen. Als körperliches Zeichen, so bei Willehalms Narbe, oder in Namen und Rangbezeichnung wie bei Arabel ist es stets dort, wo die Figuren sind: ein Vergessen gibt es in diesem Sinne nicht. So ist das im Prinzip auch schon in Wolframs Willehalm. Seine Protagonistin ist gleichfalls Arabele Gyburc, ein wip zwir genant (WW 30,21f.), und gerade dort, wo der Erzähler den Sprung von der einen auf die andere Seite der Figur ausspricht, unterläuft der Text seine eigene Aussage: unschuldic was diu künegin, diu eteswenne Arabel hiez und den namen ime toufe liez [...] (WW 31,4-6) Der Einstmaligkeit des Arabel-Namens, also der Sukzessivität der nomina propria steht in der fortdauernden Gültigkeit des Königin-Titels für die längst zur Markgräfin heruntergekommene (müßte man sagen) Figur die Simultaneität von Einst und Jetzt, Dort und Hier zur Seite. Auf die dieserart zeitlos gegenwärtige Geschichte wird bei Wolfram immer wieder, und nicht nur, wenn die Anlässe des Krieges zu verhandeln sind, angespielt. Doch kann sie immer wieder auch in epischen Hintergründen verschwinden. Die Simultaneität der beiden Seiten der Arabel-Gyburc-Figur wird von Wolframs Erzählen nicht narrativ präsent gehalten, weil es sich ihr vorwiegend im Modus der Retrospektive zuwendet. Anders bei Ulrich. Er muß den Übergang von Arabel zu Kyburg selbst erzählen, sich der 'Geschichte' der Protagonistin und ihrem tiefreichenden Statuswechsel stellen, er muß ihn, will er überhaupt erzählen, zum Thema machen. Das aber heißt, daß die Erzählung zunächst die Kyburg-Seite der Figur narrativ aufbauen muß, zu welcher diese dann sprunghaft sich verändern soll. Episch wird dies dort, wo Arabel in der Rolle der Schülerin erscheint. Terramers Tochter, die Ehefrau längst war und Königin und Mutter, die einer Kultur entstammt, welche auch die Arabel als in Pracht und ästhetischer Verfeinerung wo nicht maßstabsetzend, da doch bewundernswürdig konstituiert, diese Figur muß, damit sie zu Kyburg werden kann, beim Übergang in den mundus christianus buchstäblich alles neu lernen. Dabei betrifft dies zum wenigsten, den Proportionen des Epischen nach zu urteilen, den Bereich grundlegendster Änderung, jenen der Religion: da scheint mit Willehalms Christenlehre beim Todjerner Schachspiel so gut wie alles schon getan, und nur vermittels seines Berichts in Oransche ist zu erfahren, auch die Montanarer Burggräfin habe sich noch einmal um katechetische Unterweisung Arabels gekümmert (Si 242,8ff.). Nein, die 171 neue Seite der Figur wird vor allem in ihren sozialen Habitus, zumal in den Bewegungen und Erscheinungsformen ihres Körpers konstituiert. Sie lernt von Fiversin, welche sie bis zur Hochzeit hin in ir pflege hat (Si 251,17), welche Weisen adeligen Schreitens im öffentlichen Raum von ihr erwartet werden137, wie protokollgerecht die weiblichen Mitglieder des kaiserlichen Hofes zu begrüßen138, wie überhaupt Körpersprache (gebærde) und Rede (wort) zu zivilisieren, allgemeine Verhaltensstandards (zuht) und soziale Wahrnehmungsformen (sin) zu verfeinern sind.139 Und immer wieder hält die Erzählung inne, um das dank sorgfältiger Belehrung und zielstrebigen Lernens Formvollendete von Arabels Auftritten zu zeigen.140 Erst in diesen Rahmen fügt sich sodann auch der Taufunterricht (Si 271,2ff.), der vom spirituellen Sinn des Sakraments schweigt, um ganz auf die rituellen Regeln sich zu konzentrieren. Weiter lernt Willehalms künftige Gattin, wie sie sich recht zu kleiden und wie sie Kleidung als Mittel der öffentlichen Darstellung ihres adeligen Körpers zu gebrauchen hat.141 Endlich wird sie, die in Dingen von Sexualität, Zeugung und Geburt nicht anders als erfahren sein kann, einer ausführlichen Unterweisung über die artes amandi unterzogen, welche von der Begrüßung des heimkehrenden Geliebten142 bis zum rechten Verhalten in der Hochzeitsnacht tatsächlich jede zu bewältigende Situation berücksichtigt.143 137 Vgl.Si 195,8ff. 215,8f. Vgl.Si 265,2ff. 266,14f. 139 Si 214,30. *R-Handschriften ersetzen in diesem Vers das erste Glied der Reihe durch vræude: gebærde daher nach *R 196,24; zum Lexem vgl.Peil (1975), S.21ff. 140 Vgl.*R 196,20ff. und Si 242,8ff. *R 199,29f. Si 297,16ff. 141 Vgl.*R 187,16ff. 199,24f. Si 216,10ff. 265,4f. Die Reimpaarfortsetzung der Arabel führt die Reihe der Unterrichtsepisoden weiter: von Irmenschart lernt Kyburg in Oransche die Regeln christlicher Haushaltsführung und rechter Gastgeberschaft (TAF 241f. 269ff.). 142 Arabels längst erworbene Übung hierin wird später eine der Schauseiten von Tybalts Prunkzelt in Aveniun zeigen, vgl.Si 259,24ff. und unten S.174ff. 143 Vgl.*R 182,19ff. 183,22ff. Si 215,8f. 301,20ff. In diesen Zusammenhang des Sexualkundeunterrichts gehört offenbar auch die folgende ler der Kaiserin für die Hochzeitsnacht, deren Befolgung am nächsten Morgen von Kyburg bestätigt wird (Si 309,14 ff.): als er dir si gelegen bi vnd er dar nach entslafen si, so lege taugen sin hemde an, vnd ob din sin gefuegen kan daz ez werde heimlich getan. Sich daz dich niht verdrieze: din oberhemd sin haupt beslieze, daz sol an dinem vlize sten. dar nach solt du veber in gen in sinem hemde, daz wirt dir frum. (Si 301,27-302,5) Gern wüßte ich dies opake Ritual des Tausches von Kleidern und Geschlechterrollen post coitum zu erklären, und tröstlich ist in solcher Situation der Ahnungslosigkeit allenfalls, daß schon Jakob Grimm (1955), Bd.I S.609, mit der Stelle nichts anzufangen wußte. Handelt es sich um einen Übergangsritus, um Apotropäisches, um ein Zeichen des innigen Verbundenseins der Eheleute (aber an wen wäre dies adressiert)? Oder handelt es sich um den Vollzug weiblich arkanen 138 172 Nimmt man alles zusammen, dann ist es eine Art zerbrochenen 'Frauenspiegels', dessen Scherben sich über den dritten Hauptteil der Arabel verstreut finden. Doch geht es im Ganzen (wie wohl auch im Detail) weniger um Lerninhalte, um das zivilisatorische Programm selbst, vielmehr um den Akt des Lernens als Episierung des Aufbaus einer neuen, der alten überlegenen Seite der Figur. Als Arabel erstmals zeigt, daß sie nu wol kunde der vrawen trit nach der franzoysinne sit, da heißt es: dem Markis ein heil geschach, daz er die burcgræuin ie gesach. div lerte si so gebaren, daz ir heidenisches klaren diser zuht was vngelich, swie ieniv zuht was zúhte rich. (Si 195,13-20) Darin steckt wohl ein Überbietungsschema, aber dies prägt sich nicht als Perfektionierung jenes alten sozialen Habitus aus, mit dem Arabel einst begabt war, sondern als ein ganz neuer, in welchen die Figur überspringt und der deswegen in allen seinen Aspekten episch konstituiert wird. Das Neue überragt das Alte nicht als dessen Verbesserung, sondern als ein grundsätzlich Anderes. Auf den Einwurf "Was sollte die verheiratete Frau und Mutter erwachsener Kinder schon von der offenbar kinderlosen Burggräfin gelernt haben?"144, wäre also mit 'So gut wie alles' zu antworten. Was dem ersten Blick sich als so unsinnig zeigt, daß die rhetorische Frage gerade die rechte Artikulationsform scheint, erklärt sich in einer formalen, das heißt von den Implikationen neuzeitlicher Persönlichkeitskonzepte möglichst absehenden Rekonstruktion von Figuren höfischer Epik fast ohne Schwierigkeiten. Wenn die Figur jene Summe der von ihr in der epischen Welt erfüllten Rollen ist, als welche etwa Willehalms Bote Kunal sie in Naribon bekannt macht, indem er sie div hoehste kúnigin, Tybaldes wip, ein Araboysin (Si 199,25f.) nennt –, wenn das so ist, dann kann der totale Rollenaustausch, der Wechsel der kúnigin in die Markgräfinnenwürde, die Ersetzung Tybalts durch Willehalm, die Veränderung der Araboysin zur Christin, gar nicht anders erzählt werden denn als die sukzessive epische Vergegenwärtigung immer schon simultan gegebener, so aber als neu erscheinender Figurenelemente, die mit den obsolet wirkenden, doch beständigen alten eine Fortpflanzungs- oder Empfängnisverhütungswissens (wie dies auch in extremer Situation vor männlichem Zugriff zu schützen ist, zeigen etwa zwei Szenen in Ulrichs von Etzenbach Wilhelm von Wenden 2185ff., 2486ff.)? Die Redeeröffnung der Kaiserin (dise lere tet man mir, Si 301,26) könnte immerhin andeuten, dieses Wissen sei abseits männlich dominierter geistlicher und schriftlicher Wissensmonopole mündlich tradiert. Oder: gibt es genau deswegen wissensgeschichtlich gar nichts zu erklären, weil es im Text (einer männlich dominierten literarischen Kultur) nicht um den Inhalt der Lehre, sondern um den Gestus des Arkanen geht, darum also, einen abgeschotteten Binnenraum 'Frauenzimmer' (vgl.Si 301,8-24) als Subsystem der fränkischen Hofgesellschaft zu zeigen? Dafür spräche die Inszenierung eines zensorischen Eingriffs an dieser Stelle in der alemannischen Kurzfassung (AlA 2181ff.). Aber warum wäre dann etwa im Vindobonensis 2670 gerade die subscriptio zum Beilagerbild (fol 59r) durch gezielte Rasur unverständlich gemacht worden? Zu weiteren Spuren einer solchen Arkansphäre X.9. 144 Schröder (1988b), S.259. 173 aggregativ verdoppelte Einheit bilden. Eben diese Vergegenwärtigung wird als Belehrung Arabels zum epischen Prozeß und läßt unter anderem auch möglich werden, daß – so wird zu zeigen sein – die Gattin und Mutter im Abendland als jungfräuliche Braut erscheint, ja diese ist. Zutreffend ist für Arabel-Kyburg im Frankenreich der Markgräfin- wie der KöniginTitel. Immer sichtbar bleibt so die mit dem Wechsel des Gatten verbundene Veränderung ihres sozialen Status. Beides darzustellen verfügt das Erzählen in der aristokratisch-feudalen Kultur des 13.Jahrhunderts und unter jenen Bedingungen, die sich der Willehalm-Vorgeschichte stellen, nicht über einen Schematismus, wie er etwa der Erzählung eines Glaubenswechsels mit der conversio zu Gebote steht. Darum kommt es zunächst auch nicht darauf an, diesen Wechsel des Gatten und damit des gesellschaftlichen Orts im Ritus der Trauung zu vollziehen, sondern vielmehr darauf, eine solche Heirat überhaupt episch zu ermöglichen. Und zwar nach zweimal zwei Seiten hin: für die Frau, weil Kyburg als Gattin des Markgrafen einen niedrigeren sozialen Rang hätte als Arabel; aber auch für den Mann, weil Arabel nicht jene jungfräuliche Braut ist, die Kyburg für die Hochzeit mit Willehalm sein muß. Von jenem wird der Schluß dieses Teilkapitels handeln, auf dieses, die epische Restitution der virginitas der verheirateten Frau und Mutter145, anders gesagt den Umsprung der Figur von ihrer Arabel- auf die Kyburg-Seite unter dem Aspekt ihres sexuellen Status, konzentriere ich mich zunächst. Wie alles in dieser Welt des sinnlich Wahrnehmbaren kann man auch diesen Umsprung sehen. So zeigt sich der alte Status, derjenige Arabels, punktuell einmal zum Beispiel daran, daß sie vor Taufe und neuer Hochzeit das gebende der verheirateten Frau trägt.146 Vor allem aber sieht man ihn an den exquisiten Requisiten, die Arabel aus dem Morgenland mitgebracht hat und mit denen sie sich in Oransche und Aveniun umgibt. Sie repräsentieren den heidnischen Teil ihrer Geschichte als einen gewissermaßen abgetrennten, der in dieser Form überwunden, trophäenhaft in Gebrauch genommen werden kann, doch eben so zugleich präsent bleibt. Arabels Prunkgegenstände zeigen ihre Liebesbeziehung zu Tybalt von Todjerne ihrem ganzen Umfang nach. Es war von diesen Bilddarstellungen an anderer Stelle schon einmal exkursorisch die Rede.147 Nun wird auch die Beachtung von visuellen Kontexten und Andeutungen zur Bildentstehung sowie der Gebrauchsformen der Bildsequenz über das dort Gesagte hinaus zur Sinnerschließung des Textes beitragen. Das wäre ein erster Weg quer durch den Schlußabschnitt von Ulrichs Arabel. Auf dem Zelt vor den Mauern Aveniuns ist die Geschichte Tybalts und Arabels in eine zeichenhaft bedeutungsvolle Reihe von Bildern eingerückt. Die sechs Stoffbahnen dieses Zeltes zeigen, wie der König von der Jagd heimkehrend Arabels minne kus (Si 259,28) empfängt, wie die Liebenden an amönem Ort beieinandersitzen (Si 145 Zur neueren Virginitätsforschung vgl.Bloch (1991) und die dort genannte Literatur. Vgl. Si 264,10. 298,14; siehe dazu auch Si 265,3ff. TAF 743f. Zum gebende als Zeichen des Verheiratetseins vgl.Schultz (1889), Bd.I S.237ff.; Raudszus (1985), S.10, 75 u.ö.; Bumke (1986), S.194f., 204f. 147 Vgl. X.7. 146 174 259,29ff.), wie Tybalt als Turniersieger von Arabel den Preis erhält (Si 260,6ff.), wie beide gemeinsam der Falkenjagd pflegen (Si 260,11ff.), schließlich, wie Mädchen, geschürzten Rockes im Wasser stehend, mit bloßen Händen Fische fangen. Zwischen diesen Abbildungen schildert die sechste und prachtvollste Zeltbahn sodann Tybalts und Arabels minne im Stadium sexueller Erfüllung. Zu sehen ist also ein Kanon exklusiver aristokratischer Vergnügungen148, eine Bilderfolge, in welcher sich wohl zwei Triptychen je eigener, doch stets auf die dargestellte minne-Beziehung ausgerichteter Ordnung verschränken. Das eine zeigt im locus amoenus-Bild mit Urav venus (Si 260,1) vielleicht minne-Verheißung, im Turnier-Bild minne-Dienst und auf der sechsten Seite dann den Lohn.149 Die zweite Bildgruppe zeigt erst den Mann, dann Mann und Frau, schließlich Frauen allein bei der Jagd auf Säugetiere, Vögel und Fische. Solche Trias der Jagdformen ist auch sonst zu belegen 150, doch scheint sie hier nicht der pragmatischen des Tierefangens, als vielmehr der Logik naturkundlicher Allegorese zu folgen. Sie zeigt mit Mann und Frau, Vierfüßlern, Vögeln und Fischen die Gesamtheit der Lebewesen – nur die würme sind ausgespart. Zugleich sind mit Erde, Luft und Wasser als den jenen Geschöpfen zugeordneten Lebensbereichen drei der vier (fünf) Elemente repräsentiert. Das aber heißt, auf Tybalts Prunkzelt werde der gesamte sublunare mundus triplex151 als Bezugsrahmen der minne mit Arabel herbeizitiert. Bestätigung findet eine solche Interpretation zunächst vor allem dadurch, daß auf einem komplementären Requisit, dem Baldachin der Königin in Oransche, der komplementäre Ausschnitt des Weltgebäudes die minne-Darstellung rahmt, svnne vnd mane gesteine<s> rich vnd sterne von golde dem gelich, als si stuenden an dem firmament. (Si 225,9-11) Zusammen mit dem in die Elementarbereiche gegliederten mundus triplex stellen die Planetensphären von Sonne, Mond und Sternen sowie das Firmament des Fixsternhimmels "den gesamten mundus sensilis dar, die sinnlich wahrnehmbare Schöpfung innerhalb und außerhalb der Mondbahn."152 Die Zeltbilder stiften also allegorice einen kosmologischen Horizont, welcher zunächst den Rang und die Universalität der in ihn hineingerückten minne bezeichnet, ja den heidnischen König mit seiner Frau als kosmokrator zeigt. Es versteht sich, daß 148 Für die soziale Signifikanz des Turniers, des Minneorts, der Jagd auf Hochwild und der ars venandi cum avibus mögen sich Nachweise hier erübrigen, für den Fischfang liefert sie Hoffmann (1985), S.880 u.ö. 149 Allerdings sind hier konkurrierende Deutungen möglich, denn da der Text die Herausgehobenheit des letztgenannten Bildes betont (Si 260,25f.), mag es sich auch um ein Diptychon handeln, das minne und aventiure aufeinander bezöge. 150 Vgl.Hoffmann (1985), S.887 u.ö.; zudem etwa Hadamar, Jagd 455,2. 151 Vgl.Krayer (1960), S.49ff., ausgehend von Alans Planctus naturae (besonders II, 138ff.) und Frauenlobs Minneleich (Str.4 und 5); die nötige methodologische Kritik an Krayers Buch (zuletzt Huber [1988], S.136ff.) berührt das hier Beigezogene nicht. 152 Krayer (1960), S.53. 175 solches nur in perspektivischer Brechung gilt und ein metaphorisches Verständnis des Abgebildeten nicht ausschließt. Jagd und Turnier um Frauenpreis, amöne Gartenszenen und Falknerei sind als minne-trächtige Situationen in der Kunst des späteren Mittelalters an Ubiquität kaum zu überbieten. Auch das Fischfangen halbnackter Mädchen wird hier in sexualmetaphorischem Sinn konnotiert sein153 und so die Darstellung des Liebesaktes Arabels und Tybalts verdoppeln. So sehr es dabei im Sinne des Todjerner Königs als des Urhebers dieses Zeltes um die Darstellung einzigartiger minne geht, so unverkennbar ist dies im Sinne des Textes eine falsche. Man sieht es hier wie auf den mit diesem zusammengehörigen Bildstoffen daran, daß sie stets der besonderen Fürsorge der heidnischen Hauptgötter gewiß ist: schützend thronen Apollo und Tervigant über den Liebenden (Si 261,1ff.), segnend legen sie ihnen die Hand auf (Si 225,19ff.), stets begleitet sie die Liebesgöttin Venus.154 In der epischen Welt und von Tybalt her betrachtet handelt es sich also um eine Form von Bildmagie, denn es ist Tybalts gezelt (Si 259,19), das im Mittelpunkt der Bildsequenz steht, und nichts hindert, es sich als derselben Logik geschuldet zu denken, nach welcher auch Tybalts Schwiegervater Errungenschaften im Bild festzuhalten und so zu sichern trachtet: swas Terramer genuezze der heruart hin zu Runzeual, womit nur Willehalms Gefangennahme gemeint sein kann, daz heizer malen in den sal, daz man die tat beschawe.155 Die bildliche Fixierung ist ein Akt magischer Inbesitznahme 156, und eben diese Funktion begründet den gesellschaftlichen Gebrauch, der im Abendland von den Bildern 153 Das ergibt sich schon aus dem Motiv der hochgeschürzten Röcke (Si 260,22f.), das in der Arabel auch sonst begegnet (*R 197,4 ff. Si 224,2ff.; vgl.auch Si 309,20ff.) und Erotisches durch den männlich voyeristischen Blick entstehen läßt (Si 260,24f.). Nahe liegen vielleicht Bilder fischfangender Sirenen (Belege bei Curschmann [1964], S.182; Koppenfels [1973], S.42 Anm.56) Reiches Vergleichsmaterial zum Fischefangen im Kontext erotischer Bildlichkeit bei Koppenfels (1973); Hoffmann (1985); In-grid Haug, "Fischer, Fischfang," in: RDK 9, Lfg.98/99 (1988/ 1990), S.187-278. In mittelhochdeutscher Epik ist Fischfang als Liebes- und Sexualmetapher nicht häufig, doch ist es Anfortas, den schwere Verwundung seiner Genitalien zu aller Jagd unfähig macht, so daß er fischend seinen weidetac verbringt (Wolframs Parzival 225,2ff. 491,1ff.; vgl. Hatto [1971], S.109ff.). Fischfang in der Epik: Orendel 559ff.; Heinrich, Reinhart Fuchs 727ff.; Wolframs Titurel 154,1f. 159,1ff. (Schionatulander angelt, während Sigune das Brackenseil löst und Gardeviaz in den Wald entschwindet); Karl und Galie 44,30; Johanns Wilhelm von Österreich 19484ff.; Seifrits Alexander 4957ff. (Jagd und Fischfang als Zeitvertreib der Amazonen); mit bloßen Händen: Herzog Ernst B 4366ff. 154 Vgl.Si 225,16ff. 260,30f. 298,7ff. 155 *R 124,20-23. Die Überlieferung dieses schlecht in Mamurtanits Rede integrierten Passus ist instabil, vgl.Schröder (1984), S. 188. Könnte dies die Konjektur *R 124,20 Terramer] Tybalt begründen, die sich im Episodenumfeld wie mit Blick auf die Tybalt-Bilder stimmiger als der handschriftliche Wortlaut ausnähme? 156 Sie kann sich auf militärische wie sexuelle Eroberungen beziehen, vgl.zum Beispiel PseudoTurpin XXX, 12f.; Tristrams saga cap.LXXXff. und Thomas, Tristan 941ff.; Prosa-Lancelot II, 465, 4ff. II, 476, 15ff. usw.; Seifrits Alexander 7141ff., 7227ff., 8095ff. 176 gemacht wird. Am offensichtlichsten ist dies wiederum am Prunkzelt, das von Kandaris vf Tybaldes schaden zu Aueniun vf geslagen (Si 255,8f.) wird. Arabel hat das Bild der Liebe dem ehemaligen Gatten entwendet und auch so die dargestellte minne selbst zerstört: Tybaldes daz was, sagt sie zu Willehalm, vnd ist nu din. (Si 263,3) Dreifach wird auf Baldachin, Zelt und Gemmen des Hochzeitskleides also nicht nur Arabels und Tybalts frühere minne gezeigt, sondern in den neuen Gebrauchszusammenhängen der Bilder zugleich auch der König als betrogener und verlassener Ehemann denunziert. Gegenwärtig ist darin zugleich der Sieg des neuen Gatten Willehalm über die heidnischen Götter, unter deren Schutz Tybalt seine Ehe gestellt hatte. Das zeigt die Schauseite des Prunkzeltes: dirre gote iegelich einen brief hie <liez> zu tal, der beider sprechen sich nicht hal, swer heiden schrift kunde lesen. der eine sprach 'iwer beider wesen in liebe von vns gehoehet si, so daz ir sit vnminne vri. vnser gotlich kraft iv daz git.' der ander sprach 'die bi dir lit ein wiser sin si beslieze, so daz si minne niht verdrieze. ir minne habe liebe welens gewalt vnd er an manheit vngevalt in heidenischem prisen.' (Si 261,6-19) Apollo und Tervigant also versprechen, was sie nicht halten können. Es ist auch ihre Schmach, die auf den Wiesen Aveniuns vor Kaiser und Papst, vor regnum und sacerdotium öffentlich verkündet wird. Und erneut ist zu sehen, daß die Konkurrenz um die Frau höchst direkt ein Teil der Christen-Heiden-Auseinandersetzung ist. Dies zudem mit Blick nicht nur auf den topographischen, sondern auch den narrativen Ort des Zeltes. In ihm nämlich verbringt Arabel die letzte Nacht vor der Taufe157, und so wird in der Engführung von Zeltbebilderung und Figurenhandeln auch das Konversionsschema des Geschehens episch sinfällig. In der Taufe triumphiert Arabel über eine nur noch im Erinnerungsbild präsente Phase ihrer Geschichte, mit Arabels Taufe triumphiert zugleich Willehalm über Tybalt und Gott über die heidnischen Götzen. Man könnte so weit gehen, diese Zuordnung von zeichenhaftem Bild und epischer Situation als Ausprägung einer wiederholt beachteten Beziehungsregel anzusehen und verstünde dann die Reihe der Abbildungen auf Baldachin, Zelt und Gemmen des Hochzeitskleides nicht nur als von den Stadien Stiftung, Vollzug und Ende der Tybalt-Arabel-minne her determiniert158, sondern als zugleich sinnfällig auf die Feierlichkeiten der fränkischen Reichsaristokratie bezogen. So nämlich, wie das Zelt, auf 157 158 Vgl.Si 267,6f. 270,14ff. 270,29. Vgl.X.7. 177 dem am ausführlichsten der falscher minne von den Heidengöttern angedeihende Schutz thematisiert ist, zur Taufe gehört, so ist der Baldachin, neben Tybalts auch Arabels Krönung durch Venus und also ihren königlichen Rang zeigend, dem Fest im Palas von Oransche zugeordnet, wo Arabel ihren neuen Herrschaftssitz und also ihren neuen sozialen Rang als Markgräfin 'in Besitz' nimmt. 159 Ganz analog wäre dann die Herzenstauschszene als Bild der Trennung Arabels von Tybalt keineswegs zufällig auf den Gemmen jenes Kleides zu sehen, daß Kyburg zur Feier der neuen Verbindung mit Willehalm trägt. Entstehung, Erfüllung und Ende der heidnischen Liebe sind, so scheint es, auf den bildhaften Requisiten im Schlußteil von Ulrichs Arabel derart inszeniert, daß sie sich quer zu dieser syntagmatischen Leserichtung in paradigmatischer Verknüpfung mit ihren jeweiligen narrativen Orten als Thematisierungen jenes Wechsels von Stand, Glaube und Gatte verstehen, den Arabel vollzieht und der im Schlußabschnitt des Romans sukzessive zu bewältigen ist. Das auf den Requisiten Abgebildete und so Präsente und das simultan mit Hilfe der Requisiten Vollzogene erscheinen in der Relation von Vorher und Nachher, und dieserart geschieht es, daß Arabels minne zu Tybalt als längst vergangene, als der erledigte Zustand zu sehen ist und im Modus ihrer steten bildlichen Repräsentation als solcher Anachronismus fixiert wird – im Bild gegenwärtig und verfügbar und bar darum aller Bedrohlichkeit und Virulenz.160 Meinte Tybalt mit dem Bild über die minne zu verfügen, so ist dies durch Arabels und Willehalms Verfügung über das Bild selbst zunichte geworden. Ein zweiter Weg, mit dem ersten sich kreuzend, führt durch den Schlußteil der Arabel. Ihn markieren die prachtvollen Stoffe, welche Arabel-Kyburg verschenkt. Sie handelt damit, wie es Adelspflicht beim Fest ist, doch ist der Rang ihrer Gaben ungewöhnlich, denn er überbietet noch das Kostbarste. Die Burggräfin Fiversin beim Abschied von Montanar (*R 192,12ff.), die Kaiserin und Alyze am Ende des Hochzeitsfestes in Aveniun (Si 307,18) erhalten aus der Hand Arabels nicht nur Tuche aus Salamanderseide, sondern auch noch wertvollere (*R 189,20ff.), welche von Tieren, die heizent Samanirit (*R 190,5), gewebt wurden.161 Dabei ist die Gabe zugleich Sig159 Vgl.Si 224,26ff. 227,4ff. Daß die Beschreibung von Tybalts Zelt in der Arabel "zum mindesten überflüssig sei" (AlA [Schröder], S.XXXV), wird man darum nicht mehr glauben. 161 Herkunft und Gewinnung des Stoffes beschreibt ein in ironische Distanzierungsgebärden auslaufender (*R 191,26-192,3) naturkundlicher Exkurs *R 189,27-192,11. Sein wissensgeschichtlicher Hintergrund ist nicht in allen Facetten ausgeleuchtet und wird es auch hier nicht werden. Möglicherweise sind verschiedene Traditionsstränge (Salamander, Greifen) ineinandergeflochten, doch so, daß die Grenze zwischen Samaniriten und Salamandern stets sichtbar bleibt (*R 189,20f.31ff. 190,16f.); am ausführlichsten und mit den nötigen Parallelstellen versehen Rausch (1977), S.81f., 85, 88ff. Das Kontaminationsverfahren als solches ist etwa durch Wolframs Beschreibung der Rüstung des Königs Purrel (WW 425,25ff.) legitimiert (vgl.dazu Vorderstemann [1974]). Zur Kostbarkeit schon von Salamanderseide (welche zu erwerben zum Inbegriff einer unlösbaren Aufgabe werden kann: Tannhäuser X,36ff.) vgl.ebd.S.80 sowie Wolframs Parzival 735,20 ff.; Wirnts Gwigalois 7437ff.; Albrechts Jüngerer Titurel (Wolf) 2114,2f. (Hahn) 6065,3; Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich 4014f. 160 178 num der Geberin: nach ihrer Taufe trägt Kyburg selbst ein Kleid aus Samaniritseide.162 Es ist so rein weiß als ein sne163 vnd vil reine genat (Si 278,29) mit Nähten von Gold und Edelsteinen nah engelischem site (Si 279,11). Wie bei Tybalts Zelt überlagern sich also auch hier der soziale Repräsentations- und der allegorische Zeichenwert des Requisits. Ihr Kleid zeigt Kyburg in himmlischer Reinheit: hie stuont ein engel, niht ein wip (Si 279,22), und nicht farbsymbolisch allein ist das ausgesagt, sondern wiederum auch mit den Mitteln allegorischen Naturverständnisses. Das Tuch bezeichnet jene, die es trägt und verausgabt, mit den virtutes seiner Hersteller, der Samaniriten, und diese sind wohl mit den Salamandern nicht zu verwechseln, aber in allegorischer Perspektive funktional mit ihnen identisch. Wie ihre Verwandten (*R 190,17) leben die Samaniriten im Feuer als ihrem Element (*R 190,5ff.) und verfertigen dort kostbare Stoffe, in die sie sich – das ist ihre Besonderheit – paarweise einweben (*R 190,18ff.). Dies letztgenannte, sonst nicht zu belegende Motiv illustriert die allegorische Funktionsäquivalenz zwischen den Wundertieren und ihren Produkten und beides repräsentiert an Kyburg jene Reinheit, die sie in der Taufe gewann. Damit ist zumal sexuelle Unbeflecktheit gemeint, wie sich dort zeigt, wo das Geschenk von Samanirit- und Salamanderseide an Alyze seine ausdrückliche Rechtfertigung in deren cheusch findet, wan chaisers chint ward nie si rain.164 Sehr eindeutig, so sieht man, sind Samanirit und Salamander der Königin Arabel und Markgräfin Kyburg zugeordnet. Dabei legen Kontext und Epitheta ebenso eindeutig eine interpretatio dieser Zeichenrelation ad bonam partem fest und rufen so jenen in der naturkundlichen Auslegungstradition konventionalisierten Sinn165 ab, der 162 Vgl.Si 278,27ff. 282,26ff. und unten S.194f. Es handelt sich um ein Gewand, das Arabel nicht wie ihre ganze sonstige Garderobe aus dem Orient selbst mitgebracht hat, sondern das sie von Fiversin erhält. 163 Si 282,30; ebenso die Farbe von Salamanderseide etwa bei Wolfram (Parzival 735,23. 756,30f.; WW 366,4ff.), Albrecht (Jüngerer Titurel [Wolf] 1693,4. 3544,4f. [Hahn] 6069,2), Bruder Hans (Marienlieder 4856f.) oder Hermann von Sachsenheim (Schleiertüchlein 232; Mörin 2689); vgl.Rausch (1977), S.87. Anders dagegen Reinfried von Braunschweig 26378ff. 164 Si 307,28f. Ebenso fungiert beim pfingstlichen (!) Fest (650,7 usw.) der Krönung des Kaisers durch den Papst im Lohengrin der Austausch von Salamanderstoffen als Zeichen singulären Ranges und keuscher Makellosigkeit der Schenkenden wie der Beschenkten (653,5-654,10). 165 Zur Salamander-Allegorese Salzer (1967), S.298ff.; Schmidtke (1968), S.387f.; Rausch (1977), S.70-113. Die positive Auslegung knüpft insbesondere an des Salamanders Leben im Feuer (vgl.Anm. 166) und seine Läuterungsfähigkeit, an das ungetrübte Schneeweiß seiner Seide (vgl.Anm.163) sowie daran an, daß diese ewig im Feuer gereinigt werden kann (Si 308,5ff.; vgl.dazu: Thomas Cantimpratensis 8.30,12ff.; Megenberg, Buch der Natur 278,7ff.; Albrechts Jüngerer Titurel [Hahn] 6069,4; Lohengrin 653,5f.; Reinfried von Braunschweig 26440ff. 26525ff.). Komprimiert Konrad von Megenberg: Der salamandern geleichet ain prinnendeu sêl, diu sô vast glüet in den flammen und in der prunst der götleichen minne, daz si kain flaisch an ir hât unrainer gir. diu sêl lebt neur des tawes götleicher gnâden und des luftes, daz sint die gâb des hailigen gaistes, und in dem feur wirt si sô rain und sô clâr, daz der götleich schein dar inne läuht [...]. nu wizz, welher mensch auf ertreich der flammen ain tail begreift und sich dik dar inne üebt, dem wirt ze stunden sô wol, daz all sein auzwendigen sinn beslozzen werdent und daz ez enzukt wird in ain sô zart süezen, daz ich rüd dir daz niht gesagen kan. (Buch der Natur 278,1731) 179 die von Willehalm errungene Frau als keusch und rein bezeugt. Hier ist die Fortsetzung einer Inszenierung zu beobachten, die in anderem Bildbereich schon in Montanar darauf abzielte, sie von jenem Makel zu befreien, den es für die Braut bedeutet, bereits sexuelle Erfahrungen gemacht zu haben und verheiratet gewesen zu sein.166 Darüberhinaus sind die einerseits Arabel, Tybalt anderseits jeweils zugeordneten allegorischen res im Verhältnis der Komplementarität koordiniert. Den Kontrast zwischen dem heidnischen König und seiner Ex-Gemahlin zeigt die Arabel auch so, daß sie diesem, als alten Adam ihn stigmatisierend, eine Sündenfallschlange zuordnet, welche von der Sirene falscher, weltverfallener minne phänomenologisch ununterscheidbar ist167, während jene vermittels Salamander- und Samanirittuchen im Glanz makelloser Reinheit erstrahlt. Dieser von Ulrich durch eindeutige Zuordnungsverhältnisse168 gestifteten Bildkoordination169 steht eine zweite, eindrücklichere zur Seite. Reinheit ist immer auch sexuelle Reinheit und mit den Samanirit- und Salamanderstoffen wird Arabel als jene gezeigt, die zur süezen Gyburc werden kann. Daß sie dies werden muß (wiewohl sie es in gewissem Sinne immer schon war), birgt ein Läuterungsmoment, daß in der Erzählhandlung in Form von Arabels Taufe zwar ostendiert, in ihrer allegorischen Zurschaustellung aber eher unterdrückt wird (eben weil für den Wechsel des Gatten und die dafür notwendige Rückkehr Arabels in die virginitas nicht wie für den Glaubenswandel ein conversio-Modell verfügbar ist) - es sei denn, gerade dies habe die Wahl von Salamander- und Feuerbildlichkeit begründet nach der Logik: wie Salamanderseide im Feuer wird Arabel im Wasser des Taufbeckens new alsam ê. (Si 308,9) Zur reinigenden Wirkung des Feuers umfassend Le Goff (1984), S.17ff. u.ö. 166 Vgl.dazu X.9. Mag sein, daß nicht nur das Thema von Arabels virginitas die im Exkurs behandelten Szenen mit jenen verbindet, welche auf sie die virtus von Salamander und Samanirit übertragen, sondern daß auch Leichtigkeit als tertium comparationis dieser Bildkoppelung fungiert: es ist Arabels schwereloser Schritt, der die Blumen der Virginität ungebrochen läßt, es ist das leichteste Element (s.u.) und das leichteste Tuch (vgl.unten Anm.178), die im Salamander/Samanirit zusammenkommen und ihr allegorisch zugeordnet sind. Jedenfalls wird man sagen dürfen, die hier zusammengeführten Elemente der Arabel-Ikonographie stützten in der namhaft gemachten Bedeutung einander gegenseitig. Zur Leichtigkeit des Feuers als des obersten Elements im konzentrischen Gefüge der Elementarsphären exemplarisch Konrad von Megenberg: Daz elementisch reich hat vier stukke. Daz klainst ist das ertreich, und daz ist reht als ain gemainer mittelpunct aller werlt. Uemb daz ertreich ist wazzer, uemb daz wazzer ist luft, uemb den luft ist feur, und daz feur ist lauter und nicht trueb: daruemb gibt ez kainen schein. Und daz feur ruert an des monen himel [...]. Also hat der oberst got die vier element gesetzet, daz ie daz swerst unter dem leihtern stet, wanne erd ist mer swer wann wazzer, und wazzer mer denne luft, und luft denne feur, daz lauter ist. (Sphaera 9,17-27; der wirkungsmächtige Vorlagentext von Johannes de Sacrobosco in derselben Ausgabe 64,12ff.; vgl.auch Megenberg, Buch der Natur 68,28ff.) Weitere Belege bei Vögel (1990), S.68. Berühmt ist das Schemabild des natürlichen Kosmos im Liber divinorum operum I,2 Hildegards von Bingen, vgl.zuletzt Meier (1990), v.a.S.54 (mit Abbildung und Literatur). 167 Vgl.X.7. 168 Sie gewinnen Profil auch im Vergleich mit Wolfram: im Willehalm trägt nicht irgendein Heide (vgl.etwa im Parzival 756,26 ff. über das Waffenkleid des Feirefiz - 756,28 saranthasmê meint Salamanderstoffe, vgl.Rausch [1977], S.71), sondern ausgerechnet Tybalt ein Waffenkleid samt Schildbespannung aus der Seide der Salamander (WW 366,4ff.). An einen pointierten, korrekturartigen Gegenentwurf des Fortsetzers zu denken liegt wohl nahe. 180 Salamander, Samaniriten und ihre Tuche sind eine repraesentatio des Elementes Feuer, darin sie leben und sich läutern (*R 190,5ff.), daher sie ihre tugent gewinnen170 und über das hinaus sie gemäß der naturkundlichen Tradition keines andern Elements bedürfen.171 Sie haben darum als einzige Lebewesen complexionsfrei, unvermischt an dessen Reinheit teil und verweisen kosmologisch auf jene "Region des Feuers (und Äthers), die keine korruptiblen Geschöpfe enthält. Honorius Augustodunensis spricht von ignis, quasi non gignis."172 Solchen Elementarbezug kann man indes auch ex negativo von jenen Elementen her bestimmen, mit welchen die Tiere nicht in Beziehung treten: der Salamander (und demnach auch wohl die Samaniriten) lebt ân wazzer erden unde luft173, weil sie ihm niht gemæze174 sind und er anders sterben müßte. Da sind die koordinierten Bilder! Der mundus triplex war auf Tybalts Zelt der alten, falschen minne des Königs zu Arabel beigeordnet worden175, ihm hat sich diese, bildhaft zu reden, in die Sphäre geläuterter Reinheit entzogen.176 Zugleich wird die Defizienz des auf Zelt (und Baldachin) repräsentierten Kosmosmodells und also die Fehlerhaftigkeit von Tybalts minne sichtbar. Dort war die gesamte sinnlich wahrnehmbare Welt abgebildet, mit der einzigen Ausnahme der würme177 und also eben des Elementes Feuer. Perfektibilität und Korruptibilität der 169 Zum Terminus Ruberg (1970). Si 308,3 (nach dem Wortlaut der hier mit *A zusammengehenden Handschrift 6 gegen B). 171 Der Grundsatz der Beschaffenheit alles Kreatürlichen als complexion der vier Elemente (zum Begriff zuletzt Bein [1988], S. 123ff.; vgl.auch Kibelka [1963], S.206f.) kennt genau vier auf jeweils nur ein Element bezogene Ausnahmen - in Freidanks bündigen Worten (109,14-21; ähnlich Reinbots Heiliger Georg 3896 ff.): Ez sint vier gotes geschaft, der leben diu sint wunderhaft: salamandrâ spîset sich mit fiure, daz ist wunderlich; gamâlîôn des luftes lebt, der herinc wazzers, swâ er swebt; der scher sich niht wan erden nert: sus ist den viern ir nar beschert. Als zeitgenössische Zusammenfassung der hier relevanten Grundmuster der Elementen- und Komplexionslehre sowie ihrer vier Sonderfälle läßt sich Reinfried von Braunschweig 26404ff. (dazu Vögel [1990], S.118ff.) lesen, zu Traditionshintergründen und Forschung vgl. Rausch (1977), S.94, 103ff., 168ff. 172 Krayer (1960), S.53; ausführlich legt Konrad von Megenberg (Buch der Natur 69,17ff.) die virtutes des Feuers auf die Werke des Heiligen Geistes aus; vgl.auch oben Anm.165. 173 Reinfried von Braunschweig 26435. 174 Albrecht, Jüngerer Titurel 2812,3. 175 Vgl.oben S.174f. 176 Gerade daß die Bildwelt der Requisiten im Medium ihres festlichen Gebrauchs gegenüber dieser Gegenwart als das Vergangene, Abgelegte, Korrupte erscheint, zu welchem kein Weg zurückführt, setzt sie in ein komplementäres Verhältnis zur auf die virtus der virginitas konzentrierten Arabel-Ikonographie. Da die Grenze von Vergangenheit und Gegenwart hier auch jene von Korruptibilität und Perfektibilität ist, bedeutet das Komplementärverhältnis der allegorischen Signifikanten ein kontradiktorisches ihrer Signifikate. 177 Würme = Salamander/Samaniriten: *R 189,30. 190,1. 192,5. Si 279,1. 282,29. 170 181 Schöpfung sind in den Bildfeldern von Ulrichs Arabel so unzweideutig und trennscharf Arabel einerseits und Tybalt anderseits beigeordnet178, daß die hier vorgeschlagenen allegorischen Ausdeutungen von Requisiten im dritten Romanteil als komplementäre einander gegenseitig bekräftigen und zugleich hinweisen auf einen ausdifferenzierten, komplexen und transparenten Bereich allegorischer Bildlichkeit. Er leuchtet das in der epischen Handlung Erzählte auf seinen Sinn hin aus. Parallel zu dieser metaphorischen und allegorischen Inszenierung Arabels als sozusagen Alyze gleicher Braut im Status der virginitas, welche auf eine Heilung jenes Makels zielt, den das frühere Verheiratetsein bedeutet, durchzieht ein Diskurs vorwiegend im Medium der Erzähler- und Figurenrede den dritten Hauptteil von Ulrichs von dem Türlin Roman. Er bezieht sich auf den spezifischen 'Fall' von Arabels vorehelichem Beilager mit Willehalm. Dieser Diskurs trat bereits eingangs dieser Untersuchung in den Blick, als von Willehalms ausführlichem Geschehnisbericht in Oransche her thematische Fluchtlinien einer Arabel-Interpretation auszuziehen waren.179 Dabei war der Widerspruch zu bemerken, daß Willehalm nach der Befreiung aus dem Turm und vor der Abfahrt von Todjerne Arabel in Tybalts Bett tatsächlich beilag, in seiner Erzählung aber eben dies unterdrückte. In Frage stand so die Funktion des Beilagers und die seiner Leugnung. Jenes hat meine Interpretation als Schändung Tybalts und Teil von Willehalms Heldwerdung verstanden, diese Leugnung aber machte auf den im Sexualakt offensichtlichen und körperlichen Makel Arabels, auf ihre fehlende Virginität aufmerksam. Daß Willehalm den Liebesvollzug bestreitet, ist ein Element der Heilung dieses Makels: Arabels Wunde wird dem analytischen Blick sichtbar, wo sie geschlossen werden soll. Sein diesbezüglicher Bericht ist allerdings nur ein Teil einer ausgedehnten narrativen Strategie, die den Ehebruch in Tybalts Bett gewissermaßen im Nebulösen epischer Widersprüche verschwinden läßt.180 Das Wissen um den Todjerner Sexualakt wird durch sie schließlich von der nicht mehr zu klärenden Frage nach dem Todjerner Sexualakt ersetzt, also durch Nichtwissen substituiert, damit der eheliche Sexualakt in Aveniun zu Recht stattfinden kann. Nicht nur muß die ehemals verheiratete Frau in den Status der virginitas zurückversetzt, es muß auch die Königin aus Heidenland zur Markgräfin von Oransche gemacht werden. Auf diese Veränderung des gesellschaftlichen Ranges bezieht sich, so kann man zeigen, die Fülle der Ehrungen, mit denen Arabel im dritten Hauptteil von Ulrichs Roman überhäuft wird. Zugleich spiegelt sich in diesen Ehrungen, daß Rangänderung hier drastische Rangminderung meint. Wohl hinsichtlich des Gottes und des 178 Dabei geht die kontrastive Relationierung von Tybalts Zelt und Arabels Salamanderstoffen bis ins Subtile: ist das Zelt derart üppig und schwer, daß es zweintzic saumer tragen mußten (Si 255,10; vgl.etwa Veldeke, Eneasroman 247,12f.; TR 12842ff.), so läßt hingegen Kyburgs Samaniritkleid, wiewohl es aus gut vierzig Ellen Stoff besteht, leicht in einer Hand sich verschließen (Si 279,7ff.; vgl.Ulrich von Zatzikhofen, Lanzelet 4898ff.) - ein Überbietungsmuster von wahrhaft selbstgewisser Preziosität. 179 Vgl.oben S.133f. 180 Vgl.dazu X.10. 182 Gatten, nicht aber auch hinsichtlich ihrer sozialen Position überbietet der Kyburg-Teil der Figur deren Arabel-Teil. Wie Willehalms Verschleppung von der Walstatt in Runzeval, so führt auch die diesem Vorgang komplementäre, wenngleich einvernehmliche Entführung Arabels ins ellende (Si 293,24). Nicht nur eine Verletzung des Sippenkörpers der Ungläubigen bedeutet sie darum181, sondern, weil ihre alten Sozialbezüge zerstört werden, auch den Zwang zur epischen Neukonstitution der Entführten selbst. Wie Arabels umfassende Belehrung durch Fiversin, wie ihre diskursive, metaphorische und allegorische Heilung vom Makel mangelnder Jungfernschaft, sind auch die Akte solcher Ehrung Elemente des Neuaufbaus der Arabel-Figur. Dies nun in wenigen Schritten exemplarisch nachzuzeichnen, ist ein weiterer Analyseweg quer durch den Schlußteil von Ulrichs Roman. Den Ausgangspunkt wähle ich noch einmal außerhalb dieses Textabschnitts beim Thronverzicht der Todjerner Königin. Denn in ihm kommt das umfassende leid (Si 222,27) zum Ausdruck, das für die Tochter des Herrschers aller Heiden das Entführtwerden durch Willehalm (und seine spätere Sanktionierung durch soziale Integration im Frankenreich und Heirat) als Akt umfassender sozialer Rangminderung bedeutet: 'ir sahet wol, wie ich was gehert, min wirde gelich den goeten steig. wol vierzec kuenge krone mir neig, der dienst sich zeiget Terramer. durch den bot man mir die er, wan er min zu kinde iach. iwer werdekeit daz wol sach, daz man mich in wirde hielt, vnd ich gewalteclichen wielt der krone hie vnd zu Arabi: die sint nu gar von mir vri. den wil ich hiute mich widersagen, vnd Margrauin namen tragen, vnd wil got, daz ez geschiht.'182 Freilich gewährt der Wille des Herrn eine stabile Rechtfertigung, doch schlägt sich gerade in der wiederholten Beteuerung, daß Kronverzicht und neuer Titel nicht Scham bedeuteten (Si 289,4), das Wissen nieder, hinsichtlich ihres gesellschaftlichen Rangs nehme Arabel daz minre [...] für daz meiste (Si 289,8) und habe daher Anspruch auf angemessene Kompensation. Ohne das Versprechen solcher Kompensation fände die Entführung nach Frankreich überhaupt nicht statt: der Markis si kuzte 'nu zwiuel niht, 181 182 Vgl.oben S.162ff. *R 133,14-27. Arabels soziale Rangminderung wird darüberhinaus thematisiert etwa *R 120,19ff. Si 196,18ff. 198,13ff. 200,28ff. 204,1ff. 222,26ff. 244,26ff. 289,2ff. 300,12. Auch hierbei wird an entsprechende Formulierungen im Willehalm angeknüpft, vgl.WW 104,23ff. 215,26ff. 310,9ff. u.ö.; dazu Schröder (1989), S.480. Noch am Ende der Willehalm-Trilogie, bei Kyburcs Weltabschied, ist das Problem ihres gesellschaftlichen Statusverlusts unübersehbar gegenwärtig (TR 33240ff. 33328ff.); vgl.auch Friedrich von Schwaben 1388ff. 1417ff. 183 vil sueziv, ich gebe dir werdekeit. ob din haupt da [im Abendland] nit krone treit, hohiv wirde sich doch dir nit verseit. Mit vrlaube ich, vrawe, sprechen wil: ez wirt vf kueniginne zil din werdekeit gebreitet. (*R 133,28-134,3) Ist königliche dignitas auch nicht vergänglich183, so kann sie doch gefährdet sein und sie wäre es hier durch den Wechsel des Gatten sowie des gesellschaftlichen Ranges, hielte nicht das ganze Frankenreich, ja die Christenheit überhaupt in vielfältigen zeremoniellen Gesten ein, was Willehalm noch in Todjerne versprach, ohne es doch allein leisten zu können. Im Horizont einzigartiger Pracht und singulären gesellschaftlichen Ranges, über den sich nach der vorgelegten Interpretation höfischer Requisiten184 und mit Blick auf die Reihe der Akteure, an ihrer Spitze Kaiser und Papst, Weiteres vorerst entbehren läßt, in diesem Horizont ereignen sich von Oransche bis Aveniun die Feierlichkeiten. Ihr schon durch Willehalms Gelübde in Todjerne vorgeprägtes Leitwort ist, sofern sie auf Arabel und Kyburg bezogen sind, wirde/werdekeit185 und ihr Programm deren Kontinuität. Bereits von Rivetinet aus läßt Willehalm seinem Vater mitteilen, es würde ihn an vræuden lam machen, wenn derjenigen nu hier in der abendländischen Gegenwart wirdekeit verzigen werde (Si 197,4f.), der wirde neic al der heiden diet (Si 196,28). Doch das Programm erfüllt sich, und am Schluß hat Kyburg allen Grund, der wirde vro zu sein.186 Denn nicht diffuse Formen der Ehrung vollziehen sich an ihr, sondern die spezifische Anerkennung ihres königlichen, wohl gar imperialen187 Ranges selbst durch die Christen – und darum heißt mit Recht auch Kyburg am Ende des Romans noch Königin.188 Der Begriff der wirde enthält dies, insofern er Konkretes bezeichnet, welches eine Krone leicht zu ersetzen vermag. So wird Arabel vorhergesagt: iwer auge noch hiute wirde siht, die kume verguelt ein richiv krone. (Wobei man sich vergegenwärtigen dürfte, daß die Königin nicht einer, sondern zwei Kronen entsagt hatte.) Und gegenüber dieser königlichen wirde, um die es notwendig und vorrangig immer geht, hat jene durch den Heldenstatus des künftigen Gatten vermittelte den Wert einer Dreingabe: 183 Vgl.Kantorowicz (1957), S.383ff. Vgl.zudem Si 227,24ff. 228,28. 267,8ff. 285,12f. usw. 185 Vgl.oben S.133f. 186 Si 300,16; vgl.auch Si 214,14ff. 250,6ff. 187 Leicht wäre zu überlesen, daß Arabel als Terramers Tochter Königin der Könige ist (*R 133,16; vgl.270,4) und deswegen göttlich gnadenhafter Elevation (*R 133,16. Si 261,10f.) teilhaftig wird: eben dies bedeutet auch ihre göttliche Umgebung auf den Bildern; vgl.S.225ff. Durchaus traditionelle Vorstellungen von imperialem Königtum steuern nach den Regeln der Analogiebildung die Arabels Todjerner Status formulierende Rhetorik und Ikonographie; vgl.etwa Kantorowicz (1957), S.62ff. 188 Vgl.oben S.168f. 184 184 dannoch habt ir ze lone des edeln ritters wirdekeit, des pris hat dicke mat geseit vil manigen, den doch pris begurt [...]189 Konkretum ist wirde nicht nur als Substitut dinglicher, wiewohl zeichenhafter Gegenstände, sondern auch als optisches Phänomen: Arabels auge noch hiute wirde siht190, und nicht umsonst redet Willehalm in einem Sprachbild räumlicher Ausdehnung von der Verbreiterung der wirde der Königin (*R 134,2f.). Was prinzipiell sichtbar ist, muß aktualiter gesehen werden können, damit es existiert. In der höfischen Welt visueller Prägnanz vollzieht sich darum die Steigerung von Arabels werdekeit unmittelbar in der Choreographie der schönsten, also adeligsten Körper, in der Syntax ihrer Bewegungen und ihrer Relationen im Raum. Darin kommt eine soziale Ordnung zum Ausdruck (doch so, daß zwischen Signifikant und Signifikat schwerlich nach unseren Regeln zu scheiden ist), welche Arabel derart integriert, daß ihr nicht einmal das nomen proprium bleibt, zugleich aber ihren gesellschaftlichen Rangansprüchen Genüge geleistet ist.191 Am offensichtlichsten ist das vielleicht bei Sitzordnungen, von denen man spätestens seit der Stiftung der Tafelrunde auch im Modus der Reflexion weiß, daß sie den gesellschaftlichen Ort der räumlich zueinander geordneten Körper bedeuten.192 Ihre Wichtigkeit hebt auch Ulrichs Text hervor193, und stets ist wirde das einzige oder wichtigste Ordnungskriterium.194 Wer aber sitzt neben wem? Freilich Willehalm neben Arabel-Kyburg, doch ist, was in der Perspektive einer Interpretation der Arabel als 'Minneroman' für das Selbstverständlichste zu gelten hätte, eine vereinzelte und wohlbegründete Ausnahme.195 Denn im öffentlichen Raum höfischer Feierlichkeiten ist Willehalms Platz an der Seite von Ebenbürtigen, des Montanarer Burggrafenpaa- 189 Si 214,14-19. Zur Spezifität der wirde Arabels als einer königlichen vgl.noch *R 133,28ff. Si 196,28ff. 243,17ff. 250,1 ff., zu den Anteilen von Willehalms werdekeit auch Si 229,26ff. 250,6ff. 190 Si 214,14; vgl.*R 133,20ff. Si 233,4. 300,7. 191 Ich versuche keine auch nur annähernd vollständige Interpretation der rituellen Zeichen und der zeremoniellen Syntax im Schlußteil der Arabel (obwohl jene den Text - die methodologischen Probleme einer faktographisch orientierten Ausbeutung höfischer Epik als gelöst vorausgesetzt zu einer exquisiten Quelle historischer Verhaltensforschung machen könnten), weil es um sie nur in zweiter Linie geht. Mein Interesse ist hier nicht die Ausführlichkeit des Protokolls, sondern die Ausführlichkeit des Erzählens vom ausführlichen Protokoll; es geht um die textlichen Funktionen des Narrativen, noch nicht um Textexternes (vgl.dazu X.5.). 192 Vgl.Haferland (1989), S.101. 193 Explizit sogar, wenn die Darstellung von Sitzordnungen als Erzählerpflicht gewertet wird, Si 310,10f. 194 Si 228,18-20. Nachgeordnet ist ihm zum Beispiel das Kriterium des Geschlechts, vgl.Si 285,10f. 299,15ff. 195 Si 305,21: es ist das rituelle Morgenmahl nach der Hochzeitsnacht, vgl.Grimm (1955), Bd.I S.609f. 185 res oder seiner Mutter196, während Arabel-Kyburg fern von ihm beim König und Kaiser Loys Platz nimmt.197 Allenfalls wird sie dem Kaiser zugeführt von Willehalm, den man in hohem muet vant. die purgrafin gie neben im. <d>er chunich sprach 'mit vrlaub ich nim di chunigin [Kyburg] meinem gesellen. di andern sitzen als si wellen vnd als man gesterne sezz. (Si 310,4-9) Unmittelbar ist die körperliche Nähe Arabel-Kyburgs und des Kaisers bei Tisch eine Form sozialer Rangangleichung und Statussicherung. Ganz Komplementäres läßt sich an Gebärden räumlicher Distanznahme wie dem Kniefall beobachten, welcher gesellschaftliche Hierarchisierung in die Vertikale von räumlicher Erhöhung und Erniedrigung entfaltet. Die Situationen solcher Gebärden im hier beobachteten Textteil198 scheiden ebenfalls das epische Personal in zwei Gruppen: in diejenigen gräflicher Abkunft, die den Kniefall leisten – Willehalm, Heimrich und der Burggraf von Montanar –, und jene von imperialer Geltung, vor denen er vollzogen wird - Arabel-Kyburg, Kaiser und Papst. Grafen und Markgrafen, die ob ihrer Bedeutung für das Reich als Fürstengleiche geehrt werden199, sind eben dieses gerade nicht. Stets ist in der öffentlichen Auszeichnung der den Heiden abgewonnenen Königin der Vertikalaufbau jener christlichen Gesellschaft sichtbar, die sie sich integriert, stets zeigt er sich als Nähe und Distanz der adeligen Körper im glanzerfüllten Raum des Festes. In höchster Verdichtung kann man die Hierarchie in jener Szene anschauen, in welcher Willehalm der künftigen Gemahlin den neuen Herrschaftssitz in Oransche überantwortet: Der kuenig sich nu gesetzet <hat>. bi im dem Markis wart ein stat, div burcgræuin im neben saz. der Markis nu niht vergas, fuer die kuengin kniete er do nu der kuenc sich neiget auch dar zu, heimrich saz bi der burcgræuin - : 'nu sult ir willekomen sin in iwer hus, sueziv vrawe! (Si 227,1-9) Die Reihenfolge des Platznehmens, Willehalms Kniefall vor Arabel, der ihr sich zubeugende, sitzende Kaiser Loys, die Schwelle gegenüber jenen, die, weil nur gräf196 Vgl.Si 227,2f. 228,3. 299,15. Vgl.Si 228,24. 282,11. 299,8f. 301,4ff. 198 *R 188,26. Si 227,4f. 248,22. 311,14; ausgespart ist Arabels Kniefall vor Gott *R 185,16f. Zum Kniefall Mitteis (1974), S. 480; Peil (1975), S.200ff., 309, 313; Suntrup (1978), S.153ff.; Fink (1978); Schmidt-Wiegand (1982), S.372f. 199 Vgl.*R 7,6. 9,18. 15,10. 15,26f. 19,6. 22,13. 117,9. 120,13. 121,12ff. Si 230,1ff.; vgl.auch Si 244,25. 285,11. 197 186 licher Abkunft, nicht gebärdenhaft integriert, also ausgegrenzt sind: wie in einem Schemabild zeigt das kleine Tableau, in welchem für einen Moment die epische Bewegung einfriert, die Strukturen jener Sozialität, die sich im Akt der Aufnahme Arabel-Kyburgs identifiziert und reproduziert. Es nützt ein ausdifferenziertes Gebärdenvokabular zur Darstellung körperlicher und also sozialer Nähe zwischen Arabel und Loys, dergegenüber Nähe Arabels zu Willehalm in den Festritualen des dritten Romanteils eine deutlich nachgeordnete Bedeutung zukommt.200 Die Ehrung, welche Arabel zuteil wird, ist zugleich transparent auf ihre dringliche Notwendigkeit, welche eben aus jener Rangminderung sich ergibt, die die Verbindung mit Willehalm bedeutet. Nur als Rangsteigerung ist Rangminderung für jene, die auch als Markgräfin noch Königin heißen wird, erträglich. Der gesellschaftliche Abstieg muß zur Auszeichnung werden und er wird es für Arabel in der Konversion zum Christentum und der Wendung zum besten Krieger als dem neuen Gatten. Er wird es auch in der sozialen Auszeichnung durch den Kaiser201 – die nur eine Strömung ist im Strom der Ehrungen, zu denen alle Akteure dieses Textteiles beitragen. Loys ist der Tischpartner Arabels und der sie vom Zelter hebt202, er schenkte ihr das kostbare Pferd, auf dem sie zu ihrer Taufe und Hochzeit nach Aveniun reitet (Si 255,17); sein Bote holt sie zur Taufe ab (Si 271,12), und mit dem Papst empfängt das Kaiserpaar den Täufling am Münsterportal (Si 271,26); Loys führt, wie wenn er ihr Vormund wäre, Kyburg zur Trauung (Si 287,20ff.) und geleitet sie dann zum Fest (Si 297,12f.). Die Integration der heidnischen Königin in die christliche Welt vollzieht sich als über mehrere Stationen führender Weg und mittel- oder unmittelbar ist auf seinen wichtigsten Etappen der Kaiser als Arabels Begleiter derjenige, der ihn (mit) vollzieht. Integration ist dabei zugleich, wie es nicht anders sein kann, Definition des sozialen Status, und im Einklang mit ihrer Titulatur ist es die königliche, ja imperiale dignitas Arabels, die Loys mit den zeremoniellen Mitteln des höfischen Festes fixiert. Sie ist tatsächlich beides, Markgräfin und Königin zugleich, und sie kann den Umsprung in jene neue Position durch die Verbindung mit Willehalm nur vollziehen, wenn und indem sie dieses bleibt. Das zu sichern ist eine Funktion des Kaisers während der Festivitäten in Oransche und Aveniun. Er macht damit am konkreten Fall das allgemeine Prinzip deutlich: 'the Queen never dies', wie ostentativ sie auch die königliche Würde von sich getan haben mochte.203 200 Vgl.etwa Si 221,14f. 262,30ff. 268,6f. 272,4ff. 310,3. Hier deutet sich eine textinterne Erklärung für den im Grundsatz trotz der Neueinschätzung der Redaktionsverhältnisse der Arabel noch gültigen statistischen Befund von Schnell/Vedder (1983), S.434, an, daß Loys "zunächst fast ausschließlich als künic" auftrete und "erst bei den Empfangsfeierlichkeiten für Willehalm/Arabel [...] sich der keiser- neben dem künic-Titel behaupten" könne. Dies mag weniger zu tun haben mit "Hemmungen, Ludwig gleich nach der Wahl zum König 'Kaiser' zu nennen" (ebd.), als mit epischen Funktionszwängen der Auszeichnung Arabels. 202 Si 224,12ff. 296,29. 203 Mein Zitat wandelt eine Formulierung von Kantorowicz (1957), S.314 u.ö., auf die Belange der Königin ab. Es mag dies der Ort sein anzumerken, daß Arabel zwar ihren Kronen entsagt 201 187 Willehalm zwar ist der beste aller Heidenkrieger gewesen und wieder geworden, seine Kraft reicht hin, die entführte Braut vor denen zu schützen, die sie zurückholen und sich rächen wollen. Doch genügt sie nicht, die wirde der Königin zu wahren, wo diese zu seinesgleichen, zur Markgräfin wird. Das kann allein der Kaiser. Durch seine Teilhabe am Ritus macht er Investitur, Taufe und Eheschluß Arabels zur Sache des Reiches, ihre Bedeutung so in einzigartiger Weise steigernd. Loys kommt auf diesem Wege der Bitte Willehalms nach, beim Dank an dirre suezen reinen guoten zu helfen, der wishait den Markgrafen hat gescheiden von todes pin vnd von leiden (Si 230,2224). Dabei ist den Figuren deutlich bewußt, was Aufmerksamkeitsbewegungen moderner Leser als Unerwartetes leicht entgehen könnte, daß der Kaiser damit ein teil rehtes204 gegenüber Willehalm abgilt. Der hatte mit Loys' Krönung die Kontinuität des Königtums und des Reiches gesichert, hatte den rechten König, den Sohn des großen Karl, und die richtige Krone am dafür bestimmten Ort zusammengefügt und sich so Anspruch auf Gegengaben erworben. Doppelt erhält er sie in der Erhöhung seiner Schwester (und also seiner selbst), die die Frau des Kaisers wird 205, und in der Ehrung seiner zur Markgräfin werdenden künftigen Gattin als jener Königin, die sie vormals war und ihrer Geltung nach also noch immer ist. Arabel und Kyburg können Willehalm heiraten, weil Loys die Kontinuität des fränkischen Königtums, die für einen Moment an dessen wichtigstem Vasallen hing, mit der Sicherung der Dauer ihrer Königswürde vergilt: dignitas non moritur.206 6. Die Feste des Hofes: Ich nehme einige derjenigen Fäden auf, die noch offenliegen. Freilich nicht aus dem Ehrgeiz möglichst vollständiger Repräsentation des Textes in der Interpretation – er wäre hermeneutisch hybrid und zwischen Prolog, Mamurtanits Traum und dem Spiegel auf Arabels Prunkzelt auch längst an zu vielen Elementen der Arabel vorübergegangen. Bestimmend ist vielmehr das Bemühen nachzuweisen, daß die bisher in dieser Untersuchung zurückgelegten weiten Wege für eine systematische Erklärung des dritten Hauptteils dieses Romans unerläßlich waren. Denn erst auf ihnen konnten jene Probleme aufgespürt werden, von denen her das im Schlußteil Erzählte funktional sinnvoll als Beantwortung ungelöster Fragen zu begreifen ist. Stichwortartig und vorwegnehmend verkürzt handelt es sich dabei um Willehalms Narbe und die soziale Sanktionierung seiner Heldwerdung, um den Umsprung Arabels zu Kyburg – das hat der vorige Abschnitt schon aus dem Geflecht des im dritten Romanteil Erzählten herausgelöst – sowie die zu heilende Wunde, welche die Verschleppung Willehalms dem fränkischen Sippenkörper beibrachte. Darum bündeln sich hier noch einmal Ar(vgl.oben S.181f.), doch nichts weiter: nicht die Spur eines gebärdenhaften oder rituellen Vollzugs der verbalen Ankündigung. 204 Si 230,18; vgl.auch Si 312,4ff. 205 Vgl.X.4. 206 Vgl.Kantorowicz (1957), S.383ff. 188 gumentationslinien, auf welche es dieser Analyse ankam. Deren Geltung wird sich also wesentlich danach bestimmen, ob es nun gelingt, den dritten Arabel-Teil besser als vorliegende Interpretationen207 zu verstehen. 'Besser verstehen' ist hierbei pragmatisch schlicht gemeint als Reduzierung derjenigen narrativen Momente, welche in einer mehr am Text als an seinen außerliterarischen Kontexten orientierten Interpretation als erzählerisch funktionslose Wucherungen und dergleichen erscheinen könnten. Gelingen und sichtbare Bedeutung des erzählten höfischen Festes indizieren das Maß gesellschaftlicher Gefährdung, die ihm voranging, oder kollektiver Bedrohung, die in seinen Friedensbezirk einbrechen wird.208 Darum lassen sich Interpretationen höfischen Erzählens so anlegen, daß sie "auf ein Verständnis dessen hinauslaufen [...], was im Zielpunkt der epischen Handlung steht: der [...] Gesellschaft im Status der Festlichkeit."209 Der Nexus zwischen der epischen Handlung und ihrem Zielpunkt ist dabei, so sagt es das Wort, immer schon im Blick und vielfach war in diesem Kapitel Gelegenheit, auf Verflechtungen und Bezüge zwischen den beiden ersten und dem dritten Hauptteil der Arabel hinzuweisen. Unüberhörbar und unübersehbar sind solche Verschränkungen von Handlung und Festhandlung schließlich vor allem dort, wo im Text der Figurenrede Willehalms210 und im Bild auf den Requisiten, welche den prunkvollen Rahmen jener Kette von Festhandlungen abstecken, mit der Ulrichs Roman ausläuft, Vergangenes gegenwärtig gehalten wird. Redetext und Geschichtsbilder sichern also nach der Seite Willehalms wie jener Arabels hin "die Präsenz dessen, was sich spielerisch-festlich nicht umsetzen läßt, im Innersten des Festes [...]." 211 Willehalms Schande und die Etappen seiner Heldwerdung sind darin ebenso als ein zentraler Bezugspunkt der Feierlichkeiten erkennbar, wie Arabels minne und Ehe mit Tybalt. Auch das Fest in Oransche und Aveniun also "vollzieht sich nicht nur prinzipiell im Übergang zwischen dem Antifestlichen vor ihm und nach ihm, sondern es trägt dieses Vorher und Nachher als Problem in sich."212 Erst der Makel Arabels und die vernarbten Wunden Willehalms zusammen machen das Vorher des Festes aus und determinieren sein Nachher: den in der Arabel-Fortsetzung und im Willehalm erzählten heidnischen Racheangriff. Anderseits muß bedacht sein, daß die Präsenz problematischer, gesellschaftliche und individuelle Idealität gefährdender 'Vorgeschichten' im Fest gewissermaßen ästhetisch vermittelt ist. In der erzählten Rede und in den erzählten Bildern erscheint das präsente Vergangene als Vergangenes (und nicht als Präsentes), als etwas Bewältigtes, dessen Bedrohlichkeit sich längst den Ordnungen ästhetischer Diskurse fügte. Rhetorik und Ikonographie, Rederegeln und Bildregeln sind jene Funktionselemente des Festlichen, in welchen dieses sich die gefährdenden 'Vorgeschichten', auf die es bezogen ist, aneignet, um sie so – aufzuheben. Die öffentliche und festliche Darstel207 Vgl.oben S.129f. und X.5. Vgl.Haupt (1989), S.32. 209 Haug (1989), S.157. 210 Daran hatte die vorliegende Interpretation zunächst ihre thematischen Fluchtlinien abgemessen, vgl.oben S.132ff. 211 Haug (1989), S.165. 212 Ebd.S.164. 208 189 lung von Willehalms und Arabels Narben und Makeln im Text des Berichts und im Bild auf den Prunkstoffen, so folgt daraus, ist selbst schon eine Form, in welcher die fränkische Reichsaristokratie das Vernarben von Willehalms Wunde und die Beseitigung von Arabels Makel vollzieht und sanktioniert. Wären nicht, was mit dem Fest erst aktual der Fall wird, Willehalms Schande in makellosem pris und Arabels Ehestand in Kyburgs virginitas aufgehoben, dann könnten sie nicht in ästhetischer Vermittlung im Mittelpunkt des das Reich integrierenden Festes stehen. Doch sind sie es, und darum hebt das Fest nicht nur die zwei besonderen 'Vorgeschichten' Willehalms und Arabels in sich auf, sondern auch deren allgemeine Ordnungsregeln. Es konstituiert sich als Friedensbezirk von fast unbegrenzter gesellschaftlicher Integrationskraft213 und als einzigartiger Verdichtungsraum aristokratischen Daseins – am Gedränge der adeligen Körper kann man das sehen.214 Von einem Fest also wird erzählt, in welchem höfische Existenz zu derart gesteigerter Idealität kommt, daß auch Gewalt und Begierde, die etwa in Chrétiens und Hartmanns Artusromanen als "letztlich nicht integrierbar[e]" Konstanten einer der "Idealität der arthurischen Gesellschaft" entgegengestellten Welt des Antifestlichen erscheinen215, ins Gesellschaftliche eingebaut und so eingedämmt werden können. Dies zeigen einerseits die Ritterspiele als domestizierte Formen kriegerischer Gewalt, welche stets den Weg von der einen zur nächsten Station des Festes säumen 216, es so als 213 Vgl.Si 196,8ff. 208,16ff. 211,22ff. Vgl.Si 218,22. 254,20. 263,23. 264,3.28f. 265,10f. 267,6f. 271,13ff.20ff. 281,10. Vgl.zum Gedränge als Ausdrucksform hochintegrierter aristokratischer Festlichkeit auch Nibelungenlied 33,2; Rother 4799; Herzog Ernst B 5964; Veldekes Eneasroman 46,26. 337,36ff.; Wolframs Parzival 217,28. 297,19ff.; WW 126,17 usw. 139,18. 140,4. 142,29ff. 155,21; TR 2661. 28428. 32119ff.; Ebernand, Heinrich und Kunegunde 3363; Ulrich von Lichtenstein, Frauendienst 11,4. 179,28; Kudrun 16,2a; Berthold von Holle, Crane 87; Lohengrin 1646. 2267. 3909ff. 6477. 6766; Ulrichs von Etzenbach Wilhelm von Wenden 7565. Einige weitere Belege bei Hildebrand (1865), S.143ff. 215 Haug (1989), S.160. 216 Vgl.Si 213,20ff. 219,6f. 220,24ff. 223,13ff. 263,24ff. 294,30. 296,10ff. Die Friedfertigkeit dieser Kampfspiele geht übers Übliche hinaus - sonst würde nicht hervorgehoben, daß man selbst auf Geiseln und Lösegelder verzichtete (Si 221,1ff.); vgl. Jackson (1985), S.273ff. Ihre Funktion ist es, die weitestgehende Eindämmung alles Agonalen zu ostendieren. Die Bedeutung, welche dieserart pazifizierenden Funktionen der Festfolge von der Erzälung zugemessen ist, bestätigt erneut, daß die 'Vorgeschichte' der Feste wider den ersten Augenschein eben kein 'Minneroman', sondern eine durchaus kriegerische Angelegenheit (vorwiegend im Modus von minne) ist. Sie bestätigt es dann, wenn man die grundsätzliche Bezogenheit von Handlung und Handlungsziel hier als Aufhebung der agonalen Regeln der Handlung durch die Festregeln des Handlungszieles erscheinend - voraussetzt. Die Berechtigung dieser Voraussetzung versuchte ich anzudeuten. An ihr hängt überhaupt die Interpretierbarkeit des Schlußteiles der Arabel und vergleichbarer Erzählungen. Sie erscheinen anders nur als Sequenzen von "standardisierten Erzählmomenten" (Behr [1989], S.129) - solchen, so soll damit (nicht unähnlich einer zentralen Denkfigur obsoleter Toposforschung) gesagt sein, welche nicht weiter interpretabel sind. Es handelt sich aber nicht um standardisiertes Erzählen, sondern um Erzählen von standardisierten, nämlich in den Repräsentationsregeln höfischen Zeremoniells konventionalisierten Handlungsmomenten, und dieses Erzählen ist mit dem Erzählen weniger stark konventionalisierter Handlungsmomente in der Vorgeschichte der Feste funktional verquickt (sonst gehörte es nicht demselben Text an). 214 190 pazifiziertes Gegenmodell zum Heidenkampf erweisend, und zum andern die Hochzeitsnacht als einzige im ideologischen System der epischen Welt gestattete Vollzugsweise von Sexualität.217 Auch unter diesem Aspekt ist die Folge der Festhandlungen in der Arabel Telos ihrer zweisträngigen Vorgeschichte aus Heidenkrieg hier sowie falscher und unkeuscher minne dort – dieser verstanden als Struktur von Willehalms Heldwerdung, wie im Gang dieser Interpretation zu sehen war, jene, so hält es die Erzählung präsent, als Prinzip der Beziehung Arabels zu Tybalt. Man wird bemerken, daß die Pazifizierung kriegerischer Gewalt in der Erzählung des Festes als durchgehende syntagmatische Sequenz knapper Buhurt-Szenen Gestalt gewinnt, und sich dabei daran erinnern, daß die allegorisch lesbaren Requisiten, die Situationen der Belehrung der Braut durch Fiversin sowie die ihrer statusdefinierenden Ehrung durch den Kaiser ähnlich syntagmatisch in die Folge der Festhandlungen hineinerzählt werden. Demgegenüber ist das Prinzip der Begierde aus Arabels alter minne in der Episode von Kyburgs Heirat und Hochzeitsnacht aufgehoben. Diese ist gewissermaßen ein Paradigma institutioneller, fallweise sogar sakramentaler Sanktionierung von Bindungen, welche zum Teil längst bestehen und der Logik der epischen Welt zufolge auch nicht mehr gelöst werden können, welche jedoch ohne ihre rituelle Befestigung nichts sind. Ich meine die Bindung Arabels an ihren Stand, ihre und Willehalms Bindung an die Heimrich-Sippe sowie den fränkischen Gefolgschaftsverband, Arabels Bindung an den Gott der Christen, schließlich eben die eheliche Bindung Willehalms an sie. Demgemäß treten zur Hochzeit weitere Episodenkomplexe hinzu, in welchen sich die gesellschaftlichen und geistlichen Integrationsund Reintegrationsvorgänge paradigmatisch verdichten. Nach ihren Orten ließen sie sich als 'Rivetinet', 'Oransche', 'Aveniun I' und 'Aveniun II' etikettieren, und es wird zu sehen sein, daß sie in Formen der gesellschaftlichen Sanktionierung oder Aufhebung und sakramentaler Überhöhung jeweils spezifische Aspekte der beiden ersten Hauptteile der Arabel, darunter der Stand der Braut, Willehalms Heldwerdung, Arabels conversio zum wahren Gott und ihre minne zum Markgrafen, besonders akzentuieren. Das heißt nicht, es sei schon erledigt oder doch vorübergehend aus dem epischen Bild verschwunden, was nicht eigens akzentuiert werde. Weil Willehalms Aristie ohne den Gewinn der Frau und der Heiden Untergang nicht zu denken ist; weil für Arabel der Wechsel des Gatten zugleich einer des Glaubens und des gesellschaftlichen Rangs ist; weil Arabels sozialer Abstieg Willehalms Status steigert und sie so selbst erhöht; weil schließlich all dies für den fränkischen Sippenund Lehensverband eine unübersehbare Wertsteigerung bedeutet, derer er sich im Vollzug höfischer vræude vergewissert – weil also die Dimensionen von Ritter, Hei217 Als vergesellschaftete, domestizierte Form der Sexualität erscheint die Hochzeitsnacht auf der Handlungs- wie auf der Erzählebene. Einerseits umstehen die Damen des Reiches das Brautbett, sie umstellen also den Liebesakt und holen ihn so in die Mitte der Sozialität - Einbettung ins Kollektiv im wörtlichsten Sinne (vgl.Si 301,11ff. 305,16ff.). Anderseits wird der Ehevollzug nicht erzählt, sondern durch Ulrichs Dialog mit Kiusche und Minne substituiert (dieser Dialog ersetzt erzähllogisch, was er handlungslogisch mit ermöglicht, vgl.X.10.), das heißt, an die Stelle sinnlicher Unmittelbarkeit der asozialen Liebe tritt die Reflexionsdistanz des gesellschaftlichen Liebesdiskurses. 191 denkrieger und Brautentführer sowie von Braut, Markgräfin und Christin, in welche sich die Figuren aufspalten, aneinanderhängen, und weil ihre Beziehungen zueinander und zu ihrem Kollektiv in der Welt dieses Textes (und in der Kultur, die ihn hervorbrachte) immer der Regel der Reziprozität gehorchen, deswegen wäre die erwähnte Vierteilung des letzten Arabel-Abschnitts als systematische Ordnung des Problemgeflechts mißverstanden. Hier werden nicht die offenliegenden Problemfäden einer nach dem andern abgekettelt, sondern eben paradigmatische Knoten geknüpft, die ohne die angedeuteten syntagmatischen Verflechtungen nicht zu denken, doch anders als in solch paradigmatischer Schürzung eben auch nicht zu erzählen wären. An der Ordnung des Erzählens, nicht am System der erzählten Probleme orientiere ich mich im folgenden. 'Rivetinet', der erste dieser Knoten (*R 197,21-Si 224,11), erzählt davon, wie sich das Wissen von Willehalms Heimkehr in die gesamte Francia ausbreitet und das Reich sich daraufhin vor Oransche versammelt.218 Das ist wesentlich ein Vorspiel, welches besonders in Form diplomatischer Missionen jene Bedingungen schafft, unter denen sich das im Schlußteil der Arabel Erzählte vollzieht. Allerdings sind schon diese Festvorbereitungen von festlichem Geschehen selbst unterbrochen. Bereits zu Rivetinet wird in einem kleinen Gastmahl div yoye [...] von des edeln ritters funt (Si 196,4ff.) zelebriert. Wichtiger ist dann die Begrüßung vor Oransche (Si 219,1ff.). Loys und Heimrich von Naribon samt ihren Söhnen, Reich und Sippe also begrüßen Willehalm und Arabel mit dem Kuß und geleiten sie in die Stadt auf den Palas. Solche Einholung ist selbst eine Form auszeichnender Ehrung219 und hier nach zwei Seiten hin akzentuiert. Willehalm, einerseits, hält nichts zurück, endlich am Buhurt teilzunehmen und vorzuführen, daß er sich wieder zu bewegen weiß, sam er nie pinen hete getragen (Si 223,21). Die Vorführung des elastischen, kräftigen, also schönen adeligen Körpers ist, als überwunden sie bezeugend, unmittelbar auf die Schande seiner Niederlage und Einkerkerung bezogen. Arabel, anderseits, wird von der Erzählung im Gespräch mit Heimrich belauscht, darin zweierlei belangvoll ist. Der Wiedergewinn ihres verlorenen Gliedes gibt der markgräflichen Sippe jene durch seine Abtrennung verlorene Stärke wieder zurück, auf die sie unter steter heidnischer Bedrohung nicht verzichten kann – dies ist die konkreteste Wirkung, die in der vræude ihren sichtbaren Ausdruck findet (Si 222,10ff.). Jedoch wäre es ohne die selbst leide in Kauf nehmende triwe Arabels unmöglich gewesen. Deswegen wird schon hier des statussichernden lones desjenigen als eines Fluchtpunktes der Festhandlungen gedacht, durch den ich [Arabel] mich han bewegen. (Si 222,29) Arabels Taufe und ihre Heirat mit Willehalm sind im Bewußtsein der Forschung hauptsächlicher Inhalt des Schlußteils von Ulrichs Arabel. Hier nun ist hingegen zu sehen, daß vielmehr des Markgrafen Heldwerdung und der soziale Status der Königin sowie daneben auch der Rang der Sippe seinen zunächst bedeutsamsten Skopus bilden. Dies wird gegen Ende der vorgelegten Interpretation nicht mehr überraschen und im zweiten Episodenkomplex dieses Schlußabschnitts, 'Oransche' (Si 224,12-248,9), 218 219 Vgl.X.4. Vgl.Bumke (1986), S.290ff., 815f. (Literaturhinweise). 192 Bestätigung finden. In seinem Zentrum steht ein großes Bankett in Willehalms Palas Termis (Si 228,21) zu Oransche. Dabei geht es erneut im Modus von höfischem Zeremoniell und Hofrede um den Heldenstatus Willehalms und Arabels gesellschaftlichen Rang. Unter königsgleichem Baldachin nimmt sie, von ihrem Gefolge umgeben, die Huldigung der Pfalzgräfin, welche mit ihrem Gatten Berhtram während Willehalms Gefangenschaft in Oransche geherrscht hatte, und anschließend jene des Markgrafen selbst entgegen.220 Ein Akt förmlicher Investitur, der Arabel in zeichenhaften Formen, welche ihren königlichen Rang wahren, zur Markgräfin von Provenze macht, geht also dem Festessen voraus. Ihm folgt der ausführliche Bericht Willehalms über seine Gefangennahme und Befreiung, in dessen Prolog als Seitenthema wiederum die wirde der Heimrich-Sippe thematisch ist. Funktionen dieses erzählten Erzählens sind in der vorliegenden Untersuchung unter verschiedenen Aspekten zur Sprache gekommen. Dabei wurde bislang ausgespart und ist jetzt nachzutragen, daß der Sinn dieser Rede, durch Reich und Sippe jene Aristie gesellschaftlich zu sanktionieren, auf deren Stufen die geschehene Schande (bis auf die Narbe an der Nase) ungeschehen gemacht wurde, im Text selbst explizit wird. Dies ist derart bedeutsam, daß es die Einführung einer besonderen Figur in die Welt des Epischen lohnt, deren einzige Funktion es ist, auszusprechen, was jeder weiß. Hoyger aus Tynant, Willehalm ebenbürtig und verwandt (Si 244,13f.), korrigiert öffentlich das gesellschaftliche Bild des Markgrafen und formuliert zugleich jenes Handlungsmodell aventiurehaften Brauterwerbs, vor dem die Schande der Gefangenschaft zu einer intendierten Heldentat wird; Zeugnis eines Ranggrenzen überwindenden Heroismus, der unzweifelhaft respektgebietend ist und dem Anerkennung auch in der von Wolfram vorgeprägten Kampfmetaphorik des Würfelspiels221 gezollt wird: wir heten ivch fuer den veigen. nu habt Ir in vancnússe pris errungen. ist ritter ie so wol vor gelungen in vnser zit, des weiz ich niht und wæn auch nymmer geschiht kuengen, fuersten, grauen, vrien. irn habet niht vf die drien, ez muost ein wurf wæger sin, sit ein so hohiv kuengin zwein kronen durch iv wider seit, der wirde was so b<>reit. nu wizzet, daz si liebe ieit. (Si 244,20-31) Doppelte Perspektivierung, so ist zu sehen, kennzeichnet als Gemeinsamkeit die beiden ersten Episodenkomplexe des Arabel-Schlußteils. Sowenig auch dies einer mit der Semiotik höfischer Repräsentation unvertrauten Wahrnehmung plausibel sein mag, so strikt und, man möchte sagen ökonomisch sind doch diese Festhandlungen 220 221 Vgl.oben S.185f. Das Material bei Schmidt (1979), S.160. 193 auf die Veränderungen ausgerichtet, die sich an Willehalm und Arabel vollziehen – seine Rückkehr in die Rolle des Helden und ihr Wechsel in jene der Markgräfin. Als Reintegration dort und hier Integration ins Kollektiv eigenen Geblüts vollzieht sich das, weil ohne Sippenbindung aristokratische Existenz nicht möglich ist. Deswegen ist hier zugleich auch der Rang dieser Sippe mit thematisch. An ihm hängt die Wertigkeit ihrer Sanktionen, zugleich steigt er – nach den Regeln der Reziprozität der Bedeutung des Einzelnen und seines Kollektivs – durch die Vereinnahmung des restituierten Helden und seiner neu errungenen Frau. Dieser Prozeß der gegenseitigen Verbindung der Akteure, also derjenige gesellschaftlicher Integration und so sich vollziehender reziproker Wertsteigerung beschleunigt sich, als er mit der dritten Episodengruppe des Arabel-Schlußteiles auch im Modus der Festlichkeit die Dimension des Religiösen erreicht: der Königin, aber auch aller andern vræude begunde sich hoehen baz durch des taufes zuoversiht.(Si 245,14f.) Der Vollzug des Sakraments an Arabel und ihrem Gefolge zentriert diesen Textteil 'Aveniun I' (Si 248,10-286,7). Mit ihm geht der Sprung auf eine qualitativ neue Stufe gesellschaftlicher Verdichtung und Bedeutung einher, denn von nun an wird auch der Papst zur in der Folge der Feste sich reproduzierenden Adelsgesellschaft gehören. Mit der Zusammenführung von Sippe, Reich und Kirche in Gestalt ihrer jeweils obersten Repräsentanten ist eine Ebene des Rangs und des Gewichts erreicht, die nach den Regeln der narrativ konstituierten Welt schlechterdings nicht mehr zu überbieten ist. In diesem Rahmen wird Arabel zu Kyburg und ins Christentum aufgenommen. Man kann darin die sakramentale Überhöhung bisheriger Integrationsschritte sehen. Deswegen vollendet sich unmittelbar vor der Taufe die Einfügung Arabels in den Personenverband des Frankenreiches, indem sie nun auch von der Kaiserin und Alyze begrüßt wird (Si 264,28ff.). Integration ist Ansippung – im wörtlichen Sinn: eine Metapher dafür wäre etwa die des Verlötens (Si 206,8) – der noch ungetauften Königin an die ihrerseits versippten Geschlechter des Markgrafen und des Kaisers. Deswegen heißt Arabel – bereits vor Taufe und Hochzeit – Irmenscharts und Heimrichs kint, diese auch ihr gegenüber muoter und vater, deswegen nennt die Kaiserin sie muemel.222 Dies ist der Stand der Dinge schon vor Taufe und Eheschließung, und man sieht daran, daß der Adel die sakramentale Fixierung personaler Bindungen (an die Christenheit und den Gatten) zwar außerordentlich dringend braucht, jedoch als hinzutretende Heiligung schon vollzogener Integration. 222 Vgl.Si 267,15.19. 268,27f. 269,23; vgl.auch Si 297,7ff. 303,2. Weil Integration hier Ansippung ist, deswegen wird übrigens - auch wenn dies der deutsche Text nicht mehr wissen sollte Arabel überhaupt Kyburg heißen: Guiburc nimmt den Leitnamen der Aimeriden-Sippe (Gui, Guillaume, Guiscard, Guibelin, Guielin) auf; vgl.Dittrich / Vorderstemann (1974), S.179f. - Die vollzogene Eingliederung Arabels in die markgräfliche und kaiserliche Sippe impliziert die väterliche und quasi-vormundliche Zustimmung zu Willehalms Gattenwahl. Deren Umstände hatten von der väterlichen Enterbung über die Erziehung am Kaiserhof und die Gefangennahme, hatten also durch die Abtrennung Willehalms vom Körper seiner Herkunft solches Einverständnis bisher ausgeschlossen; vgl.Ashcroft (1989), S.60ff. In der Perspektive einer Herstellung von Einverständnis mit Willehalms Brautentscheidung wären auch Textstellen wie Si 206,2ff. 222,2ff. oder 265,24ff. zu lesen. 194 Die Taufe selbst vergegenwärtigt die Arabel in so minutiöser Genauigkeit, daß man sagen könnte, es werde ein in jedem seiner Worte und Gebärden zeichenhaft bedeutsames Geschehen nicht so sehr erzählt, als gewissermaßen narrativ nachvollzogen. Anderseits ist dieses Geschehen in der Semantik wie der Syntax seiner Elemente dieserart nicht nur auf seinen transzendenten Sinn, sondern auch auf seine sozialen Implikationen hin transparent; solches gilt für jedes Ritual der Adelskultur des 13.Jahrhunderts. Sichtbar ist die Taufe Arabels nicht nur Lösung vom Teufel und seinen Götzen und Verbindung mit dem einzigen Gott, sondern zugleich auch Aufnahme Kyburgs ins adelige Christentum, in den christlichen Adel. Sie ist darüberhinaus, drittens schließlich, evident als Übergangsritus zur nachfolgenden Verbindung mit Willehalm. Reinigung von alten Verstrickungen und neue Bindung zeigt diese Taufe, wie jede, im dreifachen Begießen des Täuflings mit dem gesegneten (Si 274,16f.) Wasser (Si 277,30f.) und seiner Neueinkleidung in die makellose Albe als Zeichen der Sündenreinheit.223 Mit heiligen suezen worten spricht der Papst, "nim die vngemeilten wat. fuer alle dine missetat bringe si an daz ivngste gerihte, da got welt nach der slihte, daz du da sist ane svnde reine."224 Die gesellschaftlichen Implikate des christlichen Ritus sodann sind, wie fast alles in diesem Text, sichtbar wiederum an den Konfigurationen der edlen Körper. Die Großen des Reiches, Arabels neue Sippe und die Paten als ihre geistlichen Verwandten, alle also, die von sippe liebe truogen (Si 274,9), umgeben ganz dicht den Körper der zu Taufenden225 und nehmen ihn so in sich, in den corpus ecclesiae auf: Taufe zeigt sich als Einverleibung. Sichtbarer Ausdruck des transitorischen Charakters nicht des Sakraments, wohl aber des Taufritus ist drittens schließlich die Ersetzung des Taufkleides als Zeichen auch des göttlichen Brautstandes226 durch das Brautkleid. Sie vollzieht sich fast nahtlos, wie man, im Bild zu bleiben, sagen könnte. Nicht erst nach acht Tagen 227, sondern sogleich zum Abschluß des Ritus legt Kyburg die Albe ab: daz westerhemde nam man von ir (Si 278,21), so daß für einen Augenblick die Nacktheit des Körpers jene Makellosigkeit bezeugt, welche das Taufkleid bezeichnet hatte. Dann hüllt man Kyburg in jenes aus Samanirit-Seide gewirkte Gewand, in welchem sie Willehalm 223 Vgl.Suntrup (1978), S.332ff. 450ff. (mit zahlreichen Literaturhinweisen). Si 278,10-15; vgl.auch X.4. Insofern das Taufkleid, ungenäht und makellos, "Zeichen des Besitzes eines unversehrten Leibes" ist (Suntrup [1978], S.451), kleidet sich Kyburg mit ihm nicht nur in Christus (Gal 3,27), sondern vollzieht zugleich die sakramentale Bestätigung der seit der Flucht aus Todjerne diskursiv und im Schlußteil des Romans handlungslogisch und metaphorologisch geschehenen Wiederherstellung ihrer Virginität. 225 Vgl.Si 271,27. 272,4ff. 273,8ff. 274,20. 226 Vgl.Suntrup (1978), S.451 und Anm.35. 227 Vgl.ebd.S.452. 224 195 beigelegt werden wird.228 Es ist Zeichen ihrer Virginität229, und nicht trotzdem, sondern eben deswegen auf die konkrete sexuelle Gebrauchsfunktion hin durchsichtig, die die Braut für Willehalm hat – durch den Markis [...] geschach der Kleiderwechsel (Si 278,23). Das ist nicht bildlich gemeint: do nu div kúniginne angeleite daz hemdelin nu gap lihte zobels varwe schin daz goeldel durch die siden.230 In diesem Sinne ist der Taufakt nicht nur die endgültige Überwindung von Arabels Sündenstand und Vollendung ihres Eingangs in den Leib der Kirche wie der fränkischen Reichsaristokratie, sowie endlich die Besiegelung neu erworbener Virginität, sondern eben damit zugleich auch der letzte Schritt der Zurichtung der Königin in jenen Status, welcher allein die Ehe mit dem später heiligen Willehalm ermöglicht. Insofern beschließt sie die Verkehrung der Arabel- zur Kyburg-Figur unter Aspekten geistlicher conversio wie gesellschaftlichen Ranges und leitet zugleich zur Hochzeit als sakramentalem Vollzug des Gattenwechsels über. Er dominiert den vierten Episodenkomplex im Schlußteil der Arabel: 'Aveniun II' (Si 286,8-312.10). Vollzug ist dabei Nachvollzug, Firmierung bestehender Bindung. Deswegen gibt das Brautkleid den Blick auf Kyburg frei, deswegen ist sie im Glanz strahlender Schönheit als ein vollendeter und von allem Makel befreiter Körper unmittelbar nach der Taufe und schon vor dem Trauungsakt sichtbar: alle andern in den Schatten stellend231, ein wunsch, veber sueze der minne232, ja engelsgleich,233 erscheint sie in einer descriptio, in deren Mitte sich der Erzähler als Kyburgs Diener in Szene setzt: sol mir daz niht sælde meren, ob ich die minne, die got minnet? [...] 228 Si 278,27ff. 301,16ff. Vgl.oben S.177f. 230 Si 280,14-17 (goeldel ist die weibliche Scham: Gr.Lex.I, Sp. 1045); vgl.auch 283,1f.; WW 249,12ff. Als Kyburg später Willehalm zugeführt wird, trägt sie erneut dieses Kleid, durch daz man vollecliche sach, swaz si liebes an daz bette brahte. (Si 301,18f.) Das Kleid ist nicht nur die Diaphanie sexuellen Versprechens, sondern auch auf dessen Erfüllung hin angelegt: über und über mit Perlen und Edelsteinen besetzt, hat es doch am Rücken schlichte Fadennähte ane steine, daz ez minne niht muote (Si 279,17). Schwer zu verstehen finde ich, daß die ehemals heidnische Königin, die man sich als dunkelhäutig dächte (obwohl sie bei Wolfram hellhäutig ist: WW 99,22), offensichtlich blond ist (das zu 'goldfarben' gehörende Deminutivum goeldel, sowie *R 65,11. Si 283,16. 292,20), doch eben dies als zobels varwe beschrieben wird: Gr.Lex.I, Sp.1910, übersetzt 'wie ein zobel glänzend', doch ist Zobel swarz alsam ein kol! (Konrads Trojanerkrieg 3002; weitere Belege bei Gr.Lex.III, Sp. 1144, und Schultz [1889], Bd.II S.90f.). Es läge allerdings in der Konsequenz meiner Interpretation, diesen Hell-Dunkel-Kontrast als Bild des aggregativen Aufbaus der Arabel-Figur zu erklären. 231 Vgl.Si 279,27. 284,25ff. 232 Si 279,23; vgl.Si 283,7.14. 233 Vgl.Si 279,11.22. 229 196 ir eren rúfer ich bin, da mit wil ich <ir> gruoz beiagen. (Si 284,6f.20f.) Die Verse enthalten auch so etwas wie eine auktoriale Festlegung der Textfunktion und bestätigen darin die vorliegende Interpretation wenigstens im Grundzug ihrer auf Arabel-Kyburg bezogenen Partien. Es geht in Ulrichs Roman tatsächlich ganz wesentlich um der Königin Ehre in einem sehr umfassenden Sinn, es geht um die Wahrung ihres aristokratischen Ranges, den Gewinn der Gottes-minne und die Wiederherstellung ihres Brautstandes. Mit der Taufe, so zeigen es die Formen narrativer Vermittlung, ist all dies geleistet, daher die anschließende Erzählung von Hochzeit und Beilager den Charakter handlungslogischer Vervollständigung des Erzählten im Hinblick auf dessen Fortsetzung bei Wolfram gewinnt. Jene aristokratische Verschwendung, in welcher Kyburg und Willehalm nach der Brautnacht ihre Habe, erworbener und bewahrter gesellschaftlicher Bedeutung gemäß, verausgaben, steht genau in dieser Perspektive. Sie verpflichtet die Vasallen für den Fall eines heidnischen Angriffs. Insofern ist auch diese Freigebigkeit noch ein Moment des Glaubenskrieges: vnser satz sol gein den heiden sin (Si 307,9). Zugleich freilich bezeichnet die Verausgabung kostbarster Preziosen, wertvollster Stoffe und teuerster Pferde234 auch die Schenkenden. Sie ostendiert ihren aristokratischen Rang und erinnert dieserart an vergangene Phasen der erzählten Geschichte, in denen immer wieder die Frage der Ebenburt von Willehalm und Kyburg aufgetaucht war. Sie ist nun beantwortet in jenen Akten reziproker Wertsteigerung von Markgraf und Königin, welche im sexuellen Vollzug der Ehe kulminieren, da von gehert wart ir nam; der Markis wart auch hoh geert (Si 306,22f.). In seinen vier großen Episodengruppen verfolgte ich den dritten Hauptteil von Ulrichs von dem Türlin Arabel-Roman. Er erzählt von umfassender und äußerst verdichteter Festlichkeit, darin, wie vielfältig zu sehen war, von Wolframs Willehalm her vorgegebene Probleme und Konflikte früherer Erzählphasen aufgehoben sind. Es geht um die gesellschaftliche und sakramentale Sanktionierung der Transformation der Arabel- zur Kyburg-Figur sowie der Rückkehr der Willehalm-Figur in die Rolle des herausragendsten Heidenkriegers. Das Fest gelingt als Form der Totalintegration alles dessen, worauf es in der epischen Welt der Willehalm-Erzählungen ankommt, und wenn sie dies zeigen konnte, dann wohl erreichte auch die Interpretation ihr Ziel. Es bestand darin, die Zusammenhänge nicht nur der Aristie Willehalms mit der Geschichte von Arabel und Kyburg, sondern auch die Nexus der drei Hauptteile von Ulrichs Roman darzutun. In diesen wie in jenen Verknüpfungen zeigt sich der Text in neuem Sinn als Vorgeschichte zum Willehalm. Nicht werden hier im Modus redundanter Amplifikation jene Ereigniskomplexe, jene Handlungs'informationen' narrativ breitgetreten und plattgewalzt, die doch Wolframs Erzählen längst in konziser Retrospektive enthielte. Die Vorgeschichte macht vielmehr Widersprüche, Formen der Inkohärenz in den Kons234 Vgl.Si 306,8ff. 309,10f. 197 tellationen des Willehalm bewußt, indem sie sie episch auflöst. Es ist in ihr weniger die Frage beantwortet, wie jener Brautraub vor sich ging, welcher der Logik der Rache gemäß Terramers Angriff auf den Markgrafen begründen wird, als vielmehr das Skandalon erinnert und beseitigt, daß Wolfram einen stigmatisierten Ritter zum Helden seines Heidenkriegsromans erhob. Kaum auch geht es in der Arabel darum, wie zwischen Kyburg und Willehalm minne entstand und die Ehe geschlossen wurde. Erzählt wird, wie diese Ehe trotz des sozialen Rangs und des sexuellen Makels von Arabel überhaupt möglich sei. Insofern könnte man sagen, daß Ulrichs Roman denjenigen Wolframs nicht in eine Vorgeschichte hinein verlängere, sondern ihn von dieser her fundiere. Der literaturgeschichtlich jüngere Text, der epigonale, konstituiert allererst die Voraussetzungen, unter denen das Erzählen des älteren, des klassischen, im Rahmen der Gegebenheiten der Adelskultur des 13.Jahrhunderts überhaupt kohärent und erklärbar war. Die einbrechende Katastrophe, die auf lange hin im Mittelpunkt von Wolframs Roman steht, setzt historisch jene umfassende gesellschaftliche vræude voraus, welche den Schlußteil von Ulrichs Text zentriert und auf welche hin alles vorangegangene Erzählen in ihm ausgerichtet ist. Das Ableitungsverhältnis zwischen den beiden Romanen kehrte sich damit um. Nicht nur im oberflächlich handlungstechnischen Sinne, sondern auch hinsichtlich der fundamentalen Konstitutionsbedingungen der epischen Welt – ihrer Figurenkonzepte und -konstellationen, ihrer ideologischen und bewußtseinsgeschichtlichen Implikationen sowie ihrer Erzählbarkeit – wäre der Willehalm in zyklischem Kontext so zu verstehen, wie er überliefert ist: als Fortsetzung der Arabel. 198 VI. ZWEITE STUDIE: HEIDENKRIEG, WELTEROBERUNG UND WELTENTSAGUNG IN DER "WILLEHALM"-FORTSETZUNG ULRICHS VON TÜRHEIM 1. 'Formatfragen'. Eine Hermeneutik des Textumfangs: Der Schluß von Wolframs Willehalm ist seit den Tagen Karl Lachmanns in seinem Status immer wieder kontrovers diskutiert worden. Weitgehend unstrittig wird allerdings inzwischen sein, daß der Text – so oder so: ursprünglicher Konzeption nach ('Notdach'-Hypothese) oder in überlieferter Gestalt – ein Fragment ist.1 Diesen Konsens der Forschung deckt jener Prolog, welcher die Fortsetzung als nahtlose Textverlängerung von der Abbruchstelle WW 467,8 an ausgibt: ich von Tuerheim Uolrich mit vorhten mich dar binde daz ich mich underwinde dar er gestecket hat sin zil. dar umme ich doch nit lazen wil, es enwerde volle tihtet. er hat uns dar berihtet (daz ist gnugen wol bekant) 'sus rumte er Provenzalen lant'. (160-168) Nicht selten indes, und im Kontext einer Ästhetik des auktorial verantworteten, geschlossenen Kunstwerkes auch nicht ohne Konsequenz, war die Feststellung des Fragmentstatus von Wolframs Alterswerk nur ein Schritt auf dem Weg zu der eigentlich gemeinten Frage, wie es denn hätte weitergehen sollen.2 Eine Antwort darauf scheint mir aus texttheoretischen und hermeneutischen Gründen grundsätzlich nicht möglich zu sein.3 Über Textteile, die es nicht gibt, lassen sich zwar Geschichten erzählen – Umberto Ecos Akademikerkrimi um den zweiten Teil von Aristoteles' 'Poetik'4 ist das mittlerweile berühmteste Beispiel einer solchen Geschichte. Wissenschaftliche Aussagen über solche Textteile aber sind nur in sachlich eingeschränktester oder methodisch schlecht kontrollierbarer, spekulativer Art möglich. Läßt sich also nicht wirklich sagen, wie der Willehalm fortgesetzt werden sollte, so doch, wie er fortgesetzt worden ist. Dieserart würde der Frageansatz so umakzentuiert, daß er gegen die vermeintliche Eigentlichkeit nur vermuteter Fortsetzungsmöglichkeiten das 1 2 3 4 Vgl.insbesondere Bumke (1959), S.34ff.; Lofmark (1972), S.210ff., 237ff.; Pörksen / Schirok (1976), S.46ff.; Schmidt (1979), S.574ff.; Bumke (1981), S.118ff.; Knapp (1983). Vgl.etwa Lofmark (1972), S.227ff.; Pörksen/Schirok (1976), S.64ff. Vgl.jetzt auch Kiening (1991), S.235f. Vgl.Reinhold F.Glei, "Aristoteles im Mönchskloster. Bemerkungen zum zweiten Buch der 'Poetik'," in: Poetica 22 (1990), S.282-302. 199 stets als uneigentlich diskreditierte tatsächlich überlieferte Weitererzählen ins Recht zu setzen erlaubte. Die Problemkonstellation wiederholt sich auf höherer Ebene. Der Fragmentstatus des Willehalm ist in der Forschung schließlich nicht nur als Unabgeschlossenheit der epischen Handlung selbst thematisch, sondern er hat in ihr als prinzipielle Fragmentarizität des Werkes zur Signatur für dessen historischen Ort werden können. Karl Bertau hat diesen Ort mit den Koordinaten "Aporie christlicher Ritterkunst" auf eine Weise zu bestimmen versucht5, welche die Frage nach sich zieht, "wie nach dem 'Willehalm' höfische Epik noch weitergehen konnte."6 Es ist dies – freilich in ganz anderem als dem gemeinten Sinn – auch die Frage der Epiker des 13.Jahrhunderts. Und daß sie es werden konnte, besagt doch zum Mindesten soviel: nach Wolframs Alterswerk konnte höfische Epik so weitergehen, wie sie sich im späthöfischen Roman durchaus facettenreich entfaltete, sie konnte auch so weitergehen, wie sie es, gewissermaßen an gattungsgeschichtlich exponiertester Stelle, mit dem Rennewart tat. Das heißt: welche geschichtliche Signifikanz auch immer Wolframs Torso für uns (!) besitzen mag, das System der höfischen Epik hat er offensichtlich nicht in einer Weise gesprengt, die dessen Fortentwicklung unmöglich gemacht hätte. Höfische Epik endet historisch nicht und auch nicht gattungssystematisch mit dem Fragmentschluß des Willehalm. Diese Argumentation bleibt nicht völlig frei von Spuren brachialer Gewaltsamkeit. Und klar ist auch: die angedeuteten Problembastionen im hermeneutischen Handstreich zu kassieren, das kann sich nicht damit rechtfertigen, daß jetzt vielleicht der Probleme weniger wären – was wäre damit auch gewonnen? Einer trivialen Methodologie der platten Problemlosigkeit halte ich nicht das Plädoyer. Eine Rechtfertigung ergibt sich vielmehr allein dann, wenn in der hier vorgeschlagenen Perspektive Neues entdeckt und Altes neu gesehen werden könnte, wenn nicht nur Ulrichs von Türheim gigantische Willehalm-Fortsetzung besser als bislang interpretierbar würde, sondern von hier aus schließlich auch, dem Programm dieser Studien gemäß, die Fragmentarizität von Wolframs Torso in vielleicht überraschenden Aspekten sich präsentierte. Der Anfang freilich ist an einem Punkt zu machen, den jedermann kennt: Mit Ulrichs Rennewart folgt auf das klüftige, hochragende Problemgebirge des Willehalm die plane Steppe eines bis zur Unüberschaubarkeit sich dehnenden, weitschweifig wiederholungsreichen Erzählens. "Die ihm zugänglich gemachten Quellen breit ausschreibend,"7 so weiß man, bietet der Fortsetzungsroman "weit mehr, als zur Abrundung des Willehalm nötig war [...]."8 Da schwingt unüberhörbar die Indignation darüber mit, daß er solches wagen konnte. Allenfalls nötigt die "ungeheure Stoffmasse", 5 6 7 8 Bertau (1972/73), S.1131 et pass. Bertau (1983), S.107. Vgl.etwa auch Haug (1985), S.189f.; Heinzle (1990), S.72. Kritisch zur These von der prinzipiellen Fragmentarizität des Werkes Lofmark (1972), S.210ff.; zum Formprinzip epischer Unabgeschlossenheit aus der Perspektive gelehrter poetologischer Reflexion im Mittelalter McGerr (1989), v.a.S.149f., 169f. Heinzle (1984), S.152. de Boor (1974), S.189. 200 wo es an Qualität zu fehlen scheint, zum Lob dichterischen Fleißes.9 Es könnte sein, daß das taedium, welches sich hier artikuliert, von Ulrichs Werk in jeder modernen Lektüre neu erzeugt wird. Gleichwohl reicht seine Tradition bis in die Anfänge der Altgermanistik zurück. 1807 konzedierte Wilhelm Grimm, "es fehl[e] nicht an Schönheiten", doch sei der Text insgesamt "zu weitläufig gehalten und nirgends begrenzt." Zwei Jahre darauf sprach sein Bruder Jacob das definitive Verdikt und nannte den Rennwart "ein unbeschreiblich langweiliges Gedicht."10 So weit die Fachgeschichte also zurückreicht ist dieser Text unter dem Aspekt seines äußeren Umfanges wahrgenommen worden und sehr früh, man sieht es an Jacob Grimms Pathos der Unbeschreiblichkeit, hat sich darin, zunächst als noch ganz unbegriffener Reflex, zugleich ein Problem des Verstehens abgezeichnet. Doch wurde solches in der diskontinuierlichen Geschichte wissenschaftlicher Aneignung der Willehalm-Fortsetzung nie thematisch. Stets und fraglos war der Text durch seinen Umfang diskreditiert. Nun läßt sich schwerlich bestreiten, daß, wer am Rennewart etwas verstehen will, die Mühen der Ebene auf sich zu nehmen hat. Jedoch dürfte kein historischer Zugang zu Ulrichs Text einen Bogen an der sperrigen Tatsache vorbei schlagen, daß solche Mühen für dessen mittelalterliche Rezipienten offenbar sehr viel leichter waren als für unsereinen. Spuren einer Distanzierungsgebärde gegenüber der älteren WillehalmFortsetzung und ihren Versmassen haben sich etwa in der Arabel – die ja möglicherweise mit Blick auf ein Romandiptychon von längst mehr als 50.000 Reimpaarversen konzipiert wurde – sowenig finden lassen, wie Indizien auch nur einer von Textquantitäten ausgehenden Problemschürzung, welche sich mit der uns naheliegenden vergleichen ließe. Ebensowenig sind seiner Überlieferung mittelalterliche Vorbehalte gegen den Umfang von Türheims Erzählen abzulesen. Im Gegenteil. Zwar ist der Text in einigen Handschriften in gekürzter Fassung tradiert, worin sich eine historische Bestätigung für moderne Einschätzungen der vermeintlichen Ungenießbarkeit des Riesenwerkes vermuten ließe.11 Es sind jedoch erstens solche Kurzredaktionen im 13.bis 15.Jahrhundert eine zu häufige Erscheinung, als daß daraus direkt auf den Einzelfall spezifisch betreffende mittelalterliche Rezeptionsmuster zu schließen wäre.12 Zum andern hat gerade der Rennewart auch in einer den wohl 'ursprünglichen' Textbestand stark erweiternden Version existiert.13 Drittens sodann ist er bedeutend 9 Ehrismann (1935), S.67. Zitiert nach TR (Hübner), S.VII, VIII; zur Protogeschichte der mediävistischen RennewartRezeption auch Juergens (1990), S. 99f. 11 Lohmeyers (1882) Kollationen - eine neue Überprüfung der gesamten Überlieferung steht aus veranlassen die Erwartung, der Text werde in den in Hübners Ausgabe nicht berücksichtigten Handschriften 1<Wo> 2<W> (und auch 4<E>? Siglen wie Anm.15) um über ein Fünftel gekürzt. 12 Solche Kurzfassungen sind als rekurrente Erscheinungen in der Geschichte des höfischen Romans fast völlig unbekannt. Über die in dieser Arbeit erwähnten Versionen des Gotfritschen und des Türheimschen Tristan sowie der Arabel hinaus hat bisher als einziger Schnell (1984), S.220ff., einige, doch bei weitem nicht alle Fälle zusammengestellt. Untersuchungen bereiten Nikolaus Henkel und ich selbst vor. 13 Dies bezeugt das Fragment Zb (Sigle wie Anm.15); vgl.Rosenfeld (1951), S.445ff. 10 201 häufiger als zum Beispiel die Arabel kopiert worden.14 Mit bis jetzt insgesamt 40 vollständig oder fragmentarisch nachweisbaren Textzeugen15 – Codices der Heinrich 14 15 Schon diese Disparität könnte gegenüber dem Standardargument Skepsis erwecken, die reiche Bezeugung beider Texte verdanke sich allein ihrer Verbindung mit Wolframs Torso; vgl. X.3. Die Rennewart-Überlieferung ist gegenüber der von Willehalm und Arabel bislang in der Forschung zu kurz gekommen. Nötig wäre "im Grunde ein eigenes neues Handschriftenverzeichnis" (Bushey [1989], S.369). Einstweilen mag die folgende stichpunktartig knappe Handliste der Textzeugen einen Überblick erleichtern (Siglen nach Hübner, bzw. in <> nach Schröders Willehalm-Ausgabe): 1. A: Manderscheidsche Bruchstücke Ms.germ.2° 923,30; Koblenz, Landeshauptarchiv Best.701, Nr.759,14. Weitere Blätter an unbekanntem Aufbewahrungsort und in Privatbesitz. 2. B <B>: Ms.germ.2° 1063. - Zwanziger Jahre des 14.Jhs. 3. C: Kreuznach, antiquar.-hist. Verein f. Nahe u. Hunsrück o.Sign.; Ms.germ.2° 757,8. - Niederrheinisch, noch 13.Jh. 4. D <16>: Ms.germ.2° 746; Cgm 193/V; Bamberg, Staatsarchiv A 246, Nr.8; SBPK Hdschr.269; Pommersfelden, Gräfl. Schönbornsche Schloßbibl. o.Sign.; Bamberg, Stadtarchiv Sammelmappe H.V.Rep.III (Akten) Nr.1179. - Schwäbisch, um 1300. 5. E/Zd <45>: Ortenburger Codex discissus Cgm 193/VI; Straßburg, BNU Ms.2,718; Ms.germ.4° 1730; Kempten, Ev. Kirchengemeinde St.Mang o.Sign. - Bairisch, 1.Hälfte 14.Jh. 6. F: Neunkirch (Kanton Schaffhausen), Städt. Archiv o.Sign. - Alemannisch, 13.Jh. 7. G: Regensburg, Bibl. d. hist. Vereins Ms.misc.62, Fragm.germ.1 und 2. - Bairisch, Ende 13.Jh. 8. H <H>: Cpg 404. - Ostfränkisch-bairisch, Anfang 14.Jh. 9. I: Ms.germ.2° 923,28; Soest, Stadtarchiv u. wiss. Stadtbibl. II.A.4,1. - Oberdeutsch/mitteldeutsch, 1.Hälfte 14.Jh. 10. J <42/53>: Cgm 5249,7e.f.g. - Bairisch, 14.Jh. 11. K <Ka>: Kassel, GHS-Bibl., LB u. Murhardsche Bibl. 2°Ms.poet.et roman.1. - Thüringisch, 1334. 12. L: Dresden, Sächs.LB Mscr.Dresden. M.66b. - Schwäbisch, 14.Jh. 13. M: Cgm 231. - Schwäbisch, Ende 15.Jh. 14. N: Nürnberg, GNM Hs.7216. - Schwäbisch, Ende 13.Jh. 15. O: Cgm 42. - Bairisch, 14.Jh. 16. P <V>: Cod.vindob.2670. - 1320. 17. Pr: Prag, Katedra Pomocnych ved Hist. a Archivniko Studia o.Sign. 18. Q <48>: Kassel, GHS-Bibl., LB u. Murhardsche Bibl. 8° Ms.poet.et roman.12. - Bairisch, Ende 13. oder Anfang 14.Jh. 19. R: unbekannter Aufbewahrungsort. - Schwäbisch, 14.Jh. 20. S: Graz, Steiermärk. Landesarchiv FG 4. - Fränkisch, Anfang 14.Jh. 21. T: verbrannt (ehemals Dresden, Gymnasialbibl. z. Hl.Kreuz). - Mitteldeutsch, 1.Hälfte des 14.Jhs. 22. U: unbekannter Aufbewahrungsort. - Mitteldeutsch, 14.Jh. 23. V/Zw: Nürnberg, GNM Hs.42574; Cgm 5249, 7b.c.d.h.; Heidelberg, Sammlung Eis Nr.50; Wien, ÖNB Ser.nova 3872; ebd. Ser.nova 3874; Graz, UB Cod.1703/134; weitere Blätter in Klosterneuburg und Wien unauffindbar. - Alemannisch, 14.Jh. 24. X <47>: Basel, UB Fragment I,127a. - Alemannisch, Ende 14.Jh. 25. Y: Basel, UB Fragment I,97; Ms.germ.2° 923,29. - 14.Jh. 26. Z <73>: Cod.vindob.3035. - Schwäbisch, um 1480. 27. Za: Ms.germ.2° 757, 9.10.18.19. - Mittelfränkisch, bald nach 1300. 28. Zb: Ms.germ.4° 1729. - Mitteldeutsch, 1321. 29. Zc: Ms.germ.4° 1251,1.2. - Oberdeutsch, 14.Jh. 202 von München-Kompilation16 und der Prosaauflösung17 ungerechnet – gehört der Rennewart neben Wirnts Gwigalois (41 Handschriften), Strickers Karl (45 Handschriften), Rudolfs Willehalm von Orlens (42 Handschriften) und Albrechts Titurel (56 Handschriften und ein Druck) zu jener ganz kleinen Spitzengruppe höfischer Romane des 13.Jahrhunderts, deren Überlieferungshäufigkeit allein von Wolframs Parzival und Willehalm überboten wird18; merklich schwächer ist die handschriftliche Bezeugung der in dieser quantifizierenden Reihe nächstfolgenden Werke, nämlich Iwein (32 Handschriften), Gotfrits Tristan (27 Handschriften), und Arabel (26 Handschriften). Freilich gibt eine solche Zahlenkolonne (zumal in der hier gewählten chronologisch indifferenten Form) nur sehr pauschal "Auskunft über die Verbreitung und die Resonanz, die ein Epos gefunden hat."19 Für die hermeneutisch herausfordernden Aspekte literarischer Überlieferung besagt sie so gut wie nichts. Doch soll sie das auch gar nicht. Ihr Zweck war es allein, eine Veränderung der Aufmerksamkeitsbewegung anzustoßen und zum wiederholten Mal jene hermeneutische Plattitüde zu vergegenwärtigen (welche in der germanistischen Mediävistik manchmal noch immer wie eine Revolutionsparole klingt – und verhallt), daß die eigenen Wertschätzungen den historisch dokumentierbaren zuweilen eben nicht kongruent sind. Nicht mehr als ein Signal ist die überlieferungsgeschichtliche Grobstatistik, mahnend zur Behutsamkeit selbst beim interpretatorischen Umgang mit einem Text wie Ulrichs Rennewart. Die von diesem bei modernen Lesern ausgelösten Reflexe vereinbaren sich jedoch nur schlecht mit dem wissenschaftlichen Habitus solcher Dezenz – ein Widerspruch, darin ein pragmatisches Problem nur scheinbar oberflächlichen Sinns zum Vorschein kommt. Sogleich in verallgemeinerter Form gesagt ist es dies: die Bedingungen der vom Beschleunigungsprozeß der nachindustriellen Gesellschaft mitgerissenen und darin der Disjunktion von Out-put-Maximierung und Erkenntnisfortschritt ausgelieferten Forschungsgetriebes sind der einläßlich bedachtsamen Interpretation 'überdi30. Ze: Ms.germ.4° 1251,3. - Oberdeutsch. 31. Zf: Düsseldorf, UB F 85. - Westmitteldeutsch, 14.Jh. 32. Zk <C>: Köln, Hist. Archiv W 355. - Niederrheinisch, 1.Hälfte des 15.Jhs. 33. Zn: Nürnberg, GNM Hs.6328a. - Schwäbisch-bairisch, 14.Jh. 34. 1 <Wo>: Wolfenbüttel, HAB Cod.Guelf.30.12. Aug.fol. - Bairisch, 14.Jh. 35. 2 <W>: Wien, ÖNB Ser.nova 2643. - 1387. 36. 4 <E>: Cod.Bodmer 170. - 15.Jh. 37. Ohne Sigle: Heidelberg, Symmlung Eis Nr.4. 38. Ohne Sigle: Würzburg, UB M.p.misc.f.34. 39. Ohne Sigle: Kopenhagen, Kgl.Bibl. Ms.phot.251 4°. 40. Ohne Sigle: Salzburg, St.Peter a XII 25, Fragm.41. Die Liste beruht auf den Angaben von Lohmeyer (1882); TA (Hübner), S.XIff.; Rosenfeld (1951); Beckers (1978); WW (Schröder); Bushey (1989), S.369ff. 16 W: Wolfenbüttel, HAB Cod.Guelf.1.5.2. Aug.fol. - 3: Ms.germ. 2° 1416 (Arolser Weltchronik). Vgl.Schröder (1981a), S.XVIff. 17 Zürich, Zentralbibl. Ms.Car.C.28. - Schaffhausen, Stadtbibl. Gen.16. Vgl.Bushey (1982), S.269ff. 18 Zur Übersicht vgl.Becker (1977), S.221ff.; Bumke (1987), S.50; Bumke (1990), S.215f. 19 Bumke (1987), S.50. 203 mensionaler' Erzählwelten aus Mittelalter und Früher Neuzeit wenig günstig. An den Forschungsgeschichten von Prosa-Lancelot oder Konrads Trojanerkrieg, Jüngerem Titurel, Karlmeinet-Kompilation, Nüwem Parzifal, Fuetrers Buch der Abenteuer, Anton Ulrichs Römischer Octavia oder eben dem Rennewart wäre das zu belegen. Die Zeiträume, welche hier ein kontinuierliches Erzählen wie selbstverständlich beansprucht, übergreifen jene Fristen bei weitem, welche im Wissenschaftssystem seiner Erforschung in der Regel zugemessen sind. Die Interpretierbarkeit und also die Verstehbarkeit solcher Texte ist auch eine Funktion von Zeit, über welche selbst Habilitationsstipendiaten nur noch ausnahmsweise, die Leser ihrer wiederum zu umfangreich geratenden Bücher vielleicht gar nicht mehr verfügen. In diesem Sinne ist der Umfang des Rennewart nicht nur ein obenhin arbeitsökonomisches, sondern ein tatsächlich hermeneutisches Problem. Dieses läßt sich nicht allein unter dem Aspekt der Zeit, sondern auch (damit zusammenhängend) unter jenem der Rezeptionsformen bewußt machen. Wissenschaftliche Lektüre wird nämlich mit wachsendem Textvolumen in erhöhtem Maße auf Gedächtnisstützen ruhen, wird Inhaltsübersichten und Stichwortlisten, Skizzen und Schemata, Zettelkästen und Spezialdateien für solche Texte sich anlegen und benützen. Sie ist dieserart im Sog sich steigernder Verschriftlichung, im Sog auch der Kohärenzstandards und Kontrollmöglichkeiten, welche sich damit wandeln. Die Interpretation ist also in einem Sog, der jene unüberbrückbare Differenz zwar nicht erzeugt (denn ungeachtet ihrer weitgehenden wissenschaftlichen Ausblendung gehört sie zu den hermeneutischen Prinzipienfragen der Altgermanistik), doch ihre Reflexion unausweichlich macht: die Differenz zwischen den vertrauten Lektüreformen wissenschaftlicher Arbeit unter dem Druck knapper Zeit hier und jenen fremden Rezeptionsmodi vorindustrieller aristokratischer Muße und Repräsentation dort, auf welche die narrativen Strategien der Texte einmal ausgerichtet waren. Solche Reflexion kommt nicht zu einem Ergebnis, mit welchem sie sich selbst aufhöbe. Der Hiatus zwischen historisch unterschiedenen Weisen der Textrezeption ist nicht stabil und er kann nicht definitiv vermessen werden. Die hermeneutische Reflexion auf die Alterität der eigenen Wahrnehmungsformen ist darum prozessual unabschließbar. Sie könnte sich zunächst verschiedene Aspekte des Problems 'Textumfang' zu erschließen versuchen, indem sie erst nach den Dimensionen des Artefakts, sodann nach jenen des ästhetischen Objekts fragt. Diejenigen des Artefakts sind für volkssprachliche Erzähltexte ungewöhnlich – in P <V> zum Beispiel 207 von sehr erfahrener Hand beidseitig zweispaltig beschriebene Folioblätter qualitätvollen Pergaments mit 56 durchwegs goldgründigen Illuminationen – und sie weisen auf gesellschaftliche Beziehungen, in denen vom Pergament bis zu den Pigmenten für den Illuminator, vom Lohn oder Unterhalt für den Schreiber (oder seinen Herrn, sein Kloster) bis zur Tinte ganz besondere Aufwendungen für eine Kopie von Ulrichs Rennewart möglich waren. Die Materialität der Artefakte verkörpert einen von Handschrift zu Handschrift je spezifischen Tauschwert, an welchem auch ihr jeweiliger Repräsen- 204 tationswert für den Besitzer hängt.20 Sicher ist dies ein Aspekt des Umfangsproblems, der bei Erklärung der dichten handschriftlichen Tradierung des riesigen Textes mit zu erwägen ist. Die aristokratische Verausgabung ökonomischer Ressourcen zielt auf Statusostentation so sehr wie auf Subsistenz und sie benützt dafür als ihr Medium auch schon den Körper des Codex. Zudem handelt es sich um einen solchen Aspekt, der auch in krudesten Epigonenkonzepten noch als Argument funktionieren könnte. Oder gerade dort. Denn die Repräsentationsfunktion des Artefakts – die übrigens mit dem kodikologischen Anspruchsniveau von Schrift, Bebilderung und Einband nicht zur Deckung zu bringen ist – taugt scheinbar zur Erklärung des überlieferungsgeschichtlichen Befundes für den Rennewart, ohne daß dabei über die Repräsentativität seines materiellen Artefakts hinaus eine Sinnvermutung für den Text im Spiel wäre. So kommt es jeder normativen Wertungsästhetik entgegen, für welche Epigonalität und (zumindest emphatischer) Sinn ohnedies schlecht zusammengehen; der Epigonenvorwurf ist ja geradezu das Geständnis, mit einem Text im Ernst nichts anfangen zu können. 20 Solchen Beziehungen ist anhand der Monumentalmalerei der italienischen Renaissance beispielgebend Baxandall (1984) nachgegangen. Vergleichbares gibt es in der Buch- und BuchmalereiForschung nicht - Heinz Roosen-Runge, um ein repräsentatives Beispiel zu nennen ("Buchmalerei," in: Hermann Kühn [u.a.], Farbmittel, Buchmalerei, Tafel- und Leinwandmalerei. [Reclams Handbuch der künstlerischen Techniken 1] Stuttgart 1984, S.55-123), geht auf Tausch- und Repräsentationswerte mittelalterlicher Buchmalerei mit keinem Wort ein; die einzige Ausnahme, die ich zu nennen wüßte, ist ein kurzer, noch sehr im Deskriptiven steckender Artikel von Stamm (1985). Die Fragen werden von der Forschung üblicherweise im Begriff 'Anspruchsniveau' gebündelt, aber auch versteckt; dies schon insofern, als darunter Materialwerte und Qualitäten der Maltechnik wie des Ästhetischen unterschiedslos versammelt sind (Baxandall [1984], S.25ff., hat aber eindrucksvoll gezeigt, wie grundsätzlich und schnell sich die Hierarchien solcher Wertaspekte des Bildwerks gegeneinander verschieben können). Und noch immer "bleibt zu definieren, was in der mittelalterlichen Buchmalerei, speziell bei der Überlieferung deutschsprachiger Texte, 'Anspruch' heißt. Der Kunsthistoriker [...] ist bei der Betrachtung deutscher illustrierter Handschriften schnell bei der Hand mit seinem Urteil von der geringen Qualität der Illustration dieser Texte. In den Bereich künstlerisch maßgeblicher Buchmalerei stoßen die deutschen Tex-te während des ganzen Mittelalters relativ selten vor [...]." Die Beispiele, vor allem aus dem Bereich der Karls- und Wille-halm-Epik sowie der Weltchronistik, "manifestieren ihren An-spruch durch prächtige und qualitätvolle Ausstattung, jeweils in der Würde des Stoffes begründet [...]. Dementsprechend machten sich die Auftraggeber diese Stoffe für ihre (machtpolitischen bzw.Heils-) Ansprüche zunutze und gewährten den Texten repräsentative Überhöhung mit so materiellen Werten wie Deckfarbenmalerei, Goldverwendung, ausgemalten Hintergründen, sauber ausgeführten Bildrahmen, kostbarem Initial- und Seitenranddekor [...]." (Norbert H.Ott, "Text und Illustration im Mittelalter. Eine Einleitung," in: Frühmorgen-Voss [1975], S. IXXXXI, hier S.XXVI) Konkrete Aussagen, so muß man freilich zugeben, sind von der Quellenlage her bislang fast ganz ausgeschlossen - die Repräsentativität der 200 Gulden, welche sich Ulrich von Rappoltstein seinen Nüwen Parzifal vielleicht kosten ließ (Wisse/Colin, Parzifal 854,39; vgl.Becker [1977], S.89; Cramer [1983], S.209f.; Scholz [1987], S.104f.), ist schwer einzuschätzen, und Glücksfälle wie der von Stamm (1985) beschriebene sind rar und spät. Immerhin wird der zeitgenössische Wert etwa des Kasseler Willehalm auch durch die Tatsache signalisiert, daß, nächst Gold und Silber, blaue Farbpigmente mit Abstand die teuersten waren; vgl.Baxandall (1984), S.20ff. Kosten als Dimensionen der Handschriftensoziologie sind wenigstens grundsätzlich im Blick in der Zusammenfassung von Becker (1977), S.180ff. 205 Doch es trügt diese Chance auf Erklärung breiter handschriftlicher Bezeugung eines heute wenig geschätzten Textes abseits ernstzunehmender Sinnvermutungen. Denn der Repräsentationswert des Artefakts bedarf zwar nicht der aktuellen Stützung durch den Rang eines ihm entsprechenden ästhetischen Objekts, aber er funktioniert nur, wenn er potenziell jederzeit vom Text oder seinem Gegenstand beglaubigt werden könnte. Die Geltung des Textes oder seines Gegenstandes sind gewissermaßen die Deckungssumme, welche die Zirkulation des Repräsentationswertes des auratischen Artefakts garantiert. Spätestens an dieser Stelle kehrt die Sinnvermutung ins Spiel zurück. Sie tut es auch deswegen, weil Literaturwissenschaft sich selbst eliminierte, wenigstens zum blind sammelnden Kustos einer niemanden mehr interessierenden imaginären Bibliothek sich degradierte, wenn sie (etwa nach Art landläufiger Epigonenkonzepte) davon absähe, ihren Texten Sinn zuzumuten. Der Frage nach dem Umfang des Artefakts und seiner Bedeutung fügt sich darum jene nach den quantitativen Dimensionen des ästhetischen Objekts an. Sie wird in Ulrichs von Türheim Rennewart selbst nicht thematisiert. Doch bestätigt sich die Vermutung, stets seien auch die äußeren Umfänge des Erzählens belangvoll gewesen, und eben darum sei es ein bemerkenswerter Sachverhalt, daß die Ausmaße des Textes im Mittelalter offenkundig keine Kritiker fanden. Sie bestätigt sich an Spuren im Text, die sich ihrem Typ nach auch in anderen Erzählwerken vergleichbarer Ausdehnung finden.21 Es sind Spuren produktiver Anstrengung (oder der Koketterie damit), aus welcher das Erzählen hervorgeht und welche ihm deswegen eingeschrieben bleibt. wizzet fuer war, läßt der Erzähler also seine Hörer wissen, ez tuot we, swer groze mære tihtet (33156f.). Darum ist digressives Erzählen selbst noch unmittelbar vor dem Abschluß des Textes ein unfuc (36332), während andrerseits in vorangegangenen Erzählphasen gerade die quantitativen Dimensionen des narrativen Prozesses wie ein Sachzwang eine eigene Extensionslogik erzeugen konnten. Die erschöpfende Aufzählung gegnerischer Truppenteile und Heerführer, so heißt es einmal, wird dem Erzähler an den Rand narrativer Erschöpfung führen und eigentlich könnte sie gut entbehrt werden: daz ihz lieze ungeseit, daz wær also guot getan, wan daz ihz so verre han getihtet: ob ihz nu lieze, ich wæne, daz shande hieze. (21674-21678) Der Text gerät immer länger, weil er bereits so umfangreich ist. Doch ist damit freilich nur die produktionsästhetische Seite (und sie nur in einer Facette) erfaßt. Hätten auch ausladende Erzählprozesse unter solch quantitativen Aspekten ihre eigene Logik, so wäre doch damit über Bedeutung und Funktion des Erzählumfangs erst wenig gesagt. Reflexionen auf den Sinn dessen, was sich als nur quantitatives Phänomen jeder Sinnvermutung zu verweigern scheint, solche Reflexionen, die eine Hermeneutik des 21 Vgl.etwa Jüngerer Titurel (Wolf) 61f.; zum Buch der Abenteuer Strohschneider (1986), S.366. 206 Textumfangs inaugurieren könnten, sind in der höfischen Literatur so rar wie in der Geschichte der Literaturwissenschaft.22 Greifen lassen sie sich einmal in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg. Auch hier, so wird schon im Prolog angedeutet, folgt das Erzählen einer Logik der Extension. Das autoptische Zeugnis der Dares Phrygius wurde ze welsche und in latîne brâht. dâ wider han ich des gedâht, daz ich ez welle breiten und mit getihte leiten von welsche und von latîne[.]23 Dahinter verbirgt sich ein absolut wie gegenüber den literarischen Konkurrenten ungewöhnlich hochgespannter Anspruch an die eigene ästhetische Leistung: z'eim endelôsen pflûme, dar inne ein berc versünke wol, gelîchen man diz mære sol, des ich mit rede beginne. [...] ich wil ein mære tihten, daz allen mæren ist ein her. als in daz wilde tobende mer vil manic wazzer diuzet, sus rinnet unde fliuzet vil mære in diz getihte grôz. ez hât von rede sô wîten flôz, daz man ez kûme ergründen mit herzen und mit münden biz ûf des endes boden kan.24 Ein ästhetischer Einzigartigkeitsanspruch wird hier nicht nur von Bildern des Singulären her begründet25, sondern als sinnfällig schon im schieren Umfang des Epischen 22 Der Erforschung der Erzählliteratur dienten Umfänge allenfalls einmal als erstes und grobes Kriterium zur gattungsgeschichtlichen Abgrenzung von Textcorpora, vgl.Fischer (1968), S.57ff.; Ziegeler (1985), Register s.v.Umfang. Soweit ich sehe, hat allein Sengle (1957) in systematisierendem Zugriff "Formatfragen" in den Rang literaturwissenschaftlicher Aufgabenstellungen zu heben versucht: "Die Frage nach dem Umfang scheint primitiv zu sein, und sie ist es auch. In den Größenverhältnissen der Kunstwerke spiegeln sich ihre weltanschaulichen, stofflichen, gesellschaftlichen Bedingungen oft ganz unmißverständlich [...]. Vom Wachstum und vom Schwund des Umfangs kann man manches ablesen, was sonst nicht so klar 'auf der Hand liegt'. Allerdings gibt es daneben, wie immer im Bereich des Primitiven, Interpretationsschwierigkeiten, welche die Deutung des bewußteren Kunstschaffens nicht kennt."(S.305) Prominenter ist das Thema in den Nachbarwissenschaften, zumal dann, wenn dort eine Funktionsgeschichte der Künste im Blick ist; ich verweise stellvertretend auf Belting (1981), S.25ff., 46ff.usw.; Baxandall (1984), S.9ff. 23 Konrad, Trojanerkrieg 301-305. In auffälligem Gegensatz zu Konrads narratio ist sein Prolog außerordentlich schlecht überliefert; vgl.Lienert (1990), S.389f. 24 Ebd.222-243; vgl.Cormeau (1979), S.303ff.; Brandt (1987), S.176ff.; Kokott (1989), S.258ff. 207 behauptet. Die Argumentation zielt auf eine Evidenz, nach welcher ethischer und ästhetischer Rang unmittelbar an der Ausdehnung des Erzählens ablesbar sind. Format und Welthaltigkeit des Textes verweisen aufeinander und begründen sich hier gegenseitig.26 Sie stützen so auf einer neuen Ebene die Erwartung, der Umfang eines Artefakts müsse potenziell vom Rang des ästhetischen Objekts beglaubigt werden können, und sie lassen also eine Möglichkeit des Verständnisses des 'bloß' Quantitativen aufscheinen, welche, wie unartikuliert auch immer, auch zur Konzeption anderer epischer Riesenwerke gehören könnte. Ein weiterer Aspekt des Umfangsproblems erschließt sich beim Übergang von dieser Ebene der Textkonzeption auf jene seines kommunikativen Gebrauchs; daß er mit jenem andern Aspekt der raumgreifend erzählten Welthaltigkeit zusammenhängt, versteht sich. Uwe Pörksen hat einmal – in themagemäßer brevitas, könnte man sagen – das ironisch gebrochene "artistische Spiel gegen die 'normale' Erwartung einer zügigen Geschehensfolge" vorgeführt27, das Hartmann bei der descriptio von Enites Pferd virtuos beherrscht. Er tat dies in einer Weise, die erkennbar macht, daß das fiktive Gegeneinanderausspielen von in den Text hereinzitierten Bedingungen seines kommunikativen Vollzugs und Umfang des Textes selbst der episierte Spezialfall einer grundsätzlich gegebenen Konstellation ist. Im Kommunikationsakt ist die Länge des Textes ein Zeitmaß (auch wenn dieses nicht angegeben werden kann). Der extrem umfangreiche Text wirbt also um einen überproportionalen Anteil an der Zeit seiner Rezipienten.28 Wo er dennoch in ganzer Länge sich entfalten kann - und die Geschichte des Rennewart bietet so wenig wie jene des Trojanerkrieges zur Vermutung Anlaß, die Texte seien dabei erfolglos geblieben –, da sind mehrere Folgerungen möglich. Die erste: das umfangreiche Erzählen steht nicht unter dem Druck alternativer Formen von Zeitverkürzung, oder es kann sich ihnen auf die eine oder andere Weise entwinden. Die langen Texte sind also erfolgreich in jener Konkurrenz um knappe Zeit, die unablässig zwischen den verschiedenen Formen der kulturellen Selbstreproduktion einer Gesellschaft herrscht. Sie könnten dies, so die zweite Folgerung, unter anderem deswegen gewesen sein, weil sie mit dem knappen Gut der Zeit exzessiv verschwenderisch umgehen: weil an ihnen der aristokratischen Gesellschaft Zeit als eine soziale Kategorie bewußt wird. Das zeitraubende Erzählen ist ein exklusives für diejenigen, die viel Zeit und also wenig Arbeit haben, die zum permanenten Vollzug ihrer Muße als einer jener Differenzqualitäten bestimmt sind, welche sie von den Arbeitenden unterscheidet und als Adelige sozial definiert. Auf den anstehenden Kasus gewendet hieße das mit der Möglichkeit zu rechnen, daß Ulrichs von Türheim Rennewart nicht seiner ungewöhnlichen Abmessungen zum Trotz, sondern vielmehr gerade wegen ihnen ein (zumindest überlieferungsgeschichtlich) bemerkenswert erfolgreicher Text war. Es hieße auch in der mediävistischen Textinterpretation die Einsicht zu akzeptieren, daß mit der radikalen und nicht 25 Nämlich dem Waisen (20ff.) und dem Phoenix (32ff.); vgl. Herkommer (1983); Reinitzer (1981). Vgl.Sengle (1957), S.302; eine analoge Denkfigur auch bei Wisse / Colin, Parzifal, Prologus 8ff. 27 Pörksen (1971), S.48f. 28 Vgl.Müller (1985a), S.17f. 26 208 hintergehbaren Veränderung der Zeit als einer sozialen Kategorie und mit ihrer wachsenden Beschleunigung in unserer eigenen Gegenwart selbst so etwas Äußerliches und Triviales wie der Umfang eines Erzähltextes aus dem 13.Jahrhundert derart grundsätzlich sich gewandelt haben wird, daß seines einstmaligen Sinnes nur schattenhaft in mühsamen Rekonstruktionsversuchen inne zu werden ist. Diese Einsicht sollte in der folgenden Interpretation bewußt bleiben, ja diese wird ihr Ziel darin haben zu zeigen, daß im Rennewart wie in Konrads Trojanerkrieg ein Textumfang, der feudalaristokratischer Daseinsformen total entfremdeten Interpreten den Atem nimmt, gerade zum ästhetischen Programm gehört – nicht weil er, wie dort, eo ipso auf hochgesteigerte Welthaltigkeit verwiese, sondern auf eklatante und für den historischen Verstehensversuch intrikate Problemlosigkeit. 2. Zwischen Ende und Anfang. Die Möglichkeiten von Heidenkrieg und Erzählung am Beginn des Romans: Konkret wird der Umfang des Rennewart als ein hermeneutisches Problem von Anfang an. Denn wie sollte die Interpretation leisten können, was nicht zu leisten ist: die angemessene Repräsentation eines Textes solchen Ausmaßes im wissenschaftlichen Diskurs? Da kann allenfalls eine Zwitterlösung gelingen. Sie verknüpft im Falle des vorliegenden Kapitels Abschnitte einläßlicherer Interpretationsarbeit am Text durch Partien sehr summarischer und demgemäß flüchtiger Übersichten über das Erzählte. Es ist freilich die Hoffnung, die insinuierte Repräsentativität der Verteilung von Detailaufnahme, Halbtotale und Totale möge sich beim Nachlesen an Ulrichs von Türheim Text immer wieder bestätigt finden; mehr noch: das so zusammengesetzte, vorerst noch grobkörnige Bild möge als Orientierungskarte künftiger textanalytischer Arbeit auch an den Einzelheiten des Rennewart für einige Zeit taugen können. Ich beginne mit einer Detailaufnahme vom Anfang der narratio. Es ist zunächst dieser Beginn, um dessentwillen Ulrichs Roman seinen eingeführten Forschungstitel zu Recht trägt. Offensichtliche Einschnitte im Gang des Erzählens und der epischen Handlung lassen als Grenzen dieses Textteiles die Verse 169 und 5667 hervortreten. Voran geht Ulrichs Prolog, nachfolgend setzt mit einem erneuten Angriff Terramers auf Orense jenes Handlungsschema ein, welches in mehrfacher Repitition auf lange hin das Erzählte im Rennewart strukturieren wird. Was dazwischen liegt und schon für sich genommen großepische Dimensionen längst erreicht, schafft auf der Geschehnisebene diejenigen Bedingungen, deren eine WillehalmFortsetzung dann bedarf, wenn sie, wie bei Ulrich, über eine bloße Abkettelung der von Wolfram lose gelassenen Handlungsfäden hinweg ausgreifend neue epische Welten erreichen will. Es ist demgemäß eine narrative Doppelstrategie in diesem Eingangsteil des Rennewart zu beobachten, welche einerseits auf die Sicherung dichter Anknüpfung an Wolframs Fragmentschluß, andererseits jedoch zugleich auch darauf zielt, gegen die Determinationen des von Wolfram her Erzählten eigene narrative Entfaltungsräume freizuhalten. So nämlich, von der spezifischen Fortsetzungskons- 209 tellation her erklärt sich der scheinbar diskrepante Sachverhalt, daß der Text einerseits bei Wolframs letzten Worten (WW 467,8) mit der narratio beginnt – 'sus rumte er Provenzalen lant'. Da geshach diu shumpfentiure [usw.]29 –, jedoch, nach einer kurzen Erinnerung an Willehalms Klage um den verlorenen Rennewart, an handlungslogisch merklich früherer Stelle neu erzählend einsetzt.30 Dieser Punkt ist besonders markiert: vil ungerne ich nu verswige, ich ensagte rehte wie Terramer tet den vluehteclichen ker. (184-186) Dies wird bis zu der Stelle verfolgt, an welcher Terramer und sein Sohn Rennewart sich begegnen, einander zu bekehren versuchen und gegeneinander fechten. Die sprachlichen Inszenierungsformen von Ulrichs Erzähleinsatz scheinen in jeder Wendung floskelhaft, und lassen sich doch höchst präzise auf eine berühmte Stelle in Wolframs Text beziehen. Dort nämlich erscheint Rennewart auf Nebenwegen plötzlich wieder auf der Walstatt, als Terramer mit anderen Königen den Rückzug seines fliehenden Heeres heldenhaft deckt: Rennewart kom durh den pfasch ze vuoz geheistieret her nach, da er mit manger rotte sach sinen vater den alten der jugent gelich halten mit unverzagetem muote. meister Hildebrands vrou Uote mit triuwen nie gebeite baz, denn er tet maneger storje naz mit bluote begozzen. werlich und unverdrozzen hielt der vogt von Baldac. hie der stich, dort der slac, swenne ie der niuwen storje stoz sich hurteclichen in gesloz, sus kom daz kristeniche kumen. ich mags wol jehen uf die vrumen; ine mac iu von den zagen an dirre unmuoze niht gesagen. ich sage et von getürste, wie der Provenzale vürste, Willelm der markys, und sine helfære wurben pris. 29 30 168f.; vgl.oben S.198. Vgl.Kohl (1882), S.157f.; Bumke (1959), S.55 Anm.111; Harms (1963), S.107; Pörksen/Schirok (1976), S.60; Ruh (1980), S.188. 210 (WW 439,10-440,2) Hier werden Weichen für den Fortgang der Erzählung in eine Richtung gestellt, die mit Rennewarts Auftritt gerade nicht angedeutet war. Nicht er ist der Protagonist der folgenden Szene, sondern der Markgraf, nicht der Vater-Sohn-Kampf schließt sich an, sondern als Höhepunkt der Schlacht der direkte Streit der beiden Heerführer, Willehalms und Terramers (WW 441,1ff.). Als Scharnier fungiert jene Abkürzungs- und Neueinsatzformel (ine mac ... niht gesagen. ich sage et ...), welche die apostrophierten Feiglinge ganz unbestimmt läßt, und auf welche sich, so scheint es, Ulrichs Erzähler bezieht: er verschweigt gerade nicht, wovor Wolframs Geschichte abbiegt, er erzählt – im Unterschied zum fortgesetzten Text – rehte den Verlauf von Terramers Flucht, und das heißt, er rückt in ihr Zentrum die Begegnung und den Kampf des heidnischen Heerführers mit seinem Sohn Rennewart. Wenn nicht von Anfang an, so doch an ihrem Beginn ist Ulrichs Geschichte pointiert ein Gegenentwurf, ist sie, aller an Wolfram adressierten kanonbildenden Prolog-Enkomiastik (156ff.) zum Trotz, die kritische Alternative zum vorgefundenen Text.31 In dieser Fortsetzung und im Sachverhalt, daß sie, im ganzen Mittelalter und soweit überlieferungsgeschichtlich vermittelte Einsicht dringt, als angemessene continuatio Geltung hatte, steckt also "ein Urteil über den vorliegenden Schluß des Willehalm: an der Stelle, an der Wolfram aufgehört hat, wollte oder konnte Türheim nicht fortfahren. Die Gründe kann man nur vermuten: hielt Türheim etwa Wolframs vorliegenden Schluß nicht für fortsetzbar? Faßte schon Türheim diesen Schluß als einen notdürftigen Abschluß der ganzen Dichtung auf und wollte er ihn korrigieren, indem er eine Paralleldarstellung schrieb, die sich fortsetzen ließ? Möglich ist das immerhin."32 Doch wird über Vermutungen nur durch Interpretation der Fortsetzung selbst hinauszukommen sein. Wenn Ulrichs Erzählanfang eine Entscheidung gegen Wolframs Erzählende impliziert, dann müßte in einer kontrastiven Lektüre der alternativen Erzählungen der Sinn der Fortsetzung interpretierbar werden, und dann könnte in einem zweiten Ansatz vielleicht auch gefragt werden, wie diese Alternativgeschichten in jenem Reibungsverhältnis funktionieren, zu dem sie handschriftlich regelmäßig zusammengespannt sind. Neue Akzente setzt Ulrichs Rennewart schon in jenem winzigen Erzählsegment, in welchem er sich auch handlungslogisch mit dem Willehalm überlappt. Die Heiden fliehen zu ihren Schiffen, doch bleibt Terramer zurück: bei Wolfram, weil er – siner manheit [...] unbetrogen (WW 438,22) – mit andern Kriegern heldenhaft den Rückzug seiner Leute deckt, bei Ulrich aber unter genau entgegengesetzter Perspektive und Wertung, weil die Heiden in der Panik ihrer Flucht selbst ihren obersten Heerführer zurücklassen. Es kommt offenbar auf diesen Akzent an, denn er wird aus dem subtil zugespitzten Zitat zweier Wolfram-Verse (swer begreif die barken e, dern beite sins bruoder niht. WW 438,14f.) heraus entwickelt: vor vorhten sie nit liezen, diu shif sie an stiezen, 31 32 Vgl.unten X.11. Bumke (1959), S.55 Anm.111. 211 die minren und die merren. sie enbeiten nit irs herren des hochgelobten werden, der bleip da uf der erden. (191-196) Er wird von Rennewart angerufen, an der Flucht gehindert und zunächst in ein ausgiebiges Religionsgespärch verwickelt. Terramers Sohn ist also urplötzlich in der epischen Welt präsent, doch nicht begründungslos: denn er hatte – auf der Ebene des Geschehensnexus müßte man sagen: 'gerade eben erst' – bei Wolfram jenen oben kommentierten Auftritt, dessen gewaltsames Abbrechen im Heldenepikzitat als Narbe einer Faktur des Willehalm-Textes gedeutet worden ist. (Wiederholt ist jene Struktur des Fortsetzungsromans zu bemerken, in der nahtlose Anknüpfung an den fortgesetzten Text und narrative Neuordnung einander begründen.) An ihrem Beginn setzt Ulrichs narratio Wolframs Scharnierstück 438,10-28 also nicht nur voraus, um sich von ihm als seine rehte Korrektur narratologisch abstoßen zu können. Die Fortsetzung bedarf dieses Erzählgelenkes auch, weil es die handlungslogischen Voraussetzungen der ersten großen Rennewart-Episode bewahrt. Ulrich von Türheim folgt dabei erst einmal jenem Gang, den die Dinge auch in Aliscans nehmen.33 Der oberste Heerführer aller Heiden und sein die Christen verteidigender großgewachsener Sohn verbeißen sich in dieser Eröffnungsepisode zunächst mit den Worten des Religionsgespräches (240-513) ineinander, dann jagd Rennewart seinen Vater und hundert weitere Heidenfürsten (568) mit dem Schwert in die Flucht. Terramer fuor gein Kordes (593), und dies wäre das Ende der von Wolfram her erzählten zweiten Schlacht auf dem Feld zu Alytshantz, wäre nicht zu zahlreichen Sarazenen die Flucht auf rettende Schiffe mißlungen, so daß sie nun brandschatzend umherziehen. Rennewart, von einem Bauern zu Hilfe geholt, tötet sie massenhaft und gewährt nur ausnahmsweise einmal Pardon, als ein unterlegener Heide um der minne willen Schonung erfleht (892-929). Unterdessen ist ein fremder Riese, Baldewin von Falfunde mit Namen, gelandet. Er fragt sich zu Rennewart durch, um an ihm, dessen Einsatz die zweite Alytshantz-Schlacht entschieden hatte, die Niederlage der Sarazenen zu rächen.34 Als sie sich gegenüberstehen, entspinnt sich ein religiöser Dialog, deutlich machend, daß der folgende Zweikampf nach der beider hande rehten, der cristenen und der heiden (1084f.) ausgefochten wird. Rennewart gerät dabei in 33 34 Vgl.Aliscans L.121c, 5ff.; vgl.Kohl (1882), S.149ff.; Busse (1913), S.116ff.; Lofmark (1972), S.67f.; Kasten (1977), S. 405f. Zu den französischen Quellen des Rennewart generell: Kohl (1882), S.146 ff., 277ff.; Busse (1913), S.116ff.; Westphal-Schmidt (1979), S.13ff. Vgl.703ff., 952ff., 1330ff. Die kriegsentscheidende Rolle Rennewarts in der zweiten Schlacht, von Wolfram vorgegeben (vgl.WW 285,13. 452,24. 453,10ff. 454,9; Bumke [1959], S.79 Anm.53; Knapp [1970], S.245ff.; Lofmark [1972], S.202f.; Schmidt [1979], S.241f., 274, 364 u.ö.) und auch von andern Erzählern so akzeptiert (etwa Reinfried von Braunschweig 23362ff.), gehört zu den immer wieder Handlungen und Argumentationen begründenden Orientierungspunkten von Ulrichs Fortsetzung: vgl.182, 289f., 300f., 408ff., 1319ff., 2346ff., 2564, 3670f., 3989ff., 4034f., 5748ff., 5986f., 6084ff., 6330ff., 6591ff., 7762ff., 8221ff., 10192f., 11750ff., 15683ff., 16764ff., 19420ff., 19566ff., 19708f., 24700ff. 212 höchste Bedrängnis und fast wäre er, mit einem Schwert nur bewaffnet, der schweren Stange des Riesen unterlegen35, als Willehalm, der seinen Kampfgefährten und Schwager suchend über das Schlachtfeld streift, ihm zu Hilfe kommen will. Aber Rennewart lehnt diesen Beistand energisch ab36 und besiegt doch endlich den Heiden: mit Gottes Hilfe und nur nach schwerstem Kampf, dessen währende Ausgewogenheit auch darin sich zeigt, daß zwischenzeitlich Baldewin mit Rennewarts Schwert, dieser mit den Trümmern von dessen Stange streitet. Baldewin ergibt sich der offensichtlichen Überlegenheit des dreieinigen Gottes und gelobt, mit großem Gefolge, das er im folgenden aus Falfunde heranführen wird, sich taufen zu lassen.37 Damit rundet der Rennewart jene Geschehniszusammenhänge ab, die er als unabgeschlossene unmittelbar aus Wolframs Willehalm geerbt hatte. Die Schlacht ist zuende und der Sieger kehrt zu Kyburc nach Orense zurück (1694ff.) – wobei er Rennewart erneut aus den Augen und aus dem Sinn verliert, der nocheinmal den ma35 Die Stange ist Baldewins festes Requisit (vgl.1204ff., 1402ff., 23133 usw.; 26729 usw., 27000ff. usw.) und erzählerische Verdoppelung der Ausstattung Rennewarts (vgl.638f., 7544ff.; WW 275,16f.). Dieser streitet nur hier am Ende der zweiten Alytshantz-Schlacht mit dem Schwert, weil seine Stange zuvor auf dem regenbogenfarbig schimmernden Helm König Purrels völlig zersplitterte (WW 429,16ff.). Das Schwert, ehemals Eigentum Synaguns, erhielt Rennewart von Gyburc (WW 295,12ff.), er benützt es, nicht ganz ohne waffenbrüderliche Nachhilfe (WW 430,18ff.), seit dem Sieg über Purrel und wird anläßlich seiner Schwertleite von Heymrich damit erneut umgürtet (2674ff.). Doch bleibt aufs Ganze gesehen der Schwertkämpfer Rennewart eine Episode: als er nach Taufe und Heirat das kaiserliche Lehen Portebaliart übernimmt, da ist die Stange unvermittelt selbstverständlich wieder da (7544ff.). Vgl.auch Kasten (1977). 36 Vgl.1292ff., 1464ff. Der erzählerische Kommentar dazu war umme Rennewart tæte daz er im liez helfen niht, daz was ein wunderliche geshiht (1486-1488) unterläuft die Sinnhaftigkeit der Episodenfügung: Rennewart lehnt Hilfe von Willehalm ab, um sie von demjenigen zu erflehen, auf den es allein ankommt (1232ff., 1352ff.). So wird sein Sieg zum Triumph Gottes. 37 Vgl.2832-3078. Quellengeschichtlich ist Baldewin jener Baudin(s) der Bataille d'Aliscans, welcher bei Wolfram Poydjus hieß. Nach den Regeln des Dreisatzes folgt daraus die Identität von Wolframs Poydjus und Ulrichs Baldewin; vgl.Lofmark (1972), S.53f., 231ff.; sein Rezensent F.P.Knapp in: AfdA 85 (1974), S.179-192 (hier S.181); ders (1974a), S.210f.; Pörksen / Schirok (1976), S.60. Diese Folgerung unterstellt dem Fortsetzer mit dem Rennewart-Baldewin-Kampf einen Widerspruch zum Willehalm, da Poydjus dort der Konfrontation mit Rennewart gerade ausweicht (WW 444,28ff.; zur Forschungsdiskussion über die Stelle Schmidt [1979], S.396f.), doch ist sie falsch. Poydjus ist König von Griffane, Friende, Thasme, Triande und Koukesas (WW 36,8f. 282,21. 375,18 u.ö.) und darum - jedenfalls im trilogischen Erzählzusammenhang ein anderer als Baldewin. Der nämlich ist König von Falfunde (1106f. u.ö.), was aber heißt: 'Nachfolger' Halzebiers von Falfunde. Dieser hatte vor etwa einem halben Menschenalter Willehalm gefangengenommen (TA *R 49,12ff.; anders WW 220,14ff. 293,28 ff.), hatte in der ersten Alischanz-Schlacht Vivianz zum Tode verwundet und Willehalms Verwandte festgesetzt (WW 46,24ff.), von denen er in der zweiten Schlacht erschlagen wurde (WW 418,16ff.). Die gefährliche Unbeugsamkeit Halzebiers steckt so sehr einen Vergleichsrahmen für die sogleich zur Sprache kommende conversio-Bereitschaft seines 'Nachfolgers' Baldewin ab, wie das aktuale Verhalten Terramers, auf welches es erzählstrukturell bezogen ist (dazu unten). 213 rodierenden Sarazenen nachsetzt, um den überfallenen Bauern Entschädigungen zu erstreiten (1634-1693). In der episch aufgebauten Welt herrscht an dieser Stelle jener Stand der Dinge, der auch von Wolframs Matribleiz-Szene aus erreichbar gewesen wäre, und was sich anschließt, die Versöhnung Rennewarts, der schwer gekränkt ist, weil man ihn auf Alytshantz zurückließ, seine Taufe, Schwertleite und Verheiratung mit der Tochter des französischen Königs, all dies rekurriert nicht auf Voraussetzungen, zu deren Vergegenwärtigung es anderer als der im Schlußteil des Willehalm entfalteten Erzählzusammenhänge bedürfte. Darum nochmals und um so nachdrücklicher: In welchem Sinn eröffnet die referierte Geschichte zum Ausgang von Wolframs Text eine Alternative? Jede Antwort müßte freilich nicht nur wissen, was bei Ulrich erzählt, sondern auch, was bei ihm nicht erzählt, was ausgeblendet wird; daß das Nichtvorhandene hier das Unterdrückte, also das im Modus seiner Negation Gegenwärtige ist, das hatten ja schon die allerersten Verse der narratio des Fortsetzungsromans in ihrer dezidierten Wendung gegen den Willehalm erkennen lassen. Ausgeblendet sind in Ulrichs Text – ich benenne es in gehöriger Verkürzung – nicht nur der Zweikampf der Heerführer Terramer und Willehalm, sondern auch die Erschlagung sechs heidnischer Fürsten, darunter sein Bruder Canliun, durch Rennewart38; sodann die Geschehnisse am Abend und am Morgen nach der Schlacht, die Suche nach den Verwundeten und Gefallenen, Plünderungen und Siegesfeier, der Abzug des Christenheeres und Willehalms Klage um Rennewart; schließlich auch die Matribleiz-Szene. Aus diesem episodischen Geflecht des Willehalm-Schlusses, betrachtet man es aus der Perspektive der Kontinuation, ragen zwei Szenen heraus, auf welche diese übrigens auch anspielt: Rennewarts Tötung seines Bruders und Willehalms Freilassung des Heidenkönigs Matribleiz. Sie haben ganz unterschiedliches narratives Gewicht, sie bergen darum allerdings noch nicht unbedingt deutlich gegeneinander zu sondernde Problempotentiale. Beide Szenen auch werden von der Forschung intensiv diskutiert. Diese Dispute zu rekonstruieren, ist hier nicht der Ort, doch läßt sich mit Blick auf die gestellten Rennewart-Fragen für den Tod Canliuns vielleicht an Formulierungen anknüpfen, welche Karl Bertau in seiner Auseinandersetzung mit Kurt Ruh und, mittelbar, Wolfgang Harms gefunden hatte: "Ich sehe keinen Anlaß, Rennewarts Brudermord zur 'Erschlagung des Halbbruders' herabzumildern. [...] Ich sehe aber auch keinen Anlaß, den Brudermord als eine hier im (fragmentarischen!) Epos 'zu büßende Schuld' aufzufassen. Vielmehr: auch Rennewart ist schuldig, und wenn er ein Heiliger wird, wie Willehalm, dann wird er, wie Willehalm, trotz seiner Schuld ein Heiliger. Der Versuch, Rennewart als ein sauberes Instrument Gottes haben zu wollen, überzeugt mich nicht."39 Vor dieser Schuldfrage aber und unabhängig davon, wie man Wolframs Konzeption der Rennewartfigur interpretieren wird, auch diesseits 38 Vgl.WW 442,16ff.; 444,22ff. Nach unseren genealogischen Regeln ist Canliun wohl Rennewarts Halbbruder (vgl.WW 358,16ff.). Doch ist das "ein moderner Mißbegriff; wie wenig er für Wolfram in Frage kommt, zeigen im 'Parzival' die Benennungen des Verhältnisses Parzival : Feirefiz, wie hier im 'Willehalm' der Ausdruck bruoder [442,20]." (Bertau [1983], S.104; vgl.auch Knapp [1970], S.114). 39 Bertau (1983), S.104; vgl.Harms (1963), S.103ff.; Knapp (1970), S.113ff.; Ruh (1980), S.186f. 214 aller genealogischen und theologischen Konstruktion eines Sippschaftsverbandes von Christen und Heiden ist doch entscheidend: in der Tötung Canliuns durch Rennewart – und einzig an dieser Stelle! – wird Heidenkampf so unmitelbar (und so unmetaphorisch), wie es nur sein kann, zur Kainstat. So ist die epische Konstellation. Die zum Heil der Christenheit geschehende unchristliche Tat eines (Noch-)NichtChristen läßt den bruoder ungespart (WW 442,20), sie macht ihn zum Opfer, zum Objekt des Handelnden. Auch darin ist die Szene auf die letzte des Textes beziehbar: Willehalm läßt in ihr Matribleiz unbetwungen (WW 465,27). Der Sieger, so liest man das, läßt den unterlegenen und eidlich gebundenen Aggressor frei.40 Möglicherweise ist aber tatsächlich nicht die Freiheit des Heiden, sondern diejenige Willehalms das hier Entscheidende, seine Freiheit nämlich, auf das Machtkalkül zugunsten der eigenen Position und auf den Triumph, wenigstens das Triumphieren über den Besiegten verzichten zu können. Jene nicht überwältigende, sondern befreiende Denkfigur, die den Schluß von Wolframs Heidenkriegserzählung trägt (ohne daß der Autor ihr anders als in der tastenden Versuchsform der Matribleiz-Szene hätte innewerden können), und die bis in die Februartage des Jahres 1991, da ich dieses schreibe, ihr Refugium narrativer Fiktionen noch kaum je zu verlassen im Stande gewesen war, jene Denkfigur weiß die bloß geschenkte Freiheit als halbierte, sie weiß, daß die entscheidende 'Verbindung' zwischen dem Anderen und dem Selbst (die hier als Heide und als Christ konfrontiert sind), nicht in der Gemeinsamkeit von Sippenbindung und Gottesgeschöpflichkeit, sondern in der Anerkennung der Differenz von Alter und Ego begründet ist. Deswegen richtet Willehalm zwar Bitten an Matribleiz41, doch läßt er ihn nicht eigentlich frei – der Heidenkönig trüge andernfalls das Stigma des Freigelassenen. Vielmehr verzichtet Willehalm in voller Freiheit auf seine eigenen Machtmittel42, weil der Herrscher von Scandinavia anders nicht sein könnte, der und was er ist. Sein Status 40 Zur Matribleiz-Szene vgl.Mergell (1936), S.173ff.; Bumke (1959), S.49ff.; Kilian (1970), S.197ff.; Schäfer-Maulbetsch (1972), S.712ff.; Pörksen/Schirok (1976), S.54ff.; Schmidt (1979), S.528ff.; Schröder (1989), bes.S.342ff., 389ff., 411ff. 41 Vgl.WW 462,11; 466,1. 42 Dies zu zeigen ist der Sinn des den Anderen zum Objekt von (Geisel-)Tauschvorgängen zerstörenden Machtkalküls in der vorangegangenen Rede Bernarts: waz ob uns uf dem nachjagt Rennwart ist ab gevangen? ist ez im sus ergangen, da engegen hab wir gæbez pfant. gevangen ist in Larkant der künec von Scandinavia, der wol ze wer hielt alda. (WW 458,22-28) Insofern es auf den epischen Kontrats von Bernarts Zwangskalkül und Willehalms Freiheit ankommt, liegt keine "Inkosequenz der Handlungsführung" (Bumke [1959], S.52) vor; vgl.auch Pörksen / Schirok (1976), S.55f. - Vom Zerstörenden, beiläufig, dieses Kalküls ist mit Bedacht gesprochen: die Willehalm-Geschichte der Arabel etwa hatte uns die Auswirkungen von Niederlage und Geiselhaft auf den Heros eindrücklich inszeniert. 215 und seine Freiheit wachsen Matribleiz nicht gnadenhaft aus der Hand des Siegers zu, es sind, an der Grenze des in diesem Text Artikulierbaren, seine eigenen: ob irs geruochet und gert, so sit noch mer von mir gewert. ir sult hie unbetwungen sin. sprechet selbe: swaz ist min, daz sult ir nemen al bereit. (WW 465,25-29) – Ob irs geruochet, sprechet selbe: Im strikten Gegensatz zur Canliun-Episode ist der Andere an dieser Stelle, noch als Verlierer, Subjekt des Geschehens, nicht adressiertes Objekt triumphierender Großmut. Und sein Recht ist nicht eine vage Freiheit. Das "Recht des Andern"43 ist hier, und, wie es scheint, in der deutschen Literatur des Mittelalters nur hier, das Recht des Anderen auf Alterität44, darauf, von mir nu vri zu sein (WW 465,16). Alterität aber ist keine Kategorie des fremden Gegenübers, sondern der eigenen Wahrnehmung, die Erfahrung der Alterität des Andern also ein Akt der Selbstreflexion. Dieser bildet sich im epischen Prozeß darin ab, daß an seinem Ende nicht mehr der Andere, der besiegte mohammedanische König, und sein Verhalten thematisch sind, sondern vielmehr das, was Willehalm tut. Im Geflecht reflexiver Bezüge, das sich über die Pragmatik Bernartscher Geiselnehmerpolitik und das Grauen des Brudermords bis zu Gyburcs großer Schonungsrede zurückspannt, geraten am Schluß des Willehalm die Möglichkeiten christlichen Verhaltens im Angesicht derer in die kritische Reflexion, die nie toufes künde enpfiengen (WW 450,15f.). Der narrative Diskurs rückt nicht die Heiden, sondern die Christen ins Licht seiner spezifischen Erkenntnischancen. Weil an jenem Punkt, an dem er abbricht (oder abbrechen muß), das Recht des Andern dessen Alterität ist, wird nicht er fraglich, sondern das Selbst, das Eigene, das Vertraute. Im thematischen Zentrum der Heidenkriegserzählung ist das Vertrauteste, daß man die Andern sluoc alsam ein vihe (WW 450,17). Man könnte sich fragen, ob nicht jede Fortsetzung dieses Reflexionsganges jene Kultur in ihrem Kern gefährden müßte, die den Willehalm hervorbrachte und deren Selbstidentifikation und intellektuelle Selbstreproduktion auch in der Form seiner kommunikativen Aneignung sich vollzog. Dann wäre der Fragmentschluß von Wolframs Alterswerk das Zurückzucken vor der Explikation dessen, was hier noch ganz unbegrifflich begreifbar zu werden beginnt, das Innehalten vor dem Weiterdenken der gedachten Gedanken. Dann ergäbe sich aber auch die Konsequenz, daß innerhalb dieser Kultur ein Weitererzählen der fragmentarischen Geschichte entweder gar nicht möglich ist, oder nur als Verdrängung dieses Reflexionsprozesses. Dies scheint das Verfahren, das unter den gegebenen Bedingungen einzig denkbare Verfahren Ulrichs von Türheim zu sein. Dabei firmiert 'Verdrängung' hier nicht als Terminus psychologischer Analyse, vielmehr als Deskription des Textbefundes. Dieser weiß von einem erzählerischen Substitutionsakt, denn es sind gerade die Canliun- und die Matribleiz43 44 Vgl.Bertau (1983), S.241ff. Vgl.WW 462,30f. 465,1.19f. 466,19. 216 Szene des Willehalm, in deren epischer Konfiguration der Gedanke von der Alterität des Andern als seinem spezifischen Recht aufscheint, welche die Türheimsche Fortsetzung mit dem ganzen Wolframschen Schluß kassiert, und an deren Stelle im Endstadium der Alytshantz-Handlung sie die beiden Einzelkämpfe Rennewarts gegen Terramer und Baldewin setzt. Es wird an diesem Punkt sinnvoll sein, in gebotener Kürze zu zeigen, daß es sich dabei tatsächlich um einen Vorgang pointierter Entegegensetzung handelt, um ein konzeptionell alternatives, nicht etwa bloß ein irgendwie anderes Erzählen. Eine solche Demonstration ermöglicht die Chanson d'Aliscans, der Ulrichs Erzählen zunächst zwar ganz eng folgt, die jedoch im Sinne einer so oder so gearteten (und ihrereseits also erklärungsbedürftigen) Beeinflussung den deutschen Text an entscheidender Stelle gerade nicht begründen kann. Denn auch in Aliscans tötet Rennewart, in unmittelbarem Anschluß an des Gefecht mit seinem Vater, den Bruder: Un suen frere a Rainouart conseü, La teste o l'iaume fist voler el palu. "Monjoie!", excrie; "Guillaumes, ou es tu? Por toi ai mort un mien frere Jambu; (Rainouart hat einen seiner Brüder bemerkt, Kopf und Helm ließ er in den Staub fliegen. "Monjoie", ruft er; "Guillaume, wo bist du? Für dich habe ich meinen Bruder Jambus getötet [...]."45) Die Selektivität von Ulrichs Erzählen auch gegenüber dem für uns seine Vorlage vertretenden Text46 scheidet Quellentreue als Ursache für die hier relevanten Differenzen zum Willehalm aus: die Interpretation kann nicht auf ein erklärendes Drittes ausweichen, sondern muß Ulrichs Entgegensetzung von ihrer Alternative bei Wolfram her begreifen. Freilich ist es nicht ein Problematischwerden des Heidenkampfes als Brudermord, welches die Aussparung der Canliun-Episode in der Fortsetzung verständlich machte, diese hätte sonst geradezu notwendig den Weg zur Matribleiz-Szene finden müssen. Es ist vielmehr der in kontrastiver Bezüglichkeit von Canliun- und Matribleiz-Abschnitt episierte Diskurs über das Recht des Andern. Ihn substituiert der Rennewart durch jenen, welcher in den Erzählungen vom Terramer- und Baldewin-Kampf seines Protagonisten narrative Struktur gewinnt. Wie ihr Pendant bei Wolfram sind auch diese beiden Erzählabschnitte Ulrichs aufeinander bezogen. Zunächst durch Parallelen thematischer und struktureller Art: es handelt sich beidemale um Verwandtenkämpfe, denen jeweils eine große Redeszene, zunächst die Verwandtschaft der Krieger explizierend47, dann die Unversöhnlichkeit ihrer religiösen Orientierung demonstrierend, vorausgeht. Sachlich in den beiden großen Glaubensdisputen48 und 45 Aliscans L.121c, 47-50; Übersetzung nach Kasten (1977), S.406 Anm.45. Dies gälte ähnlich auch gegenüber der Aliscans-Redaktion der venezianischen Handschrift M. Zwar fehlt hier der Brudermord, doch "ist der Gedanke, daß die Tötung eines Verwandten Sünde sei, mehrmals formuliert."(Kasten [1977], S.406) Auch davon keine Spur im Anfangsteil des Rennewart. 47 Zur Sippenbindung von Rennewart und Baldewin vgl.1114ff., 1218, 1276, 1410, 1532ff., 1554ff., 2832, 2839, 2913ff., 20862, 26411, 27019f. usw. 48 Vgl.Harms (1963), S.107ff. 46 217 strukturell im doppelten Dreischritt von Sippenbindung, Religionsgegensatz und Zwiegefecht bewahrt der Heidenkampf jene fraglose Legitimität (oder gewinnt sie zurück), welche er in der Parallelgeschichte des Willehalm gerade zu verlieren im Begriff ist. Mit andern Worten: sakrosankt sind Rolle und Position Rennewarts. Weil und damit es nicht in die Reflexion gerät, kann dessen Verhalten in den beiden Heidenbegegnungen identisch bleiben, und umgekehrt ist dieses Wiederholungsmuster hier die narrative Form der Reflexionslosigkeit. Problematisch, der Wandlung (und der Erlösung) bedürftig ist allein Existenz und Tun der Heiden. Nur sie stehen zur Diskussion. Deren epische Gestalt sind die im Kontrast aufeinander verweisenden gegenläufigen Verhaltensweisen der beiden heidnischen Könige: die Intransingenz Terramers und die endliche conversio-Bereitschaft Baldewins. Der Eingangsteil von Ulrichs Fortsetzung verdrängt den in den Schlußpartien des Willehalm geführten Diskurs über das Recht des Andern als (Selbst-)Reflexion auf das Verhalten Rennewarts und Willehalms, und setzt an seine Stelle den alternativen Erzähldiskurs über die Ungläubigen: er verdrängt das Fraglichwerden, beseitigt das Problembewußtsein, unter dessen Druck der christliche Heidenkrieg bei Wolfram geraten war. Ich deutete an, daß unter den Bedingungen jener Kultur, die sich hier erzählt, die Fortführung des narrativen Prozesses anders vielleicht gar nicht denkbar war. Die continuatio ginge dann hinter den Textschluß des fortgesetzten Romans nicht nur aus narratologischen Gründen zurück, weil sie zur Fortsetzung epischer Welten erzählerischen Spielraum brauchte, sondern vielmehr auch aus ideologischen Gründen. Der Heidenkriegsroman benötigt auf Seiten der christlichen Heidenkrieger klare Verhältnisse, er muß ein flacher Text sein: anders ist er nur in der von Wolfram gefundenen und aufgebrochenen Gestalt, nicht aber als deren Fortsetzung möglich. Bei Ulrich von Türheim herrschen solche Verhältnisse. Fraglich ist hier nichts – erst recht ist Rennewart nicht mehr, wie Wolfram es vorgab, ein Unwissender –, oder besser wohl: fraglich darf hier nichts sein, und genau darin liegt der Sinn jener Umverteilung der Problemlasten in dem epischen Substitutionsakt, dem hier nachgespürt wird. Bestätigung für eine solche Interpretation sind die Spuren, welche das Beiseitegeschobene im neuen Text hinterließ, jene Stellen also, an denen dieses im Modus seiner Negation noch gegenwärtig ist. Denn das darf nicht übersehen werden, daß in Entsprechung zu Wolframs Matribleiz-Szene das Thema der Schonung unterlegener Heiden und als Reflex auf die Erschlagung Canliuns die Brudermord-Problematik im Rennewart noch immer ihren - kryptischen - Ort haben. Jenes Thema begründet das zwischen Terramer- und Baldewin-Kampf situierte Gefecht Rennewarts mit den Häuflein versprengter Sarazenen, deren er fuenfzehen hundert (809), also zahllose tötet, unter denen er indes einen Ritter auch schont und laufen läßt. Dieser hatte schwer verwundet erfleht, daz ir mir lazet minen lip. ich man iuch, herre, ob ir ie wip getruoget in dem herzen, des lieben suezen smerzen man ich iuch durch die guoten. (895-899) 218 Mit dieser Bitte ist der Heide erfolgreich – und mit keiner anderen hätte er es je sein können. Rennewart mit siten sprach: 'ich wil dir tuon daz nie geshach von mir mer deheinem man den ich mit strite ie kam an. nu wil ich iu daz leben lan; und si daz durch si getan, swa sie in dem lande si, der wont min hertze nahe bi. (909-916) Freilich wird an dieser Stelle erstmals in Ulrichs Text Alise präsent und dies sogleich auf eine Weise, die den Heidenkrieg als Dienst auf ihren minne-Lohn bezieht und so eine später wichtige motivationale Klammer zwischen der Alytshantz-Schlacht und der minne-Handlung um Rennewart und seine Geliebte markiert.49 Doch zugleich verbieten die Hyperbolik der unmittelbar voraufgegangenen Heidentötungen ebenso wie der in Rennewarts Rede betonte Ausnahmestatus seiner Großzügigkeit die Annahme, wie in Wolframs Matribleiz-Szene mache sich auch hier eine Reflexivität geltend, welche einmal eine neue Ethik christlichen Verhaltens gegenüber den Sarazenen begründen, die Ungläubigen zu Andersgläubigen werden lassen könnte. Rennewart hat vielmehr sein Gegenüber gar nicht im Blick. Das Stichwort vom Liebesschmerz löst einen Automatismus aus, durch den ein minne-Gedenken die eben noch agonale Situation schlagartig völlig überformt, und der die personale Orientierung Rennewarts total (917ff.) auf Alise (ab)lenkt.50 Abrupt ist so der Heide völlig isoliert zurückgelassen und kann daher folgenlos aus der epischen Welt verschwinden: da mit der ritter von im reit. wie im sin leben dar nach kam? der mær ich noch nit vernam. (926-928) Die Ankettung der Schonung des Ungläubigen an die Minnethematik, ihre orthodoxe Domestikation in einem höchst säkularen Dienst-Lohn-Schema, löst sie ausdrücklich von jeder Problematisierung des Heidenkrieges etwa in der von Wolfram vorgezeichneten Richtung ab. Die Reflexhaftigkeit, mit der Rennewart auf das Stichwort 'Lie49 50 Vgl.unten S.228ff. Solcher Automatismus funktioniert bei Rennewart auch noch nach Alises Tod, als er längst Mönch ist (12034ff.). Der Heide Kruchan, indem er ihn in Gang setzt, rettet sein Leben: 'ir habt zu verre mich gemant', sprach Rennewart mit guoten siten, 'iwer sterben wird vermiten nu vil gar von minem libe. ich wil minem reinen wibe da mit gnade hie kaufen. (12040-12045) 219 bes-schmerz' hin von seinem Gegner sich ab- und der imaginären Alise zuwendet, ist das genaue Gegenteil jener Reflexivität auf christ-liches Verhalten gegenüber dem Andersgläubigen, welche im Schluß des Willehalm episch konkret zu werden beginnt. Anders gesagt ist dieser singuläre Gnadenerweis an einem vereinzelten Sarazenen die Spur, welche der negierte Ausgang des fortgesetzten Textes in seiner Negation, dem Anfang von Ulrichs Fortsetzung, noch hinter-ließ. Ähnlich verhält es sich dort mit der Brudermordproblematik. Wie bei Wolfram so ist der Held auch am Anfang des Rennewart51 derjenige, der seinen Bruder getötet hat. Und da es keine Alternative gibt, kann sich das nur auf jene Erschlagung Canliuns beziehen, die Ulrichs Text durch einen Neuansatz an handlungslogisch vorausliegender Stelle der Alytshantz-Erzählung gerade zu ersetzen trachtet. In der Bedrängnis des Zweikampfes gegen Baldewin ruft der Held Gott um Hilfe an: herre reine, suezer got, ich wil gelauben din gebot als zu rehte ein cristen. nu ruoche den lip mir vristen durch die maget diu dich gebar. gedenke, ich sluog in diner shar minen bruoder und vil mage. (1233-1239) Was Rennewart für die Hilfe Gottes in die Waagschale zu werfen hat, ist sein Taufversprechen, das er alsbald einlösen wird, und: die Erschlagung des eigenen Bruders. Legitimiert durch die shar der milites christiani, durch den Heidenkrieg gerechtfertigt wird aus der Kainstat ein göttlichen Beistand gewährleistendes Verdienst52 - wiederum im strikten Gegensatz zum Willehalm, der den Kreuzzug als Kainstat gezeigt hatte, und um so gezielter, um so gewichtiger also für die Interpretation, als solche Entgegensetzung um die Stimmigkeit des aus Wolframs und Ulrichs Erzählen gefügten Handlungszusammenhanges gerade nicht sich bekümmert. Denn darin war die Canliun-Episode ja ausgespart worden. Daß und wie nun dennoch auf sie angespielt wird, das bestätigt den Deutungsvorschlag, wonach der Erzählbeginn von Ulrichs Roman auf die 'Deproblematisierung' des Heidenkrieges, auf die Beseitigung aller Frag- und Bedenklichkeiten bei der Tötung der Ungläubigen aus ist, weil anders eine Willehalm-Fortsetzung als Heidenkriegserzählung nicht wohl möglich wäre. Auf der Ebene der Handlung verhalten sich der Ausgang von Wolframs Text (etwa seit dem Terramer-Willehalm-Zweikampf) und der Beginn des Rennewart (ungefähr bis zu des Markgrafen Rückkehr nach Orense) also zwar wie Substituiertes und Substitut, ideologisch ordnet der Fortsetzungsroman Substituiertes und Substitut aber als Rede und Gegenrede, als - wie man aus der Position kreuzzugsideologischer Orthodoxie besser sagen müßte - Widerspruch und Spruch einander zu. Die Fortsetzung setzt den Schluß des Fortgesetzten voraus und nicht voraus. Deswegen kann sie auf handlungslogisch Verdrängtes gleichwohl sinnvoll anspielen, deswegen kann sie des 51 52 Vgl.auch später 3556f., 8606ff., 20439. Vgl.Matth 10,34ff. Lk 12,51ff. 220 Substitutionsaktes ungeachtet - oder vielmehr: um ihn zu signalisieren - mit dem Zitat von Wolframs letztem Vers beginnen, und deswegen ist nirgends in der Überlieferung die nur vorderhand naheliegende Konsequenz gezogen worden, entweder auf den Wolframschen Schluß oder den Türheimschen Neueinsatz zugunsten reibungsloser Handlungskontinuität zu verzichten.53 Es geht nicht um den gleitenden Übergang vom einen zum andern Text, sondern um den Kontrapunkt, um die energische Korrektur. Zwischen Anfang und Ende nun aber nur des einen Textes, der Fortsetzung, spannt sich eine Klammer, die an dieser Stelle der Interpretation ihren Platz schon haben soll, obwohl die von ihr umgriffenen Erzählwelten noch ziemlich im Dunkeln liegen. Es ist eine Klammer, die aus zwei kontrafaktischen Bezügen auf Wolframs Matribleiz-Szene besteht54, und deren eines Element, Rennewarts Schonung eines Heiden um Alises willen, hier nun schon vorausgesetzt werden kann. Ihr zweiter Teil: Viele Jahre nach den bisher betrachteten Ereignissen, Weltkriege und Generationen später, als Rennewart und Malefer und Kyburc längst verstorben sind, als Terramer wiederholt ewigen Frieden geschworen hat, und Willehalm erst Mönch, dann Eremit geworden ist, greift ein letztes Mal in der epischen Welt des Rennewart wie der gesamten deutschen Willehalm-Trilogie ein sarazenischer König mit großem Heer die Christen an. Er belagert den Kaiser in Paris55, welcher ganz auf die Hilfe Willehalms vertraut, 53 Wie immer freilich mit einer Ausnahme: der Prosaroman führt die große Schlacht mit Wolfram bis zum Ende der Terribuleis- (=Matribleiz-)Szene (PW 162,15ff.), und setzt dann mit der Begeg-nung von Rennewart und Terramer neu ein, ursprünglich Simultanes ausdrücklich sukzessiv anordnend: Nu hörend, was Renwart tedt, die wil in Wilhalm verloren hatt! (PW 164,10f.) Dabei werden sorgfältig Handlungselemente ausgespart (vgl. etwa PW 165,5: Rennewarts 'erste' Begegnung mit Terramer; 161,10ff.: Canliun-Episode), welche zu Reibungen zwischen den Erzählsträngen hätten führen können. 54 Die Konstellationen der Matribleiz-Szene des Willehalm gehören darüberhinaus zum näheren Assoziationshorizont dreier weiterer Episoden, welche stets deren Sinn negieren. 1. Rennewart bittet Kruchan, die Leichname gefallener Heiden in den Orient zu überführen, damit werde Terramer geehrt (12108ff.). Doch ist das offenbar nicht frei von Zynismus - in Kruchans Bericht an Terramer kommt diese Ehrung auch nicht mehr vor (12290ff.) - , sonst wäre es kaum mit einer Morddrohung (12116ff.) verknüpft. - 2. Nach der Schlacht, zu der Rennewarts Sohn Malefer als sarazenischer Oberbefehlshaber ins Abendland gekommen war und in deren Verlauf er auf die Seite der Christen überging, läßt er auch die die Taufe verweigernden Heiden schonen: gegen den scharfen Widerstand Willehalms und Rennewarts setzt Malefer hier seine feudale Schutzverpflichtung zugunsten jener durch, die als seine Gefolgsleute in den Krieg gezogen waren (18283 ff., 18295ff.); vgl.auch Westphal-Schmidt (1979), S.160ff. - 3. Kyburc läßt ihrem Sohn Emereiz die Leichen heidnischer Könige übersenden, doch dies zum Beweis der ungefuegen missetat die an ir begieng der atmirat Terramer (22035f.). - Nur einmal ist die Freilassung gefangener und die Übergabe gefallener Sarazenen tatsächlich Gnadenakt (24120): Rennewart gibt seinem Vater dessen von den Christen gefangenen Söhne heraus (24032ff.), und Terramer darf dann mit kaiserlicher Erlaubnis auch verwundetes und gefallenes Gefolge auf seine Schiffe bringen lassen (24115 ff.). Dieser Gnadenakt ist der Triumph der Christen, denn der heidnische Heerführer hatte zuvor für alle Zeiten gelobt, nymmer swert zu führen in keime lande. (23936f.; vgl.auch 23859 ff., 24294ff., 24566ff., 24640ff. usw.) 55 Vgl.34439ff., 34496ff., 34814, 35250f. 221 diesen überall zu suchen befiehlt und, als er ihn – bei dessen Anblick der königliche Bote zunächst ohnmächtig wird (34382ff.) – gefunden hat, in seine Residenz führen läßt.56 Diese vorübergehende Rückkehr Willehalms aus der Wildnis in die Welt des Hofes und des Heidenkrieges, welche als Grenzüberschreitung nicht ohne ausführlich erzählte Einkleidungsszenen abgehen kann (34718ff.) und Willehalm wieder in den Besitz von Pferd und Schwert bringt, diese Rückkehr allein ist es, die die Sarazenen, als sie davon Kunde bekommen, sich zur Flucht wenden läßt. Denn sie wissen, daß Willehalm erwindet niht, e uns der tot von im geshiht (34835f.). Der Erzähler bestätigt indirekt diese Einschätzung, indem er den Markis auf jenem Pferd Volatin reiten läßt, das zwar für bald zwanzigtausend Verse aus der epischen Welt verschwunden war, doch in der Erinnerung stets mit der schonungslosen Tötung Arofels verbunden bleibt.57 Die letzte Heidenkriegsepisode des Rennewart, deren Gerüst ich hier vorstellte, ist freilich mehrdimensional. Sie zeigt noch einmal die fraglose Überlegenheit der Christen über die Heiden, noch einmal die permanent selbstverständliche Legitimität des Vorhabens, heiden vil den tot zu beshern (34748); sie spielt auch die Eremitenrolle Willehalms im Kontrast zum Dasein am kaiserlichen Hof durch, und es wird dieses Kapitel noch zu zeigen haben, inwiefern darin eine ganz zentrale Sinnkonfiguration von Ulrichs von Türheim Wolfram-Fortsetzung präsent ist. Daneben aber ruft die Episode nochmals jenen Erzählabschnitt aus dem Willehalm auf, mit der sie ihren narrativen Ort als letzte große Heidenbegegnung am Ende eines Romans gemeinsam hat. Denn der König, der hier, als epischer Nachzügler gewissermaßen, noch einmal die Christenheit mit Krieg bedroht, ist eben derjenige, dem zusammen mit Willehalm die Schlußszene bei Wolfram gehört hatte: Matribuleiz.58 Das ist ein Kommentar der 56 Hier wird, so ist klar, eine frühere Konstellation mit jetzt vertauschten Rollen durchgespielt, und daß der darin liegende Verweisungszusammenhang bewußt ist, zeigt sich, wenn Willehalm nicht auf dem Wege zum (WW 112,22ff.; vgl.dazu Decke-Cornill [1985], S.49ff.), sondern nun auf dem Heimweg vom König mit einer Einschränkung seines freien Wegerechts konfrontiert wird (35185ff.; vgl.Kohl [1882], S.286). Daß übrigens Lois der von den Sarazenen direkt Angegriffene ist, weil hier nun alle anderen christlichen Streiter längst gestorben oder der Welt abgestorben sind, zwingt zur Modifikation betreffender Ausführungen Westphal-Schmidts (1979), S.153f. 57 Volatin war zuletzt in Vers 16616 präsent, nun wieder ab 34605, 34718 usw.; vgl.WW 82,4f. und auch S.375 Anm.115. Das Pferd ist das signifikante Attribut des Heidenbezwingers und mit diesem da. Der Mönch Willehalm aber kann - so wie Rennewart nach seiner conversio (vgl.11502ff., 11960ff., 16079ff.) - bei Bedarf wieder zum Sarazenenkrieger werden (vgl.Westphal-Schmidt [1979], S.256f.), weil er nie aufhört es zu sein. Hier wie bei Ulrich von dem Türlin sind die Figuren aus ihren Gegensätzen, Ritter und Mönch, aggregativ aufgebaut. 58 Die Namensformen der benützten Editionen differieren stärker als jene in den Handschriften. Schröders Willehalm-Text hat Matribleiz, Lachmanns Willehalm-Apparat (zu 98,14. 257,4. 348,22. 383,13) weist für die Handschriften H.Wo.W.L.14 und 73 die Namensform Matribuleiz (und einmal Marribuleiz) nach: also diejenige auch der Rennewart-Überlieferung; H.Wo.W und 73 sind Zyklus-Handschriften einschließlich der Türheimschen Fortsetzung (Siglen H 1 2 Z; vgl.oben Anm.15, unten X.2.). Auch wenn es sich hier und dort um zwei verschiedene Könige handeln würde, so müßten sie als Namensvettern doch für einen gehalten werden. Käme es darauf nicht an, dann könnte der heidnische Aggressor wie in den Redaktionen des Moniage Guil- 222 Fortsetzung zum Schluß des fortgesetzten Torsos. Der dort am eindrücklichsten die Gnade christlicher Schonung – so wird man aus der Perspektive Ulrichs wohl sagen müssen – erfuhr, der ausgerechnet ist hier, nach all den Eiden und Waffenstillständen, noch immer der Friedensbrecher.59 Der Angriff des Matribuleiz ist eine Form der epischen Diskreditierung jenes Verhaltens unter dem Recht des Andern, zu dem Wolfram Willehalm schließlich finden läßt. Und die an zahllosen Stellen von Ulrichs Roman ausgesprochene Folgerung, welche diese Szene nur noch zu insinuieren braucht, ist klar: Jeder Versuch, zwischen Taufe und Tötung der Heiden eine dritte Möglichkeit zu wahren, beweist sich am Ende unzweideutig als Schnitt ins eigene Fleisch der Christenheit. Erst hier ist der Schlußpunkt unter die Handlung um Matribuleiz gesetzt und demonstriert, daß jener Satz Wolframs sus rumt er Provenzalen lant (WW 467,8) als Feststellung von Endgültigkeit sehr verfrüht gewesen wäre. Zurück vom verfrüht in den Blick gerückten letzten Teil der Willehalm-Fortsetzung zu deren Exposition. Die Form, in welcher sie die von Wolfram her erzählte zweite Schlacht auf dem Feld von Alytshantz zu einem Abschluß bringt, hat sich als eine Alternative zu derjenigen Wolframs herausgestellt, als Alternative des Erzählstoffes, mehr noch als solche der narrativen Sinngebung. Der Rennewart-Eingang ist dezidierter Gegenentwurf zu dem von Wolfram Erzählten. Auf die Restitution unbefragter Selbstverständlichkeit des Heidenkrieges und der Heidentötung zielend, verschiebt er die ideologischen Problemlasten von der Seite der Christen wieder zurück auf die ihrer Gegner. Es handelt sich, wenn man so will, um die Zurücknahme der im Willehalm tastend und vorerst nur episch gedachten Gedanken, um die Anstrengung der Umorganisation des narrativen Diskurses, welcher hier nicht mehr das Heidentöten der Christen, sondern die Christenfeindschaft der Heiden zum Thema haben darf. Es handelt sich im strikten Sinne um narrative Ideologiebildung. Wäre das Sinnzentrum von Wolframs fragmentbleibendem Willehalm-Entwurf eine ReEthisierung des Ästhetischen, ein, wie Karl Bertau formulierte, "historischer Diskurswechsel von den Feinen zu den Frommen"60, dann wäre die Antwort der Fortsetzung, jedenfalls aus der Perspektive ihrer Exposition, der Widerruf dieses Entwurfes: die De-Ethisierung des Ästhetischen – wenn sich denn der anachronistische Ausdruck lohnen sollte –, der Diskurswechsel von den Frommen zu den Ungläubigen. 3. tauf, shilt und wip. Rennewarts Gegenwart: Aus der Perspektive der Fortsetzung Ulrichs von Türheim ist die Selbstreflexion auf das Recht des Andern ein Skandalon – und dies nicht, so stellt es sich mir dar, weil hier ein Sarazene ungeschoren davongekommen wäre, sondern wegen des Gedankens laume anstatt Matribuleiz etwa Ysoré heißen (vgl.Moniage Guillaume 4629 usw.; Kohl [1882], S.285f.; Westphal-Schmidt [1979], S.247). 59 Diese Rolle des Matribuleiz ist von langer Hand erzählerisch vorbereitet, vgl.27009ff. 60 Bertau (1983), S.107. 223 über das Verhältnis von Identität und Alterität, welcher in diesem Geschehensvorgang seinen frühesten epischen Umriß gewinnt. Doch ist dies nicht das einzige Skandalon jenes Erzählens, dessen Weiterführung auf abgesteckten Wegen auf sich genommen zu haben der Rennewart-Erzähler vorgibt (160ff.). Nicht weniger fordert ihn der Sachverhalt zur Korrektur heraus, daß jener Held, welcher zugunsten der Christen den Heidenkrieg auf Alytshantz entschied61, kein Christ und nicht in das verwandtschaftliche, personale und vasallitische Gefüge des fränkischen Reiches eingeordnet ist. Änderung dieses Zustands ist darum Inhalt der auf den Abschluß der Alytshantz-Schlacht folgenden Erzählabschnitte der Wolfram-continuatio, deren erster sogleich als Episode von eigentümlicher Unausgegorenheit sich darzustellen scheint. Eben noch hatte Rennewart das Schwert des dreieinigen Gottes gegen Terramer und Baldewin erhoben und diesen auch zum Christentum bekehren können. Nun ist die Figur schlagartig umgepolt: Rennewart läßt Willehalm Fehde ansagen und sputet sich, eines jener sarazenischen Boote zu erreichen, die ihn zur heidnischne Sippe seiner Abkunft zurückbringen könnten (1780ff.). Motiviert ist dieser Umschwung damit, daß Willehalm nach Orense gezogen war und dabei unbekümmert Rennewart auf dem Schlachtfeld von Alytshantz zurückgelassen hatte. Als er seinen ungefuoc (1944) bemerkt, schickt der Markgraf wiederholt Boten nach seinem Schwager, die dieser indes davonjagt oder erschlägt. Erst Kyburc, die mit einer halben Tausendschaft Gefolges sich aufmacht und unter der Führung Gottes (1900ff.) den Bruder einholt, als er im Begriff ist, an Bord eines der Bote zu gehen (1925ff.), erst sie kann ihn nach langem Gespräch zum Bleiben bewegen und dann auch mit Willehalm versöhnen. Rennewarts Verhalten sieht uns nach Überreaktion aus. Es kommt jedoch in der Diskrepanz zwischen einer verächtlichen Ursache und ihrer mächtigen Wirkung die Situation des Protagonisten als eines noch immer in dieser Welt der Christen Fremden zum Ausdruck. Die Wahrnehmungsgenauigkeit des Adligen und jene des (im Widerspruch dazu) Exulanten verdoppeln sich so, daß das Verächtliche nicht anders denn als Verachtung erscheinen kann. Der den Christen den Sieg errungen und die Söhne Heymrichs aus sarazenischer Gefangenschaft errettet (2110f.), der also seine Heldenhaftigkeit unübersehbar ostendiert hatte, war für Willehalm und dessen Brüder wie nicht vorhanden. Aus seiner Perspektive: ich wæn, sie warn alle blint, die mich da ueber sahen.62 In dieser Welt der Evidenz ist aber auch das Heroische das Sichtbare, ist der Held für die, die sehenden Auges blind sind, gar keiner – da schließt er sich besser jenen an, die als Opfer seiner ungefügen Schwerthiebe an Rennewarts Heldenstatus nicht vorbeisehen können. Dies wäre die historische Plausibilität der Handlungskonstellation, noch nicht jene des Sachverhalts, daß dies und an dieser Stelle erzählt wird. Der narrative Sinn der Episode liegt vielmehr darin, daß dieses Übersehenwerden des Helden auf dem Feld von Alytshantz eine frühere Situation wieder aufruft, in welcher sein Adel Rennewart 61 62 Vgl.oben Anm.34. 2112f.; vgl.auch Rennewarts retrospektiven Kommentar 5454ff. 224 gleichfalls nicht angesehen worden ist63, in welcher Nichtbeachtung nur Verachtung sein konnte, und von welcher aus das Handlungsgeschehen der folgenden Episoden aufgebaut werden wird.64 Ich meine die Entführung des heidnischen Königssohnes an den französischen Hof (1964ff.) und den dort geleisteten Küchendienst.65 Die Erinnerung daran drängt sich im Dialog mit Kyburc, die Rennewart zurückholen will, vor die aktuelle Verletzung, aus Willehalms Blick geraten zu sein: armer Rennewart, des solt du nu gedenken, sinen [des Königs] lip, sin riche krenken, swenne du daz gefuegen maht. er hiez mich shriben an die pfaht da sine koeche sint geshriben. (2000-2005) Der aristokratische lip vil dicke wart getriben in daz lant nach brunnen (2006f.), sein Adel, auch eine optische Kategorie66, war nicht sichtbar oder wurde übersehen, obwohl vil manic ritter stoltz seines vater mac und sin man (2010f.) ist. An dieser Stelle setzt in Adelskulturen die Verpflichtung zur Rache oder die Einklagung andersartiger Genugtuung ein. Ihr Adressat ist der Romer Loys, der an mir der kronen pris verworhte, do ich im wart gegeben. (1997-2000) Die Zurücklassung Rennewarts auf der Walstatt, die Demonstration, daß sein Heldentum übersehen werden könnte, und das heißt: daß sein Status ungesichert ist, funktioniert als episches Verknüpfungselement, das an dieser Stelle einen sehr viel früheren Abschnitt der Geschichte dieses Protagonisten einkoppelt, von dessen durch Küche und Keller markiertem Niveau aus jetzt die Rennewart-Handlung neu einsetzt. Dies besagt auch, daß die Heilung eines dem eigenen Geburtsadel widerstreitenden sozialen Ranges durch kriegerisches Heroentum allein nicht zu bewerkstelligen ist. Restitution bedarf des Rituals. Da es um die Wiederherstellung des als Küchenknecht umhergestoßenen (und herumgeschubsten67) adligen Körpers geht, muß die nötige Genugtuung nach dem Prinzip der Reziprozität vom Leib des Königs stammen. Und 63 Vgl.4705f., WW 188,16ff. Vgl.Westphal-Schmidt (1979), S.72. 65 Das Motiv sozialer Deklassierung durch Küchendienst (WW 187,30 ff. usw.) auch zum Beispiel in Karl und Galie 17,21ff. 18,27ff. 66 Deswegen konnte Kyburc Rennewart seinen art ansehen. Die Formulierung, in welcher sie bei Ulrich an diese im Willehalm erzählten Szenen erinnert (2437ff.), läßt es als Mißverständnis erscheinen, ihr Fast-Erkennen des Bruders (WW 272,21ff. 290,16) etwa auf physiognomische Ähnlichkeit (so zum Beispiel Michel [1976], S.72f.) zurückzuführen: das herze ist jenes Organ, mit dem sich art, Adel, Verwandtschaft sehen läßt, doch nicht Portraithaftes; vgl.oben S.136ff., 143, sowie Czerwinski (1989), S.58ff. 67 Vgl.WW 190,6ff.; TR 17856ff. 64 225 das tut sie auch: in Gestalt Alises. So unvermittelt, wie Rennewarts Entschluß zur Rückkehr in die Heidenschaft plötzlich da war, so abrupt und auch so verstehbar wird er in genau dem Moment revoziert, da in Kyburcs Bitten die Königstochter gegenwärtig ist: durch mine bete hie blibe. waz ob dir noch von wibe ein rehtes hertzeliep geshiht, des soltu dich verzihen niht. la geniezzen mich der suezen daz dich ir suezes gruezen noch, herre, also gegrueze daz ez dir kummer bueze! (2071-2078) In schon einmal beobachteter Reflexhaftigkeit fokusiert die Erinnerung an Alise die Figur Rennewart total auf dieses Ziel: ich wil dirre bete dich gewern. (2087) Doch ist hier nun zu sehen, daß minne, auch in diesem Fall weit entfernt davon, bürgerliches Sentiment zu sein, eine Beziehungsregel meint, bei der es wesentlich auf die Dimension der Ent-Schädigung, der buoze für erlittenen kummer ankommt. Und dafür steht in der Welt der Willehalm-Trilogie nur eine Figur bereit. Wie konkret dies ist, wird sich bei der Beobachtung der späteren Heiratsverhandlungen zeigen. Allerdings ist es bis dahin noch ein Stück, denn vorerst ist Rennewart weder als Held respektiert, noch in die Ritterschaft, noch auch in den Leib der Kirche aufgenommen. Der erste dieser nötigen Akte vollzieht sich in der Versöhnung mit Willehalm. Sie ist deswegen möglich, weil der Markgraf öffentlich kundgibt, Rennewart wieder zu sehen, ihn also anzuerkennen in seinem aristokratischen Status: groezer liep mir nie geshach sit erst diu welt mir wart kunt, daz ich hie an dirre stunt han mit den augen funden, da von mir ist verswunden leit [...].68 Hier ist Kyburcs Bruder wieder der Held, welcher die Markgrafschaft sarazenischer Bedrohung entledigte und welcher nun unter merklichem Zeitdruck69 ein Integrationsprogramm abspult, das in einer Kurzform so lautet: ich ger an dich driu sueze leben: Jhesus, du solt mir geben ein wip, den tauf und den shilt.70 Das Integrationsprogramm, dessen Stufenfolge im weiteren mit etwas vergrößerter Schrittfolge nachgegangen werden soll, erfaßt die Rennewart-Figur in ihren wichtigsten Dimensionen, in ihren Rollen als Mann (gegenüber einer Frau), als Geschöpf (ge68 2132-2137. Hier und auch an einigen anderen Stellen interpungiere ich anders als der RennewartHerausgeber Alfred Hübner. 69 Vgl.2212f., 2264ff., 2299f., 2501f., u.ö. 70 2313-2315. Ganz unzulänglich zu dieser Stelle Müller (1960), S.553. 226 genüber Gott) und als Krieger (in der Gesellschaft), und stülpt sie in einer Episodenfolge, welche mit der Eingliederung Arabels im letzten Teil des Türlinschen Textes wohl vergleichbar wäre, völlig um; das Wort leben (2313, 2490), dessen pluralischer Gebrauch die Distanz zwischen mittelalterlicher Epenfigur und neuzeitlichen Personalitätskonzepten erkennen läßt, scheint mir eben solche Dimensionen zu formulieren, die als Rollenhaftigkeit rekonstruiert werden können. Rennewart wird also in Gegenwart des ganzen Heeres und weit besandter Gäste vom Tolusaner Bischof getauft (2373ff.), dabei dieser und Heymrich samt seinen Söhnen als Paten fungieren. Das Eingehen in den corpus ecclesiae ist zugleich also Ansippung an die AimeridenDynastie; dies zeigt sich später auch daran, daß deren Oberhaupt Rennewart mit dem Schwert umgürten (2674ff.) und sein Brautwerber am königlichen Hof sein wird (3388ff.), dies wird schließlich durch die Heirat mit Heymrichs Enkelin nocheinmal konfirmiert. Die gesellschaftliche Freude der Sippe und ihrer Vasallen über die integrale Verbindung mit dem Helden, die nicht zuletzt eine Art Lebensversicherung bei künftiger Sarazenengefahr bedeutet, ist ungetrübt und entbindet daher noch im Taufakt Komik. Denn wie sollte der greise Pate Heymrich einen Täufling, disen cleinen knaben (2447), von der Größe Rennewarts aus dem Taufbecken heben können? Die wandelunge (2254) bestätigt sakramental jene Christwerdung, die sich – des zwischendurch angedeuteten Rückfalls ins Heidentum ungeachtet – an diesem Helden längst vollzogen hatte.71 Ihr folgt unverzüglich Rennewarts Schwertleite. Ulrich von Türheim erzählt diese Integration in ein Kollektiv und die Einpassung der Figur in eine neue Rolle, welche sie bedeutet, zumal als Einpassung eines Körpers in die Requisiten des Rittertums. Das neue ysen gewant steht Rennewart eben und wol, als es eime ritter sol. (2720ff.) Doch am prunkvoll mit Edelsteinen verzierten Helm werden Widersprüche erkennbar, auf deren Ausbalancierung die Schwertleite wie alle rites de passage angelegt ist. Rennewarts Reaktion, als Willehalm ihm die Sturmhaube überstülpt, ist die des wilden Kämpfers: 'was sol ditze? vil harte ich mirs entsitze. ez irret mich der gesihte. [...] swaz ich strites han getan, ane helm daz gar geshach.' Willehalm vil sueze sprach: 'die rittershaft du erest mit: wie stuende daz ein ritter strit ane helm und ane shilt?' 'Willehalm, ich tuon swaz du wilt. (2741-2754) 71 Vgl.210ff., 976, 1082ff., 1232ff., 1566ff., 2222, 2288ff., 5208f. 227 Der Helm ist hier, pars pro toto, gewissermaßen die Ikone des Rittertums, unter der, zivilisationsgeschichtlich gesprochen, aus Fremdzwängen Selbstzwänge werden.72 Der Zivilisationspanzer des Ritterstandes ist nur um den Preis des Verlustes von Unmittelbarkeit zu haben – und um den eines eingegrenzten Blickfeldes. Indem die höfisch-ritterliche Gesellschaft sich Rennewart einverleibt, muß sie ihn zugleich domestizieren, ihn einer Wildheit berauben, aus welcher sie auf Alytshantz Nutzen gezogen hatte, und seine Kampfkraft nach den Regeln ritterlichen Comments kanalisieren.73 Das Ergebnis der Domestikation wird sodann öffentlich zur Schau gestellt und affirmiert: die Ritterprobe, nach dem in Orense geltenden site als Bewährung der Ritterwürdigkeit üblicherweise vor der Schwertleite abzuleisten (2535ff.), bestätigt im Falle Rennewarts umgekehrt deren Gelingen als Zivilisierungsakt (2810ff.) – auch wenn darin noch Spuren der nötigen Anstrengung auszumachen sind; so passen Pferd 74 und Reiter vorerst gerade nur für die Dauer der Ritterprobe zueinander.75 Rennewarts Schwertleite ist Teil eines Prozesses der Ritterwerdung des Protagonisten, von welchem hier als von einem zivilisatorischen die Rede war. Dieser Prozeß hatte noch vor der zweiten Alytshantz-Schlacht in Oransche begonnen und sich nach dem Verlust der Stange im Gefecht gegen König Purrel fortgesetzt.76 Er kommt hier nun zu einem Abschluß und mit Blick auf Späteres läßt sich vermuten, daß er den Möglichkeitsraum dessen, was die Rennewart-Figur ihrem epischen Aufriß nach sein 72 Vgl.zum Helm 3577. Der Körper des Helden wird später des Panzers, obwohl er ihn nach der Schwertleite ersteinmal wieder ablegt (2829), so gewonet sein, daß er sich selbst beim Eintritt ins Kloster nicht aus ihm herauslösen lassen will (11456ff.). 73 Vgl.2318ff., 2558ff., 2784ff. 74 Rennewart erhält zur Schwertleite das Pferd Margarite (2681ff.; über bunte Pferde vgl.auch oben S.52ff.). Der Name (im Göttweiger Trojanerkrieg 7927 u.ö. auch für das Pferd des Paris benützt), ist eine Ableitung von Li Margaris. Wolfram hatte aus diesem französischen Namen (Aliscans 8034) die Form Lignmaredi (WW 420,23) gewonnen: dieses Roß gehörte Poydwiz und läuft, seit dieser gegen Heimrich den Schetis fiel (WW 411,11ff.), mit leerem Sattel über die Walstatt. Oukin erkennt daran den Tod seines Sohnes (WW 420,24ff.), und der Erzähler deutet voraus: dies Pferd wart ouch Rennwarte sider (WW 420,22), doch wird davon im Willehalm nichts mehr erzählt - vgl.Lofmark (1972), S. 156ff., 215ff.; Werner Schröders Paraphrase "von Rennewart in der zweiten Schlacht erbeutet"(WW [Schröder], S.640f.; ebenso Kartschokes [1968] Übersetzung) gibt der Text so oder so, als Vorausdeutung oder in aktualer Erzählung, nicht her. Wolframs Vorausdeutung (zur Forschungskontroverse vgl.Schmidt [1979], S.207f.) bleibt also im Rennewart nicht unerfüllt: wie in der Bataille d'Aliscans (8027ff.) erhält der Protagonist das Pferd bei der Investitur - doch ist es mittlerweile ein anderes geworden. Gegen den Willehalm (und Aliscans) wird berichtet, der Markgraf (nicht Heimrich der Schetis) habe es einem König Grauere (oder Krotirs 2761: jedenfalls nicht Poydwiz) abgewonnen, der mit knapper Not habe fliehen können (2684ff.). Der Sachverhalt läßt, wie andere Beispiele auch, erkennen: Ulrich kommt es nicht auf ein Erzählen an, dessen Anknüpfungen ans Vorgefundene stets widerspruchsfrei und unübersehbar wären. (Ich merke vorsorglich an, daß es sich hier nicht nur um ein winziges Detail handelt. Zu bedenken wäre, daß wir, am Schreibtisch unsere Tage hinbringend, leicht zur Unterschätzung der Bedeutung alles Equestrischen, so es nicht allegorisch etwa überhöht und also geistesgeschichtlich belangvoll ist, in einer Kultur wie der des 13.Jahrhunderts geneigt sein könnten.) 75 Vgl.2782ff., 2826ff. 76 Vgl.WW 290,2ff. 293,21ff. 429,16ff. 430,11ff.; Lofmark (1972), S.158ff. 228 könnte, etwas überfordert. Deswegen wird er zwar nicht revoziert, doch später teilweise annuliert: formvollendeter Ritter ist Rennewart nur in Orense, als Lehensherr und Krieger wird er – ohne daß der Bruch im Erzählgefüge an der Textoberfläche Spuren hinterließe – wieder die Stange führen.77 Doch zunächst ist Rennewart mit der Schwertleite in den Topfhelm gesteigerter zivilisatorischer Verdichtung eingelötet und so jener Status erreicht, von dem aus sich das eigentliche Ziel des hier beobachteten, final angelegten Handlungszusammenhanges direkt anpeilen läßt: die Tochter des Königs. Nach narrativem Umfang (3079-5667) und episodischer Ausdifferenzierung ist dieser vierte der wichtigste von Rennewarts Integrationsschritten. Er wird durch eine doppelte Brautwerbung vorbereitet. Heymrich zunächst zieht als Werber zusammen mit den Rittern des Reichsheeres, die auf Alytshantz Willehalm unterstützt hatten78, an den Hof des Königs nach Munleun; auf einer Zwischenstation in Naribon (3258ff.) wird er auch von seinen Söhnen in dieser Rolle bestätigt, das heißt, die Werbung ist nicht nur eine Angelegenheit des ehemals heidnischen Königssohnes, sondern auch der Aimeriden-Sippe. Bei Lois sodann bringt Heymrich seine Werbung vor (3969ff.), die er mit einem Bericht über den vor allen andern Rennewart verdankten Sieg über Terramer einleitet: in seinen Worten und in Gestalt der umstehenden französischen Ritter (3958ff.) auch leibhaftig ist also einer der zentralen Gründe unmittelbar gegenwärtig, mit denen Rennewart seinen Anspruch auf des Königs Tochter untermauern kann. Alise wird der Lohn für vollbrachte Dienste im Heidenkrieg sein.79 Zu gleicher Zeit ist in Orense Rennewart zu ungeduldig, als daß er einen Erfolg von Heymrichs Werbungsfahrt abwarten könnte. Mit Willehalm bricht er gleichfalls nach Munleun auf, wo jener die Werbung seines Vaters wiederholt und mit dem Königspaar die Vermählung aushandelt. Sie wird nach dem Konsens von Braut (5017ff.) und Bräutigam (5054ff.) unverzüglich rituell (5076ff.), dann auch sakramental (5106ff.) und schließlich sexuell (5158ff.) vollzogen. Hierbei kommt es darauf an, keine Zeit zu verlieren, weil nur so der Heiratsvorgang in allen seinen Schritten noch auf den Pfingsttag fällt.80 Die Verbindung des Sohnes des heidnischen Großkönigs mit der christlichen Königstochter zeigt sich darin als in besonderer Wei77 Vgl.oben Anm.35. Vgl.3080ff., 3250ff. usw., 3864ff., 3958ff. 79 Das wird von Anfang an präzise in jener Wahl formuliert, vor die Rennewart die Christenheit stellt. Für den Fall seiner Verbindung mit der Königstochter verspricht er: min [Kriegs-]dienst mich niht riwet: er wirt etiswa geniwet, daz [Heiden-]muoter kint beweinet. (3109-3111) Doch ist die Alternative nicht minder eindeutig und gewaltsam: mir enwerde diu sueze Alyse, ich tuon daz vil der kristenheit fueget kummer und groze leit. (3126-3128) Diese Drohung wird den Prozeß der Brautgewinnung recht kontinuierlich begleiten; vgl.3243, 3408ff., 3492f., 3546ff., 3623ff., 4056ff., 4078ff., 4099ff., 4196f., 4879ff., 4926ff. 80 Vgl.4523, 4883, 4946ff., 4974f., 5030ff. 78 229 se von Gott inspiriert, und die Figuren sind dessen als eines stabilen Grundes ihres Handelns inne: hiut ist des heren geistes tac, da von uns nymmer enmac hie an iht misselingen. (4883-4885) In einzigartiger Weise also ist die Ehe Alises und Rennewarts ausgezeichnet, und an ihrer Frucht, dem Weltenbeherrscher Malefer, wird sich das imposant bestätigen. Zuvor jedoch hatte das Erzählen immer wieder Gelegenheiten genützt, das unbezähmbare Hingezogensein des Ritters zu seiner Braut als Anlaß ungezüglten Zorns81, des Aufbrechens eines noch dünnen Zivilisationspanzers zu zeigen, darin jene Hintergründe des epischen Geschehens sichtbar werden, welche ein Inhaltsreferat nur unzulänglich wiedergeben könnte. Denn Alise ist nicht nur der Lohn für Rennewarts Kriegs-, vielmehr auch der für seinen Küchendienst: der König sol mir lonen (daz ist reht) daz ich vil der zueber truoc.82 Deswegen ist Lois' Verheiratung seiner Tochter Entschädigung Rennewarts und Entschuldigung seiner selbst zugleich: der Bräutigam möge, so bittet der König, durch liebe gein mir vergezzen daz du daz wasser truege und minen koch ersluege und in daz viur in ræche. vil wol du dich erræche swaz er dir tet zu leide. e daz din lip nu sheide von mir, und han ich sinne, ich gewinne diner hulde minne. wær mir din art baz erkant, ich wær bliben ungeshant.83 Es geht um den Adelsstatus Rennewarts.84 Sein zorn ist der Bedeutung proportional, welche für ihn die Verbindung mit der Tochter des Königs hat, und an dieser ist, gewissermaßen objektiv, weil von der französischen Hofgesellschaft anerkannt, der gewaltige Schaden abzulesen, welchen Terramers Sohn in der und durch die Rolle des Küchenjungen erlitt. Nicht weniger als das Gefangenwerden Willehalms in Todjerne traf sie den sarazenischen Adligen im Zentrum seiner Identität, und erst mit der Hochzeit in Munleun ist nicht nur Rennewarts verwandtschaftliche und sakramentale, sondern auch seine soziale Integration in die Christenwelt abgeschlossen und sein art wieder ganz.85 81 Vgl.3100ff., 3564ff., 3694ff., 4104f. u.ö. 3554f.; vgl.auch 4080ff., 4651f. 83 4696-4706. Es war übrigens des Markgrafen, nicht des Königs Koch, den Rennewart grillte, vgl.WW 288,1f. 289,18f. 84 Vgl.3092ff., 3220f., 4010ff., 4020ff., 4188f., 4832ff., 5234f. 85 Vgl.X.12. 82 230 Mit der Verheiratung von Alise und Rennewart ist am Ende des hier in den Blick gerückten Romanausschnitts eine erste große Zäsur im epischen Prozeß erreicht (5667). Sie zeigt sich einerseits am Neueinsatz künftigen Handlungsgeschehens: Willehalm kehrt nach Orense heim, das erneut von einem sarazenischen Heer unter Terramers Führung belagert wird. Zugleich läßt sich dieser Einschnitt aber auch im Rückblick auf Vorangegangenes begründen, zumal wenn dieser Wolframs Epenfragment noch einmal einbezieht. Uwe Pörksen und Bernd Schirok haben für den Willehalm-Torso mit Blick auf mögliche Fortsetzungen ein Resümee gezogen. "Folgende Handlungsfäden verlangen nach einer Weiterführung: 1. Der Verbleib Rennewarts (zurückgeblieben? gefangen?? tot???) 2. die Frage seiner Eingliederung in die Gemeinschaft der Christen, also der Taufe und des Ritterschlags 3. die Preisgabe seiner Herkunft, um die ihn Willehalm (192,27 ff.) und Giburg, die ihre nahe Verwandtschaft mit ihm ahnt (272,21ff. 290ff.), gebeten haben 4. der soziale Aufstieg Rennewarts – das 'Dienst'Versprechen Willehalms ihm gegenüber (331,9ff.; vgl. 453,1ff.) 5. die Vermählung zwischen Rennewart und Alize mit Unterstützung Willehalms (284,11ff., 285,14ff., 331,14ff.). In der Einleitung des 'Willehalm' verheißt Wolfram einen glücklichen Ausgang (hôhes muotes tac, vreuden künfte) nach durchlittener Mühe (12,2f.). Dieses für den höfischen Roman charakteristische Lösungsmodell scheint in dem Plan Wolframs gelegen zu haben."86 Dieses harmonische Ende wäre an der markierten Stelle des Rennewart im pfingstlich hochgestimmten Fest des königlichen Hofes tatsächlich erreicht.87 Auch sind die genannten Handlungsfäden nun alle sorgfältig abgekettelt. Wäre nur handlunsglogische Kohärenz und Kompletion des Erzählten das Ziel des Erzählens, ginge es allein darum, zum nächsterreichbaren Ende zu führen, was an Wolframs Text fragmentarisch unabgeschlossen ist, dann hätte sich Ulrich von Türheim hier schon seiner Aufgabe als Fortsetzer vollständig entledigt. Daß es den angedeuteten Schlußkonfigurationen zum Trotz mit der Hochzeit von Rennewart und Alise noch nicht ein Ende hat, ja daß der Rennewart, sieht man aufs Textvolumen, noch kaum richtig begann – obwohl er im Umfang schon etwa zwischen der Türheimschen und der Freibergschen Tristanfortsetzung liegt –, das bestä86 Pörksen / Schirok (1976), S.61. Unter Wolframs Plan verstünde ich hier die der überlieferten Erzählung ablesbaren Konzeptionsmerkmale. Die Formulierung vom 'sozialen Aufstieg' ist wohl ungenau. Besser spräche man von Rennewarts schrittweiser Rückkehr in eine geburtsständisch vorgegebene Position. 87 Demgemäß sind die Zeit des Heidenkrieges vor dem Fest und die Festzeit selbst nach dem Jahreszeitentopos der wandelunge als März und Mai einander zugeordnet (4454ff.). Demgemäß auch sind die dem Fest vorausgegangenen Antagonismen, der Heidenkrieg und die Gefährdung von Rennewarts Heroenstatus, im Fest selbst noch präsent: aller Bedrohlichkeit entledigt ist das Außerfestliche im Fest in der Form des Spottdialogs zwischen Willehalm und Rennewart (53905513) spielerisch aufgehoben. 231 tigt, was längst nicht mehr demonstriert zu werden braucht: daß anstatt eines Zuendekommenwollens ein Weitererzählenwollen die hier studierten Romanfortsetzungen des 13.Jahrhunderts begründet. Zugleich bedeutet die Zäsur des narrativen Prozesses, welche diese Argumentation beschrieb, selbstverständlich nicht, das nachfolgende sei voraussetzungsloses Erzählen. Ganz prinzipiell ist es ja ein Weitererzählen schon vorstrukturierter epischer Welten, und konkret sind Ansatzpunkte, also Vorgaben für die narrative Kontinuation an verschiedenen Stellen in die bisher interpretierte Episodenfolge eingelassen. Unüberhörbar wird dies vor allem in einer himmlischen Prophezeiung88, durch welche Rennewart in der Hochzeitsnacht von der bevorstehenden Geburt eines Sohnes und dem Tod Alises dabei erfährt. Zugleich teilt die Stimme mit, daß Alises Seele der göttlichen Gnade teilhaftig sein (5198ff.) und der Sohn seinen Vater an Stärke und Macht überbieten, also hie uf der erden vil hohen pris werden (5193f.) erringen werde. Mit letzterem ist in aller formelhaften Kürze ein Handlungszusammenhang, nämlich Malefers Weg zum mächtigsten Herrscher der Welt, benannt, welcher Ulrichs Riesenwerk bis in seine Schlußpartien hinein prägen wird und von dem aus die vorliegende Interpretation wichtige Aspekte ihrer zentralen These zu entwickeln hofft. Aber auch strukturell sind die bei Wolfram Offengebliebenes zunächst einmal abschließenden Episoden des Rennewart auf Fortsetzung hin angelegt. Ulrichs Munleun-Abschnitt referiert, so ist zu sehen89, auf denjenigen im Willehalm, und eben so wird er zum Element der Rekapitulation eines von Wolfram vorgegebenen narrativen Schemas, welches in mehreren Durchgängen das epische Gerüst des größten Teils des Türheimschen Fortsetzungsromans bildet. Davon wird später und ausführlicher die Rede sein. Hier will ich nur ganz knapp zeigen, daß die auf ein Weitererzählen gerichtete strukturelle Dynamik von Ulrichs Munleun-Abschnitt sich schon in den unmittelbar auf ihn folgenden Versen enthüllt. Rennewart und Alise am Königshof zurücklassend zieht Willehalm nach Orense. Hier hat Terramer erneut, und zwar zu dem dritten male (5763), einen Belagerungsring um die Stadt gelegt und Kyburc darin eingeschlossen – auch um dieses Repetitionsmechanismus willen, der sich in der Zählbarkeit der Durchgänge durch ein im Kern identisches Handlungs-, aber auch Erzählschema objektiviert, mußte die Markgräfin der Hochzeit ihres Bruders fern in Orense bleiben. Willehalm dringt durch den Belagerungsring in die Stadt vor, er berät sich dort mit der Markgräfin und wagt, nach gemeinsamer Liebesnacht, mit kleinemn Soldatentrupp einen kurzen Aufall aus der befestigten Stadt, der so erfolgreich ist, daß die Führer des sarazenischen Heeres dessen Kampfbereitschaft ganz neu herbeireden müssen. Willehalm aber, wie er es von vorneherein geplant hatte (5794ff.), verabschiedet sich von Kyburc und bricht mit nur drei Begleitern nach Munleun auf, um für die große Heidenschlacht Rennewart zu Hilfe zu holen. Dieses Unternehmen ist indes gewissermaßen doppelt disfunktional, denn erstens lehnt 88 5172-5295. Eine solche Prophetie - Meissburger (1954), S. 133ff., hat sie als Beispiel eines ergreifend Allgemeinmenschlichen gerühmt - fehlt in der mutmaßlichen französischen Quelle für diesen Teil von Ulrichs Erzählung; vgl.Aliscans 8497ff. 89 Vgl.X.13. 232 Rennewart jede Unterstützung ab, er will seine schwangere Gattin nicht allein lassen (6390ff.), und zweitens sind, ohne daß der Markgraf davon wüßte, die Sarazenen unterdessen wieder abgezogen. Gott selbst hat nämlich direkt in die Geschichte eingegriffen und zur Sonnwende (6218) mit grimmem Frost und schlimmen Unwettern die Angreifer zur Flucht gezwungen. Handlungslogisch sinnlos, ist also Willehalms Mission in Munleun doch erzähllogisch plausibel: als Teil einer Wiederholung der entsprechenden Szenenfolge nach der ersten Alischanz-Schlacht im Willehalm, einer Repetition, die Ulrichs Erzählen, so zeigt es die stichworthafte Inhaltsübersicht, seit der Hochzeit in Munleun regiert90 und auf die hin auch die vorangegangenen Handlungsabschnitte ausgerichtet waren – obwohl sie zugleich unübersehbar Schlußfunktionen erfüllten. 4. Das Kontinuum des Erzählten und seine Zäsuren: So geht es nicht weiter. Im Wechsel von Detailaufnahme und Halbtotale Ulrichs Text wie bisher zu durchmustern, würde diesen nicht überfordern, wohl aber Verfasser und möglichen Lesern der vorliegenden Studien den Atem nehmen. Vieles, ja der größte Teil des Rennewart kann hier nur im summarischen Überblick, in der – um noch einmal diese Filmmetapher zu benützen – Distanz der Totale gezeigt werden. Freilich ist schon eine Inhaltsangabe von Ulrichs Willehalm-Fortsetzung ein Unterfangen nicht ohne Fährnisse. Denn es wäre ja keine unvernünftige Maxime, daß es erkenntnisfördernd detailliert sein sollte, andernfalls besser auf ein solches Referat des Erzählten verzichtet werde. Mit Blick auf die Dimensionen und Proportionen dieses Kapitels spräche diese Maxime hier für Enthaltsamkeit. Über sechzehn Druckseiten umfaßt etwa O.Kohls keinesfalls ungebührlich detailorientierte Inhaltsangabe.91 Weil ich aber auf sie verweisen kann, mag es hier vielleicht doch angehen, über den größten Teil des Romans eine geraffte und grob strukturierte Übersicht zu geben. Daß zudem unter ganz bestimmmten Aspekten das Genus der Inhaltsangabe dem Rennewart auf besondere Weise angemessen ist, will diese Interpretation späterhin noch zeigen können. Mein Referat setzt beim Abzug des von Frost und Unwetter gebeutelten Sarazenenheeres ein. Willehalm erfährt davon bei seiner erfolglosen Rückkehr aus Munleun und verteidigt daraufhin vor Kyburc die Weigerung Rennewarts, zu helfen. In Munleun (6902ff.) belehnt unterdessen König Lois seinen Schwiegersohn mit dem Fürstentum Portebaliart, einer Grenzmark gegenüber den Sarazenen. Prächtig ausgestattet übernimmt Rennewart dort die Herrschaft, doch mühen ihn die Trauer um Alises bevorstehenden Tod ebenso, wie erneute heidnische Bedrohung. In der Schlacht besiegt der Fürst die Angreifer und zwingt den König Pantanis, mit großem Gefolge sich taufen zu lassen. Bald darauf richtet sich Alise mit Beichte und Eucharistie auf ihren Tod ein, sie verabschiedet sich von ihrem Gatten und gebiert, sterbend 90 91 Vgl.auch Westphal-Schmidt (1979), S.26, 84. Vgl.Kohl (1882), S.129ff. 233 im Geruch der Heiligkeit, einen Sohn. Unter großer Trauer wird er auf den Namen Malefer getauft und Alise bestattet. Alsbald (9298ff.) jedoch verdoppelt sich Rennewarts Klage noch: Aus der Wiege wird sein Kind von fahrenden Kaufhändlern entführt und über See an Terramer verkauft, der es zur Erziehung dem ehemaligen Gatten seiner Tochter, Tybalt, übergibt. Alle Hoffnungen in künftigen Christenkriegen setzen die Könige auf Malefer, der seinen Vater an Größe, Stärke und Schönheit beträchtlich überbieten wird und als Säugling schon zehn Ammen benötigt. Was vorliegt ist also eine Art kontrafaktischer Wiederholung der Kindheitsgeschichte Rennewarts92, die an dessen Sohn in die narrative Gegenwart umsetzt, was bei Wolfram immer nur im Modus der Retrospektive ins Erzählgeschehen hereingeragt hatte. Zugleich verspricht der Säuglingsraub den Sarazenen jene alte militärische Überlegenheit gegenüber den Christen wieder aufzurichten, die mit Rennewarts Eingreifen in die Alischanz-Schlacht und seinem Sieg über Purrel zusammengebrochen war. So werden handlungslogisch die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß der epische Prozeß nach etablierten Verlaufsschemata sich fortsetzen kann. Parallel dazu wird mit Rennewarts conversio zugleich ein neues Handlungsmuster eingeführt, das gewissermaßen die Heroenbilanz in der epischen Welt trotz der Geburt eines neuen und alle überragenden Helden ausgeglichen zu halten erlaubt. In tiefer Trauer um Gemahlin und Sohn beschließt der Ritter die Welt zu verlassen und in ein Kloster einzutreten. Gewaltsam (10288ff.), unterwegs einen Mönch seiner Kutte und zahlreiche Städter ihres Lebens beraubend, und ohne Rücksicht auf den Pförtner dringt er in das Kloster Sant Julian ein, wohin seine Schritte von Gott selbst gelenkt worden waren.93 Der Konvent nimmt ihn, nicht ohne Widerstände, auf und so gibt Rennewart zwar zunächst einen schlechten – unter der Kutte stets den Panzer tragenden, zu laut singenden, die Horen verschlafenden – Mönch ab, doch auch einen wehrhaften Verteidiger seines Klosters. Immer wieder schlägt er sarazenische Angriffe zurück, kapert einmal auch das Schiff des Ritters Kruchan – zu reichem Gewinn des Konvents übrigens –, schont diesen aber und schickt ihn mit den Leichnamen gefallener Heiden zu Terramer.94 Dies aber befördert den dort von langer Hand gehegten Entschluß zu erneutem Überfall auf Orense. Gegen Kruchans Rat (und also mit nur schwacher Legitimität) bereitet Terramer den Krieg vor, den an seiner Statt der inzwischen großgewordene und längst wirkungsvoll gegen die Christenheit aufgehetzte Malefer führen soll. Mit einem ganzen Geflecht von Kriegsgründen, darunter Rache für bisherige Niederlagen und den Raub Arabels, Frauendienst und die Vatersuche des über seine Herkunft ungewissen stärksten aller Krieger, ausgestattet, mit Rechtfertigungen also, die fallweise und punktuell abrufbar sind – weil es hier nur 92 Vgl.10060ff. Zugleich funktioniert das geraubte Kind auf der Handlungsebene als Faustpfand gelingender Vergeltung für Willehalms Entführung der Heidenkönigin Arabel, vgl.9974ff., 10186ff. 93 10293ff. Hier und öfters wird dieserart die Gottgefälligkeit des Weges ins Kloster episch versinnbildlicht, vgl.etwa 10616 f., 15570ff., 15621, 21479ff., 25254ff., 34234ff., 35180ff. 94 Vgl.oben Anm.54. 234 auf den Krieg und nicht auf seine Gründe ankommt –, setzen die Sarazenen mit einer unerhört großen und prächtigen Armada über Meer. Willehalm uf des glueckes rade stat gnuog lange gehabet hat. (13170f.) Malefers Sarazenenheer belagert seine Stadt Orense, bei deren Verteidigern sich Sorge und Gottvertrauen die Waage halten. Nach den nötigen geistlichen Zurüstungen ziehen die Christen zu einer ersten Schlacht aus, in deren Mittelpunkt neben dem Gefecht Willehalms mit Tybalt und den Heldentaten Malefers, welcher – aus Versehen, wie es scheinen könnte – nur Sarazenen tötet, der Zweikampf des Markgrafen mit Matusalan steht. Er läßt sich in einer schweren Niederlage samt seinem Gefolge zu Christus bekehren läßt. Als sich die Verteidiger nach Orense zurückziehen, schließt sich wieder der Belagerungsring um die Stadt. Willehalm aber – fast hätte man es schon prognostizieren wollen – macht sich auf den weiten Weg zu Rennewart, ohne dessen Beistand der Krieg nicht zu gewinnen wäre. Fast Fünfviertel Jahre (16334f.) ist er unterwegs, ehe er jenen in seinem Kloster findet. Doch zunächst entzieht sich der Mönch der Bitte um Kriegshilfe, bis endlich der Abt zum Heidenkrieg ausdrückliche Erlaubnis gibt. Zurück im belagerten Orense fordert Rennewart den Heerführer der Heiden zum Zweikampf heraus. Er wird diplomatisch ausgehandelt und repräsentiert gewissermaßen den zweiten Teil der kriegerischen Auseinandersetzung von Heiden und Christen in diesem Feldzug. Solcherart ergibt sich eine um Willehalms Hinund Rückweg zwischen Orense und Rennewarts Kloster herum aufgebaute, grob axialsymmetrische Struktur, die offenkundig als vom Willehalm-Modell her geprägt zu verstehen ist und zugleich das dort Erzählte gewissermaßen überbietet: der Retter gegen die Heiden kommt nicht mehr aus der Küche der Königsresidenz, vielmehr aus dem Kloster, er ist der von Gott gesandte Streiter.95 Während des heftigen Zweikampfes der beiden mit einer Stange bewaffneten Helden erkennen sich Christ und scheinbarer Heide, Mönch und König, als sie zum Atemholen pausieren, im Gespräch als Vater und Sohn. Malefer wechselt auf die Seite der Christen über und bekehrt zusammen mit dem Bischof von Tolus viele Heiden, schont aber auch, gegen seines Vaters und des Markgrafen dezidierten Einspruch, diejenigen, die die Taufe verweigern, und läßt sie unter Tybalts Führung abziehen.96 Es folgt der Empfang der Heidenbekrieger durch Kyburc in Orense. Malefer konfirmiert seine Taufe, indem er vor dem Bischof das Glaubensbekenntnis ablegt, zum erstenmal verliebt er sich in eine Dame und er empfängt aus seines Vaters Händen die Herrschaft Portebaliart. 95 Vgl.16682, 16888f., 16904f., 16928f., 19566ff., 27695 u.ö. Argumentiert man hingegen wie Bumke (1959), S.43ff. (vgl.auch Ruh [1980], S.189), daß sich schon im Willehalm "Rennewarts Riesenkraft [...] als fortitudo dei" offenbare (S.44, dagegen Schmidt [1979], S.466; vgl.WW 325,1ff. 452,21ff.), dann wäre seine Stilisierung bei Ulrich, die bis zu wundertätiger sanctitas Rennewarts reicht (25879, 26408ff.), die explizite Bestätigung eines Rezeptionszeugnisses für diese Wolfram-Deutung als einer geschichtlich möglichen. Es gibt weitere, aus anderer Tradition stammende, doch in ähnliche Richtung weisende Belege, etwa bei Dante (Divina commedia, Par.XVIII,46) und vielleicht an der Fassade des Veroneser Doms (dazu Schröbler [1971], S.261ff.). Der Kasus zeigt, daß Rezeptionsforschung in der Konkurrenz von Textinterpretationen zwar historische Plausibilitätsentscheidungen, nicht aber dies Konkurrenz selbst zu entscheiden erlaubt. 96 Vgl.oben Anm.54. 235 Dann nimmt er sie in Besitz, während Rennewart allein nach Sant Julian heimkehrt, dort dem Abt vom fast kampflosen Sieg über die Unbgläubigen berichtend. An dieser Stelle, nach etwas mehr als der Hälfte von Ulrichs epischer Wegstrecke, setzt die Erzählung wiederum neu ein: alrerst ich nu beginne der mær diu sagent wunder (20090f.). Willehalm hatte Malefer nach Portebaliart begleitet und kehrt nun nach Orense zurück, unterdessen Terramer das heidnische Kriegsgeschick beklagt und gegen Tybalts Rat ein neues Heer zu sammeln beginnt. In Orense weiß man alsbald von dieser erneuten Bedrohung – Baldewin, der selbst zu Hilfe kommen wird, hatte die Information übermittelt –, und plant umfassende Verteidigungsmaßnahmen. Der Markgraf eilt nach Portebaliart, wo Malefer und der König, der eben bei seinem neuen Vasallen zu Besuch ist, sogleich ihre Hilfe zusagen. Lois bietet zum Heidenkrieg das Reichsheer auf.97 Gleichermaßen werden Heymrich und seine Söhne, denen Willehalm ebenfalls in Portebaliart begegnet, sowie – mit Erlaubnis seines Abtes – auch Rennewart, den der Markgraf in seiner Abtei aufsucht, an der großen Schlacht sich beteiligen. Diese wird ihrer Bedeutung nach alle bisherigen Kriegszüge überbieten98, doch zunächst suchen sich, nach dem Aufmarsch unermeßlicher Truppen, die Gegner mit Terroranschlägen heim: Terramer, sich als Arabels Sohn Emereiz ausgebend, dringt des nachts mit Tybalt bis in des Markgrafen Zelt vor, und erst als sie schon Hand an Kyburc legen, sie zu töten, erwacht Willehalm und jagd sie mit dem blanken Schwert in die Flucht. Gegenreaktion ist der nächtliche Überfall eines kleinen Spähtrupps unter Willehalms Führung auf das sarazenische Lager. Im Schlaf überraschen und töten die Christen eine Schar lazedämonischer Riesen, die Terramers gefährlichste Waffe waren und seinem Zelt zunächst ihr Lager aufgeschlagen hatten. Nicht übersehen werden sollte dabei, daß dies den christlichen Streitern ganz ohne die Hilfe ihrer eigenen Riesen, Rennewarts, Malefers und Baldewins, gelingt. Aus dem Rückzug des Expeditionskorps entwickelt sich sodann im Morgengrauen die offene Feldschlacht. Zwei Tage währt sie und vor allem tut sich in ihr der Fürst von Portebaliart hervor, der gleichwohl diszipliniert genug ist, auf Rennewarts Rat hin von einem Zweikampf mit seinem Großvater Terramer abzusehen. Als nach schwersten und verlustreichen Kämpfen, in denen etwa auch Willehalm verwundet wird, am zweiten Tag Emereiz von Lois überwältigt und Tybalt von Berhtram gefangengenommen wird, läßt Terramer zum Rückzug blasen. Durch den höllischen Gestank gefallener Heiden flieht er zur See (23867ff.), doch setzen ihm Malefer, Rennewart und Baldewin nach: vergeblich versuchen sie Terramer zu bekehren, auch eine Begegnung mit seiner Tochter lehnt dieser ab, doch schwört er den Christen ewigen Frieden, und diese sagen im Gegenzug die Freilassung der gefangenen Heidenkönige zu.99 Zurück in Orense (25748ff.), werden die Sieger glanzvoll empfangen. In einem kleinen Intermezzo wirbt Rennewarts und 97 Der Heidenkampf ist zugleich Krieg zur Verteidigung des riches (vgl.21027ff., 21396ff., 21531ff., 22315ff. 22824ff., 23094ff. 25321ff. usw.) und Kreuzzug (vgl.22309ff., 22634ff., 22926f.). 98 Vgl.etwa 20462f., 21015ff., 21387ff., 21518ff., 21537, 21682 ff., 21716ff., 21754f., 21899ff., 22526f., 22882ff. 99 Vgl.oben Anm.54. 236 Kyburcs Bruder, der heidnische König Passiguweiz (bei Wolfram Bassigweiz), um des Christenkönigs Nichte Kassine, dann kehrt er, abgewiesen, mit Tybalt und Emereiz zu Terramer zurück. Anschließend verabschieden sich auch die christlichen Hilfstruppen zur Heimfahrt. Malefer zieht nach Portebaliart und Rennewart in sein Kloster, wo er, drei Jahre nach seiner conversio, eines seeligen Todes stirbt. Bald darauf endet auch Heymrichs von Naribon und Irmensharts Leben. Es ist eine Art gemeinsamen Liebestodes (25693) und mit großer Klage erfüllen er und der Tod Rennewarts das ganze Land, vor allem aber Willehalm und Kyburc. An dieser Stelle verläßt der Roman Ulrichs von Türheim die Kreisbahn seines bisherigen Erzählens und erobert sich neue epische Welten und alternative narrative Modelle: Nu hat iuch mines hertzen sin mit arbeit braht da hin daz diz buoch ist dar gedigen daz Willehalmes wirt geswigen, der dizz buoches herre ist, aber nit wan an die vrist biz ich gesage von Malfern, wie des hertze kunde gern daz er hohe an prise stige. (26047-26055) Der Herr einer kleinen Grenzmark zum Machtbereich der Sarazenen wird seinen pris steigern, indem er sich aufmacht den Erdkreis zu erobern: Malfern den werden des verdroz daz diu welt was wit und groz und im der breiten erden niht mer kunde werden wan sin lant Portebaliart. (26075-26079) Die Disproportionalität von Macht und Machtanspruch stößt den Weg in die Welt an. Malefer zieht zunächst nach Falfunde, gewinnt dort Baldewins Beistand und gemeinsam attackieren sie Terramer. Der versucht gegen Tybalts Rat eine diplomatische Einigung, doch lehnt Malefer ab. Vielmehr greift er Baldag an100, so daß Terramer sich ergibt und ihm ein Frieden diktiert werden kann, der den fliehenden Tybalt ausdrücklich ausschließt. Des Siegers nächste Etappe ist Marroch, das er im Sturme nimmt, dabei sich Baldewin vor allem durch die Überwältigung des kampfstarken Königs Faufaserat auszeichnet. Dann versammelt Malefer seinen Großvater Terramer, den marrokkanischen König und ihr riesiges Gefolge: der Sieger übernimmt Faufaserats Länder und belehnt damit dessen zur Taufe bereiten Sohn Gamelerot; auch Terramer 100 Terramers Hauptstadt liegt ganz nach Bedarf des epischen Gefüges in Kordes (Cordoba), wenn es etwa auf die Unmittelbarkeit heidnischer Bedrohung des Abendlandes ankommt (vgl.593, 611, 4875 usw.), oder in Baldag (Bagdad), wenn sie - wie hier - eine Ausgangsstation (27164) für den Vorstoß in die Grenzsäume der Welt ist. 237 erhält seine Länder von seinem Enkel zum Lehen, der sich auch mit Tybalt versöhnt; zugleich wird die Verheiratung von Terramers Sohn Passiguweiz, der sich taufen läßt, mit Faufaserats Tochter Bearosine verabredet. Malefer aber erfährt von einem Cherubim, daß ihm eine kuenginnne [...] zu Asya namens Penteselie als seine künftige Gattin vorbestimmt sei (28462ff.). Dann zieht man nach Marroch, wo in aller Pracht Bearosines Taufe und ihre Ehe mit Passiguweiz gefeiert wird. Malefer bricht von dort nach Asya auf und Gamelerot begleitet ihn; er nimmt künftig die Rolle Baldewins ein, der seinerseits von Terramer ehrenvoll in seine angestammte Herrschaft geleitet wird. Man versteht, wenn die Erzählung so weit fortgeschritten ist, den Sinn des Intermezzos zwischen Passiguweiz und Lois' Nichte Kassine nach der letzten großen Alytshantz-Schlacht (24766ff.). Es inauguriert eine minne-Handlung101, deren Ziel in der Verbindung des Terramer-Erben Passiguweiz mit dem Königreich Marroch liegt. Dies wird zumal darin deutlich, daß sich die Logik dieser Handlung gegen die Intention des Akteurs entfaltet, der nicht Kassine bekommt, obwohl er sie will, sondern, trotzdem er sich anfänglich dagegen sträubt (28668ff.), die marrokkanische Prinzessin. Am Schluß dieses Erzählteils aber ist bei Malefers Aufbruch nach Asya die Erde auf bemerkenswerte Weise pazifiziert und geordnet: die gesamte Heidenschaft, die in der Welt des Textes die Herrschaftsbereiche Faufaserats und Terramers repräsentieren102, ist mittels Belehnung und Erbgang schon jetzt oder zukünftig in der Hand zweier christlicher Fürsten103, Gamelerot und Passiguweiz, welche, über Bearosine, miteinander verschwägert und Vasallen jenes am Pfingstabend gezeugten späteren Orientbeherrschers Malefer sind, der, so darf hier schon einmal angedeutet werden, väterlicherseits Terramers Enkel und mütterlicherseits derjenige des Kaisers Lois ist. Die minne-Handlung um Passiguweiz führt in den Horizont einer Utopie, wie sie sich eine Heidenkriegserzählung des 13.Jahrhunderts nur immer ausmalen mag. Malefer und sein Heer sind unterwegs zu Penteselie (29688ff.). Sie unterwerfen, obwohl der Heerführer zwischendurch alle Symptome von Minnekrankheit zeigt, den König von Kappadocia und erobern dann in schweren Riesenkämpfen und offener Feldschlacht Jerichente. Dessen Herrscher Befamareit zwar rät von einer Fortsetzung 101 Zur Verknüpfung ihrer Etappen nach dem Schema von Vorausdeutung und Erfüllung vgl.28683ff. 102 Vgl.etwa 27246ff., 27775ff., 27852ff., 28187ff., 28382ff., 28817ff., 31924ff. Daß es gleichwohl noch immer unbefriedete Heiden gibt, wie Malefer auf seiner Asienfahrt und Willehalm nach seiner conversio erfahren (Matribuleiz), gehört zu jenen Widersprüchen des Textes, die aus zwei offenbar gleich wichtigen, doch unvereinbaren Aussageabsichten entstehen: der Text zeigt Malefer als den Beherrscher und Befrieder einer Welt, die desungeachtet prinzipiell zwischen den Heiden und den Christen manichäisch aufgespalten ist. 103 Aus der Logik der epischen Konstellationen ergibt sich, daß Passiguweiz als Terramers wohl mächtigster Sohn dessen Erbe sein dürfte (vgl.28392ff.: ich gehe von einer Belehnung mit vererbbaren Lehen aus; vgl.Westphal-Schmidt [1979], S.208 Anm. 1), und nur wenn man in Passiguweiz das künftige Haupt der ganzen Sippe sieht, wird Terramers Argumentation zugunsten seiner Taufe (28774ff.) plausibel. Aus der epischen Konstellation, so wird noch darzulegen sein, erklärt sich auch, warum Terramer nicht selbst die Rolle des christlichen Herrschers übernehmen könnte. 238 des Heerzuges ab, doch erneut erscheint Gottes Cherubim und versichert, daß in kurtzer vrist (31590) alle Prophezeiungen erfüllt sein würden. Alsbald begegnet der Held in der Schwellensituation eines amönen Ortes der Königin Penteselie von Ephesus und ihrem Amazonengefolge. Die von Gott füreinander Bestimmten sind sogleich in großer minne unauflöslich fest miteinander verbunden. Von Penteselie gezwungen schickt Malefer sein ganzes Heer unter dem Kommando Gamelerots in den Okzident zurück und fährt allein mit seiner künftigen Gemahlin zu Schiff nach Ephesus (31945ff.), wo im Münster die Ehe gestiftet und dann Malefer als neuer Herrscher den Vasallen vorgestellt wird; zwanzig Könige belehnt er mit ihren Königreichen. Penteselie entbindet alsbald einen Sohn, der seinen Vater an Stärke bei weitem überbietet und auf den vom Cherubim bestimmten Namen Johannes getauft wird. Als er erwachsen ist, erbt Johannes von seinem Vater einen goldenen Harnisch, auch eine mächtige Stange, und gemeinsam ziehen sie noch vor des Sohnes Schwertleite gegen den Heidenkönig vom Wilden Meer und seine Völker. Danach bricht dieser Erzählstrang ab. Malefers Leben ist zu Ende, er geht ins Paradies ein und Penteselie stirbt ihm in großer Liebe nach. Johannes weiteres Dasein aber machte dem Erzähler niht daz mære kunt, da von ist ez ungesaget. (33138f.) Ein letztes Mal setzt Ulrichs von Türheim Willehalm-Fortsetzung neu ein (33140ff.), um das mære nun schließlich doch anz ende zu bringen (33166). Kyburc und der Markgraf sind längst alt und grau geworden und entschließen sich zur conversio. Sie wird Inkluse, Willehalm aber wird Konventuale jenes Klosters in Sant Julian, in dem schon Rennewart den Tod erwartet hatte. Er verteidigt den Besitz der Abtei gegen Holzdiebe und verrichtet demütig die niedrigsten Arbeiten. Als Kyburc nach acht Jahren der Klausur stirbt und Willehalm es erfährt, wird er Eremit 104 und als solcher für ein Lustrum wunderbar von Gott gespeist. Jener Angriff des Matribuleiz schließt sich hier an (34332ff.), der den Einsiedler zur Verteidigung von Reich und Christenheit noch einmal in die Welt zurückführen wird.105 Als die Heiden dann abgezogen sind, Willehalm einen Riesen getötet und sich auch vom Königspaar verabschiedet hat, kehrt er in die Einsiedelei zurück und gründet dort ein Kloster. Dessen erste Reliquie sind die Gebeine Kyburcs, sie erweisen sich nach ihrer Translation als vielfach wundertätig. Ein letzte Mal zieht Willehalm gegen Diebe am Besitz des Konvents aus, in dem er später auch seine königliche Schwester bestattet, dann wird er krank und stirbt im Geruch und mit den Zeichen der Heiligkeit – einer sanctitas, so weiß es der Epilog, der vor allem Ritter vertrauen können: sande Willehalm (36449) ist gerne der ritter bote. dicke siner gnaden trost manigen ritter hat er erlost von vil engestlicher not. [...] swer sine hystorien ie gelas, 104 105 Zur literarischen Tradition vgl.etwa Mertens (1978), v.a.S.44 ff.; Fromm (1984), S.198ff. Vgl.oben S.185ff. 239 der weiz wol, daz den reinen kunde got so meinen daz er manic zeichen tet durch in. (36458-36469) Davon jedoch hatte die historia Ulrichs von Türheim nur am Rande erzählt. Ihr Inhalt war vor allem eine endlos scheinende Folge kriegerischer Auseinandersetzungen mit den ungläubigen Sarazenen gewesen. Einige Strukturelemente dieser Folge lassen sich nun, vom Ende einer vieles verkürzenden, manches unterschlagenden Inhaltsübersicht her zusammenfassend bestimmen. Wie im Leben so setzt auch in dieser Literatur die tiefsten Zäsuren der Tod.106 Dies ist weder natürlich noch selbstverständlich, doch hat der Türheimer sein Erzählen tatsächlich in vier große Etappen mit beschwertem Zielpunkt gegliedert, deren erste vom Abschluß der von Wolfram her fortgesetzten Alytshantz-Schlacht bis zu Alises Tod führt, deren zweite, die größten Heidenkriege umgreifend, von Malefers Entführung und Rennewarts Moniage bis zu dessen Tod sowie demjenigen Heymrichs und Irmensharts reicht. Die dritte Etappe sodann, mit dem Tode Malefers endend, erzählt dessen Niederwerfung der Heiden, Asienzug und Königsherrschaft im Amazonenreich Penteselies, die vierte und letzte ist der Moniage Willehalms, mit dessen Tod die Fortsetzung endet. Man könnte angesichts dieser klaren Zäsurierung von einer additiven, bloß "blockhaften Fügung des Geschehens" sprechen107, und Christa Westphal-Schmidt hat zu demonstrieren versucht, daß solches den Rennewart nicht nur auf der hier in den Blick genommenen Makroebene, sondern bis in seine narrativen Kleinstphasen hinein kennzeichne. Doch ist solche Blockhaftigkeit als Symptom von "strukturellen Auflösungserscheinungen"108 des epischen Gefüges nur dann zu werten, wenn man diesem einen bestimmten – und nicht sehr elaborierten ("geschlossene Gesamthandlung", "integrierende Kraft einer Hauptfigur") – Strukturtyp als Norm vorgibt. Dabei scheint mir die Möglichkeit unterschätzt, daß auch ein additiv episodisches Erzählen zum Beispiel durch Bezugsetzungen zwischen Ähnlichem oder, im Gegenzug, Kontrastierendem zu diskursiven Synthesen kommen kann, deren Komplexität diejenige narrativer Additivität überbieten mag. Des Titelhelden Zweikämpfe mit Terramer und Baldewin am Anfang des Rennewart, die in einem früheren Abschnitt dieses Kapitels zur Diskussion standen, böten dafür einen Beleg. Auch Schematisches und gerade jene Reibungen, die stets bei der Wiederholung narrativer Muster erzeugt werden, sind Modi der diskursiven Erzeugung erzählerischen Sinns. Solches Schematische, das wird man freilich zugeben, enthält die vorliegende Fortsetzung im gerüttelten Maß. Einen genügend exzentrischen Gebrauch des Schemabegriffes vorausgesetzt wird sich bei Ulrich nur weniges finden, das nicht auch in anderen Texten nachzuweisen und so als klappernde Repetition von stets und längst zum Automatismus erstarrten Erzählelementen zu denunzieren wäre. Doch geraten solche Unternehmen leicht außer methodologische Kontrolle. Deswegen mag es an dieser Stelle genügen, 106 Vgl.Kohl (1882), S.129. Westphal-Schmidt (1979), S.42. 108 Ebd., S.43. 107 240 einige wenige, in Ulrichs Text selbst rekurrente narrative Modelle und ihre Strukturierungsleistung für das Gesamt des epischen Prozesses anzudeuten. Nicht zu übersehen und für diesen Prozeß von kaum zu überschätzender Bedeutung ist dabei der Angriff heidnischer Heere. Er führt im Normalfall zu einer ersten militärischen Konfrontation, in welcher die Christen die Unterlegenen sind, so daß sie Beistand herbeischaffen müssen, mit dessen Hilfe dann in einer zweiten kriegerischen Auseinandersetzung die Sarazenen vertrieben werden können. Dieses Ereignisraster, das den Christen stets die Rolle bedrängter Opfer vorschreibt und eo ipso ihr Kämpfen vom Selbstverteidigungsrecht in der Notwehrsituation her legitimiert, bildet offensichtlich das "Schema der äußeren Handlung (Niederlage - Beschaffung eines neuen Heeres - Sieg)"109 von Wolframs Willehalm ab. Auf seine Gliederungsfähigkeit baut der Rennewart-Erzähler auch dort, wo etwa die französischen Chansons de geste andere Ordnungen des Erzählten ermöglichen oder nahelegen könnten110, und er benützt es in mehreren Durchgängen. Dabei tritt dieses Schema nicht nur in seiner hier stichwortartig benannten Grundform, sondern auch in Variationsformen auf: zum Beispiel so, daß es zur siegreichen Schlacht gar nicht kommt, weil die Heiden, während sich Willehalm in Munleun um Beistand müht, von Gott mit Frost und Unwetter vertrieben werden (6212ff.), oder aber, weil schon der dem Mönch Willehalm vorauseilende Ruf die Heiden unter Matribuleiz zum Abzug zwingt (34825ff.).111 Weitere Handlungszüge, die durch Wiederholung als epische Entfaltungen einer narrativen Matrix erkennbar werden, sind etwa die conversiones von Rennewart und Willehalm, ihre Verteidigungsleistungen für das Kloster und seinen Besitz, oder der Überbietungsmechanismus, der in der Generationenfolge von Terramer über Rennewart und Malefer hin zu Johannes jeweils den Sohn sehr viel stärker als seinen Vater werden läßt. Dieses Heldenschema der Überbietung112 erzeugt eine auch qualitativ strukturierte genealogische Reihe – und mit ihr narrative Fortsetzungsmöglichkeiten –, welche ihrerseits eines der wichtigsten Organisationsmodelle des Erzählens im Rennewart ist. Allerdings nur eines der wichtigsten. Denn die über vier Generationen hin verfolgte Geschichte einer Sippe, die vor allem in ihren beiden mittleren Gliedern, Rennewart und Malefer, das Thema der Konfrontation von Christen und Heiden in vielfältiger Brechung zu gestalten gestattet, diese Geschichte ist mit einer anderen, einem alternativen Erzählmodell folgenden verschränkt. Jenes Mehrgenera109 Pörksen / Schirok (1976), S.67. Vgl.hierzu wie zu diesem Erzählschema des Rennewart überhaupt Westphal-Schmidt (1979), 24ff. 111 Gewissermaßen als die geistliche Inversionsform dieses ritterlichen Handlungsmodells lassen sie die Bekehrungsgeschichten der besiegten Heiden Baldewin und Matusalan lesen. Sie geloben in ihrer Niederlage, sich taufen zu lassen, jedoch ziehen sie erst in ihre Reiche, um von dort mit gewaltigem Gefolge ins Abendland zurückzukehren und dann mit diesem zusammen das Sakrament zu empfangen; vgl.1603ff., 14253ff.: Handlungsschematismus bewirkt hier zugleich, daß sich das Erzählen aus einem identischen Sprachformelschatz speist. Dieses Schema funktioniert zugleich als epische Klammer größerer Erzählphasen, weil zwischen seinen einzelnen Stationen Raum ist für das Fortspinnen anderer Erzählfäden. 112 Vgl.Rupp (1979), S.244f. 110 241 tionenmodell ist (andere Erzählstoffe und französische Chanson de geste-Zyklik einmal außer Acht gelassen) spezifisch eines von Ulrichs Fortsetzung, diese Alternative hatte hingegen schon der Willehalm vorgegeben oder nahegelegt: wie zuletzt Willehalms Moniage zeigt, ist es sein Lebenslauf, der Ulrich von Türheim ebenso wie dann später dem Türliner und also der ganzen Trilogie den epischen Rahmen setzt. Die vita des einzelnen Helden, nicht die Geschichte einer ganzen Sippe, ist es, die der Zyklus von der Heirat der Eltern des Markgrafen über dessen Kindheit am Hofe Karls, seine Gefangenschaft und Heirat, seine Heidenkriege und seine Mönchwerdung bis zum endlichen Tode verfolgt. 5. Die weltzugewandte Seite der Geschichte: Gegenüber den strukturellen Vorgaben eines an Willehalms vita orientierten Erzählens gewinnt Ulrich von Türheim die größte Distanz im Malefer-Teil. Hier hat die Geschichte nicht nur, wie zwischendurch schon mit Rennewart, einen neuen, vom Generationenschema generierten Protagonisten. Hier verläßt sie zudem ihre bisherige epische Welt und greift topographisch bis in die größte Ferne des Amazonenreiches und chronologisch derart ins Unabschließbare aus, daß, so wird es inszeniert, nur noch die Zufälle der Überlieferung dem Erzählen Einhalt gebieten können. 113 Auch aus anderer Perspektive noch betrachtet ragt dieser Erzählteil um Malefer aus dem Rennewart heraus: stoffgeschichtlich, da hier die Möglichkeit des Vergleichs mit französischen Chansons de geste, die einer Quelle Ulrichs nahegestanden haben könnten, ausfällt, denn es gibt keine Branche mit einer Orientfahrt Malefers114 und wahrscheinlich hat es sie nie gegeben; handlungsstrukturell, da hier das Schema von heidnischem Angriff, Hilfeholung und Vertreibung der Heiden nicht zu erkennen ist; vielleicht auch motivgeschichtlich, wenn hier ganz andere literarische Bezugshorizonte ausgestrahlt haben sollten, als in den vorausliegenden Teilen des Rennewart. Westphal-Schmidt hat ihre Interpretation der Malefer-Handlung völlig auf diesen letztgenannten Aspekt abgestellt und hervorgehoben: "Es ist hauptsächlich das Motivinventar der Spielmannsepik, das zum Aufbau der Malefer-Handlung benutzt wird: Machtausdehnung oder -sicherung, Brautwerbung, Orientfahrt, Heidenkampf und Heidenbekehrung."115 Davon wird sicherlich im Malefer-Teil des Rennewart erzählt, doch unverkennbar sind die Züge der Resignation an diesem Deutungsversuch, dem einzig je gewagten, der um seiner angedeuteten Linie willen etwa die "religiöse Motivation" von Malefers Orientfahrt mal als "völlig aus dem Blickfeld" geraten116, mal als "bei allen folgenden Eroberungszügen gewahrt"117 sehen will, oder der den gesamten Ephesus113 Vgl.33092ff., 33133ff. Vgl.Kohl (1882), S.280f.; Westphal-Schmidt (1979), S.205. 115 Westphal-Schmidt (1979), S.205. 116 Ebd., S.206. 117 Ebd., S.208 114 242 Abschnitt unterdrücken muß.118 Obzwar Malefer schließlich eine Braut erwirbt, wäre es doch die Frage, ob vom Schema der gefährlichen Brautwerbung und seinen spielmannsepischen Ausfaltungen her der in Frage stehende Romanteil mehr als nur punktuell zu erfassen ist. Freilich sind Übereinstimmungen auch im Einzelnen zum Beispiel mit dem Orendel nicht zu übersehen119, und deswegen soll hier nicht bedeutet sein, eine Analyse der Malefer-Handlung mit Blick auf das Handlungsmodell der gefährlichen Brautwerbung vermöchte zu einer Rennewart-Interpretation nichts beizutragen. Doch bleiben anderseits zentrale Positionen dieses Schemas120 in der Werbungserzählung von Ulrichs Roman leer: so gibt es keinen Werbungshelfer, keinen Brautvater, der mit List oder Gewalt auszuschalten wäre, auch nicht die Inszenierung eines Risikos möglichen Scheiterns; der Erfolg ist nicht nur von der Logik der Erzählung her garantiert, vielmehr in dieser selbst durch die Cherubim-Vision vorweggenommen. Der Weg zu der aus fremden Welten stammenden Braut ist frei von Aspekten, die ihn als Durchgang durch den Tod erwiesen, als Prozeß der Zerstörung und Rekonstruktion der Figur, wie er – in ganz anderem Zusammenhang – auch in jener Geschichte zu erkennen war, in der Willehalm für sich ebenfalls über Meer eine fremde Frau erwirbt. Übrigens begegnet auch eine wesentliche thematische Differenz (mit handlungslogischen und strukturellen Folgen): Sicherung der Herrschaftsnachfolge in Portebaliart ist für diesen Werber von Anfang an kein Thema und wird es auch später nicht. Die angestammte Herrschaft gerät völlig aus dem Blick, während Malefer im Gegensatz zu dem, was die Vorgaben des Schemas wären, in Ephesus allein die Kontinuität von Herrschaft im Lande der Braut sichert und für immer im Orient bleibt. Hier ist also, mit anderen Worten, die Ausfahrt des Werbers schon seine Heimkehr. Nach Personal, epischen Welten und Geschehnismustern ist der Malefer-Teil von Ulrichs Rennewart in drei wiewohl miteinander verzahnte, so doch deutlich voneinander abhebbare Teile gegliedert. Im ersten wird von Malefers Siegen über Terramer und den marrokkanischen König Faufaserat sowie daraus sich ergebenden Veränderungen von Herrschafts- und Sippschaftsgefügen erzählt (26060-29687); abkürzend werde ich ihn den 'Astarat-Teil' nennen. Der dritte Erzählblock mit dem 118 Ebd., S.210 Anm.2: "Der Abschluß der Malefer-Handlung [...] trägt nichts weiter zum Thema bei und kann außer Acht gelassen werden." 119 Darunter die Rolle des Werbers als König im Reich der Braut (Jerusalem: Orendel 1469ff. Ephesus: TR 32356ff.), deren Rolle als kämpfende Frau (Orendel 2081ff., 2112ff., 3874ff.; vgl.Curschmann [1964], S.125, womit Penteselies anfängliche Amazonenstärke TR 31790ff. zu vergleichen wäre), auch die Bedrohung der Königsherrschaft durch angreifende Heiden (Orendel 1388ff., 1566ff. usw.; TR 32738ff.) oder die himmlischen Eingriffe in die Handlung (Orendel 710ff., 820ff., 1020ff., 1460 ff., 2177ff. usw.; vgl.auch Münchner Oswald 43ff., 1779ff.; Westphal-Schmidt [1979], S.209f.). Doch könnten gerade am letztgenannten Punkt auch Differenzierungen entstehen, wenn zu fragen wäre, ob göttliches Handeln durch prädestinatorische Sicherung Risiko und Bewährungsdruck für den Werber in den Brautwerbungsepen so wie im Rennewart außer Kraft setze. Auch würde ein Vergleich zum Beispiel nicht übersehen können, daß anders als bei Ulrich die von der Braut übernommene Königswürde den Werber im Orendel nicht von der Heimkehr in seine angestammte Herrschaft abhalten kann. 120 Vgl.die Literaturhinweise oben S.28 Anm.68. 243 Handlunsgzentrum Ephesus umfaßt Malefers Heirat mit Penteselie, die Geburt des Sohnes Johannes und dessen erste Heidenkämpfe bis hin zu Malefers und seiner Gattin Tod (31938-33139). Beide Abschnitte werden durch ein Mittelstück, Malefers Asienfahrt zur Braut erzählend (29688-31937), verkettet. Im Astarat-Teil konstituiert das Erzählen zunächst zwei Episodenfolgen mit Malefers Unterwerfung erst Terramers, dann Faufaserats, die demselben Schema eingeschrieben sind: 1.Angriff, 2.Austausch von Botschaften, 3.Sieg über die Sarazenen, die sich ergeben und ihre Herrschaften dem Sieger übertragen. In einer dritten Episodenfolge wird auf dem Gestellungsplatz Astarat daraus die Summe gezogen. Zwei strukturell parallele, sukzessive erzählte Sequenzen werden in einer dritten Episodenfolge (an einem dritten Ort) zusammengeführt. Das Verfahren sichert einerseits durch Verschränkung von Handlungszügen den Zusammenhalt des epischen Prozesses.121 Andrerseits erzeugt es wie von selbst in Astarat eine großartige Szene, in welcher der Konvent aller unterworfenen Heiden – der kuenge wærn tusent wol (27823) – den angemessenen, weil unüberbietbaren Rahmen für die Apotheose Malefers bildet. Er hatte in den vorangegangenen Kriegen mit Terramer und Faufaserat die beiden Großkönige der Heidenschaft, einer mächtiger als der andere122, und also einen ganzen Erdteil samt seinen Göttern sich untertan gemacht123 und stellt das nun in Astarat im Modus aristokratischer Repräsentationshandlungen als Vergegenwärtigung feudaler Oberherrschaft dar. Dazu gehören die Belehnung Terramers124 und des MarrochErben Gamelerot ebenso wie die genealogische Verfugung der nun aus Malefers Hand stammenden Königreiche durch die Verheiratung von Terramers Sohn Passiguweiz mit Gamelerots Schwester Bearosine. Ein vil hoch gekroenter Malfer (29369) wird so als eine Art Weltherrscher sichtbar125, dessen Pazifizierungskraft sich auch auf jene ausstreckt, die bisher stets den Frieden zu brechen in der Lage gewesen waren, und der daher später an Willehalm und Kyburc das (vorläufige) Ende sarazenischer Bedrohung melden lassen kann: 121 Nach der Unterwerfung beordert Malefer Terramer nach Astarat, dann zieht er gegen Marroch und nimmt als Sieger auch Faufaserat das Gelübde ab, zur Neuordnung der Herrschaft im heidnischen Teil der Welt unter der Hand des Christen dort in Astarat zu erscheinen. Terramer besendet übrigens ebenfalls seine Vasallen nach Astarat, weil er hofft, Malefer mit großem Heer gegen Marroch beistehen zu können (27242ff., 27267ff.). Daran zeigt sich des Protagonisten Überlegenheit, der Faufaserat schon bezwungen hat, während sein Großvater noch Truppen sammelt. Erkennbar ist aber auch, daß es darauf ankommt, Heiden ohne heidnische Hilfe zu unterwerfen (27295ff., 27333ff., 27737ff.). 122 Und zwar im hyperbolischen Wortsinne: Terramer ist mächtiger als Faufaserat (vgl.400f., 26606ff., 26794, 28104, 29385f.), und dieser zugleich mächtiger als jener (vgl.27186ff., 27199 ff., 27216f., 27775ff., 27852ff., 27862f.). 123 Vgl.etwa 27246ff., 28187ff., 28200ff., 28381ff., 28817ff., 31924ff. 124 Sie wird in Baldag schon angekündigt (27153ff.), doch erst in Astarat vollzogen (28392ff., 28423f.); diese Verfugung haben Hübner (TR, S.401) und Westphal-Schmidt (1979), S.208 Anm.1, übersehen. 125 Möglicherweise nicht völlig widerspruchsfrei sind die Angaben über Malefers okzidentale Herrschaften (26068ff., 26454ff.), doch ist klar, daß er als Erbe des Lois-Erben Rennewart (vgl. X.12.) legitime Ansprüche auf die römische Kaiserkrone hat: 26177ff. 244 e warn sie in vorhtlicher not. da von sint sie enbunden, und vil gar ueberwunden swaz mohte in gewerren. (31924-31927) Darin artikuliert sich eine Rolle des Protagonisten, von der sich erweisen wird, daß sie handlunsglogisch und strukturell für die Möglichkeit eines Endes des Erzählens vom Markgrafenpaar wesentlich ist: erst in seiner Apotheose ist Malefer der, als welcher der Text ihn funktional benötigt. Darum ist er hier auch die Erfüllung dessen, woraufhin seine Figur von Anfang an ausgelegt war. Von nicht zu überbietendem Adel, gewissermaßen der 'Spitzenerbe' des edelsten christlichen wie zugleich des edelsten heidnischen Geschlechts, besitzt Malefer, der seinen Vater an Heldenstärke weit überbietet, der zu Pfingsten gezeugt wurde und in einer wirklichen, für die Mutter also tödlichen Heldengeburt zur Welt kam, auf dem Hoftag von Astarat genau jene weltumspannenden Machtfülle, die seinem Adel, seinem Heroenstatus, seinem art gemäß ist. Und genau deswegen war der Protagonist auch von Portebaliart aus gegen die Heiden ausgezogen.126 Dort nämlich war seinem Rang und Machtanspruch die Fürstenherrschaft über nur eine kleine Grenzmark der Christenheit disproportional gewesen: mich dunket gar ein shande daz so clein ist min gewalt und doch min art ist dar gezalt daz nieman uf der erden lebe des art an hoehe ob mir swebe (26114-26118) Allein diejenige über die Welt kann für Malefer art-adäquate Herrschaft sein und sie erfüllt sich, weil sie zeremoniell darstellbar wird, in Astarat vor dem Hintergrund und den Augen ungezählter Könige. Die Form, in welcher sich diese Herrschaft erfüllt, nachdem Terramer fürs nackte Leben alle seine Länder abliefern (26751ff.), Faufaserat lip, lant und krone (28115) 126 Doch ist es charakteristisch für Ulrichs überdeterminiertes Erzählen, daß es neben dem Interesse an art-adäquaten Herrschaftschancen auf der Ebene motivationaler Episodenverkettung ad hoc noch andere Gründe für Malefers Angriff auf die Heiden gibt: Terramer hatte als Verlierer der letzten großen Schlacht vor Orense dauernden Frieden geschworen (23859ff., 23936f., 24298ff., 24566ff., 24640ff., 25140ff.), der jedoch von Tybalt gescholten, also gebrochen worden war (24145). Das war an seinem Ort ein schlecht begründetes Erzählelement gewesen, schafft aber nun Anschlußfähigkeit für die Malefer-Handlung, denn der Friedensbruch stattet deren Protagonisten mit einem guten Kriegsgrund für seinen Angriff auf Terramer aus (26473ff., 26506ff., 26538ff., 26582ff., 26691 usw.), den dieser in seinem allerdings abgelehnten Angebot eines Waffenstillstands auch anerkennt (26521, 26569ff., 26620ff., vgl.auch 26680ff.). Konsequenterweise wird von dem nach Terramers Niederlage dann geschlossenen neuen Friedensvertrag Tybalt ausdrücklich ausgeschlossen (26813ff.). Wenn Malefer Kyburcs ersten Gatten dann endlich doch per procurationem in seine pax christiana aufnimmt (28986ff.), dann ist dieses den Abschluß der Versammlung in Astarat bildende Zugeständnis auch eine Demonstration der Ungefährdetheit der Machtstellung des obersten Herrschers. 245 hergeben mußte, und bevor die Unterworfenen als Vasallen ihres neuen Oberherrn belehnt werden, diese Form zeigt, daß das Stichwort von der Apotheose nicht nur in übertragenem Sinn seine Berechtigung hat: Da diu gabe geshach Malfer vil lute sprach: 'ich wæne, diu welt ie gewan bi dirre zit keinen man der so riche ie wuerde mer. swaz lande hat Terramer und der kuenc Faufaserat, diu lant min lip betalle hat. so han ich Portebaliart.' 'nie kein man so richer wart', sprachen sie alle geliche, der arme und auch der riche, 'als ir, lieber herre, bint. und wært ir eines gotes kint, ir doerftet sin nit richer. nie man gewalticlicher under den heiden gelebte nie. zwene man [Terramer und Faufaserat] stent vor iu hie, die richer warn verre danne Mahmet unser herre, oder wær der got Jovis.' 'herre Malfer, sit gewis, ir sit geborn von den goten [...] swer getruwet Tervigande, der ist da mit versumet: er hat den hymel gerumet und wil in Malfern lan. den sueln wir zu eime gote han. (28185-28222) Die göttergleiche Überhöhung des Heidenbezwingers erscheint hier in der Perspektive der Unterworfenen, doch ist sie darin nicht eigentlich gebrochen, denn Gott selbst sanktioniert sie mittelbar mehrfach: a priori, indem er Malefer auf seinem kriegerischen Weg gegen die Heiden leitet127, und a posteriori, indem er dem gerade Erhöhten seinen Cherubim als Glück verheißenden Boten schickt und ihn so vor der Öffentlichkeit der Vasallen128 auszeichnet. 127 128 Vgl.26376f., 27366ff., 27550ff. Die von Malefer reportierte Cherub-Vision wird in Details sofort von der epischen Realität eingeholt und darin sowohl öffentlich als auch in ihrer Autorität unangreifbar; vgl.28453 ff., 28508ff. 246 Diesem Aspekt der Erscheinung des Himmelsboten treten andere zur Seite. Jener zunächst, der sich aus dem episodischen Ort der Prophezeiung nach der Belehnung Terramers und vor der Taufe und Belehnung von Faufaserats Sohn Gamelerot ergibt (28450ff.) und der besagt, daß es der übermächtige Lehensherr der Könige über die gesamte heidnische Welt sei, der zur stärksten Herrscherin der starken Amazonen passen wird (und vice versa nach den Regeln der Reziprozität feudalaristokratischer Geschlechterbeziehungen). Malefer und Penteselie, je für sich von singulärem Rang und unerreichbarer Stärke, sind exklusiv füreinander bestimmt – derart zwar, daß ihr Status von dieser Bestimmung vorausgesetzt und zugleich beglaubigt wird. Der dritte Aspekt des Cherubim-Auftritts schließlich wäre die göttliche Fundierung und Sanktionierung dieses Füreinander-Bestimmtseins, die sich während Malefers Fahrt zur Amazonenkönigin sichtbar bestätigt.129 Weil es sich also bei seiner um genuin christliche Herrschaft handelt, bricht Malefer von Astarat nach Ephesus mit einem Heer auf, in dem wie schon bei der Eroberung Marrochs Platz nur für Getaufte ist.130 Eine Interpretation dieser Reise und ihrer thematisch minne131 und Heidenkampf entfaltenden Stationen muß ich hier aussparen. Nur soviel sei angedeutet: die Diskrepanz dieser in die fremde Welt der Riesen und Amazonen führenden Werbungsfahrt nach Asya, daz ist gelegen ich enweiz wa (28470), und die zu überwindenden Schwierigkeiten sind hier wie sonst "Indikatoren für den hohen Wert der endlich vollzogenen Verbindung und für den Machtund Prestigegewinn des erfolgreichen Herrschers." Die "Werbung in der Ferne" demonstriert "grenzenlose Verfügung über den Raum", sie zeigt Malefers "Möglichkeit [...], trotz unzulänglicher Ressourcen in die Welt auszugreifen" und das Unerreichbarste zu gewinnen: "die fremden Reiche, ihre Schätze und Erbinnen."132 Am Ende der Reise gewinnt Malefer die Amazonenkönigin, die nicht mehr gewonnen werden muß, weil sie ihm vorab schon bestimmt war. Die Reise ist also einerseits Erfüllung des von Cherubim übermittelten Auftrages: du solt wenden dine sinne an eine kuenginne namens Penteseli (28465ff.). Zugleich erfüllt sie eine aus dem singulären Rang des Protagonisten hergeleitete Vorgabe, die schon beim Aufbruch von Portebaliart gegenwärtig war: ich sol mich etteswa gewiben, daz vil wol zimet miner art (26136f.). Die Werbungsfahrt nach Ephesus fügt dem Besitz der Weltherrschaft als dem einen Heroenattribut den Besitz der ebenbürtigen Frau als nicht weniger unverzichtbares Akzidenz hinzu: nur die stärkste Frau paßt zum mächtigsten Mann.133 Kompositorisch heißt das, es stehe am Beginn der Malefer-Erzählung des Rennewart 129 Vgl.28472ff., 30276ff. Vgl.28504ff., 29533ff., 29580ff. und oben Anm.121. 131 Im Vollzug der Passiguweiz-Bearosine-Ehe unterwegs in Marroch (v.a.29387ff.) ebenso, wie in Malefers Minnekrankheit (29700 ff.). 132 Ich verwende Formulierungen Wenzels (1983), S.197; vgl.auch Miller (1978), S.231. 133 Dieselbe Logik regiert in reziproker Konstellation die Amazonen-Szenen von Alexanderromanen, sofern diese damit in der Curtius Rufus-Tradition stehen: die Amazonenkönigin Talistria wählt den mächtigsten Weltherrscher Alexander als einzig in Frage kommenden, weil einzig angemessenen Vater ihres Kindes, vgl.Rudolfs Alexander 18063ff., 18229ff. (und dazu Brackert [1987], S.173f.); Ulrichs von Etzenbach Alexander 17561ff. 130 247 eine Handlung motivierende doppelte Vorgabe, die dann im Astarat-Teil einerseits und zum andern im abschließenden Ephesus-Teil eingelöst werde. So weitschweifig und redundant Ulrich von Türheim in dieser wie in andern Partien seines Romans auch erzählen mag: die Episodenfolge des Malefer-Abschnitts wenigstens ist nicht ohne den Zusammenhalt eines festen Rahmens. Worauf es hinsichtlich des letzten Drittels der Malefer-Handlung für meine Interpretation strukturell ankommt, ist hier schon angedeutet: der als Komplement einzigartiger Herrschaft Malefers singulären Rang bestätigende Gewinn der unvergleichlichen Frau und, daraus sich ergebend, die letzte Drehung dieser Schraube des Überbietungsschemas mit der nur noch skizzierten Johannesgeschichte. Die Utopie einer über die bekannten Teile der Welt hinaus weithin ausgreifenden und den alles Erzählen von Willehalm seit je fundierenden Antagonismus von Christen und Heiden in der Befriedung aufhebenden Weltherrschaft des christlichen Großkönigs, die darin angedeutet scheint, diese Vorstellung dürfte von keiner Rennewart-Interpretation übergangen werden – auch dann nicht, wenn sie den um Penteselie herum angeordneten Wissenselementen mit dem Verdikt des "Motiveklektizismus"134 epische Funktionalität und Sinn zu bestreiten gedenkt. Ich werde daher dieses Weltherrschaftsmodell vom Ephesus-Teil aus weiter zu konturieren versuchen, um es im folgenden dann auf das Weltentsagungsmodell des den Roman beschließenden Moniage zu beziehen. Doch wird zunächst die nicht alltägliche Konfiguration höchst disparater Traditionen heilsgeschichtlichen und mythologischen Wissens im Schlußabschnitt der Malefer-Handlung vorzustellen sein. Dabei ist mir dessen erzählerisches Funktionieren wichtiger als stoffgeschichtliche Ableitungen. Der zweite Abschnitt des Malefer-Teils, der Kriegszug zu Penteselie, und der dritte überlappen sich an amönem Ort (31630-31939): hier begegnen sich die Liebenden, doch trennt sie von Ephesus noch immer das Meer, und von hier aus schickt Malefer sein ganzes Heer in den Okzident zurück. Die Darstellung der um die Amazonenkönigin gruppierten Wissenstraditionen muß daher den Text anders gliedern als eine Analyse seiner Handlungsstruktur und diese epische Übergangszone zum letzten Drittel des Malefer-Teils hinzunehmen. In ihm sind durchaus konventionelle Handlungselemente wie Begegnung der Liebenden, Hochzeit, das under krône-Gehen von König und Königin nach der Brautnacht135, die Geburt eines männlichen Nachfolgers und Heidenkampf in einen Horizont außerordentlich synkretistischen Wissens hineingestellt. Dabei handelt es sich wohl um die einzige Partie in Ulrichs Rennewart, die in einer gewissen Dichte möglicherweise Wissens- und Bedeutungstraditionen von außerhalb des Willehalm-Stoffes herbeizitierte, die einzige Partie also, in welcher über ganz Punktuelles hinaus mit einer Ebene zeichenhaft vermittelten sekundären Sinns zu rechnen sein könnte. Die Koordinaten dieser Ebene wären durch eine Handvoll nicht ganz problemlos zu koordinierender nomina propria und deren je spezifische Assoziationshintergründe gegeben, nämlich: Penteselie (Penthesileia) und 134 135 Westphal-Schmidt (1979), S.213. Vgl.32348ff. und dazu zum Beispiel Nibelungenlied 643,3ff.; Rudolfs Alexander 18394ff.; Brackert (1987), S.176. 248 Amazonen, Ephesus und Johannes. Das paßt paarweise gut zusammen, aber nicht als Vierergruppe. Darum fragt sich, welche Ausschnitte aus den überhaupt mit ihnen verknüpfbaren Wissenstraditionen diese Namen in Ulrichs Erzählung selektiv aufrufen. Wenn ich zunächst dieser Frage nachgehe, dann auch in der Absicht vorzuführen, daß es sich nicht um von allen Bezeichnungsqualitäten abgelöstes, gleichsam frei flottierendes und derart beliebig disponierbares Namensmaterial handelt, sondern daß Namenssetzung auch hier sehr wohl Bedeutungssetzung sei. Ich beginne die Problemlokalisierung beim Problem der Lokalisierung und also mit der Frage: Wo liegt Ephesus? Die Frage ist trivial, die Antwort ist klar und sie bleibt es selbst im späthöfischen Roman. Ephesus ist die hauptstat [...] in der minnern Asya.136 Jedoch ist zwischen Kleinasien und Asya, wo Penteselies Hauptstadt liegt, ein beträchtlicher Unterschied. Malefers Orientfahrt macht ihn bewußt. Sie führt nicht nur aufs kleinasiatische Festland, sondern ins fast unerreichbar Weite 137, sie führt von Astarat, das man sich in der Nähe von Terramers Hauptstadt Baldag (Bagdad) denken wird, über Marroch (Marrokko, 28620ff.), Kappadocia (29848ff.), Regralataz und Jerichente138 bis auf einen anonymen locus amoenus und von dort dann mit dem Schiff (31945ff.) ins Amazonenland und zu dessen Metropole Ephesus. Erkennbar wichtig ist bei diesem Raumprogramm, auch wenn wir es weder mit unserer eigenen noch mit einer Erdkunde des Mittelalters zur Deckung bringen können, die Evokation beinahe weltumspannender Weiträumigkeit; dies aus den besagten Gründen der Demonstration von Herrschaftschancen und aristokratischem Rang. Solchem Aufreißen des von der Erzählung narrativ und von ihrem Protagonisten herrschaftlich integrierten Raumes dient auch die Inszenierung von Grenzübertritten, ja Schwellenüberschreitungen. Von den hornhäutigen Riesen über den locus amoenus der ersten Begegnung mit Penteselie139 bis zur Fahrt über Meer140: immer größer wird der Abstand, der Ephesus von den vertrauten Teilen der Welt trennt. Unverkennbar zieht Malefer, wie es dem Weltherrscher zukommt, bis an den Rand der Welt und der große Alexander ist deswegen, auch wenn der Rennewart solche Parallelen nicht ausspielt, vielleicht doch nicht ganz ohne Signalcharakter die einzige Vergleichsfigur, 136 Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich 260-263; vgl.auch Heinrichs Apollonius: Sy stosset an der von kriechen land (2622). 137 Vgl.29784, 30292f., 31537, 32376f. 138 Zwei Länder König Befamareits. Die geographische Ordnung ist unklar - und also kommt es nicht auf sie, sondern nur auf den Exotismus an: Ragralataz wird vorausschauend als Königreich hornhäutiger Riesen genannt (30405ff.), doch als Malefer eben sie bekämpfen muß, treten sie als Bewacher der Gebirgspässe Viprezel und Moraste (30440 usw.) auf, die auf dem Weg nach Jerichente zu queren sind. 139 In der Raumkonzeption ist noch das mythologische Wissen aufbewahrt, daß die Amazonen zur Fortpflanzung ihr Reich zyklisch verlassen und befristete Zeit in einem amönen Zwischenbezirk mit männlichen Kriegern Nachkommen zeugen; vgl.Herborts Liet von Troye 14331ff.; Rudolfs Alexander 18069ff.; Seifrits Alexander 4939ff., 5067ff.; Großer Alexander 3387ff. 140 Dieser Fahrt wegen (31945-32037), und weil später den Herrschern in Ephesus Bedrohung vielleicht nicht zufällig gerade von den wilden mern (32738) kommt, läßt sich vermuten, das Amazonenland sei hier wie in anderen Texten als Insel gedacht; vgl.Rudolfs Alexander 17992f. und besonders 18017ff.; Seifrits Alexander 4896ff.; Großer Alexander 3373. 249 die für den Protagonisten aus stoffremden Erzählzusammenhängen hier herbeizitiert wird (30756f.). Jedoch ist der ferne Ort der Amazonenkönigin zugleich der vertrauteste: es ist etwa – in einer nicht gerade allgegenwärtigen, aber doch genuin mittelalterlichen Konzeption – nach Rom mit Petrus und Compostela mit Jacobus der dritte der sedes apostolicae141, jener, der auf einer mittelalterlichen, von der göttlichen Syndesmosgestalt gehaltenen Schemakarte ad dexteram in regno terreno Christi, wie es im 'PseudoTurpin' (XIX,9) heißt, erschiene. Die heilsgeschichtliche Position dieses Ortes, den Malefer auf dem Weg über Bagdad und an Persien vorbei erreicht142, wird in den exkursorischen Hinweisen (31828-31869) auf Stationen der Johannes-vita deutlich gemacht. Er erinnert unter anderem an die Kreuzigung143, den Aufenthalt auf Patmos, wo der Evangelist gar die taugen sah, die keines menshen augen gesehent noch gesahen nie (31861-31863), sowie an die Niederschrift der Apokalypse. Beinahe wie selbstverständlich mutet es an, wenn an diesem Ort der Sohn einer von Gott selbst gestifteten Ehe auf den Namen des Evangelisten getauft wird, und wenig überrascht, daß dies auf Befehl des Cherub geschieht, der dem Körper des Täuflings 141 Vgl.Herbers (1984), S.72ff. Malefer bricht auf in Portebaliart, vielleicht dem pagus Pallariensis in Nordspanien (vgl.TR [Hübner], S.553), wohl also ganz im Westen des Erdkreises, und zieht unter anderem über Bagdad, wo er Terramer besiegt (26495 usw.; die Rede von einer späteren Eroberung Ninives verliert sich im weiteren Text; zur Zusammenstellung Ninive und dar zuo Baldag [26100] vgl.auch Wolframs Parzival 14,3ff.), und in gefährlicher Nähe an Persien vorbei (29806f., 29843f.) bis nach Ephesus, also doch wohl in den Osten. Heilsgeschichtliche Zusammenhänge, die oben angedeutet sind, können auch spekulative sein, daher folgender Seitenblick vielleicht erlaubt ist: gegen die Ost-West-Richtung der wichtigen Translationsmodelle, vielleicht aber auf den Spuren Alexanders, mit welchem das dritte Weltreich anhebt (vgl. Strohschneider / Vögel [1989], S.89, 103), folgt die Fahrt Malefers, so kann man bemerken, der Abfolge der ersten beiden Weltreiche Babylon - pars adhuc habitabilis Baldach [bei Ulrich Baldag] dicta (Otto, Chronica VII,3) - und Persien, um erst in der Stadt des Apokalyptikers Johannes (31867ff.) an ihr Ziel zu kommen. Dem Willehalm-Fortsetzer den Synkretismus einer solchen Konzeption zuzutrauen, würde wohl nicht auf strenge Kritk stoßen, doch bedürfte eine dem nachgehende Interpretation neben eindrücklicheren Textsignalen wohl auch einer historischen Plausibilitätskontrolle. Sie müßte wissen, wie selbstverständlich epische Orientfahrten etwa des 13.Jahrhunderts welt- und heilsgeschichtlche Ordnungs- und Transformationsmodelle zu konnotieren in der Lage waren. 143 Dabei akzentuiert die Anspielung auf Joh 19,26f. (Mulier, ecce, filius tuus. Deinde dicit discipulo: Ecce, mater tua!) besonders, daß da behielt ein maget die andern maget. (31845) Ähnlich heißt es zwar zur Hochzeitsnacht von Malefer und Penteselie: hie lit ein maget der mægde bi (32297), doch handelt es sich wohl weniger um eine spezifische Parallelisierung mit Johannes und Maria - sie wäre tatsächlich in hohem Maße auslegungsbedürftig - , als um die allgemeinere Betonung einer Spitzenqualifikation, wie sie auch etwa für Rennewart und Alise veranschlagt wird (4690ff.). Zugleich hat freilich der Keuschheitsdiskurs seit den Tagen des ephesischen Diana-Kultes (vgl. Apg 19,23ff.) in der kleinasiatischen Stadt einen seiner Orte. In der späthöfischen Epik sieht man es unter anderem daran, daß Herzog Liupolt und der König von Zyzya mit der Bitte um Erben eben zum jungfräulichen Apostel nach Ephesus pilgern (Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich 186ff., 418ff.), darin auch, daß Lucina nicht zufällig als ephesische Diana-Priesterin ihre Keuschheit bis zur Wiederbegegnung mit dem Gatten Apollonius konserviert (Heinrichs Apollonius 17219ff.). 142 250 den Namen Johannes (in kafkaesker Eigentlichkeit) förmlich einschreibt.144 Der neue Johannes aber, mit dem Blut des Atmirat von Baldag und des römischen Kaisers in den Adern145, ist der Sohn des mächtigsten Herrschers der Erde – und überragt seinen einzigartigen Vater nochmals an Größe und Stärke –, sowie der stärksten Frau, die in der Welt der Erzählung zu denken ist. Mit der Einpassung seines Körpers in Malefers Rüstung, das heißt mit der Übernahme der väterlichen Rolle als des überhaupt stärksten Kriegers146, sowie mit dem Herrschaftserbe in Ephesus, zuvor schon mit der Einschreibung des Evangelistennamens in seinen Körper und sodann der Taufe rückt der Sohn Malefers in eine Rolle sakral überhöhter Alleinherrschaft in der Nachfolge des Apostels ein: wie sueze got dich meinet, sun, daz du dich genannes zu dem herren sante Johannes, der ist ein ewangeliste. 32704-32707) Dem derart von Gott Geliebten wachsen Erlöserqualitäten zu – wol uns der reinen geshiht (32702) –, und mit Gottes Hilfe wird er ein gnadenhaft in Heidenkrieg und permanenter Herrschaftserweiterung (33050ff.) sich erfüllendes Leben führen. Auserzählt wird das nicht mehr, denn der hier in den Blick gerückte Romanteil orientiert sich an Malfers liep und auch [...] leit. (33112) Doch ist nicht verkennbar, daß dieser Erzählstrang an einer Stelle und erst dann abgebrochen wird, als eine Fortsetzung unter der bislang ihn bestimmenden Regel nicht mehr vorzustellen ist: "Die Klimax Rennewart, Malfer, Sohn war nicht zu überbieten."147 144 Vgl.32686ff., im Französischen heißt Rainouarts Enkel Renier (vgl.Kohl [1882], S.281). Von seiten seiner Mutter ist der neue Herrscher von Ephesus hingegen ohne Sippenvergangenheit: auf eine Abstammung Penteselies, und das heißt auf ihre (und damit des Johannes) genealogische Verflechtung in den Mythos verzichtet der Text; vgl.etwa Rudolfs Alexander 17912ff.; Ranke-Graves (1955), S. 119. 146 Vgl.32782ff. Daß die Rüstung die Rolle bezeichnet, wird bei Malefers Abschied von seinem Heer (31934ff.) und dann bei der Ankunft im Amazonenland in einer Kraftprobe mit Penteselie (32048ff., vgl.dazu X.14.) vorgeführt. 147 Busse (1913), S.159, fährt fort: "Für historisch nahm Ulrich seine Geschichte. Wo war nun dieser mächtigste Herrscher? Die in ahnungsvollen Dämmer gehüllte Gestalt des Priesterkönigs bot sich von selbst dar." Nur daß Ulrich von Türheim eine solche Anspielungsrelation in seinem Text, im Gegensatz zur Evangelisten-Nachfolge des Malefer-Sohnes, nirgendwo wirklich realisierte. Gleichwohl ist Busses Erinnerung an den Presbyter Johannes so abwegig nicht, wie Westphal-Schmidt (1979), S.212f., meint. Als Assoziationshintergrund für den Schlußteil der Malefer-Geschichte wird der mythische Herrscher Indiens kaum auszuschließen sein, und auch jenseits von Johannes-Name und unbezwingbarer Herrscherkraft (vgl.Schmidt [1983], v.a.S.85) gibt es bei Ulrich und etwa im Presbyterbrief (Zarncke [1879/1876], S.909-924) Textelemente, die solche Gedankensprünge ermöglichen: so die Verpflichtung auf den Heidenkrieg (32894ff., 33057 ff. usw. - Presbyterbrief 10f.) oder die Herrschaft über Amazonen (Presbyterbrief 55). Auch muß vielleicht der Bezug auf den Evangelisten jenen auf den Priesterkönig nicht zwingend außchließen; jedenfalls wird in der neueren Forschung wieder, freilich (vorerst) recht spekulativ, mit der Möglichkeit der Verwechslung oder, herausfordernder, Identifizierung der beiden Johan145 251 So wäre im Zulaufen des Erzählten auf den utopischen Telos eines an Macht und göttlicher Gnade unübertroffenen Herrschertums dem Malefer-Teil von Ulrichs Rennewart-Roman eine gewisse Stringenz gewonnen – allerdings vorerst nur um den Preis der Ausblendung des Sachverhalts, daß Penteselie eine Amazone, Ephesus die Hauptstadt des Amazonenlandes ist. Wieviel Spannungspotential dies gegenüber den hier zusammengetragenen Aspekten implizieren könnte, mag man sich an der vom Dichter des Reinfried von Braunschweig, allerdings wohl nur von diesem aktualisierten Möglichkeit klarmachen, die Amazonen als erste Verbündete des Antichrist und ihre Königin auch als Herrin der apokalyptischen Völker Gog und Magog aufzufassen.148 Die Spannweite eschatologischer Akzentuierungen scheint gewaltig: die Penteselie der Willehalm-Fortsetzung nämlich ist Christin, sie ist direkter göttlicher Ansprache würdig (31736ff.), sie ist zugleich Königin – doch über ein Reich von Frauen und Männern149 – und bis zum Verlust ihrer Virginität auch von größter Stärke. Die Qualifizierungen überkreuzen sich, und so wird man fragen, ob Penteselie überhaupt Amazone ist. Die Antwort muß lauten: sie war es. ich was genant Amazanes und hatte nit wan eine brust als dise vrawen. die verlust verlos ich, do des got gezam daz ich die botshaft vernam, ich soelte dich zu mane nemen. sin guete kunde ie sa gezemen daz mir diu eine brust verswant und zwa an mime line vant. [...] al die wile ich bin ein maget, so han ich sterke harte vil, als ich mit dir erziugen wil: du weist wol daz ich mit einr hant ane wêr dich vaste bant. als ich aber wurde ein wip, so hat die craft nit min lip; daz ist mins geslæhtes art. (31972-31993) Penteselie ist eine Figur im Übergang, oder besser: im sprunghaften Wechsel, da sich Veränderungen an ihr sowenig wie an Arabel prozeßhaft entwickeln, vielmehr mit dem göttlichen Wort oder dem sexuellen Vollzug der Ehe abrupt gegeben sind. nes gerechnet (vgl.Knefelkamp [1986], S.49 - dazu die Rezension von Siegfried Olms in: AfdA 100 [1989], S.115-119, hier bes.S.117). 148 Vgl.Reinfried von Braunschweig 19546ff., und dazu Neudeck (1989), S.200f.; Vögel (1990), S.77f. 149 Vgl.32040ff., 32109ff., 32356ff. u.ö. 252 Penteselies Körper ist nicht mehr der einer Amazone150, doch daß er es, war wird benötigt als plausible Begründung seiner Überkraft. Es geht um Qualifikationen der einzig dem Weltbeherrscher adäquaten Frau, um deren Stärke, körperliche Vollständigkeit und also Schönheit, deren Keuschheit151 und Frömmigkeit, um Qualifikationen also, die in jeweils unüberbietbarem Maße gegeben und plausibilisiert sein müssen, und eben darin einander tendenziell ausschließen. Deswegen erscheint diese Aggregation des je Singulären an der Oberfläche des epischen Prozesses als schrittweise Veränderung der Figur: Penteselie aggregiert simultan Rollenaspekte, die narrativ diachron auseinandergelegt werden.152 Eben und nur dieserart kann sie von amazonenhafter Stärke und zugleich von schöner körperlicher Integrität und christlicher Frömmigkeit, gerade so kann sie bei der Werbung die stärkste Jungfrau und nach der Hochzeit die beste, also rollenkonform schwache Gattin sein.153 Es wird deutlich, daß die mythologisch hintergrundreichen Textelemente, die Ulrich von Türheim im Schlußdrittel seiner Malefer-Geschichte zusammenträgt, weder von dorther als Mythenrezeption erklärbar sind, noch unter dem Vorsatz, ihren gleichsam horizontalen Zusamenhang als kohärenten zu rekonstruieren.154 Ihr Sinn ist vielmehr, gewissermaßen vertikal, allein zu erschließen aus der strikt funktionalen Ausrichtung all dieser Erzählelemente auf den einen Fluchtpunkt, die Singularität und Unüberbietbarkeit der Königin als eines nötigen Attributes des singulären und unüberbietbaren Weltbeherrschers. Wohl also ist der narrative Prozeß im Ephesus-Teil des Rennewart Arbeit am Mythos, doch an jenem der Amazonen sowenig wie an dem vom Priesterkaisertum eines zweiten Johannes in Indien. Vielmehr dienen in ihm zersprengte, unterschiedlich nah an die Welt des Textes herangeholte Mythologeme in 150 Das Fehlen einer Brust, waffentechnisch und etymologisch in der Antike gut begründet, gehört auch in der mittelalterlichen volkssprachigen Epik zum festen Wissen über Amazonen; vgl.Rudolfs Alexander 18130ff.; Ulrichs von Etzenbach Alexander 17451 ff.; Reinfried von Braunschweig 19536ff. 151 Zur Virginität, die in ihrem widersprüchlichen Verhältnis zu den Fortpflanzungsstrategien der Amazonen (vgl.Anm.139) von den Texten nicht thematisiert wird, vgl.auch 32271, 32297, 32603f., sowie etwa Straßburger Alexander 6511ff.. usw.; Rudolfs Alexander 17780, 18449ff., 18467, 17460. 152 Vergleichbar ist das Verfahren Rudolfs von Ems, die Amazonen als Aggregate von ritter [...] unde wîp (Alexander 18141) zu konzipieren, nur daß hier die Beschränkung auf zwei 'Dimensionen' nicht dazu zwingt, sie diachron auseinanderzulegen. Androgyne Idealität, so zeigte Brackert (1987), bes. S.170ff., kann noch im Simultanbild präsentiert werden, nämlich im mi partihaften Äußeren der Figuren. 153 Penteselies virile Kraft ist, wie diejenige Brünhilds (Nibelungenlied 681,4f.), magisch an ihre Virginität gebunden und wird mit dieser im Sexualakt zerstört, vgl. 31986ff., 32000ff. 154 Es ist deswegen zum Beispiel total bedeutungslos, daß die Penteselie des Rennewart aus chronologischen (als Gattin eines Herrschers aus karolingischem Geschlecht) und handlungslogischen Gründen (mit der Heirat verliert sie ihre kriegerische Stärke) nie wieder zu jener Penthesileia werden kann, von der man weiß, daß sie im Kampf für Troja von Achilles oder seinem Sohn Pyrrhos erschlagen wurde. Vgl.Herborts Liet von Troye 14773ff.; Ranke-Graves (1955), Bd.II S.303. 253 dicht gefügter Funktionalität als Werkzeuge der Aufbauarbeit am neuen Mythos von Malefer.155 Daraus ergibt sich auch: die von Ulrich verwendeten Motive aus dem Inventar des Amazonen-Mythos konterkarrieren nicht die Zielstrebigkeit eines Erzählens, das es auf die Vergegenwärtigung eines jeder ernsthaften Bedrohung machtvoll entrückten christlichen Weltherrschertums abgesehen hat. Sie sind auch nicht auf dem Weg dieses narrativen Prozesses verstreute Trümmer epigonaler, ästhetisch oder intellektuell insuffizienter und also stets nur Inkohärenzen erzeugender Erzählstrategien. Sie sind vielmehr wohlbegründete Funktionselemente dieses epischen Vorgangs.156 Im Schluß der Malefer-Geschichte von Ulrichs Rennewart funktionieren Wissenselemente aus heidnisch-antiker (vielleicht auch aus christlicher) Mythologie und aus der Apostelgeschichte als Signaturen des epischen Personals, als Indikatoren jener Rollen, welche die Figuren hier übernehmen. So bezeichnet Penteselies Residenz von vorneherein ihre Keuschheit und ihr Christentum, während ihre Amazonengeschichte singuläre Kraft, also einzigartiges Prestige, und ihre amazonische Unerreichbarkeit den Status dessen bezeugt, der sich über alle Hindernisse hinwegsetzen kann. Johannes schließlich, Objekt eingreifender göttlicher Sanktion dieser feudalen Bindung von Weltherrscher und stärkster Frau und zugleich deren Telos, zeigt das Erzählte als gnadenhaft in Gott aufgehoben. Das Zentrum dieses Bezeichnungssystems bildet die Rolle Malefers als des stärksten Helden und mächtigsten Herrschers über Christen und Heiden. Auf dieses Zentrum sind alle Elemente des Bezeichnungssystems direkt oder mittelbar – über die Einzigartigkeit der vom Protagonisten erworbenen Frau – funktional ausgerichtet. In dieser Rolle erfüllt sich jenes Programm Malefers, als er von Portebaliart aufbrach, Herrschaft und Frau zu erwerben, die seinem art adäquat wären.157 Jene hatte in Astarat ihren Ort, diese in Ephesus, und indem solcherart der Herrschaftserwerb und der Gewinn der Gattin auseinandergehalten werden, zeigt sich noch eimal symptomatisch der Abstand dieser Werbungserzählung von solchen, die nach dem Schema der gefährlichen Brautwerbung organisiert sind. Solche Distanz ist vielleicht unter anderem auch möglich, weil der Gewinn der Braut zwar das Ziel der Malefer-Handlung, nicht aber dasjenige ihres Erzähltwerdens ist. Vielmehr ist die Werbungsgeschichte Teil eines sehr viel ausgedehnteren Erzählgefüges, und ihr Sinn wird darum nicht in dem aufgehen, was sich allein den Strukturen dieses Teils selbst ablesen läßt. Der ermittelte Sinn – man wollte diesen Textteil denn als von allen intratextuellen Bezügen abgekapptes Inserat im Rennewart erweisen – ist vielmehr auf seine Funktionalität in Bezug auf die Sinnkonstitution des Ge155 Diese Interpretation geht also gegen Busse (1913), S.158f., mit derjenigen Westphal-Schmidts (1979), S.213, darin zusammen, "daß Ulrich insgesamt sorgfältig jede Aktualisierung der Handlung vermeidet", wenn damit historische Konkretisierung (Malefer etwa als zweiter Alexander, sein Sohn als Priesterkönig) gemeint ist; insofern hätte ich gegen das Stichwort "Motiveklektizismus" auch allenfalls dessen pejorative Konnotationen einzuwenden. Die Differenz liegt vielmehr darin, daß ich Vermeidung von Aktualisierung nicht als Verzicht auf epische Funktionalisierung, sondern im Gegenteil als eine ihrer spezifischen Modi begreife. 156 Vgl.X.14. 157 Vgl.oben 242ff. 254 samttextes zu befragen. Mit Blick darauf läßt sich sagen, Malefers Weg nach Astarat und Ephesus sei der Weg durch die Welt – wie er es schon von seinem Raumprogramm her ist – und an deren Spitze. Er agiert als Protagonist eines Romanteiles, der die weltzugewandte Seite der von Ulrich erzählten Geschichte ist. Mehr, als Malefer erreicht, ist weder quantitativ noch qualitativ zu erreichen und mehr soll hier nicht erreicht werden – späteres vorwegnehmend: mehr darf hier auch nicht erreicht werden. Ich akzentuiere dieserart das Erzählte auf eine Weise, die erst durch die Rekonstruktion epischer Kontrastbildungen im folgenden Abschnitt ganz gerechtfertigt werden wird. Doch darf hier schon angedeutet werden, daß sich der Protagonist des Malefer-Teils nicht nur nach Stärke und Status von allen andern im Rennewart unterscheidet. Seine Sonderrolle wird auch darin sichtbar, daß er – der göttlichen Auszeichnung seiner Position ungeachtet (oder zum Trotz) – anders als Rennewart vor und Willehalm nach ihm den Weg zur monastischen oder eremitischen conversio nicht findet, nicht einmal in jener beiläufigen Formelhaftigkeit eines Erzählschlusses, wie sie für epische Helden auch abseits der Willehalm-Epik und legendarischen Erzählens charakteristisch sein kann.158 Die in ihren Herrschaftsansprüchen schrankenlose, den Raum erdumspannend integrierende Figur bleibt am Ende – wo es darauf ankäme – eingegrenzt in die Immanenz dieser Welt. 6. Alternative als Bedingung, Bedingung als Alternative. Welteroberung und Weltentsagung: Auf Malefers Weg durch die Welt und an ihre Spitze folgt im Rennewart Ulrichs von Türheim der Weg Willehalms aus der Welt. Zwei gegenläufige Handlungszusammenhänge sind hier erzählerisch hintereinandergeschaltet. Daß es auch anders sein könnte, daß zum Beispiel der "Weg aus der Welt (Heiligkeit)" selbst "als Weg durch die Welt" erzählbar wäre, ist am Münchner Oswald gezeigt worden.159 In der Willehalm-Fortsetzung aber ist dem imperialen Zug des einen Protagonisten nach Astarat und Ephesus, an die Plätze unumschränkter Oberherrschaft und der mächtigsten, schönsten Frau, ein Erzählschluß zur Seite und gegenübergestellt, dessen Held von seiner Inkluse werdenden Gattin Abschied nimmt und der Welt in Kloster und Einsiedelei entflieht. Einzig in diesen beiden Fällen machen sich Protagonisten der Willehalm-Trilogie auf den Weg, ohne an ihren Ausgangspunkt zurückzukehren, und um so kontrastreicher stellen sich solcher Gemeinsamkeit zum Trotz die beiden Wege dar, als diese Ausgangspunkte, Portebaliart und Orense, sich zumindest darin gleichen, fern vom Zentrum königlicher Macht kleine Vorposten der Christenheit gegen sarazenische Bedrohung zu sein. 158 Vgl.Rother 5116ff.; Orendel 3920ff.; TT 3671ff.; FT 6800ff.; Ulrichs von Etzenbach Wilhelm von Wenden 8283ff.; auch Rudolfs Willehalm von Orlens 15085ff.; Ulrich Fuetrers Persibein 527,3 ff. Dazu Kleinschmidt (1974), S.612f. 159 Miller (1978), Zitat S.240. 255 Die Stationen von Willehalms Weg aus der Welt, des letzten Handlungszusammenhangs im Rennewart, für welchen sich Ulrich auf eine der Fassungen des Moniage Guillaume stützte160, habe ich bereits referiert.161 Gleichfalls hat an früherer Stelle jene Matribuleiz-Handlung zur Diskussion gestanden, die, retardierend nur, für einen Moment jenen Gang innehält, der Willehalm von der monastischen zur bei der Nachricht von Kyburcs Tod vollzogenen eremitischen conversio und von dort ins selbst gegründete Cönobium, schließlich in den seligen Tod führt.162 Diese Schleife des Handlungsganges, die aus Anlaß der Bedrohung des Kaisers durch den Sarazenen kurzzeitig Willehalm in die Welt und in jene des Hofes zurückführt, kehrt die Bewegungsrichtung des Protagonisten nicht um: er verabschiedet sich ein letztes Mal von Schwester und königlichem Schwager (35063ff.), auch hat er gerade in Paris jene Vision, die ihm die Gründung eines neuen Klosters nahe bi Mumbasiliere (34930) eingibt; als Nebeneffekt ermöglicht dies, dem monasterium schon vor seiner Gründung reiche kaiserliche Zuwendungen zu sichern (35041ff.). Nein, schrittweise verläßt der Markgraf die Welt, und indem er es erzählt, liefert Ulrichs Roman gewissermaßen die "hagiographische Grundlage" für die schon seit Wolframs Prolog (WW 4,13) in den deutschen Willehalm-Texten verankerte sanctitas des Protagonisten nach.163 Heiligkeit ist eine Distanzkategorie. Den erforderten Abstand von der Welt gewinnt der Protagonist im letzten Erzählteil des Rennewart. Gegenläufig sind die Handlungszusammenhänge des Malefer-Teils und des Moniage-Schlusses als eine einerseits weltzugewandte und anderseits weltabgewandte Geschichte. Als Alternativen stellen sie sich aber auch in narratologischer Perspektive dar, insofern nämlich jener auf Weltimmanenz beschränkte Erzählteil mit der Geschichte von Terramers Enkel, Rennewarts Sohn und Johannes Vater an der Geschichte einer Sippe weiterschreibt, während dieser auf Transzendenz zielende dem Vitenschema der Willehalm-Geschichte folgt.164 Gegeben ist damit eine strukturelle Differenz, die unter anderem aus folgenden Gründen bedeutsam ist: Erstens lassen sich die beiden unterschiedlichen narrativen Strukturen als alternative Formen des Weitererzählens von einem gemeinsamen Ausgangspunkt aus begreifen, als zwei gegenläufige Fortsetzungen einer Geschichte. Der genannte Punkt, an dem sich diese in zwei Alternativgeschichten verzweigt, ist die mit dem Tode Heymrichs, seiner Gattin und Rennewarts gegebene Situation und Zäsur im epischen Prozeß. Daß an dieser Stelle die Geschichte von Rennewarts Sohn nach dem Generationenschema anschließt, in welchem der Tod eines Helden stets nur den epischen Platz für dessen Sohn freiräumt, ist auf der Handlungs- wie auf der Erzählebene evident (26047ff.). Doch auch der Moniage-Schluß nimmt den Faden des Erzählens von Kyburc und Willehalm genau dort wieder auf, wo er an jener Stelle liegengeblieben war; jeden160 Dazu Westphal-Schmidt (1979), S.235ff.; vgl.auch Moniage Guillaume (Cloetta), Bd.2 S.187f.; Becker (1939), S.39ff. 161 Vgl.oben S.238; dazu auch die ausführliche, kommentierende Paraphrase bei Westphal-Schmidt (1979), S.239ff. 162 Vgl.oben S.220ff. 163 Kleinschmidt (1974), S.612; vgl.Westphal-Schmidt (1979), 258f. 164 Vgl.oben S.204. 256 falls wird zwischenzeitlich nicht an ihm weitergesponnen und aus dem Verstreichen von Erzählzeit während des Malefer-Teils können Schlüsse auf nicht erzählte, aber etwa vorausgesetzte Fortentwicklungen der Willehalm-Geschichte nicht gezogen werden. Auch die Erzählung von der Mönchwerdung schließt an jener genannten Zäsur bei Rennewarts Tod an: sie hat sie mit der Malefer-Geschichte zum gemeinsamen Ausgangspunkt. Wie eng dieser Nexus übrigens ist, läßt sich auf der Ebene der sprachlichen Textur des Narrativen in einem kleinen Experiment zeigen, das das Ende jener gemeinsamen Geschichte am genannten Verzweigungspunkt und den Beginn des Moniage-Teils aneinanderkoppelt. Der Markgraf tröstet dort seine Gattin über den Tod der Verwandten, dann: Willehelm, der getriwe, stæte und Kyburg, sin reines wip verdienten, da in der lip uf der erden hie erstarp, daz diu sele dort erwarp daz vil reine paradys. Und an dieser Stelle, mitten im Reimpaar, weiter mit dem Beginn der Mönchwerdung: von jaren waren sie so gris daz si den tot entsazen. ir leben sie dicke mazen durch des todes vorhte, der si des lebens entworhte, e daz si umme ir shulde erwuerben gotes hulde. [usw.] (26032-26037, 33218-33224) Der Übergang zwischen beiden Erzählteilen ist völlig bündig, und er ist es nicht nur handlungslogisch, sondern auch nach Thema, Motiven und Tonlage, ja er wäre es zudem bis auf die Ebene des Reims herunter auch sprachlich. Ein zweiter Grund, der die strukturelle Differenz von Malefer- und Moniage-Teil für eine Rennewart-Interpretation bedeutsam macht, liegt in Folgendem: die Koppelung einer dem Heldenlebenschema folgenden Geschichte mit einer alternativen, die einem auf der Logik der Generationenfolge beruhenden Erzählmodell gehorcht, führt in der im Rennewart vorliegenden Form, bei der der Schluß der Heldengeschichte dem Ende der Generationengeschichte erzähllogisch nachgeordnet ist, zu Friktionen. Diese zeichnen sich an einer Stelle des Romans als Verwerfungen auch auf der Textoberfläche ab. Die Geschichte der Terramer-Nachkommen führt nämlich räumlich, zeitlich und ihrem Personal nach aus der Willehalm-Welt heraus; sie verläßt zudem den Bereich ihrer narrativen Präsentation nicht nur durch den übergeordneten Rahmen der Mehrgenerationengeschichte und dementsprechende strukturelle Unab- 257 schließbarkeit165, sondern auch, indem sie überhaupt, wie zu sehen sein wird, das bisher strukturgenerierende Handlungsschema von heidnischem Angriff, Hilfeholung und siegreicher Zurückschlagung der Sarazenen verabschiedet. Es ist deswegen vom Ende des Malefer-Teils aus eine Moniage-Erzählung nur durch einen topo- und chronologischen Sprung zurück in die Welt des provencalischen Heidenkrieges sowie durch einen strukturellen Neuansatz zu erreichen. Der Erzähler tut diesen Sprung genau zwischen dem offenen Ende der Malefer-Johannes-Geschichte und dem Beginn der Mönchserzählung, und er versteckt ihn in einer Art Binnenprolog (33140-33215). Es entsteht an dieser Stelle durch den Wechsel von Raum, Zeit, Personal und Struktur des Erzählten im narrativen Prozeß ein Einschnitt, tiefer vielleicht als sonst einer in Ulrichs Roman.166 Weitererzählen ist am hier markierten Punkt der Überkreuzung eines generationengeschichtlich mit einem vitenartig geordneten Erzählen nur um den Preis der Zerstörung des sonst im Rennewart stets gewahrten narrativen Kontinuums möglich. Die Kluft der Handlung auf der Brücke des Kommentars überwindend, entrichtet der Erzähler diesen Zoll, und da er nicht gering ist, darf man den eingeschlagenen Erzählweg wohl ernst nehmen. Dabei erlaubt der beschriebene Sachverhalt zunächst zwei Folgerungen zu ziehen. Die erste stützt eben Ausgeführtes: der tiefe Einschnitt zwischen Malefer- und Moniage-Teil läßt erneut deutlich werden, daß beide zwar im narrativen Prozeß aufeinander folgen, nicht aber auch handlungslogisch zusammengeknüpft sind. Die beiden sukzessiv erzählten gegenläufigen Geschehniszusammenhänge können von ihrer textinternen Schnittstelle her ebenso als simultane Alternativen gedacht werden, wie vom jeweiligen Strukturrahmen und der Bewegungsrichtung ihrer Protagonisten her.167 Die zweite Folgerung lautet, daß es gleichwohl auf die gegebene erzählerische Reihenfolge der beiden Romanteile dringlich ankommt. Andernfalls hätte sich der Autor den beschriebenen narrativen Kontinuitätsbruch schließlich leicht ersparen können –etwa schon durch die Vertauschung von Malefer- und Moniage-Teil. Dann hätten an Kyburcs und des Markgrafen Klage um Rennewarts, Heymrichs und Irmensharts Tod unmittelbar – plausibel! – ihre conversio anschließen und erst auf Willehalms Sterben ohne narrative Koordinationsprobleme Heidenkriege und Asienfahrt des Rennewart165 Vgl.oben S.240f. Vgl.die andere Akzentuierung bei Westphal-Schmidt (1979), S. 43f. 167 Beiläufig ist dem hinzuzufügen, daß die punktuellen Durchblicke auf die jeweilige Alternative, die es in beiden Romanteilen gibt, dieser Deutung ebenfalls nicht entgegenstehen: zwar beauftragt Malefer Gamelerot als den Führer seiner heimkehrenden Truppen, Kyburc und Willehalm von der totalen Unterwerfung und Pazifizierung der Heiden zu benachrichtigen (31896 ff.), doch wird von einer Ankunft der Botschaft nichts erzählt; zwar wäre des Matribuleiz Angriff auf Lois als Bruch des von Malefer den Sarazenen in Astarat oktroyierten Friedens zu verstehen - und eben der neue Aggressor hatte schon jenen Frieden gescholten (26905ff., 27009ff.), so daß sich eine Analogie zu dem oben Anm.126 beschriebenen Schema motivationaler Kohärenzsicherung abzeichnen könnte - , doch gibt es für einen solchen Nexus im Text keine Spur. Es gibt also zwar solche Bezüge zwischen den Geschehniszusammenhängen des Malefer- und des Moniage-Teils, sie bewirken aber nicht deren handlungslogische Koordination, halten vielmehr in jedem Teil den jeweils anderen als simultane Alternative, als Hintergrund bewußt. 166 258 Sohnes und Kyburc-Neffen folgen können. Wie leicht eine solche Umorganisation hätte sein können, illustriert auch mein obiges Experiment der syntaktischen Verknüpfung von Totenklage um Rennewart und Entschluß zur Mönchwerdung. So aber ist Ulrich von Türheim nicht verfahren. Er hat dem unkomplizierten Anschluß der Fortsetzung der Sippengeschichte an das Ende der Willehalm-vita beider Verschränkung vorgezogen; er hat dort, wo in meiner Zitatcollage die Schnittstelle lag, einen veritablen 'Roman' von über 7000 Versen Malefer- und Johannes-Handlung um den Preis narrativer Diskontinuität und die Gefahr epischer Desintegration der WillehalmGeschichte inseriert. Dies scheint der eben gezogenen Folgerung auf ein Alternativverhältnis von Malefer- und Moniage-Teil zu widersprechen, und besagt zum wenigsten wohl soviel, daß es neben jener der Alternative auch auf struktureller Ebene noch eine andere Regel der Zuordnung der beiden Erzählteile geben müßte: mutmaßlich eine funktionaler Abhängigkeit, denn sie würde die komplizierend überkreuzte Anordnung der beiden letzten Rennewart-Abschnitte verständlich machen können. Explikation und Begründung des hier erwogenen Sachverhalts stehen aus. Nähern kann man sich ihnen zum Beispiel in Form zweier komplementärer Fragen: warum ist die Mönchwerdung Willehalms und damit der Schluß des am Vitenumriß seiner Geschichte orientierten Erzählens erst nach dem Malefer-Teil strukturell möglich? Und umgekehrt: Warum kann dessen Ende, obwohl es sehr danach aussieht (33126ff.), nicht schon der Schluß von Ulrichs Willehalm-Fortsetzung sein? Die erste Frage zielt zunächst auf ein Problem der Schemastruktur dieses Erzählens, die zweite zunächst auf eines ihrer epischen Realisation und damit auf narrative Sinnkonstitution. Beide Fragen haben ersichtlich eng miteinander zu tun; beide visieren die Relation der Romanteile an, die hier im Blick sind, sowie schließlich auch die Fortsetzungskonstellation als Konstitutivum des Türheimschen Textes. Der Erwägung einer Antwort auf die erste Frage will ich zuarbeiten, indem ich ihrer obigen Formulierung eine zweite zur Seite stelle. Zu fragen, warum ein Moniage erst nach dem Malefer-Teil strukturell möglich sei, heißt umgekehrt auch zu fragen, warum die Willehalm-Geschichte vor der Abzweigung des Malefer-Teils, wie offenkundig zu sein scheint, unabschließbar ist. Eine Antwort darauf wird auch ohne eine in die Details des Erzählten sich vertiefende Interpretation des raumgreifenden Mittelteils des Rennewart möglich sein. Was immer dort im Einzelnen zu beobachten wäre, unverkennbar ist wohl, daß sich nirgends so wie daran der Satz exemplifizieren ließe, fortsetzendem Erzählen komme es nicht auf den schnellen Schluß, sondern aufs Weitererzählen, auf den narrativen Raumgewinn an. Solche Demonstration fiele deswegen so leicht, weil diese Abschnitte des Rennewart endlos sind – dies nicht nur als metaphorische Wiedergabe vitaler Lektüreerfahrungen gemeint, sondern zumal im Sinne struktureller Unabschließbarkeit. Das aus einem kleinen Inventar von Schemabausteinen sich bedienende Erzählen hat hier noch keinen Abschluß, es hört nur auf168 – um in der neuen Richtung von Malefers Welteroberung und Orientfahrt sogleich wieder anzuheben. 168 Vgl.auch Westphal-Schmidt (1979), S.40ff., und dazu oben S. 239f. 259 Diese strukturelle Offenheit des narrativen Prozesses läßt sich begründen. Der Text nützt im Rahmen des finiten Modells der Heroenvita, dem sich hier in der phasenweisen Verdoppelung der Protagonistenrolle (Willehalm und Rennewart) das zweite der Mehrgenerationengeschichte vorerst noch problemlos anlagert, immer wieder den schematischen Handlungsdreischritt von heidnischem Angriff mit vorläufiger christlicher Niederlage, Herbeiholung von Beistand, schließlich Sieg der Verteidiger und Vertreibung der Aggressoren.169 Dabei entdeckt er in ihm ein Moment eben der Unabschließbarkeit – strukturell können beiebig viele epische Durchgänge durch dieses Schema hintereinandergeschaltet werden170 –, oder genauer: er erzeugt es durch die im zweiten Abschnitt dieses Kapitels rekonstruierte Deproblematisierung des Heidenkrieges. Wolfram, indem er den militärischen Antagonismus von Christen und Muslimen in den Sog einer Reflexion auf das Recht des Andern hineinzieht, schafft tendenziell die Möglichkeit, einem endlosen narrativen Kreisen im Handlungsschema von außen her Einhalt zu gebieten – jedenfalls hält das Erzählen inne, der Roman bleibt, so könnte man paradox formulieren, fragmentarisch abgeschlossen. 171 Angeeignet aber im Rahmen programmatischer Reflexionslosigkeit, eines Erzählens, in dem an die Stelle narrativer Reflexivität gewissermaßen die kriegerischen Reflexe der Figuren treten – wobei zu zeigen war, daß darauf die Möglichkeit eines Weitererzählens allererst beruhte –, entfaltet das Handlungsschema im Rennwart sein motorisches Potential und überformt, es unwirksam machend, auch das finite Vitenmodell der Willehalm-Geschichte. Es sind demnach, anders gesagt, genau jene Bedingungen, welche die Willehalm-Fortsetzung als Voraussetzung ihrer Erzählbarkeit allererst schuf, die nun ihre strukturelle Unabschließbarkeit auf lange hin garantieren. Bis zu genau jenem Punkt nämlich, da mit Malefers Kriegszug gegen die Heiden und Werbungsfahrt zu Penteselie der bisher verbindlichen Schemastruktur eine Alternative gegenübergestellt wird. An den letzten Durchgang durchs dreigliederige Schema von Heidenangriff und -sieg, Beistandsgewinnung und Zurückschlagung der Angreifer172 knüpft Ulrich ein Erzählen von kriegerischen Eroberungs- und Unterwerfungszügen, das seiner Ordnung nach eher mit den von Alexander erzählten Eroberungen als mit den Orientreisen spielmannsepischer Brautwerber vergleichbar wäre.173 War im vorangegangenen ein finiter Strukturrahmen, der der Protagonistenvita, von seiner in unabschließbarer Repetition kreisenden Binnenstruk-tur überformt wor169 Vgl.oben S.240. Und auf der Eben der Handlung ist das ebensoleicht zu füllen, denn die vertriebenen Angreifer haben stets das Recht der Rache für sich: die Prozeßlogik der Vendetta, einmal in Gang gebracht, zeugt sich selbst ad infinitum fort.Einen Nachweis der kaum überschaubaren Textbelege erspare ich mir, einiges Material stellt Westphal-Schmidt (1979), S.148ff., bereit; vgl.auch SchäferMaulbetsch (1972), S.648ff. 171 Angedeutet ist damit zugleich die dialektisch dichte Vermitteltheit von ethischem (Reflexion auf das Recht des Andern) und ästhetisch-poetologischem Programm des Willehalm (Lösung aus dem Zyklus, dazu Bumke [1959], S.11ff.; Kiening [1989], S.71 ff.). 172 Er ist modifiziert, insofern dem Sieg der Christen der Friedensschwur Terramers folgt, doch ist das Schema damit noch nicht suspendiert: Tybalts Vertragsschelte wäre der geeignete Ansatzpunkt seiner erneuten Repetition (vgl.oben Anm.126). 173 Vgl.Busse (1913), S.158; Strohschneider / Vögel (1989). 170 260 den, so kehren sich nun die Verhältnisse um: der offene Rahmen der Mehrgenerationengeschichte transportiert eine in diesem Fall tendenziell abgeschlossene Binnenstruktur des Eroberungszuges zur Braut und ans Ende der Welt. Dabei kommt es wohl unter dem hier verfolgten Aspekt auf die interne Organisation des neuen Erzählteiles noch gar nicht so sehr an, wie auf die Möglichkeit, überhaupt eine Alternative zur dominanten Erzählordnung der bisherigen Romanabschnitte an deren Stelle setzen zu können. Mit diesem Akt der Struktursubstitution gelingt, was vom das Erzählen bislang organisierenden Schema her einstweilen unmöglich war. Der infiniten Repetition des von Wolframs Alischanz-Schlachten vorgeprägten, schematisch immer gleichen Heidenkrieges ist Einhalt getan. Und in eben diesem Moment kann die an der vita orientierte Rahmenstruktur der Willehalm-Erzählung wirksam werden. Sie generiert jenes legendarische Erzählen von Willehalms heiligmäßigem Weltabschied, mit dem der Rennewart nicht nur einfach aufhört, sondern begründetermaßen schließt. Dies wäre die Antwort, welche die vorliegende Interpretation auf die erste der oben formulierten Fragen zu geben wüßte, warum die Mönchwerdung Willehalms erst nach dem Malefer-Teil möglich sei. Die weltzugewandte Seite der Geschichte und ihr weltabgewandter Schluß stehen strukturell nicht nur in einem Alternativverhältnis, sondern zugleich ermöglicht jene diesen, indem sie auch zu den vorangegangenen Partien des Erzählens eine strukturelle Alternative repräsentiert. Das heißt: als strukturelle Alternative zur gesamten Willehalm-Handlung ist der Malefer-Teil zugleich Bedingung der Möglichkeit ihres definierten Schlusses. Die Bedeutung dieser doppelten Strukturbeziehung zwischen den beiden Schlußabschnitten von Ulrichs Rennewart war aus deren überraschender Anordnung zu folgern. Insofern sie Texttatsachen zu verstehen gestattet, erscheint sie auch plausibel. Und doch fiele es schwer, dieses Ineinander von Alternativ- und Bedingungsverhältnis aus einer internen Logik der epischen Strukturen heraus völlig zu erklären. Daher mag es nicht überflüssig sein, die Argumentation für eine neue Textebene gewissermaßen zu wiederholen und den rekonstruierten Sachverhalt an der epischen Realisierung der Erzählschemata noch einmal zu überprüfen. Dies könnte leichter durchschaubar werden, wenn ich vorwegnehme, daß sich das Alternativverhältnis von Malefer- und Moniage-Teil auf der handlungslogischen, das Bedingungsverhältnis auf der erzähllogischen Seite des narrativen Prozesses abzeichnet. Jenes, die Relation der beiden Handlungszusammenhänge als gegenläufig einmal durch die Welt, das andermal aus ihr herausführende Fortsetzung von einer gemeinsamen epischen Situation aus, hatte ich oben gezeigt. Dabei ergab sich auch, daß das Erzählte, daß Willehalms conversio einerseits, Malefers Weltherrschaft und Ehe anderseits, wiewohl anders als sukzessiv gar nicht erzählbar, doch als zwei handlungslogisch synchrone Prozesse gedacht werden können. Diesem Alternativverhältnis der beiden Geschehnisfolgen überlagert sich nun, betrachtet man sie unter dem Aspekt ihrer narrativen, also sukzessiven Ordnung, ein mindestens einseitiges Begründungsverhältnis. Dies zu demonstrieren ist noch einmal bei den der Malefer-Handlung vorausgehenden Ereigniszusammenhängen zu beginnen. Das Infinite ihrer epischen Struktur bildet sich auf der Ebene der Handlung als Permanenz des Heidenkrieges ab. 261 Darin liegt mutmaßlich nicht nur ein in Kauf genommener Nebeneffekt des strukturellen Entwurfs, denn es ist dem ideologischen Konzept gemäß, das Ulrichs Roman trägt: Unaufhörlich branden mit den Wogen des Mittelmeers immer neue Wellen heidnischer Angreifer an die südfranzösische Küste, und wenn sie sich zurückziehen, dann nur zu neuem Anlauf.174 Indem sie eben dies auf jedenfalls quantitativ besonders eindrucksvolle Weise episch vermittelt, schafft die Erzählung ihrer Kreuzzugsideologie anschauliche Plausibilität: die Permanenz der sarazenischen Angriffe rückt christliche Verteidigungsbemühungen völlig aus dem Bereich des Fragwürdigen heraus, läßt Heidenschonung als Selbstaufgabe erscheinen. Man könnte dies tendenziell Endlose der Geschichte umso erstaunlicher finden, als in ihr schon vor dem Malefer-Teil jene Schlußwendung ja längst gegenwärtig ist, die einmal in Form der Mönchwerdung Willehalms das definitive Ende des Textes begründen helfen wird. Der Moniage Rennewarts zeigt in diesem Sinne kontrastiv eine für Willehalm ausgeschlossene Möglichkeit. Unter dem fortgesetzten Druck heidnischer Bedrohung kann die Erzählung ihren Helden noch nicht aus der Welt des Glaubenskrieges entlassen und sie kann auch nicht, wie bei Rennewart und dann bei Malefer, durch einen Nachkommen seinen Platz besetzen. Willehalm und Kyburc sind kinderlos, ein Sachverhalt, der hier als epische Konkretion jener spezifischen Nichtsubstituierbarkeit erscheint, welche den zentralen Protagonisten, von dem her und um den herum das Geschehnis- und Strukturgerüst der Erzählung – bei allen Doppelungen und Weiterungen – konzipiert ist, von anderen Figuren unterscheidet.175 Die Türheimsche Wolfram-Fortsetzung ist kein Rennewart-, sondern so sehr wie die Arabel ein Willehalm-Roman, daher dessen Rückzug aus der Epenwelt, anders als die conversio seines zeitweiligen Mitprotagonisten, erst unter Voraussetzungen möglich sein wird, die vor der Malefer-Handlung noch fehlen. In einem Willehalm-Roman bedeutet anhaltende Sarazenengefahr, daß sein Held an jenem Ort in der Welt des Epischen ausharre, der ihn identifizierbar macht: Willehalm ist der Verteidiger der Christenheit auf dem Schlachtfeld von Alytshantz. Daß er ritterlich ins Ungewisse auszöge176, wie später Malefer, ist darum genauso ausgeschlossen, wie es vorerst die Heimkehr zu Gott in der Mönchwerdung ist. Doch zeigt der Roman sein der Fortsetzungssituation verdanktes Dilemma, sich mit der Schaffung von Möglichkeiten des Weitererzählens zugleich der Instrumente zu dessen Terminierung vorerst begeben zu haben, darin vor, daß die Kontinuität heidnischer Bedrohung unter den vom Erzähler gesetzten Bedingungen allein durch ein Verlassen der von Wolfram her erzählten epischen Welt zu durchbrechen sei; ganz analog dazu, 174 Vgl.zum Bild des Anbrandens etwa 13320, 21685ff., 21850ff. (vgl.WW 8,12ff. 28,22. 375,15. 399,18. 404,22ff., sowie Pörksen [1971], S.108 u.ö.; Schmidt [1979], S.49f.). Das Moment unentwegter zyklischer Wiederkehr ist zum Beispiel auch 1077, 25800 ff., 25994f., sodann im wiederholten Gebrauch von Formulierungen des nüwens (12420ff., 20222) und in der Bildlogik der rota Fortunae impliziert (13170f., 18908, 23950). 175 Anders Westphal-Schmidt (1979), S.42f. 176 Einzige Ausnahme sind die strikt funktional auf den Krieg vor Orense bezogenen Alleingänge Willehalms nach Beistand. Jenes Mal, da Willehalm tatsächlich in eine fremde Welt gerät, wird er dorthin wider eigenen Willen verschleppt: als Gefangener in Todjerne. 262 wie der strukturellen Unabschließbarkeit des Erzählens nur durch ein Implantat neuer Strukturvorgaben zu steuern war. Deswegen also führt der Malefer-Teil des Rennewart seinen Helden von Portebaliart über Astarat bis nach Ephesus. Damit sind nicht allein die Grenzen des bisherigen Handlungsraumes, sondern auch der bisherigen Aktionsmuster überschritten. Malefers Ausgreifen in den Orient impliziert nämlich einen Rollentausch zwischen Christen und Heiden. Aus den immer nur Angegriffenen werden selbst Angreifer, die Opfer werden zu den neuen Oberherren ihrer bisherigen Peiniger. In Astarat kann Malefer die Unterwerfung und Befriedung jener ganzen Heidenwelt feiern, die bislang die Bedrohten in Atem und den narrativen Prozeß in Gang gehalten hatte. Der Bruch mit der fundamentalen Defensivhaltung des Willehalm und der von ihm her erzählten Rennewart-Teile ist total. "Der Gedanke, die Fahne der Christen übers Meer zu tragen, Terramer auf eigenem Boden nochmals und damit endgültig zu schlagen, taucht in dem Werk [Wolframs] nirgends auch nur andeutungsweise auf. Er wäre innerhalb der gegebenen Geschehenszusammenhanges [...] absurd erschienen."177 Im Malefer-Teil der Fortsetzung aber ist er in die Tat umgesetzt und dadurch wird statt der Abwehr der Heiden ein Sieg über sie möglich, wird die Kontinuität sarazenischer Bedrohung gebrochen. Zugleich ist so, einzigartig in einem deutschen Willehalm-Text, eine epische Konstellation gewonnen, die mit "erfahrbaren Kreuzzugssituation[en]" des 13.Jahrhunderts leichter zu koordinieren ist, als deren "Umkehrung" im Willehalm.178 Nun sind es auch in der Romanwelt die Gläubigen, die im Heidenland landen. Die ideologische Implikation dieses Erzählvorganges bleiben hier noch außer Acht, sie liegt ja auch auf der Hand: es ist die universale militaristische Maxime, wonach Angriff die beste Verteidigung sei, im kreuzzugspropagandistischen Mäntelchen. Es geht vielmehr um das Funktionieren des epischen Prozesses. In ihm bedeutet die Ausrichtung des Erzählten auf diesem Text und seinem Vorgänger bisher unbekannte epische Welten und Aktionsmodelle – auf den Kriegszug der Christen und die Werbungsfahrt zu Penteselie –- für das Abendland das Ende permanenter Bedrohung. Malefers Heidenunterwerfungen entlasten gewissermaßen den Protagonisten Willehalm von jenem Druck, unter dem er zum Ausharren in der Welt gezwungen war, und setzen ihn frei zu conversio und schließlichem Tod. Sie ermöglichen also ein definiertes Ende des Romans. Wie bei Wolfram greift dieser Blockademechanismus von außen in den endlos abrollenden Handlungskreislauf ein, aber nicht von dem Außenpunkt ethisch problematisierender Reflexionsdistanz, sondern von neuen Handlungsformen und ihren epischen Räumen her, die im Gegenteil gerade in orthodoxer kreuzzugsideologischer Reflexionslosigkeit ihr Sinnzentrum haben. Willehalms Mönchwerdung ist nach dem Ausgeführten nicht nur eine Alternative zu Malefers Fahrt durch die Welt, sondern bedarf dieser zugleich als einer Bedingung. Wie auf der Ebene der Schemastruktur des Erzählens überlagern sich auf derjenigen ihrer epischen Realisierung zwei verschiedene Regeln des Verhältnisses der beiden letzten großen Erzählzusammenhänge im Rennewart. Zwar ist hier der Weg 177 178 Knapp (1974), S.152. Vgl.auch ebd.S.147f.; Bumke (1959), S. 142. Bertau (1983a), S.250. 263 aus der Welt nicht, wie im Münchner Oswald etwa, als Weg durch die Welt erzählt, doch wäre er ebensowenig ohne seine Alternative vollziehbar – strukturell nicht, und handlungslogisch auch nicht. Der weltzugewandte Malefer-Teil, so könnte man eine generelle Formulierung in Max Wehrlis grundlegendem Aufsatz über das Verhältnis von "Roman und Legende im deutschen Hochmittelalter" für den speziellen Fall umkehren, ist sozusagen auch ein Tribut, den die Erzählung für die Möglichkeit ihres legendarischen Schlusses leistet.179 Daß dieser insgesamt mehr ist, als ein rasch und uninteressiert zusammengeschlagenes 'Notdach' auf einem in seinen Dimensionen aus der Kontrolle zu geraten drohenden Erzählmonstrum von babylonischen Ausmaßen, sollten diese Beobachtungen und Erwägungen erkennbar gemacht haben. Und auch, daß es nicht die Strukturvorgabe "biographischer Geschlossenheit" ist, die ein endloses Wuchern des narrativen Vorgangs beendet180, daß deren Wirksamwerden vielmehr selbst Resultat relativ komplexer erzählerischer oder vom Erzählen gesteuerter Koordinationen ist. Hinzuzufügen ist dem einschränkend, daß die sukzessive narrative Anordnung der beiden aufeinander bezogenen Handlungszusammenänge nicht schon dazu zwingt, ihr Bedingungsverhältnis als eines auch chronologischer Schichtung zu begreifen, so also, als ob Malefers Orientfahrt dem Moniage Willehalms auch der erzählten Zeit nach voranzugehen hätte. Die beiden Prozesse lassen sich auch unter Berücksichtigung ihres Bedingungsverhältnisses als simultane Abläufe innerhalb eines gemeinsamen Funktionszusammenhangs denken. Dies umso problemloser, als dieses Bedingungsverhältnis eine auf der Textoberfläche lediglich schwach ausgeprägte Konstruktion ist. Sie wird nur einmal ganz punktuell und nur zur Hälfte explizit; obendrein erweist sich ihre Voraussetzung, die totale Befriedung aller Heiden durch Malefer, mit Matribuleiz Angriff als brüchig, kaum daß die Permanenz der Sarazenengefahr im Okzident gebrochen und die Moniage-Handlung in Gang gekommen ist.181 Das Bedingungsverhältnis von Malefer- und Mönchwerdungs-Teil wird im Rennewart weniger episch präsentiert, es stellt sich vielmehr – freilich nicht ohne Anhalt im Text – ein, nämlich als Ergebnis epischer Diskursivierung, die von der Aggregation zweier gegenläufiger Handlungszusammenhänge im Schlußteil dieses Romans ausgelöst wird. Auf diese Chance der Diskursivierung, der epischen Sinnkonstitution durch den Aufbau struktureller, handlungs- und erzähllogischer Reibungszonen und Spannungsfelder zielt, so meine ich, die ganze ausladende Schlußkonfiguration von Ulrichs Rennewart mit ihren beiden alternativ nebeneinander herlaufenden und zugleich in einem Bedingungsverhältnis miteinander verspannten Handlungs- und Erzählzusammenhängen. Wenn dem so ist, dann wäre es zunächst eine Antwort auf die eingangs dieses Argumentationszusammenhangs als zweite gestellte Frage, warum der Roman unter beträchtlichen Schwierigkeiten der narrativen Kohärenzsicherung schließlich nochmals zur Geschichte Willehalms zurückkehrt, anstatt es mit dem Abschluß des 179 Vgl.Wehrli (1969), S.163. Westphal-Schmidt (1979), S.43f. 181 Vgl.oben Anm.167. 180 264 Malefer-Teils gut sein zu lassen. Selbstverständlich darf in diesem Zusammenhang nicht unterschlagen werden, daß das Erzählen erst mit dem Moniage der vorgegebenen sanctitas seines Protagonisten und ineins damit den legendarischen Strukturen von dessen vita Genüge leistet. Doch alleine vermöchte dies kaum die offenkundige Bezüglichkeit von Malefer- und Mönchwerdungs-Teil begründen. Um ihretwillen ist die Weltfahrt Malefers in der vorfindlichen Weise konzipiert, obwohl die Rückkehr zur Haupthandlung um Willehalm damit schwierig wird. Es geht dem Rennewart nicht nur um den Moniage und die Erfüllung legendarischer und Vitenstrukturmuster, sondern um deren Realisierung in einem spezifischen epischen Kontext, es geht um den Kontrast zwischen dem Moniage Willehalms und dem Horizont, vor dem er sich ereignet. Der epische Horizont der Mönchwerdung ist ihre Alternative und zugleich ihre Bedingung: der Weg durch die Welt. Man könnte vielleicht in schon angedeuteter Weise metaphorisch formulieren und sagen, hier werde von Malefers Ausfahrt und Willehalms Heimkehr erzählt. Obgleich dabei der Protagonist wechselt, wäre doch in der Logik des Bildes von Ausfahrt und Heimkehr182 so etwas wie das Ineinander von Alternativ- und Bedingungsverhältnis jener gegenläufigen epischen Wege gegriffen, die die Figuren am Ende des Romans gehen müssen. Zwei epische Zusammenhänge werden einander als Alternativen kontrastiert, und zugleich wird auf der nächsten Komplexitätsebene – zur Alternative eine Alternative sichtbar gemacht: das Bedingungsverhältnis der beiden Zusammenhänge. In Frage steht nicht deren Verhältnis einfachhin, sondern die alternativen Formen ihrer Relationalität. Welche Diskurse sich dabei ergeben können, wie sie vom spannungsvollen und reibungsintensiven Erzählprozeß selbst gesteuert werden, wäre im hier skizzierten Interpretationsrahmen nun bis in die Details der sprachlichen Textur hinein zu verfolgen. Davon muß ich absehen. Es heißt aber vielleicht nicht schon die Grenzen des hier methodisch noch Vertretbaren zu überdehnen, wenn erwartet wird, daß die Textdeterminationen solche Diskurse auf eine ganz konventionelle Fassung des Verhältnisses von christlicher militia und monastischer conversio festlegen.183 Denn der Weg Malefers und derjenige Willehalms ordnen sich in ihrer Gegenläufigkeit einer christlich gestuften Wertigkeitshierarchie ein und sind eben darin funktional aufeinander bezogen. oratores, heilige gar, und bellatores, selbst wenn sie Weltherrscher wären, kommen dem Weg des Heils unterschiedlich nahe, aber Harmonie, Funktionsbeziehungen, werden im Mittelalter – ein fundamentales Moment seiner Alterität – stets gerade in der Ungleichheit entdeckt. So indes, wie oratores von der Notwendigkeit des Heilsweges gnadenhaft gerechtfertigt sind, so die Kriegerkönige durch das Böse in der Welt, dem zu wehren ihre Aufgabe ist. In der Welt des Textes existiert es in Gestalt der ungläubi182 183 Vgl.Haug (1989a), S.37-50 Dies zeichnet sich schon dort ab, wo solche strukturell erzeugte Diskursivität in den Text selbst hereingeholt und also auch von der Ebene des Erzählten aus gesteuert wird: im den conversiones vorausgehenden Entscheidungsgespräch Kyburcs und Willehalms (33225ff.); dazu trotz eines die Prozessualität des Erzählens ausblendenden und schon deswegen untauglichen Kategorienrahmens (Gradualismus vs. Dualismus) doch recht eindringlich Westphal-Schmidt (1979), S.251ff. 265 gen Sarazenen. Daß es selbst durch weltherrschaftliche Macht wie diejenige Malefers nur einzudämmen, nicht völlig zu exstirpieren ist, das zeigen im Rennewart – den Rang des Mächtigsten nicht beschädigend, ihn vielmehr rechtfertigend – die Angriffe der Könige vom Wilden Meer auf den Herrscher in Ephesus und der Überfall des Matribuleiz auf den König in Laon. Wichtiger als diese Andeutungen über mögliche Sinnbildungsprozesse, die an die alternativ verdoppelten Erzählzusammenhänge im letzten Teil von Ulrichs Willehalm-Fortsetzung anknüpfen könnten, ist es aber für die Argumentation im Schlußabschnitt dieses Kapitels, daß es dort nur zwei Alternativen gibt, wo es drei sein könnten. Funktional bezogene Alternativen sind der Weg aus der Welt und derjenige durch sie hindurch und an ihre Spitze nämlich auch als Verhaltensformen gegenüber dem Bösen in der Welt, gegenüber dem Heidnischen und den Sarazenen. Im vorliegenden Roman gibt es nur die Möglichkeiten, sich dem schließlich ganz zu entziehen (Willehalm), oder es kriegerisch zu unterwerfen (Malefer). Ein Drittes ist zwischen Mönchwerdung und Welteroberung nicht gegeben, und doch war es Erzählwelten zurück einmal Ausgangspunkt der Fortsetzung gewesen: als der von ihr negierte, ins Traumhafte der epischen Fiktion versenkte Versuch des fortgesetzten Textes, jenseits von Weltentsagung und Welteroberung dem Fremden in unaufgelöster und unignorierter Spannung sich zu stellen in der Reflexion auf das Recht des Andern in der Welt. Daß sie von dieser Reflexion dispensieren und sie als dritten Weg ausschließen, das ist das Gemeinsame der beiden Erzählzusammenhänge, die hier aufeinander zu beziehen waren. Es bedeutet, daß sie diese Reflexion in jenen Diskursen nicht zulassen, welche sie erzeugen und determinieren. 7. Flaches Erzählen vor tiefem Hintergrund: Die Untersuchungen dieses Kapitels durchmusterten ihren Text nicht in einer Weise, der es darauf angekommen wäre, die riesige Ebene von Ulrichs Roman interpretatorisch möglichst gleichmäßig abzugrasen. Sie nahmen im Gegenteil die Abmessungen des Gegenstandes als Lizenz, vieles unberücksichtigt lassend vom Partikularen aus Elemente eines Interpretationsrahmens für die Willehalm-Fortsetzung zu erarbeiten. Die Konzentration richtete sich dabei wie von selbst auf deren ersten und letzten Erzählteile, und sie gewann so Einsichten, welche nun aufeinander zu beziehen wären. Dazu bedarf es ihrer Abstraktion und Rekapitulation. Die Eingangspartien des Rennewart bis zum Ende der von Wolfram her erzählten (zweiten) Alytshantz-Schlacht waren als epischer Verdrängungsakt zu lesen, als ein Prozeß der Umverteilung von Problemlasten, welche sich im Schlußteil des fortgesetzten Romans auf den christlichen Heidenkrieg gelegt hatten, und nun dorthin zurückverschoben werden, wohin sie in der Kreuzzugsliteratur des 12.und 13.Jahrhunderts gehören: Thema ist nicht mehr das Heidentöten der Christen, sondern die Ungläubigkeit und Christenfeindschaft der Sarazenen. Dieserart wird in Ulrichs Text jene die Möglichkeit des Kreuzzugs in Frage zu stellen drohende Reflexi- 266 on auf das Recht des Andern als dessen Alterität aus der epischen Welt, und aus jener, in der der Text situiert ist, eskamotiert. Das Etikett, das ich oben diesem Vorgang zudachte, lautete 'Deproblematisierung'. Demgegenüber war nun an den beiden letzten Erzählzusammenhängen des Rennwart zu beobachten, daß sie in beziehungsreicher Alternativkonstellation Diskurse über die Möglichkeiten von Weltentsagung und Weltherrschaft in Gang setzen. Doch wäre der formale Widerspruch eine Täuschung, dieserart stünde in der Willehalm-Fortsetzung einem Anfangsteil im Zeichen ideologischer Problemaustreibung ein Schlußteil gegenüber, der jene diskursivierend, also problematisierend wieder zurücknehme. Denn gewissermaßen unter der Hand – und daß es nur dort geschehen konnte, soll noch gezeigt werden – fand dabei eine entscheidende thematische Verschiebung statt. Die im Prozeß epischer Diskursivierung schließlich aufgebaute Problemkonstellation ist eine ganz andere, als die anfangs verdrängte, ja deren bestimmte Negation. Unterdrückt wurde dort die Reflexion auf das Recht des Andern im agonalen Glaubenskonflikt, während hier nun genau jene beiden Alternativen, Heidenunterwerfung und Weltentsagung, thematisch werden, die jener Verdrängungsakt des Romananfangs zurückgelassen hatten. In den vom Schluß des Rennewart generierten Diskursen ist jenes tertium humanum zwischen Kreuzzug und Metanoia, das in den episch vermittelten Reflexionsgebärden des Fragmentausgangs von Wolframs Willehalm aufschien, nicht weniger ausgeschlossen, als im narrativen Gegenentwurf des Fortsetzungsbeginns: wird hier die Aufmerksamkeit auf die Verhaltensformen der Heiden abgelenkt, so dort auf diejenigen der Christen, welche eine Wahrnehmung des Andern als solchen blockieren. Daß anders eine continuatio des Torso unter den Bedingungen des mittleren 13.Jahrhunderts eventuell auch gar nicht möglich war, versuchte ich anzudeuten. Wenn man so akzentuiert, dann heißt es den narrativen Prozeß nicht nur seines Beginns, sondern von Ulrichs Rennewart insgesamt als einen Vorgang thematischer Umbesetzung zu verstehen. In ihm wird offenbar ein an die Grenzen des Denkbaren oder tastend schon über sie hinaus führender epischer Diskurs schrittweise zurückgenommen und schließlich durch seine konventionelle, im Sinne fragloser Legitimität des Kreuzzuges orthodoxe Alternative substituiert. Dieser Vorgang indes kann, aus einsehbar zu machenden Gründen, nicht ein kontinuierlicher Prozeß des Kritisierens sein. Zwar gibt es, so war zu sehen, im Rennewart partienweise die diskursive, kritische Auseinanderssetzung mit dem von Wolfram erzählten und seiner narrativen Sinnkonstitution – gerade am Anfang schafft sich die Fortsetzung so die Bedingungen ihrer Möglichkeit; es finden sich auch Punkte einer immer wieder ad hoc ansetzenden expliziten Kritik, wie sie etwa im Gebrauch der pecus bestiale-Metaphorik zu studieren wären.184 Doch ist aufs Ganze Ulrichs Fortsetzungsroman nicht als Akt permanenter Kritik am fortgesetzten angelegt. Es handelt sich nicht um ein Verhältnis von Faktur und Kontrafaktur. Kritik muß sich aufs Kritisierte nämlich einlassen und die Kontrafaktur tradiert das Kontrafazierte im Modus seiner (ihrer) Negation. Per184 Vgl.13910f. (programmatisch gegen WW 450,15ff.), sowie etwa 16610, 23677, 27500f.; vgl.auch 21302f., 21635f., 23168ff., 32898ff.usw.. 267 manente Kritik heißt permanente Problematisierung im epischen Diskurs, und eben so kann der neue Text mit dem alten dann nicht umgehen, wenn das Kritisierte selbst gerade das Fragwürdigwerden alter Gewißheiten, der Verlust ideologischer Selbstverständlichkeiten ist. Dies eben ist die Konstellation, in welcher der WolframFortsetzer sich findet. Seine Konzeption zielt, so meine ich, nicht so sehr auf die Restitution bloß der Legitimität des Heidenkrieges – die war durch den Willehalm noch gar nicht explizit bestritten. Sie zielt vielmehr auf den Wiedergewinn der Fraglosigkeit dieser Legitimität, sie hat den Kreuzzug als eine Selbstverständlichkeit im Blick. Kritik und Kontrafaktur aber kehren den Vorgang des Schwindens von Selbstverständlichkeit nicht um, sondern sie verlängern ihn; der Prozeß der Kritkik selbst läßt sich durch Kritik nicht anhalten – eben darum ist der Rennewart nur punktuell als Kritik des Willehalm konzipiert. Der Prozeß der Kritik und des Verlusts von Selbstverständlichkeit kann nur abgewürgt oder unter der Hand – wie eine der gebrauchten Metaphern lautete – von seinem Gegenstand abgelenkt und schließlich auf konventionelle Problemfelder (die aus seiner Perspektive als scheinhaft sich darbieten) umdirigiert werden. Verlorene Selbstverständlichkeit wird dieserart nicht wiedergewonnen, doch es herrschen so die Bedingungen, unter denen sie sich erneut einstellen könnte. Es ist die These meiner Rennewart-Interpretation, daß hiermit in zugegebenermaßen abstrakter Form jener Prozeß thematischer Verschiebung beschrieben sei, als welcher sich Ulrichs Fortsetzungsroman in seinen Hauptstücken narrativ vollzieht. Und nicht die schwächste Stütze dieser These besteht darin, daß im dargestellten Interpretationsrahmen und mit ihm die im ersten Abschnitt dieses Kapitels reflektierten Beobachtungen zu den 'Formatfragen' des Textes und ebensowohl die Ergebnisse Christa Westphal-Schmidts über Türheimsche Darstellungsstrategien zu einer 'Theorie' des Rennwart sich integrieren lassen. Was ich dort unter dem Stichwort einer 'Hermeneutik des Textumfanges' zusammentrug, hatte zunächst nur die Aufgabe, zugeschnitten auf den Fall extrem langer narrativer Prozesse zu illustrieren, daß auch so etwas Banales und Triviales wie der schiere Umfang eines Erzähltextes ein Interpretandum sein könnte. Näherhin ergab sich dabei, daß Situationen nicht ausgeschlossen sind, in welchen gerade die weit überdurchschnittlichen Ausmaße eines Romans als programmatische Momente seiner Konzeption zu kalkulieren wären, und daß der besondere – im Fall des Rennewart zum Beispiel überlieferungsgeschichtliche – Erfolg solchen Erzählens nicht seinem Umfang zum Trotz, wie wir zu erwarten geneigt sind, sondern ihm zum Dank sich eingestellt haben mag. Dieses Quantitätskriterium läßt sich nun spezifizieren anhand dessen, was über Ulrichs Darstellungsverhalten ermittelt worden ist. Die Willehalm-Fortsetzung erzählt nämlich nicht nur ganz besonders lang, sondern auch auf eine uns enorm langweilig vorkommende Weise. Westphal-Schmidt beschrieb sie ausgehend von der Beobachtung, daß der Rennewart-Text durch einen außergewöhnlich hohen Anteil direkter Rede gekennzeichnet ist.185 "Die oratio recta übernimmt einmal Handlungsfunktionen: sie treibt das Geschehen vorwärts, bringt es 185 Vgl.Westphal-Schmidt (1979), S.61ff. 264f. 268 zur Entscheidung, ist als handelnde Rede selbst Geschehen. Zum andern aber, und das ist die innerhalb des Erzählgefüges wichtigere Aufgabe, übernehmen die Dialoge, Halbdialoge und Monologe Darstellungsfunktionen, indem sie den Ablauf eines epischen Vorgangs durch die Information, die sie enthalten, indirekt wiedergeben oder in der Reaktion der handelnden Personen widerspiegeln."186 Nicht so sehr das Erzählte wird erzählt, als viel eher seine Benennung durch epische Figuren; daß damit ein spannungsvolles Verhältnis von Unanschaulichkeit und Unmittelbarkeit sich einstellt, ist noch auszuführen. Komplementär dazu fällt die untergeordnete Rolle auf, die Formen des epischen Berichts, des detailreichen Szenenaufbaus, damit auch der descriptio spielen – ein naheliegender Maßstab wäre in diesen Studien das Erzählen des anderen WillehalmFortsetzers. Im Vergleich mit dem Requisitenreichtum der Arabel, der Bildhaftigkeit ihrer Rede, der zeremoniellen Beschreibungspräzision und der tiefenscharfen Horizonte, die damit zum Beispiel metaphorisch oder durch naturkundliche Allegorese oder diejenige des Spiels, durch literarische Zitate oder intratextuelle Bezugsetzungen unentwegt dicht an die epische Handlung herangeholt werden und als Elemente ihrer Sinnkonstitution fungieren, wird die Eindimensionalität des epischen Prozesses im Rennewart unverkennbar. Hier ist selbst jene epische Präsentation rituellen und zeremoniellen Repräsentationshandelns, deren Entfaltung als charakteristisches Merkmal der Romanentwicklung im 13.Jahrhundert gilt, und die in differenzierten narrativen Funktionen an Ulrichs von dem Türlin Roman zu studieren war, nur ansatzweise entwickelt.187 Zu einer Ausdifferenzierung epischer Vorder- und Hintergründe kommt es nur ansatzweise und dann zum Schluß der Fortsetzung (im Ephesus-Abschnitt der Malefer-Erzählung oder in der Bezüglichkeit zwischen dieser und dem MoniageTeil). Man könnte mit jeweils konnotationsreichen und entsprechend problematischen Vokabeln vom Trend zur Entkonkretisierung und Unanschaulichkeit sprechen. Westphal-Schmidt hat solche Beobachtungen zu Ulrichs von Türheim Darstellungsverhalten im Rennewart188 im sehr brauchbaren Begriff der Flächigkeit dieses Erzählens gebündelt.189 Wenn ich ihn hier aneigne, muß dabei vielleicht nicht mehr eigens betont werden, daß dies weder mit der Absicht der Bildung ästhetischer Werthierarchien geschieht, noch die Adaption jener entwicklungsgeschichtlichen Rekonstrukte impliziert, in welche der Begriff bei Westphal-Schmidt implantiert ist.190 Hier geht es vielmehr um textfunktionale Erklärungsmöglichkeiten interpreta186 Ebd.S.85. Vgl.ebd. S.266; zur Repräsentation zuletzt die Beiträge in Ragotzky / Wenzel (1990). 188 Um die Insuffizienzen des Personalstils eines Autors, das zeigt schon das gefleckte Reh in Ulrichs Gotfrit-Fortsetzung (vgl.oben S.36f.), handelt es sich nicht. 189 Vgl.Westphal-Schmidt (1979), S.51, 264. 190 'Flächigkeit' markiert dort ein Symptom für einen generellen "Rückschritt" innerhalb der teleologisch zu immer komplexeren Erzählformen führenden (vgl.Westphal-Schmidt [1979], S.30) "Entwicklung der epischen Technik der mittelhochdeutschen Dichtung [...]" (ebd.S.126). Die Erklärungsleistung solcher Konstruktionen ist indes so gering, wie die der sozial- und bewußtseinsgeschichtlichen Deutungsansätze ("Auflösung des hochmittelalterlichen Weltbildes", S.267), mit denen sie korreliert werden. 187 269 torischer Befunde, und dabei lautet die erste Frage nicht, an welcher Stelle teleologisch konzipierter Erzählgeschichte eine Narrativik der Flächigkeit einzuordnen oder wie sie genetisch herzuleiten wäre. Sie könnte vielmehr erkunden, worauf flächiges Erzählen die Aufmerksamkeit lenkt, wofür konsequente narrative Unanschaulichkeit den Blick freihält. Fragt man aber so, dann fügt sich der Befund der Flächigkeit schnell mit anderen zu einem Funktionssystem zusammen. Die in diesem Kapitel immer wieder verfolgte Schemahaftigkeit der Sujetfügung, die Repetitivität des Rennewart, sein Überhang an direkter Rede, sein schierer Umfang und seine Flächigkeit lassen sich als Formen eines Erzählens verstehen, welche das Erzählte tendenziell gegen die Möglichkeit seiner immer vielschichtigen, immer problematisierenden, Selbstverständlichkeiten immer reduzierenden Deutung zu immunisieren trachten. In der redundanten Unanschaulichkeit des narrativen Prozesses bleibt der Blick auf nichts als die Mechanik der erzählten Abläufe selbst gerichtet – zwischen Rennewarts Taufe und seinem Tod sowie darüber hinaus ist das stets der Automatismus von sarazenischem Angriff und christlicher Verteidigung, der diese als bare Selbstverständlichkeit erscheinen läßt. In der dominanten Vermittlungsform direkter Rede wirkt das Geschehende nur scheinbar paradoxerweise in seiner freilich fingierten materialen, präsentischen Unmittelbarkeit191: ist es nichts als es selbst und bedeutet es nichts außer sich. Keineswegs bietet der Rennewart Erzählstoff pur – das gibt es gar nicht: 'Stoff' ist "immer schon strukturiert und damit interpretiert"192, und die Forschung tat deswegen schlecht daran, etwa die Konfiguration der Texte in der deutschen Willehalm-Trilogie einem bloßen Stoffinteresse zuzurechnen. Aber der Fortsetzungsroman bietet, zum Verwechseln ähnlich, etwas kategorial anderes: nicht "die reine Darbietung von Stoff"193, sondern ihre Simulation. Als deren Konstruktionselemente verstehe ich die hier versammelten Textmerkmale, die nun im Begriff der 'Flächigkeit' terminologisch strenger zu fassen sind. In Analogie zu dem, was Hans Ulrich Gumbrecht "flache Diskurse" nannte, wäre flaches Erzählen ein solches, das "auf sekundäre (deutende) Sinnstiftung" verzichtet, das "primären Sinn nicht mit einem Horizont von Deutungen" umgibt.194 Der primäre Sinn des studierten Erzähltextes wäre in diesem Verständnis die plane, fraglose Permanenz des Hei-denkrieges und jene Selbstverständlichkeit seiner Legitimität, die sich aus der Mechanik der erzählten Abläufe 'von selbst' ergibt. Sekundäre Sinnstiftung wäre jene im epischen Prozeß der Diskursivierung und Problematisierung erzeugte, Selbstverständlichkeiten zerstörende Reflexion auf das Recht des Andern, die im Willehalm sich abzeichnet und am Anfang des Rennewart wieder kassiert wird. Sekundär wäre auch der jene Reflexion ausschließende Diskurs über das Verhältnis von Weltherrschaft und Weltentsagung am Schluß von Ulrichs Fortsetzung. In deren Zentrum aber die große Fläche eines Erzählens, das in simulierter Unmittelbarkeit die reflexionslose Präsenz des 191 Vgl.etwa Strohschneider (1986), S.236f. Haug (1989a), S.42. 193 Westphal-Schmidt (1979), S.27. 194 Gumbrecht (1988), S.919, 915. Daß die vorgeschlagene Deutung ihre Historizität als Bedingung ihrer Möglichkeit weiß, soll mit dem Hinweis auf jenen tiefgestaffelten Diskussionszusammenhang signalisiert sein, dem Gumbrechts Aufsatz entstammt. 192 270 Erzählten vorstellt, dient der Problemdrosselung – versteht sich als Unterfangen, und wohl als dessen einzig denkbare Form, den in Gang gekommenen Prozeß der Problematisierung des Kreuzzuges nicht selbst zu kritisieren (und so zu prolongieren), sondern narrativ zu erledigen. Das Übergewicht von oratio recta ist über weite Erzählstrecken hin nichts als ein Rauschen, Ulrichs Willehalm-Fortsetzung trotz ihres Redereichtums ein monologisch verstummender Text. Das Erzählte wird hier (fast) nicht interpretiert, es wird nicht so zum Sprechen gebracht, daß es transparent würde auf etwas, was es selbst nicht ist. Das Reden der Figuren wie dasjenige des Erzählers, der Umfang des Erzählens und seine Flächigkeit sind hier nicht Formen diskursivierender Sinnstiftung, sondern der Reflexionsverhinderung, nicht der Problematisierung oder Problemlösung, sondern der Problemaustreibung. Das Fragenstellen und In-Frage-Stellen versandet in den Weiten des Rennewart, verflüchtigt sich in der Fiktion einer fast referenzlosen epischen Wirklichkeit. Oder andersherum: den Riß im Gefüge der kreuzzugsideologischen Selbstverständlichkeiten, der sich bei Wolfram andeutet, schaufelt die Fortsetzung mit ihren beinahe unerschöpflichen Massen scheinbar puren Erzählstoffes wieder zu. Oder noch einmal gewendet: Ulrich erzählt so lange und so eindimensional, bis Rezipienten von den Reflexionsanstrengungen Wolframschen Erzählens nichts mehr wissen können und wollen. Widersprüche gibt es in diesem fortsetzenden narrativen Prozeß im gerüttelten Maß. Einige kamen im vorliegenden Kapitel zur Sprache. Auf allen Ebenen des Textes ließen sie sich um ungezählte Beispiele vermehren, und insbesondere Christa Westphal-Schmidt hat etwa die Antinomien in Ulrichs Heidenbild, überhaupt "den inhaltlichen und gedanklichen Eklektizismus des Werkes" hervorgehoben.195 Nun wäre im Zusammenhang dieser Interpretation zu sagen, daß Derartiges im Rennewart gewissermaßen genau deswegen vorkommen kann, weil es darauf überhaupt nicht ankommt. Weniger paradox formuliert heißt das, solche Widersprüche, Disparitäten, Antinomien seien Resultate optischer Täuschungen. Sie entstehen als Enttäuschungen von Kohärenzerwartungen gegenüber einem flachen Erzählen, welches Akte sekundärer Sinnstiftung und also auch der möglichst widerspruchsfreien Korrelation solchen Zweitsinns gerade eindämmt. Das flache Erzählen in der prägnanten Präsenz fingierter Unmittelbarkeit und Materialität des Erzählten verweigert sich auf weite Strecken hin der Abstraktion von Aussagen, die miteinander in Widerspruchsrelationen eintreten könnten. Wo Diktionen, also Deutungen des Erzählten tendenziell abgedrängt werden, da auch Kontradiktionen. Am Anfang dieses Kapitels war, gewissermaßen als Verdichtung gängiger Klischees der Literaturgeschichte, das Verhältnis von fortgesetztem und fortsetzendem Text, von Willehalm und Rennwart im Bild eines hochragenden Problemgebirges gefaßt worden, jenseits dessen sich die nur selten durchmessene plane Steppe der continuatio ausdehnt. Dieses Bild erscheint im Lichte der vorgetragenen Überlegungen als erstaunlich triftig – jedenfalls dann, wenn man Ebene und Berge in ihrer Bezogenheit denkt. Das Gebirge ist jener Horizont, von dem aus sich die Ebene vermes195 Vgl.Westphal-Schmidt (1979), S.134ff., 260ff., 265f. 271 sen läßt. Es türmt im Falle des Willehalm die Probleme so sehr und in einer die Bedingungen des Erzählens vom Heidenkrieg so grundsätzlich antastenden Weise auf, daß eine Fortsetzung nur in der von Ulrich von Türheim gefundenen Form denkbar scheint: als epischer Prozeß zunächst der Zurücknahme der vorgegebenen Reflexionsbewegung auf das Recht des Andern im Heidenkrieg (2. Abschnitt dieses Kapitels), sodann der Abflachung dieses Problemniveaus mit den Mitteln narrativer Drosselung von Reflexivität, von diskurserzeugender Referenzialität, schließlich der Konstitution einer Problemalternative auf dem Fundament restituierter Selbstverständlichkeit der Kreuzzugslegitimität, die die nötige Abdrängung jener die intellektuellen Tabus (mindestens) der Kreuzzugsepik verletzenden Reflexion abschließend zementiert (Abschnitte 5.6. dieses Kapitels). Wie der Fortsetzer grundsätzlich anders vom Punkt ernsthafter Infragestellung der Möglichkeiten eines Heidenkriegsromans aus hätte weitererzählen können, wüßte ich nicht zu sagen; alternative Möglichkeiten laufen entweder auf eine Mönchwerdung des Protagonisten hinaus, für welche am Ende der von Wolfram erzählten Alischanz-Schlacht die motivationalen wie die erzählstrukturellen Voraussetzungen gleichermaßen fehlen, oder auf ein weitere Heidenkriege anders umgehendes Erzählen, das dann kein Willehalm-Roman mehr wäre. Dessen Protagonist ist nur in dem Maße, in dem er Heidenkrieger, Kreuzritter ist. Die vorgetragene Interpretation der Türheimschen Willehalm-Fortsetzung hat ihr Zentrum nicht in der Erhebung völlig neuer, den bisher in der Forschung artikulierten widersprechender Textbefunde; "eklatante Problemlosigkeit" hatte auch WestphalSchmidt am Rennewart diagnostiziert.196 Sie versuchte vielmehr, auf induktivem Wege von diesen Befunden her darzutun, daß sich diese nicht nur als Symptomatik einer sei es ästhetischen, sei es intellektuellen, sei es epochengeschichtlich-epigonal begründeten Insuffizienz verstehen lassen, sondern historisch konkreter als adäquate Reaktion auf die herausfordernde und offene Situation, die mit dem Fragmentschluß von Wolframs Willehalm gegeben war. Es scheint, als ob sich der Fortsetzer diesen Gegebenheiten in geschichtlich rekonstruier- und verstehbarer Weise gestellt habe. Dieserart werden die bisherigen Insuffizienzen der Kontinuation nun als Realisation eines ästhetischen und ideologischen Programms verstanden.197 Darin liegt nur der 196 197 Ebd., S.266. Hier und vielleicht auch anderweit in diesen Untersuchungen gewärtige ich den Einwand der 'Überinterpretation'. Im Gegensatz zu jenem der Fehlinterpretation bestritte dieser der kritisierten Deutung nicht die nötige Gegenstandsreferenz. Er bezweifelte aber, daß, wie eine gängige Formel lautet, der Text 'hergebe', was die kritisierte Deutung als seinen Sinn zu entfalten behaupte. Nun sind allerdings Texte keine Hohlgefäße, deren Sinn bis zur Neige sich ausleeren ließe, und auch wenn die hier antizipierte Kritik nicht in der Form der petitio principii aufträte, wonach die vorgeschlagene Interpretation dem Text nicht 'zuzutrauen' wäre, da es sich ja um einen epigonalen handele, auch dann wäre dieser Einwand schlecht begründet. Dies liegt, so will ich hier nur mit einem Stichwort andeuten, daran, daß zwischen dem in einen Text Hineingeschriebenen und dem aus ihm Herausgelesenen hermeneutisch streng nicht geschieden werden könnte. Über Interpretationen wird darum, anders, als es jeder Vorwurf der 'Überinterpretation' unterstellt, nicht durch anscheinend unmittelbare Textgegebenheiten entschieden, sondern nach dem Kriterium der Sättigung und der Konsistenz ihrer die Kohärenz des Textes entfaltenden und vergegenwärtigenden Argumentation; vgl.etwa Japp (1977), S.65ff. 272 Versuch einer geschichtlichen Erklärung des Überlieferten, nicht ein ästhetisches Werturteil, demgegenüber er den Vorteil hätte, das Integral bislang isolierter Textbefunde wie Redundanz, Schematismus, Redereichtum, Widersprüchlichkeit zeigen zu können. Dieser Versuch macht auch jene Dimensionen erklärlich, an denen dieses Kapitel ansetzte. Er begründet den Umfang des Rennewart und erlaubt, in seiner reichen und vielfach Wolframs Torso einbeziehenden Überlieferung mehr zu sehen, als jene exzessive Befriedigung epigonalen Stoffhungers, die für sich genommen völlig unverständlich bliebe. 273 DRITTER TEIL PERSPEKTIVENWECHSEL DREI ANSICHTEN VOM WAGNIS EINER GESCHICHTE UND THEORIE DES HÖFISCHEN ROMANS Alsô ist mir ze mînem getihte: Swenne ich ez einhalp hin rihte, Sô loufet ez anderhalben hin [...] Verrer denne mîn herze wil. (Hugo von Trimberg, Der Renner 13925-13932) th'ende is every tales strengthe. (Geoffrey Chaucer, Troilus and Criseyde, 2.260) 274 VII. ERSTE ANSICHT: VOM SYSTEM DES ERZÄHLENS. FRAGMENTE UND FORTSETZUNGEN 1. Fragmente: "Das Rätselhafte der Kunstwerke ist ihr Abgebrochensein. Wäre Transzendenz in ihnen zugegen, sie wären Mysterien, keine Rätsel; das sind sie, weil sie als Abgebrochene dementieren, was sie doch sein wollen. [...] Retrospektiv ähneln alle Kunstwerke jenen armseligen Allegorien auf Friedhöfen, den abgebrochenen Lebenssäulen. Kunstwerke, mögen sie noch so vollendet sich gerieren, sind gekappt [...]."1 Daß das Ganze, wenn überhaupt, dann doch jedenfalls virtuell und das Bruchstück seine konkreteste künstlerische Repräsentation sei; daß ästhetische Vollendung allein als selbstreflexiv werdende Fragmentarizität gedacht werden könne oder aber als falsche Prätention, die Ideologieverdacht und einen den Begriff der Kunst negierenden Vorwurf des Banausischen provoziere: solches sind, seit man sie aus Friedrich Schlegels Fragmenten konstruieren kann, Grundfiguren moderner Kunstreflexion und Fragmenttheorie. In Adornos Theorie des Ästhetischen haben sie einen ihrer exponierten Koinzidenzpunkte. "Kunst obersten Anspruchs drängt über Form als Totalität hinaus, ins Fragmentarische. Am nachdrücklichsten dürfte die Not der Form in der Schwierigkeit [...] sich anmelden zu enden [...]. Einmal der Konvention ledig, vermag offenbar kein Kunstwerk mehr überzeugend zu schließen, während die herkömmlichen Schlüsse nur so tun, als ob die Einzelmomente mit dem Schlußpunkt in der Zeit sich auch zur Totalität der Form zusammenfügten."2 Fragmentarisch also ist die Kunst, wo immer man zu ihr zurückblickt, und eine solche Evidenz hat dies für sich, daß die rhetorische Frage gerade die rechte Formulierungsform wäre: wie anders auch, denn in zersprengter Gestalt sollte Kunst auf die Totalität der auseinandergebrochenen Welt zuhalten können? Von solcher Evidenz zehren auch die avanciertesten Interpretationen etwa von Gotfrits Tristan und Wolframs Willehalm, wenn sie gerade in deren Abgebrochensein jener historischen Wahrheit auf der Spur sind, welche die Torsi für uns entfalten können.3 Solches hat alle methodologische Legitimität auf seiner Seite. Im fragmentarischen Status der Werke muß ein historischer Sinn zu lesen versucht werden, er bliebe anders das schlechthin Kontingente, auf welches eine hermeneutisch konzipierte Geschichtsforschung nicht zu gründen wäre.4 Zudem könnte sich jede Behauptung der Ubiquität des Fragmentarischen in der Kunst ohne Mühe etwa auch der mittelalterlichen Erzählliteratur als eines Belegfundus bedienen. Zwar deren poetologische Reflexion auf 1 2 3 4 Adorno (1974), S.191f. Ebd., S.221. Etwa Bertau (1972/1973), S.956ff., 1166ff. usw.; Peschel (1976), S.50f.; Bertau (1983), S.103ff., 165ff.; Haug (1985), S.190; Kiening (1991), S.235ff. Vgl.Bertau (1983), S.74f. 275 Fragmentarizität gehört ebenso wie der hier nur eben benannte moderne Theoriezusammenhang5 nicht mehr ins Aufgabenfeld dieser Arbeit.6 Doch unübersehbar ist die Allgegenwart des Abgebrochenen, Zersprengten, Fragmentarischen auch dort, wo das Mittelalter erzählt, und dort gerade. Richtet man den Blick auf jenes Gebiet volkssprachiger epischer Großformen, aus welchem die vorliegenden Untersuchungen ihre Gegenstände wählten, dann wird es nicht als optische Täuschung einer auf Phänomene narrativer continuatio begrenzten Perspektive erscheinen, daß sich auch hier das Bruchstückhafte und Unvollendete überall präsent zeigt. Zwischen Hartmanns Erec, der Übertragung von Chrétiens Cligés und Konrads Partonopier, zwischen Gotfrits Tristan und Wolframs Titurel, zwischen Willehalm und Arabel, Rudolfs Alexander und Konrads Trojanerkrieg spannt sich das Netz der fragmentarischen Erzählformen, und noch viel dichter wäre es zu knüpfen, wenn man sich nicht an den Rekonstruktionsfassungen neuzeitlicher Editionen, vielmehr an den historisch authentischen handschriftlichen Gestalten der Texte orientierte. Historische Ursachen solcher Fragmentarizität mögen selbstverständlich sein oder sich von selbst verstehen wollen. So wäre es der Fall bei Texten, die anscheinend im Prozeß ihrer handschriftlichen Überlieferung zertrümmert worden sind7, und über die jenseits einer kodikologischen und schreibsprachlichen Datenerhebung letztlich nicht sehr viel mehr gesagt werden könnte als über lediglich in indirekten Zeugnissen noch gespiegelte Erzähltexte wie zum Beispiel den Umbehanc Bliggers von Steinach.8 Hier, so besagt der Konsens der Forschung, sind es die Schlagschatten der Überlieferung, die die Werke zu Fragmenten zertrümmern, welchen geschichtlicher Sinn allenfalls mittelbar, auf einer vom auseinandergesprengten Wortlaut des Erzählens selbst sich lösenden Ebene abzugewinnen wäre; etwa in der Reflexion auf die traditionsgründende Dialektik von Erinnern und Vergessen.9 Der je einzelne Prozeß der Fragmentarisierung entzieht sich hier dem interpretierenden Zugriff; das Stichwort dafür ist 'Zufall'.10 Und dies heißt auch, daß keine Antwort möglich sei auf die Frage, ob das 'blinde' Zerstörungsgeschehen handschriftlicher Tradierung einen gewissermaßen kompletten Text getroffen habe oder ob es sich vielleicht um die scheinbar zufällige überlieferungsgeschichtliche Fragmentarisierung eines sozusagen notwendig Fragmentarischen handelt, eines Status also, der sich historisch hätte begründen und verstehen lassen. Diese auf der Ebene des Einzeltextes je 5 Vgl.etwa Niskov (1978); Dällenbach / Hart Nibbrig (1984); Behler (1985); Ueding (1986). Vgl.zum Verhältnis mittelalterlicher Fragmente und moderner Fragmenttheorie Hänsch (1982). 7 Zu den Artusromanfragmenten vgl. zuletzt Schiewer (1988), S.224 ff.; zum niederfränkischen Tristan vgl.oben S.36 Anm.86, zum Alischanz-Bruchstück Heinz Schanze in: 2VL Bd.1 (1978), Sp.240. 8 Vgl.GT 4690ff.; vgl.Wehrli (1985), S.84ff. Von Horst Brunner stammt die jüngste Zusammenstellung des Verlorenen im Bereich von Großepik und Lieddichtung; er hat "insgesamt 56 Dichter ohne Werk, dazu 34 verlorene, nur fragmentarische oder nur in Be-arbeitungen tradierte epische Werke aufgezählt und damit das vorhandene Material [!] vermutlich noch nicht ganz vollständig erfaßt [...]" (Brunner [1989], S.13). 9 Vgl.Wehrli (1985). 10 Vgl.Brunner (1989), S.3 usw. 6 276 gegebene Uninterpretierbarkeit der von der Überlieferung zertrümmerten Texte, welche in der Regel kaum mehr als ein archivalisches Interesse an ihnen noch zuläßt, findet also prägnanten Ausdruck in der hermeneutischen Unzugänglichkeit des Fragmentarischen selbst. Sie zwingt dazu, von solchen Fällen die in ihrem Abgebrochensein gewissermaßen 'komplett' tradierten Fragmente zu sondern. Diese Differenzierung hätte, so scheint mir, auch ihre heuristische Plausibilität. Zwischen einem auf wenigen Klebefälzen unikal überlieferten Textrest wie Ulrichs von Türheim Cliges einerseits und einem unvollendeten Roman wie Ulrichs von dem Türlin Arabel oder dem Willehalm anderseits, der zwar mitten im Dreißiger abbricht, seiner axialsymmetrischen Handlungsstruktur nach jedoch so gut wie abgeschlossen ist, zwischen solchen Überlieferungskonstellationen Zuordnungsunterscheidungen vorzunehmen, wird sich auch dort rechtfertigen, wo auf prinzipielle Fragmentarizität von Kunst aller Nachdruck gelegt ist. Die sozusagen komplett überlieferten Fragmente will ich vorderhand in zwei Klassen einteilen. Als Distinktionsmerkmal dient dabei, ob ihr Abgebrochensein aus eher 'äußerlich' mittelbaren oder aus 'inneren' unmittelbaren Gründen sich erklärt; daß diese Unterscheidung freilich nur eine kurze Wegstrecke weiterhilft, wird schon daran deutlich, daß Kontroversen eines Textverständnisses nicht selten gerade an einer solchen Klassifikation ihren Kristallisationskern finden. 'Äußere' Gründe von Fragmentarizität wären jene, die nicht unmittelbar auf den Text selbst, sondern auf den Prozeß seiner Entstehung einwirken. Das Abhandenkommen einer Vorlage, ein Wechsel des Mäzens, der Verlust seiner Huld oder sein Tod sind als externe Ursachen dieser Art greifbar.11 Lieddichtung kann sich noch von derartigen katastrophischen Störungen künstlerischer Produktivität selbst zum Singen bringen lassen; Walther, Neidhart oder der Tannhäuser etwa führen das in berühmten Gedichten vor. Unter den Produktionsbedingungen epischer Großformen indes läßt solches in der Regel allenfalls dann Spuren im überlieferten Werk zurück, wenn der Autor dessen drohende Fragmentarisierung, so wie Veldeke durch die Rückgewinnung der gestohlenen Eneit-Vorlage oder Wolfram am Ende des 6.Parzival-Buches12, auf die eine oder andere Weise abwenden konnte. Öfter jedoch scheinen 'äußere' Gründe der angedeuteten Art das Erzählen verstummen zu lassen, und dies am unausweichlichsten dann, wenn es sich um das Verstummen des Autors selbst handelt, um seinen Tod. "Es ist nicht unwahrscheinlich, daß es sich in mehreren Fällen tatsächlich so verhalten hat. Die biographische Erklärung versagt jedoch, wenn ein Dichter mehrere Werke unvollendet hinterlassen hat. Das ist gar nicht so selten."13 Joachim Bumke führt zum Beleg nicht nur Chrétien und Rudolf von Ems an, sondern natürlich auch Wolfram. Gerade am Beispiel seiner Fragmente läßt sich jedoch sehen, daß auch in diesen Fällen die biographische Erklärung für mittelalterliche Literaturgesellschaften ihre Plausibilität nicht verlor. Jedenfalls haben sich sowohl Ulrich von Türheim als auch der Albrecht des Verfasserfragments auf 11 Vgl.Bumke (1979), S.13ff. Ebd., S.18ff. 13 Ebd., S.13. 12 277 Wolframs Tod als Grund für das Abgebrochensein von Willehalm und Titurel bezogen.14 Erst recht besaß solche lebensgeschichtliche Begründung angesichts der Unabgeschlossenheit von Gotfrits Tristan offenbar Überzeugungskraft: Uns ist ein schade grôz geschehen, des mac diz mære zeschaden jehen, wan ez beliben ist in nôt, sît Meister Gotfrît ist tôt, der dis buoches begunde. [...] owê der herzelîchen klage. daz im der tôt sine lebende tage leider ê der zît zebrach, daz er diz buoch niht vollesprach. (TT 1-18) got unser schepfer daz gebôt, daz in genumen hât der tôt hin von dirre broeden werlt. (FT 31-33) Der absoluten Begrenzung durch den Tod hat das Erzählen nichts entgegenzusetzen – außer sich selbst im Modus des Weitererzählens. Möglicherweise gründet die Plausibilität der biographischen Erklärung für literarische Fragmentarizität in einer Vorstellungsfigur, deren herrschaftsgeschichtliches Pendant in diesen Studien mehrfach beigezogen wurde und die in Abwandlung einer Formulierung von Ernst Kantorowicz mit 'The poet never dies' umschrieben werden könnte. Der Tod des Dichters wäre danach die Bedingung für die ihn selbst überdauernde Kontinuität des Erzählens.15 Allein sit ich pflege, so sagt der Fortsetzer, des er, Wolfram, da pflag (TR 21725), habe er überhaupt an die Aufgabe des kontinuitätssichernden Weitererzählens sich herangewagt. Davon aber abgesehen läßt sich gerade an der Evidenz, die eine mit dem Tod des Autors argumentierende Begründung von Textunvollständigkeit besitzen könnte, das Gleiten der Kategorien demonstrieren. Ist der Tod, der den Dichter ereilt, nämlich ein Suizid, dann könnte es zuletzt die Unabschließbarkeit seines Werkes sein, woran er stirbt. Der 'äußere' Grund von Fragmenthaftigkeit, der im Mittelalter offenbar besondere Glaubwürdigkeit beanspruchen konnte, erschiene dieserart als Index nur eines in Wahrheit 'inneren' Grundes, als Zeichen der nicht zu bewältigenden Widerständigkeit des epischen Prozesses selbst. Auch wenn kaum jemand zum Beispiel Gottfried Webers Versuch gefolgt ist, in der Konsequenz einer nicht vom Text, sondern vom Autor her denkenden Literaturwissenschaft die Aporien von Gotfrits Kunst nach diesem Vorstellungsmodell mit vermuteten Aporien seines Lebens zusammenzuschließen16, 14 Vgl.TR 21711ff.; Albrecht, Verfasserfragment 1ff. Vgl.dazu auch Albrechts Metapher vom gotischen Kathedralbau als generationenübergreifender Aufgabe: Verfasserfragment 2f.; vgl. Hänsch (1982), S.50. 16 Vgl.Weber (1953), bes.Bd.I S.306f. 15 278 so sind es doch zumal solche 'inneren' Gründe, welche einem die romantische Ästhetik beerbenden und nicht bloß technischen Fragmentbegriff sich paßgenau einfügen. In der Moderne wird erst im Nachweis 'innerer' Ursachen das Abgebrochensein von Texten seiner Kontingenz ledig, wird es in allen seinen Dimensionen interpretierbar, fügt es sich den Rationalitätsstandards hermeneutisch begründeter Geschichtsforschung. Anders und konkreter gesagt: diese kann gar nicht umhin, so wie in den von den vorliegenden Studien thematisierten Fällen gegen das ausdrückliche Zeugnis der Fortsetzer vom das Erzählen unvollendet zurücklassenden Tode Gotfrits und Wolframs doch die Wahrheit des Fragmentarischen in den Aporien des Erzählens selbst aufzusuchen. Insofern gibt es eine notwendige Disjunktion zwischen dem, was mittelalterlich und dem, was neuzeitlich als Grund für die Unabgeschlossenheit eines Erzähltextes in besonderer Weise jeweils plausibel wäre. Hierin nicht weniger als schon in einer ganz oberflächlichen Phänomenologie der unvollständigen Texte erweist sich das Fragmentarische also als ein stets Besonderes. Kann man darüber, wie es in der Altgermanistik alltäglich geschieht, umstandslos und mit einem kaum je reflektierten, Unvollständigkeit so gut wie immer als handlungstechnische Unabgeschlossenheit fassenden Pauschalbegriff von Fragmentarizität hinweggehen? Wissen wir von vorneherein, was das Fragmentarische je sei und was es vor allem einmal gewesen sei? Es steckt in solchen Annahmen wohl nicht ganz wenig terminologische Bedenkenlosigkeit, und es steckt darin ein Begriff vom Erzählen, der dieses wesentlich unter Aspekten erzählten Handlungsgeschehen auffaßt. Mir scheint das als Reaktion darauf verstehbar, daß generalisierende Aussagen über die Kriterien, nach denen Fragmentarizität im System mittelalterlich volkssprachigen Erzählens historisch konkret zu bestimmen wäre, außerordentlich schwer fallen dürften; und dies schon von der Überlieferungsgeschichte her, die den Fragmentstatus von Texten ebensogut bestätigen (etwa durch Zusammenstellung mit Fortsetzungen) wie ignorieren kann (zum Beispiel in Einzel- oder Oeuvreausgaben). Die Schwierigkeit indes beruht nicht allein auf der Vielfältigkeit und jeweiligen Besonderheit des von fernher Überlieferten, sondern auch, so soll sich in den folgenden Argumentationen ergeben, auf der Alternativität mittelalterlicher Narration, welche sich den vom Fragmentbegriff vorausgesetzten Kompletions- und Kohärenzstandards in poetologischer Programmatik vielleicht eher fügt als in der Praxis des erzählerischen Vollzugs. Daraus ergibt sich methodologisch, daß Fragmentarizität höfischer Romane nicht einfach auf Grund 'äußerer' Daten konstatiert werden kann, sondern in der Interpretation des einzelnen Textes je spezifisch entwickelt werden muß. Dies heißt auch, den Begriff des Fragments hermeneutisch zu konzipieren. Nicht einmal die Romanfortsetzungen, von denen hier gehandelt wurde, vermögen davon zu entlasten, denn ganz anders, als es unseren Selbstverständlichkeiten gemäß wäre, sind sie ein höchst unzuverlässiger Indikator für die Unabgeschlossenheit fortgesetzter Texte. Wohl gibt es Fortsetzungen in des Wortes landläufigem Sinn, die, sei es durch ihre Existenz, sei es durch ihre Erzählerkommentare oder narrativen Voraussetzungssysteme, den Fragmentstatus des fortgesetzten Textes zu bezeugen scheinen; doch dürfte dabei nicht übersehen werden, daß solches Zeugnis nicht zuletzt im Rahmen auch von Le- 279 gitimitätsinszenierungen für den fortsetzenden Text seinen Ort hat. Daneben existieren indes Fortsetzungen ohne Fragment, die Klage oder Wisses und Colins Rappoltsteiner Parzifal gehören dazu; es könnte Fortsetzungen wie vielleicht die Arabel17 geben, die sich um die Unabgeschlossenheit des fortgesetzten Fragments nicht bekümmern und auch ihrerseits ein Torso bleiben; und schließlich gibt es die großen Romantorsi ohne jeden Ansatz einer vervollständigenden Fortsetzung, zum Beispiel Rudolfs Alexander und den Reinfried von Braunschweig. Der Nexus von Fragment und Fortsetzung, so ist hier im Vorgriff auf Späteres deutlich, bleibt lockerer, als das teminologische Instrumentarium insinuiert. Er ist ein offener Möglichkeitsraum des freien Disponierens. Fragmentarizität von Erzähltexten spezifisch in der Interpretation zu entfalten heißt, ihren je besonderen Status anzugeben, also auszuführen, um was für eine Form von Unabgeschlossenheit es sich handelt und im Hinblick auf welche Parameter, Dimensionen, Ebenen des Textes von seiner bruchstückhaften Offenheit gesprochen werden kann. Solches wird nicht nur von der angedeuteten Variationsbreite der überlieferten Konstellationen, sondern darüberhinaus aber auch von der grundsätzlichen Alterität des Gegenstandes, der mittelalterlichen Erzählliteratur, erfordert. Zwar aus der Forschungsperspektive kann einerseits jeder Erzähltext als ein einzelner identifiziert werden – wenn es auch zuweilen, wie etwa beim Brüsseler Tristan, wenigstens auf der überlieferungsgeschichtlichen Ebene nicht ganz einfach wäre. Anderseits sind mittelalterliche Texte Teil eines übergeordneten Systems des Erzählens und immer wieder Neu- und Weitererzählens, eines Systems, das den Einzeltext mediatisiert und von dem her er rezipiert worden ist. Das hat vor allem Paul Zumthor zu sehen gelehrt, und er hat es auch zugleich zu einer Aporie des neuzeitlichen Fragmentbegriffs zugespitzt, indem er dies fundamentale Moment der Alterität mittelalterlicher Texte in die Formulierung vom "texte-fragment" brachte.18 Die Auswirkungen auf Kategorien der Vollständigkeit respektive Unabgeschlossenheit eines Textes sind grundsätzlicher Art: "Quant au récepteur médiéval de ces textes, on ne saurait douter qu'il ne concevait à notre manière ni l'achèvement ni l'inachèvement. Son horizon d'attente comportait une conaissance préalable des règles et des virtualités signifiantes de l'ensemble: connaissance plus ou moins précise, mais de toute manière déterminante dans le procès de réception. Le texte, s'intégrant à cet ensemble, engendrait le plaisir d'une reconaissance."19 Versteht man in diesem Sinne mittelalterliche Texte grundsätzlich als "textefragment", als etwas genuin Unabgeschlossenes, kategorial über sich Hinausweisendes, dann müßte, was im landläufigen Sinne die Fragmentarizität eines Textes heißt, demgegenüber je gesondert ausgewiesen werden. Es wäre gewissermaßen eine zweite 17 Ich schränke ein, weil es einiges für sich hat, die Arabel als Vorgeschichte eines Diptychons zu denken, in welchem der Fragmentstatus des Willehalm längst durch den Rennewart 'geheilt' wäre. 18 Vgl.Zumthor (1978). 19 Ebd., S.81; vgl.auch Jeay (1987), S.283ff.; Bruckner (1987), S. 224, 231, 262f. Hugo Kuhn hat sich solchen Überlegungen von seinem Begriff der Gebrauchssituation her angenähert, etwa Kuhn (1980a), S.137ff. 280 Ebene von den Einzeltext spezifisch distinguierender Unabgeschlossenheit interpretatorisch zu entfalten. Anders als auf der allgemeineren des "texte-fragment" verwiese der Terminus auf dieser Ebene spezifischer Fragmentarizität nicht auf das Ensemble der anderen Text-Fragmente, vielmehr auf Regeln relativer textueller Abgeschlossenheit; relativ, insofern sie quasi unterhalb der Ebene genereller Unabschließbarkeit lägen. Dieserart werden hinsichtlich des mittelalterlichen Erzählens ein genereller und ein relativer Fragmentbegriff und somit zwei Ebenen unterscheidbar, im Hinblick auf welche von der Fragmentarizität eines Textes gesprochen werden könnte: ein Begriff, der das Fragment auf die Totalität des Erzählens integrativ bezieht, und einer, der es von der Totalität des Einzeltextes abstößt. Daran wird zum andern Male deutlich, daß mit einem literarischen Terminus, der bestimmungslos gebraucht wird, wie wenn er sich von selbst verstünde, historische Differenzierungschancen vertan sind. Denn es geht hier nicht um den Begriff, sondern um das, was er konnotiert, und das sind im Falle des Fragment-Terminus Kategorien der Vollständigkeit und Abgeschlossenheit. Mit der Ausdifferenzierung des Fragment-Begriffs werden also auch jene Kategorien relational, auf die er komplementär bezogen ist. Das heißt, es wäre etwa das, was erzählerische Vollständigkeit sein soll, zu spezifizieren im Hinblick auf Textebenen und zu historisieren im Hinblick auf je geltende und geschichtlich variable Standards solcher Kompletion. Auf der nächsten Stufe der terminologischen Filiation folgt daraus, daß so wie sich Vollständigkeit, auf welche der Begriff des bedingt Fragmentarischen referiert, von einer normativen in eine deskriptive Kategorie transformiert, auch die von ihr einbegriffenen Kategorien ihrerseits relational konzipiert werden müssen: Kompletion des Narrativen wie auch seine Kohärenz wären demnach historisch und für verschiedene Textdimensionen je zu spezifizierende Kategorien. Für die letztgenannte wird das im Schlußkapitel dieser Arbeit dargetan im Versuch der Annäherung an einen Begriff von der alternativen Kohärenz mittelalterlichen Erzählens. Für die Kategorie erzählerischer Kompletion schließe ich einige Überlegungen hier direkt an. In der germanistischen Mediävistik wird, wo vom Fragmentstatus eines Textes die Rede geht, in der Regel die Selbstverständlichkeit einer Kategorie narrativer Kompletion vorausgesetzt. Und selbstverständlich ist dies stets die Kompletion des Erzählten, die Vollständigkeit der epischen Geschehniszusammenhänge.20 Diese Selbstverständlichkeit äußert sich gerade darin, daß solche Kategorie dem fremden, also zum Beispiel mittelalterlichen Erzählen als sein poetologischer Standard unterstellt werden kann. Das geschieht etwa in der Form des Arguments, es sei ein Interesse an der Komplettierung unabgeschlossener Handlungskonstellationen, am Stoff, welches Texte wie die hier untersuchten Romanfortsetzungen begründe. Ein solches Argument kann, 'Stoff' mit 'Geschichte' verwechselnd, auch da noch begegnen, wo explizit auf die historische Relativität des Fragmentbegriffs und also den Terminus 20 Mangelnde Kompletion syntaktischer Fügungen, im Mittelhochdeutschen nicht selten ein seinerseits intrikates Kriterium, kann dem, wie etwa bei der Arabel oder in den Handschriften G V des Willehalm, als sekundäres Zeugnis zur Seite treten. 281 epischer Kompletion reflektiert wird: "der Begriff der Vollständigkeit ist den Fortsetzern" von Gotfrits Tristan-Torso "der des Stoffes, der Geschichte: Gottfrieds Polemik gegen andere Fassungen als diejenige des Thomas unterliegt in der Rezeption der Identifikation seiner Dichtung mit dem Stoff, der Rezeption über den Stoff."21 Doch gibt es den 'Stoff' nur vermittels narrativer Diskurse, ist er immer schon in die Deutungsakte des Erzählens hereingeholt, und genau in diesen, so meine ich in den vorliegenden Studien begründet zu haben, liegt die Identität der jeweiligen Fortsetzungen. Das heißt, der Begriff der Vollständigkeit ist den Tristan- und WillehalmKontinuationen, die sie statt aufs Zuendeerzählen auf die narrative Amplifikation hinauswollen, gerade nicht der des Stoffes, sondern der den Stoff interpretierenden Geschichte. Mithin liegt das Maß ihrer Kompletion nicht in der Abgeschlossenheit von Geschehniszusammenhängen, sondern in den Logiken erzählerischer Diskurse, die nur partiell direkt über erzählte Handlung laufen, aber allesamt auf das narrative In-Ordnung-Bringen anderer, in Aporien hinein und damit notwendig fragmentarisch erzählter Geschichten abzielen. Von der Vollendung orthodoxer Einbindung abweichenden Erzählens bei Gotfrit und Wolfram her ließen sich Fortsetzungen hier erschließen, nicht von daher, daß sie auf der Abstraktionsebene des 'Stoffes' Erzählzusammenhänge komplettierten. Das handlungstechnische Vervollständigen, so könnte man vielleicht etwas provokant zuspitzen, ist gewissermaßen nur eine Form, in welcher sich jene narrativen Diskurse über die Tristanminne und den Heidenkrieg, auf die es konzeptionell ankommt, vollziehen – also eine unter mehreren Formen. Das zeigen jene Diskurse etwa des Brüsseler Tristan, der neu eingeführten KaedinKassie-Handlung oder des Malefer-Teils im Rennewart, die handlungstechnisch von der fortgesetzten Geschichte mehr oder weniger abgekappt sind; das zeigen abseits der Gotfrit-Fortsetzungen im engeren Sinn aber vielleicht auch der Cligés in Ulrichs von Türheim Übertragung und Rudolfs von Ems Willehalm von Orlens.22 Das fixe Maß für das, was narrative Vollständigkeit wäre, und von dem her relative Fragmentarizität sich umstandslos bestimmen ließe, gibt es wohl nicht. Es ist auch auf der Ebene von Handlungszusammenhängen nicht aufzufinden, nicht einmal dann, wenn der Umriß einer Protagonistenvita ein Kriterium für die Vollständigkeit des Erzählens zu definieren scheint. Dieser Umriß nämlich gibt nur notwendige (Geburt und Tod des Helden usw.), aber keine hinreichenden Kriterien solcher Vollständigkeit an; von ihm her sind etwa der Artus-Teil einer Gotfrit-Fortsetzung oder der Malefer-Teil des Rennewart nicht als für epische Kompletion unerläßlich oder überschüssig zu begründen. Erst recht ist es auf anderen Ebenen als derjenigen der Geschehnisfügung unmöglich, ein Kriterium von Vollständigkeit normativ zu bestimmen, da es auf ihnen ja nicht um komplettierenden Abschluß, sondern um erzählerische Entfaltung von Sinnalternativen geht. 21 22 Hänsch (1982), S.49. Wenn man sie nämlich als kritische Tristan-Kontrafakturen liest. Vgl.Stein (1983), v.a.S.180ff. (zum Cligés als 'Anti-Tristan'); Deighton (1979), S.315ff.; Haug (1989a), S.637ff.; Juergens (1990), S.50f.; hinsichtlich Rudolfs Willehalm kritisch dagegen Heinzle (1984), S.45; ders.(1990), S.79. 282 Man kann übrigens eine methodische Gegenprobe auf diese These vornehmen. Wie sehr Kategorien der Vollständigkeit relativ und in wechselnden Bezugshorizonten je interpretatorisch zu entfalten sind, zeigt sich nämlich auch daran, daß Fortsetzungen beim fortgesetzten Text zwar einen Fragmentstatus nicht zwingend voraussetzen, ihn aber umgekehrt gewissermaßen erzeugen können, daß sie also unter Umständen nicht einen fragmentarischen Text vervollständigen, sondern einen kompletten unvollständig werden lassen. Und dies zwar durch ihre bloße Existenz: Wolframs Herauslösung des Willehalm aus der Zyklik heroischen Erzählens zielt auf programmatische (wenn auch im Wortlaut unerreichte) Vollständigkeit des Einzeltextes23, welche die Fortsetzungen zugleich wieder zunichte machen, indem sie, was sie dem klassischen Text hinzufügen, als ihm Fehlendes erscheinen lassen.24 Ebenso zeigt sich Wolframs Parzival im Kontext von Klaus Wisses und Philipp Colins Erweiterungen oder vom Lohengrin her seiner erzählerischen Vollständigkeit beraubt, ist Weitererzählen auch eine Form der Fragmentarisierung der fortgesetzten Narration.25 Solcherart kann nicht nur auf der Ebene seiner generellen Fragmentarizität die Mediatisierung des mittelalterlichen Erzähltextes durch ein übergeordnetes System narrativer "texte-fragments" beobachtet werden, sondern in Einzelfällen auch eine derartige Mediatisierung auf der Ebene relativer Vollständigkeit. Um so weniger lassen sich darum (einstweilen) Kriterien solcher Kompletion verbindlich generalisieren. Nicht anders steht es um die Kategorie narrativer Kohärenz, auf welche ebenso wie auf jene der Kompletion jeder vom Terminus des Fragments vorausgesetzte Begriff auch relativer Vollständigkeit referiert. Das übernächste Kapitel unterbreitet zwar einen Vorschlag, wie über diese Kategorie 'Kohärenz' der Alterität höfischen Erzählens möglicherweise näherzukommen wäre. Indes tut es dies allein in Form eines heuristischen Modells, welches positive Verfügbarkeit über die Kategorie gerade 23 Vgl.Bumke (1959), S.11ff. Ulrich von Türheim zeigt dises buoches rehtez [!] angenge, des materie vns vil enge her Wolfram hat betuetet: div iv wirt baz [!] beluetet. (TA *R 4,3-6) Vgl.auch TR 184ff. und dazu oben VI.2. 25 Vgl.Lohengrin 231ff. (sowie auch 1061ff., 2295ff. 6664ff.) und dazu Ragotzky (1971), S.84ff. (bes.S.89). Im Epilog des Rappoltsteiner Parzifal zum Beispiel wird das Moment der Fragmentarisierung expliziert: so verre ez her Wolfram in tüschen seit, daz het imme meister Cristian in welschen rimen künt getan. [...] der aventüre ist michels me, denne ez in tützsche geschriben ste. daz het Maneschier gar bedoht unde allez zuo eime ende broht in welsch [...]. (845,24-35) 24 283 nicht garantieren, sondern als scheinhaft auflösen will. Daß es mittelalterliche Konzepte narrativer Kompletion und Kohärenz gibt, steht dem nicht entgegen und begründet auch nicht eine der hermeneutischen Anstrengung vorausgehende allgemeine Verfügbarkeit des Fragmentbegriffs, welche ich hier zu bestreiten versuche. Rosemarie P. McGerr hat jüngst die vor allem in der angelsächsischen Forschung unter dem Stichwort "Concepts of Literary Closure" geführte Diskussion26 auf die Kompletionsund Kohärenzkategorien mittelalterlicher Poetiken bezogen. Damit ist wohl eine wichtige Dimension der reflektierenden Selbstbeschreibung der Literatur im Mittelalter neu bewußt gemacht, eine Selbstbeschreibung indes, die an die Komplexität und Variabilität der narrativen Praxen kaum heranreicht.27 Das meine ich keineswegs pejorativ. Der mittelalterliche poetologische Diskurs hält zu den hier in Frage stehenden Kategorien erzählerischer Kohärenz und Kompletion schon insofern notwendig Distanz, als die in diesen Kategorien gebündelten 'Regeln' dem Bereich des historisch je selbstverständlichen Wissens vom Erzählen angehören, einem Sektor also, der innerhalb eines literarischen Systems per definitionem nicht expliziert werden muß und auch nicht kann. 2. Fortsetzungen: Die Omnipräsenz des Fragmenthaften, nach welchen Kategorien es immer bestimmt werden mag, ist das, was aus der Perspektive moderner Kunstreflexion zum wie selbstverständlich Erwarteten gehört. Die volkssprachige Erzählliteratur des hohen und späten Mittelalters erfüllt solche Erwartung. Allerdings zeigt sich ein Aspekt ihrer Alterität gerade darin, daß sie zugleich diese Erwartung auch unterläuft. Charakteristisch ist hier nämlich nicht nur die Allgegenwart des Fragmentarischen, sondern auch diejenige von Vervollständigungen und Fortsetzungen. Dies aber hat sich oberhalb des trivialen Niveaus kolportagehafter Romane in Fortsetzungen grundsätzlich gewandelt, spätestens seit Kunst sich selbst als autonome reflektiert. Seither kann sich ein Fortsetzer nur noch lächerlich machen oder ob seiner die Bestimmungen des Ästhetischen sprengenden Pietät Mitleid erregen, wenn er es unternehmen wollte, einen großen Torso von klassischem Rang abzuschließen. Man imaginiere sich einen Musil-Adepten, wie er aus den Bruchstücken zum Mann ohne Eigenschaften einen Abschluß zusammenschustert, oder man erinnere sich zur Verdeutlichung Franz Xaver Süßmayrs und jenes Platzes, den er mit seiner 'Vollendung' von Mozarts Requiem in der Musikgeschichte eroberte. 26 27 Vgl.etwa die Beiträge in Hult (1984), sowie Sklute (1984); Lenz (1986). Vgl.McGerr (1989). Daß exemplarische Befunde an Erzähltexten zu den poetologiegeschichtlichen sich fügen, besagt nur, daß der mittelalterliche poetologische Diskurs den narrativen zu seinem Gegenstand hat. Es besagt nichts für die These, daß der neuzeitliche wissenschaftliche Diskurs über Kohärenz und Kompletion mittelalterlichen Erzählens etwa an der poetologischen Selbstbeschreibung dieser Literatur seine Kriterien bilden könnte. 284 Das Lächerlichmachen freilich ist so wenig wie die moralische Empörung, das ästhetische Mißvergnügen oder die intellektuelle Geringschätzung ein methodisch kontrollierter Erkenntnisakt, sondern bestenfalls für ihn ein Impuls – wenn es sich nämlich selbst aufhebt. Das impliziert, die eigenen Standards der Kunstbewertung als historisch zu reflektieren und dem ästhetisch Fremden zu konfrontieren. Solche Konfrontierung ist einer ins Beliebige ausweichenden Relativierung strikt entgegengesetzt. Sie ist Schärfung in Gegenspiel und Kontrast und vollzieht sich dieserart als Prozeß einer Selbstreflexion, welcher das eigene Kategoriensystem erst zu einem solchen macht, indem er es jenseits bloß trotziger Behauptung historisch begründet. In der Erfoschung des späthöfischen Romans – und vice versa seiner 'klassischen' Vorläufer – ist das noch immer nicht die Regel. Wäre es anders, dann bliebe die folgende These frei von jedem Provokationspotential, wenn sie darzutun versucht, daß das narrative Fortsetzen im Mittelalter weniger ob seiner Omnipräsenz nicht jenes skurrile Phänomen ist, das zu methodisch ernsthafter Erkenntnisbemühung nicht recht anzustacheln schien, sondern vor allem ob seiner Paradigmatik. Die These lautet also, der Typus der Fortsetzung, an Fragmentarizität im konventionellen Sinne nicht gebunden, lasse sich geradezu als Paradigma volkssprachigen Erzählens im Mittelalter begründen. Diese Begründung liegt nicht, oder doch nur am Rande, auf forschungsstrategischem Feld; obgleich freilich auch der Ulrich von Türheim-Interpret sich nicht sträuben würde, wie die Walther-, Wolfram- oder Gotfrit-Forscher ein wenig an der Dignität seiner Gegenstände zu partizipieren, und sich daher bemüßigt fühlen könnte, diesen also solche Würde wenn nicht in ästhetischer, dann doch systematisch-historischer Hinsicht zuzuschreiben. Die Begründung meiner These ist auch nicht von einer gewissermaßen statistischen Repräsentativität der Romanfortsetzungen her aufzubauen. Zwar, so wurde wiederholt angedeutet, zeichnet sich, den Fortsetzungsbegriff nur genügend weit gefaßt, sofort ein wohl beeindrukkendes Textcorpus der Kontinuationen ab: es reicht etwa vom Titurel zum Jüngeren Titurel, vom Lohengrin zum Rappoltsteiner Parzifal, von Herborts Trojalied bis zu den Fortsetzungen von Konrads Trojanerkrieg und Ulrichs von Etzenbach Alexander, vom Straßburger und Basler Alexander bis zur Arabel und weiter zu ihrer Fortsetzung, von der zyklischen Anlage Pleierscher Artusromane bis zu knappen Textverlängerungen aus Schreiberhand. Weitet man den gattungsgeschichtlichen Horizont, tritt sofort Weiteres hinzu: nicht nur die Klage und die Dietrichepen-Versionen und Gruppierungen, sondern auch zum Beispiel Konrads von Fussesbrunnen Kindheit Jesu28 oder die Salman und Morolf-Fortsetzung im Straßburger Druck, vom permanen28 Sie definiert sich als Fortsetzung eines sonst nicht bezeugten Marienlebens von meister Heinrîch (Kindheit Jesu 98) und ist früh schon als Kontinuation von Priester Wernhers Marienleben überliefert (vgl.Konrads Kindheit Jesu [Fromm / Grubmüller], S.9f., 30f., 46). Darin bezeugt sich eine Tendenz zur Bildung von Fortsetzungskonstellationen und Zyklen auf der Basis neutestamentlicher Apokryphen- und Legendenstoffe, die für die genannten sowie verwandte Texte (Konrads von Heimesfurt Hinvart und Urstende, Gundackers von Judenburg Christi Hort, Bruder Philipps Marienleben) durchaus charakteristisch ist und am umfassendsten von den Versionen der Heinrich von München-Kompilation bestätigt wird. 285 ten Weitererzählen in der vulgärsprachigen Geschichtsdichtung seit der Kaiserchronik ganz zu schweigen. Trotzdem will ich zahlen- oder gattungsmäßige Repräsentativität mit systematischer Paradigmatik nicht ineins setzen. Paradigmata mittelalterlicher Narrativik in der Volkssprache sind Romanfortsetzungen insbesondere deswegen, weil es ihnen, vielfach wiederholtem Vorurteil zum Trotz29, gerade nicht ums Zuendekommen mit dem Stoff zu tun ist, sondern, wie in dieser Arbeit unter verschiedenen Aspekten sich zeigte, ums Weitererzählenwollen. Nicht das Ende der Geschichten steht auf den Programmen der Kontinuationen – und das wäre ja auch wenigstens bei jenen ganz widersinnig, die gewissermaßen Abgeschlossenes forterzählen –, sondern die Verzögerung eines solchen Finales durch die Entfaltung neuer Erzählprozesse. Allenfalls könnte man, wie Matilda Tomaryn Bruckner an den continuations zu Chrétiens Perceval vorführte, sagen, daß "desire for the end becomes an excuse for the detours of narrative amplification [...]." 30 Eben dies aber, das Weiter-, Wieder- und Neuerzählen in allen seinen Formen, die unabschließbare, offene Kontinuität der narrativen Prozesse scheint die Signatur mittelalterlichen Erzählens in der Volkssprache – auch dort noch, wo selbst wir Chancen eines Verstehens haben, weil die Narrationen zwar in einem 'Fluidum von Mündlichkeit' (Michael Curschmann) sich vollziehen, doch zugleich auf wenigstens subsidiäre Schriftlichkeit sich stützen. Daß Erzählen stets ein Wieder- und Weitererzählen sei, jede Geschichte also eine alternative Geschichte, eine Alternative voraussetzend und selbst nur als solche verstehbar, das ist nicht in jenem Sinn gemeint, in welchem die ältere strukturalistische Erzählmorphologie die Vielfalt vorfindlicher (oder gar denkbarer) Narrationen aus einem engen Kanon erzählerischer Funktionen zu generieren suchte. Es ist viel konkreter als ein Weitererzählen längst vorstrukturierter epischer Welten vorgestellt, als variierende Wiederholung oder Neuformulierung narrativer Prozesse, als Adaption erzählerischer Schemata und Muster, deren schemahafte 'Objektivierung' sich gerade in der Permanenz solcher Adaption erst einstellt. Die Kontinuation des Erzählens ist das über alle nötigen Differenzierungen hinweg Gemeinsame der von der Altgermanistik erforschten Erzählliteratur: der Übersetzungen und Übertragungen, der Adaptationen und Bearbeitungen, der Fortsetzungen und Kontrafakturen, der Kurzversionen und Schwellfassungen, der Partizipationen an vorgefundenen Strukturen des Erzählens und jener Aneignung von Erzählstoffen, die so offensichtlich bedeutsam sind, daß sie, beim Artusroman, in der mediävistischen Alltagspraxis als wichtigste Gattungskonstituenten dienen können. Kaum je ein mittelalterlicher Erzähltext daher, der nicht so oder anders narrative Modelle übernähme und einträte in die Welt des narrativ schon je Gegebenen, der nicht derart die Erzählmuster und epischen Welten veränderte und gerade so sie tradierte. Kaum je auch demgemäß ein Überlieferungsoder Gebrauchstyp mittelalterlicher Erzählliteratur, der nicht redigierte, selegierte, kombinierte, anthologisierte, der also nicht am 'Weitererzählen' durch neue Kontextualisierungen und also neue Intertextualitätsmöglichkeiten sich beteiligte. Wo aber 29 30 Jüngst etwa Bumke (1990), S.193. Bruckner (1987), S.254. 286 ein Text von weltliterarischem Rang wie Chrétiens Erec die epochale Ausnahme von dieser Regel zu sein scheint, da inszeniert er sich doch als d'un conte d'avanture Une mout bele conjointure, dieserart die Frage provozierend, ob es nicht zumal am endgültigen Verstummen der Oralität liege, daß die Stimme dieses Textes unerhört unmittelbar so klingt, als ob sie nicht wäre, was sie ist: das Echo einer anderen.31 Was hier zur Geltung zu bringen versucht wird, könnte man wohl in bestimmter Perspektive die eigentümliche Traditionsbezogenheit mittelalterlichen volkssprachigen Erzählens, soweit es jedenfalls die abgelegenen Pfade in die Schriftlichkeit und damit bis zu uns fand, nennen. Eigentümlich ist sie, insofern sie gerade nicht im Sinne jener Authentizitätskultur, deren Teil und Erbe die Philologien sind, auf die geschlossene, stabile Werkhaftigkeit, die unwandelbare Exaktheit des Tradierten ausgeht. Traditionsanbindung wäre hier vielmehr die Teilhabe und Mitwirkung aller Narration an Traditionsbildungsprozessen, deren Identität genau in jenem Begriff von traditio liegt, den mittelhochdeutsche Zeugnisse mit wandelunge wiedergeben können.32 Anders als ehemalige Hörer oder Leser mögen moderne diese spezifische Traditionsbezogenheit mittelalterlichen Erzählens vielleicht zu ignorieren in der Lage sein, doch berauben sie dieses damit seines möglichen Sinns. Die Traditionsbezogenheit, von der hier die Rede ist, hat ihre Bedingung in der Bewegtheit des Erzählens. Sie ist darin dem Traditionalismusbegriff der bürgerlichen Welt und dessen Konnotationen von Konstanz, Statik, Unwandelbarkeit gerade entgegengesetzt.33 Die Alterität mittelalterlichen Erzählens wäre also auch die Alterität seines Traditionsbezogenheit, so radikal zwar, daß diese selbst nicht durch Negation aus unserem Begriff von Traditionalismus gewonnen werden könnte. Ich will dies hier nicht weiterverfolgen. Der Gedanke einer spezifischen, alternativen Tradi31 Chrétien, Erec 13f. Der eine Teil der Kontrastformel, conjointure, wird in der Forschung intensiv diskutiert, in ihm steckt das poetologische Programm des Textes (vgl.etwa Haug [1989a], S.453ff.; ders. [1985], S.101f., mit Literatur). Der andere, conte d'avanture, findet stets merklich weniger Aufmerksamkeit; darin erklärt nicht, sondern reproduziert die Forschung zunächst nur jene Hierarchisierung, auf welche die Redestrategie des Textes an dieser Stelle zielt. Das kann hier auf sich beruhen. Doch soll angemerkt sein, daß sich dieserart ein Mißverständnis einschleicht, das im obigen Zusammenhang Bedeutung hat: der Gegenbegriff zu conjointure ist der eines alternativen conte, einer das Erzählte gleichfalls, wenn auch anders und vor allem in anderen Modi interpretierenden Erzählung. Der Gegenbegriff ist hier also gerade nicht (wie vielleicht in Chrétiens Lancelot 26: matiere) der des 'Stoffes' (avanture?), vgl. Warning (1979), S.578; Haug (1987), S.260; oder jüngst Wehrli (1989), S.50. Der Erec-Prolog Chrétiens inszeniert demnach einen Sprung zu den selbstreflexiv fiktionalen Modi literarischer Sinnkonstitution, aber der Absprungpunkt ist nicht das Erzählte als solches, ein ungedeuteter 'Stoff', sondern ein anderer Modus narrativer Sinndeutung: das Erzählen reflektiert sich selbst als alternatives, so seine inzwischen verstummte Alternative bewußt haltend, sie 'tradierend'. 32 Vgl.DWb 13, Sp.1721f. 33 Vgl.Wehrli (1984), S.95ff.; Haug (1985), S.1ff. Die Rede ist, wohlgemerkt, von Traditionsanbindung volkssprachiger Narration, denn ich weiß nicht, ob diejenige etwa der scholastischen Theologie nicht eine ganz andere ist: genuin und im doppelten Sinne auf die Schrift gegründet, den Monopolbereich kirchlicher Literarizität nicht, denjenigen ihrer Latinität nur selten verlassend, und darum neuzeitlichen Vorstellungen von mittelalterlicher Überlieferungskonstanz und geschlossenheit vielleicht näher als vulgärsprachliches Erzählen. 287 tionsanbindung wird hier nur erwogen im Sinne eines Versuches deutlich zu machen, daß Formulierungen wie: 'Fehlen von Originalitäts-, von Autor- oder Oeuvrebewußtsein' oder: 'mangelnde Ausbildung eines Authentizitätsbegriffs', welche vielfältig für Besonderheiten des Erzählens im deutschen Mittelalter unter den hier diskutierten Aspekten einstehen müssen, diese Besonderheiten lediglich aus der Negation heraus und pejorativ zu begreifen erlauben. Doch könnte der Perspektivenwechsel vernünftig sein, solche Spezifika gerade nicht als einen Mangel, eine Leere zu betrachten, als das Fehlen von etwas, das sich im Laufe der Literatur- und Geistesgeschichte des Abendlandes erst allmählich herausbildete. Denn es handelt sich ja auch um eine Fülle, um den Reichtum der Anknüpfungspunkte, der Aneignungs-, Adaptions- und Adaptations-chancen, der Wiederholungs-, Variations-, Modifikations-, Kontinuations- oder Revokationsmöglichkeiten. Es handelt sich um die Fülle der intertextuellen Referenzialisierungen und um den besonderen Reichtum an Typen der Konstitution solcher Bezüge; bis hin zur längst entglittenen Option, fremde Texte oder Textteile unmarkiert und undistanziert in neuen Text einzumontieren. Betrachtet man dies nicht vom einzelnen Text, sondern vom System der Intertextualität her, dann zeigt es sich als das unablässige Wogen des Meeres der Geschichten, von denen jede eine alternative und also auf ihre Alternativen bezogen ist, dann zeigt es sich als die Permanenz eines stets unabgeschlossenen Prozesses der Narration, welche immer Renarration ist. Dieses System des Wieder-, Weiter-, Neuerzählens ist es, das den einzelnen narrativen Text mediatisiert und zum "textefragment" (Paul Zumthor) macht. M.T.Bruckner versucht eben dies zu fassen, wenn sie vom "overt character of medieval intertextuality" spricht, der "a different set of presuppositions" verlange, "a different approach to understand and follow the intertextual references operating within a culture that seeks continuity guaranteed by auctoritas, that shares common matters and common traditions with very little of Harold Bloom's 'anxiety of influence`(though some senses of rivalry does sometimes appear to individualize the process of reinvention)."34 Der Mangel an Originalität, an Abgeschlossenheit einer Erzählung gegenüber vorangegangenen und nachfolgenden, so könnte man sagen, ist ein Reichtum an (intertextuellen) 'Einfluß'möglichkeiten. Die Authentizität und Identität des mittelalterlichen Erzähltextes ist es gerade nicht, sich vom anderen Text und dem übergeordneten System der Intertextualität als ein origineller abzustoßen, sondern das Andere als ein selbst Traditionsgegründetes aufzunehmen und zu tradieren; beides sind Modi der Veränderung des Systems der Literatur. Insofern liegt die Alterität der mittelalterlichen Erzählliteratur gerade auch darin, daß im Horizont ihres spezifischen Traditionalismus der Begriff literarischer Alterität seinerseits ein anderer ist. Wäre dieserart das Allgemeine mittelalterlichen Erzählens unter einem ausgewählten Aspekt auch nur ansatzweise zulänglich begriffen, dann wäre keine Frage, in welchem Sinne Romanfortsetzungen wie die im vorliegenden Buch interpretierten als Paradigmata dieser Narration sich darstellten. Wo träte die Selbstorganisation und 34 Bruckner (1987), S.224.; die Anspielung bezieht sich auf Harold Bloom, The Anxiety of Influence. New York 1973. 288 Reproduktion des Prozeßsystems des Erzählens durch Wieder- und Weiter-, Um- und Neuerzählen für die Forschungsperspektive prägnant wie an ihnen zutage? Fortsetzungen, so meine ich, sind in eben jenem Sinn paradigmatisch für das Erzählen des Mittelalters in der Volkssprache – auch das buchepische, auch das höfische – in welchem mittelalterliche Texte überhaupt als "texte-fragments" verstanden werden können. Nicht das abgeschlossene, auktorial autorisierte Werk, das noch allermeist im Mittelpunkt der Altgermanistik steht, und von dem sich auch die vorangegangenen Studien erst tentativ lösen konnten, ist der Inbegriff dieser Narration, sondern das offene, unablässig neu sich knüpfende Netz der traditional autorisierten, Tradition als Wandlungsprozeß konstituierenden Fragmente und Fortsetzungen. Auf die Plausibilität dieser These baue ich den Versuch, in diesem dritten Teil meiner Untersuchungen die textanalytischen Erfahrungen und Einsichten der beiden vorangegangenen Teile trotz deren restringierter Textbasis ins Grundsätzliche einiger Hypothesen und Thesen zur Geschichte und Theorie des höfischen Romans hinein zu verfolgen. Sehr wohl bleibt dabei bewußt, daß die These von der paradigmatischen Geltung der hier als Fortsetzungen im engeren Sinn begriffenen Texte ihre Überzeugungskraft gegen den Konsens bisheriger Forschung gewinnen muß. Er besagt nämlich, und auch dort, wo Kontinuationskonstellationen audrücklich selbst zum Gegenstand der Reflexion gemacht werden, daß Fortsetzungen die Ausnahme, nicht die Regel seien. So impliziert es zum Beispiel Klaus Grubmüllers Forschungsresümee, daß "überhaupt die 'Fortsetzungen' in ihrer Sonderstellung und in ihren auch methodisch spezifischen Aufgaben noch nicht bewältigt scheinen."35 Dagegen lautet das hier vorgetragene Argument, daß Fortsetzungen keine anderen Methodenanforderungen stellen, als mittelalterliches Erzählen sie überhaupt für den Versuch begründet, es aus der Ferne verstehen zu wollen. Und eine perspektivische Täuschung scheint die "Sonderstellung" dieser Texte zu sein: sie sträuben sich nur besonders energisch gegen jedes Verständnis, das sich nicht von den Reprojektionen der Abgeschlossenheit und Autonomie mittelalterlicher Erzähltexte lösen kann und diese darum sogleich aus den historischen Zusammenhängen der Überlieferung wie der Intertextualität herausschälen muß, in denen allein sie funktionieren. Dieses Argument wird zudem dadurch bestätigt, daß sich allenfalls in sehr eingeschränkter Weise davon sprechen ließe, die Fortsetzungen im engeren Sinn seien etwa durch eine Präferenz bestimmter Formen des intertextuellen Kontakts aus dem Zusammenhang des Erzählens als Sonderfall herausgehoben. Freilich ist das Anknüpfen an den unterbrochenen Handlungsgang eines fortgesetzten Fragments und seine Weiterführung ein charakteristischer Typus der Intertextualisierung, jedoch keiner von systematisch distinguierender Geltung. Dies wird an jenen Kontinuationen, die sich zunächst als alternative Wiederholungen des Fortgesetzten präsentieren (Freibergs Tristan und der Rennewart), ebenso deutlich geworden sein wie an der Gotfrit-Fortsetzung Tristan als Mönch oder dessen Fortsetzung im Brüsseler Tristan. Viel signifikanter als Handlungsanknüpfungen, aussagekräftiger für jede 35 Grubmüller (1985), S.338. - Ich differenziere also meine Zustimmung zu diesem Forschungsresümee, vgl.Strohschneider (1991), S.73. 289 Erschließung der Positionen der Kontinuationen war immer wieder das Oszillieren der Intertextualitäten, die Vielfalt von Überkreuzungen und Vernetzungen der Bezüge zwischen den verschiedensten Textebenen der interagierenden Erzählungen. So noch so, weder von den einzelnen narrativen Texten noch vom sie mediatisierenden System des Erzählens her läßt sich ein historisch, systematisch oder auch methodologisch gesonderter Ort der Romanfortsetzungen (in des Wortes konventionellem Verstande) begründen. Dabei sei mit einem ironischen Nebenergebnis dieser These nicht hinter dem Berg gehalten: die Textauswahl meiner Studien wird durch sie der Sache wie der Methode nach arbiträr und begründet sich lediglich aus der Pragmatik des Forschungsprozesses – sowie aus einem Konsens des Faches über den Ausnahmestatus der hier untersuchten Texte, der kritisierbar erst in dem Maße wurde, indem Kritik sich auf ihn einließ. 3. Konstellationen: Daß ein Verständnis der 'Fortsetzungen' als Paradigmata mittelalterlichen Erzählens mancher Begründung für die Selektion wissenschaftlich handhabbarer Textcorpora leicht den Boden entziehen kann, das erweist es als Komplexitätssteigerung des Begriffs von diesem Erzählen. Plötzlich fehlen kategoriale Gliederungsstrukturen, die so selbstverständlich waren, daß etwa eine Rechtfertigung der vorausgesetzten Sonderrolle von 'Fortsetzungen' sich erübrigen mochte. Ich versuche darum im Vorgang einer Reduktion von Komplexität nun einige Ordnungselemente in das System kontinuierenden Erzählens wieder einzubauen, die allerdings jetzt nur mehr heuristischen Status haben. Eine beschreibende Typologie tritt an die Stelle vermeintlicher Gegenstandskategorien, in welche, so erwies sich, moderne Reprojektionen eingegangen waren. Ich grenze also aus dem Gesamt des stets fragmenthaften und immer kontinuierenden Erzählens in der mittelalterlichen Vulgärsprache überhaupt einen ganz von den Pragmata dieser Untersuchung her vermessenen Sektor aus, um an ihm ohne Ansprüche auf Generalisierbarkeit oder Systematisierbarkeit ein Inventar von Typen zu veranschaulichen, nach denen sich 'Fragmente' und 'Fortsetzungen' wohl konfigurieren können.36 Es ist also ein auch die Einzelinterpretationen resümierendes Arsenal des Be- und Verarbeitens, des Weitererzählens und Wiederholens, des Abstoßens von dem und des Anbindens an das, was Gotfrit im Tristan und Wolfram im Willehalm erzählten, sowie an die Weise, in der sie es erzählten. Daß sich auch dieses nur heuristische Ensemble letztlich bis in eine unauflösbare Aporie hinein verfolgen läßt, wird dann noch einmal, gewissermaßen von der Gegenseite her, die These von der paradigmatischen Geltung der Fortsetzungen bestätigen. "Within the general habits of rewriting widely characteristic of the late twelfth und thirteenth centuries, three textual traditions within romance stand out in the distinc36 Es handelt sich also ausdrücklich nicht etwa um eine allgemeine Taxonomie von Formen der Intertextualität (vgl.Genette [1982]), nicht einmal um eine den Bedingungen der mittelalterlichen Romanüberlieferung überhaupt angepaßte. 290 tive ways they rework Chrétien [...]."37 Ich übernehme den von Bruckner für das Forterzählen von Chrétiens Oeuvre in der französischen Literatur vorgeschlagenen Raster von "textual traditions" in die folgende Typologie, reformuliere und erweitere ihn aber gemäß den Gegebenheiten der deutschsprachigen Überlieferung, wie sie sich von den in dieser Arbeit untersuchten Texten her darstellt. Bruckners erster Typus sind vorab Texte, welche Handlungskonfigurationen oder –strukturmuster, narrative Schemata, auch Bausteine der epischen Welt des Prätextes partiell adaptieren und in alternativen erzählerischen Strukturen neu organisieren, so zwar, daß es sich als ein wie immer kritisches oder affirmatives Anknüpfen an die narrativen und normativen, die ästhetischen und ethischen Diskurse der Vorgänger versteht. Solches sind im konventionellen Sinn keine Fortsetzungskonstellationen. Es handelt sich um Modi der Textverklammerung, in denen für uns zumal die Tradition der Artusromane rekonstruierbar wird, ohne daß hier das Ausschöpfen einer gemeinsamen 'Stoff'quelle unverzichtbares oder auch nur wesentliches Kriterium wäre. Pleiers Garel als Antwort auf den Daniel des Strikkers ist ein prominentes Beispiel38, in Chrétiens Werk selbst wäre es etwa der Cligés als ein Anti-Tristan, die germanistische Diskussion konzentriert sich zum Beispiel auf den Willehalm von Orlens Rudolfs von Ems, weil sie eines Cliges-Romans nur noch in Trümmern habhaft wird.39 Eine zweite Klasse textueller Traditionen der Auseinandersetzung mit vorangegangenen Erzählungen wäre die Integration eines Prätextes in einen irgendwie summenhaften Zusammenhang und seine Mediatisierung, seine Neukontextualisierung im Horizont des Kompendiums.40 Dies kann in jener Form der Verkoppelung von Torsi und Fortsetzungen zu integralen Erzählzusammenhängen geschehen, welche in den vorliegenden Studien stets präsent war. So etwas vollzieht sich aber auch dort, wo ein Codex etwa die Summe eines Oeuvres zieht41 oder wo neuer Text ganz um alten 'herum' aufgebaut wird, diesen total neu kontextualisierend. So geschieht es mit Wolframs Fragmenten im Jüngeren Titurel. Etwas anders die Konstellation, welche von Bruckner in diesem typologischen Zusammenhang angeführt wird, die Absorption von Chrétiens Lancelot in den prosaischen Vulgata-Zyklus.42 Summenbildung geht 37 Bruckner (1987), S.225. Vgl.Kern (1981), S.150ff. 39 Vgl.oben Anm.22. Neuerdings wird auch Konrads von Würzburg Engelhart als Gegenentwurf zu Gotfrits Tristan angeboten, vgl. Behr (1988). 40 Es ist ein "Zug zur 'Summe'", der "Zwang zum 'Zyklus'" (Kuhn [1980b], S.18), der sicher nicht zu Unrecht als charakteristisch für das 13.Jahrhundert und seine Literatur gilt (vgl. etwa auch Bertau [1983], S.15ff.). Doch ihrerseits historisch begründungsbedürftig, ist diese Tendenz als geläufige Erklärung von Fortsetzungstexten (vgl.zum Beispiel Kuhn [1980b], S.35ff.) lediglich eine ungeschichtliche Emanation, in der ein Phänomen zirkulär zu seiner eigenen Begründung gebraucht wird. 41 Vgl.etwa Becker (1977), S.83, 91f. 42 Vgl.Bruckner (1987), S.225f. Die Konstellation verdoppelte sich gewissermaßen, wenn man mit Kennedy (1986) einen nicht-zyklischen Lancelot do Lac annimmt, demgegenüber sich der Zyklus als kritisch korrigierende Reaktion verhält. 38 291 hier mit eingreifenden Veränderungen am integrierten Text selbst einher43, und darin berührt sich dieser Typus mit einem dritten, als den man redaktionelle Bearbeitungen solcher summenhaften zyklischen Erzählzusammenhänge bestimmen könnte. Hierher würden etwa die Versionen der Weltchronik Heinrichs von München oder die Kurzfassung von Gotfrits und Ulrichs von Türheim Text im sogenannten Münchner Tristan oder auch die Prosaauflösung der Willehalm-Trilogie im Buch vom heiligen Willehalm gehören. Schließlich wären jene Texte selbst, die wir im üblichen Sinne Fortsetzungen nennen, hier heuristisch deskriptiv zu klassifizieren, weil sie nicht regelmäßig, doch fallweise auch außerhalb einer zyklischen Bindung an fortgesetztes Erzählen überliefert sind. Man könnte zu diesem Zweck vorläufig eine Unterscheidung aufgreifen, die Gérard Genette zwischen continuation ("achèvement") und suite ("prolongation") getroffen hat.44 Fortsetzung im Sinne einer continuation wäre danach der beinahe selbstverständliche Normalfall, in welchem ein unabgeschlossenes Werk von einem anderen vervollständigt wird, wobei sich Unabgeschlossenheit und Vervollständigung kategorial auf die Ebene erzählten Handlungsgeschehens beziehen, also in der oben beschriebenen Art relativ zur 'Ganzheit' des Einzeltextes, nicht generell im Hinblick auf die Totalität des Erzählens gemeint sind. In diesem Sinne wären wohl die Fortsetzung zu Ulrichs von dem Türlin Arabel, aber vorerst auch die Standardbeispiele dieser Untersuchungen, Türheims Tristan und Rennewart sowie Freibergs Tristan, eine continuation. Hingegen bliebe Fortsetzung im Sinne einer suite mit Genette zu bestimmen als Text, der am Erfolg eines anderen, im relativen Sinne abgeschlossenen zu partizipieren versuchte, indem er auf Publikumswünsche nach mehr reagiert. Gruppierungen wie Ortnit und Wolfdietrich, die Marienleben- und Leben Jesu-Zyklen oder unter den höfischen Romanen vielleicht Herborts Trojalied als suite des Eneasromans, des Pleiers Artusromanproduktion oder der Rappoltsteiner Parzifal würde man wohl hier einordnen. Ein solcher vorläufiger Klassifikationsvorschlag grenzt auf dem Spielplatz der steten Renarration und Intertextualität einige Felder ab, auf denen entweder die hier untersuchten Texte zu lokalisieren wären, oder solche Felder, die dicht angrenzen. Statt Vollständigkeit um den Preis unentrinnbarer Systematisierungszwänge anzustreben, bündelt dieser Raster nur, was auch in den vorangegangenen Textinterpretationen selbst als hier und da Vergleichbares mit im Blick gewesen sein sollte. Zugleich wurde in diesem dritten viel pragmatischer verfahren, als in den ersten beiden Abschnitten des gegenwärtigen Kapitels, und von den in ihnen ausprobierten Generalisierungen noch einmal abgesehen. So, im steten Wechsel der Kategorienebenen, der leicht als ein Jonglieren mit Begriffen erscheinen und Unschärferelationen zwischen solchen Ebenen wohl nie ganz vermeiden kann, vollzieht sich jeder Versuch der Theoriebildung, oder, bescheidener, der historischen Konzeptualisierung, welcher auf 43 Ein typologisch vergleichbarer Fall in der deutschen Literatur wäre etwa die vom Basler Alexander repräsentierte Fortsetzung (Nectanebus-Vorgeschichte, Orienteroberungen und Paradiesfahrt im Anschluß an den Darius-Krieg) und Umarbeitung X von des Pfaffen Lamprecht Alexanderlied, vgl.zuletzt Strohschneider / Vögel (1989), S.85ff. 44 Vgl.Genette (1982), S.181ff. 292 eine immer wieder neue Konfrontation mit den historischen, sprich: sperrigen Gegenständen selbst nicht völlig verzichten will. In diesem Sinne könnte der Vorschlag zur Klassifikation von suites, continuations, Summenbearbeitungen, Summen und Diskursfortsetzungen unterhalb der Ebene kategorialer Fragment- und Fortsetzungshaftigkeit allen mittelalterlichen Erzählens eventuell ein brauchbares Instrument vorgängiger Verständigung über einen Ausschnitt aus dem System der Narration und Renarration sein. Es ist dies die Ebene, im Hinblick auf welche selbst und auch hinfort in dieser Arbeit noch in konventionellem Sinne immer wieder von Fragmenten und Fortsetzungen gesprochen wird, weil eine Bedingung der Kommunikativität nicht zuletzt wissenschaftlicher Sprechhandlungen eben ihre Konventionalität ist. Brauchbar ist die vorgeschlagene Klassifikation in dem Maße, in dem sie unspezifisch bleibt. Ich will das in aller Kürze an der Unterscheidung von continuation und suite erläutern und dabei die Materialgliederung in eine Aporie führen, welche als nachträgliche, ex negativo und vom historischen Gegenstand her erfolgende Bestätigung der im Vorangegangenen versuchten Generalisierungen des Fragment- und des Fortsetzungsbegriffs verstanden werden könnte. Auffällig ist, daß wenigstens zwei der fünf von mir interpretierten Texte quer zu jenen Kategorien stehen, nach denen Genette Fortsetzungstypen unterschied. Der eine dieser Texte ist Ulrichs von dem Türlin Arabel. Wiewohl Fortsetzung eines nicht gänzlich abgeschlossenen Textes, wäre dieser Roman doch keine continuation im Sinne Genettes, denn er führt in die Vorgeschichte des Willehalm hinein, anstatt diesen zu einer Konklusion zu bringen. Es könnte freilich auch sein, daß die Arabel schon deswegen ausscheidet, weil der von ihr fortgesetzte Erzählzusammenhang gar nicht unabgeschlossen, sondern dem Fragmentstatus von Wolframs Text in einem Diptychon mit dem Rennewart längst abgeholfen war. So gesehen wäre Ulrichs Vorgeschichte notfalls als suite zu verstehen, wenngleich die Konnotationen dieses Terminus schwerlich zur im fünften Kapitel vorgetragenen Interpretation stimmen, wonach die Arabel weniger am Erfolg des Willehalm partizipierte, als umgekehrt dieser gewissermaßen die Bedingungen seiner Erzählbarkeit den von der Vorgeschichte nachgetragenen Plausibilisierungen verdankte – jedenfalls in jenen Perzeptionen, deren Manifestationen die zyklischen Willehalm-Handschriften sind. Auch dieser etwas krampfhafte Versuch, die Vorgeschichte zu Wolframs Roman als suite zu retten, verbietet sich indes dort, wo man die Annahme, sie erzähle eine (diptychisch) abgeschlossene Geschichte weiter, nicht macht oder wo sie sich widerlegen läßt. Dies wäre eine Konstellation, wie sie der Leipziger Wolfram-Codex L repräsentiert, der die alemannische Kurzfassung der Arabel mit dem Willehalm allein vereint, so demonstrierend, daß hier Kenntnis der Vorgeschichte wichtiger war als die Aufhebung des Fragmentstatus von Wolframs Text. Die Alemannische Arabel wäre gewissermaßen suite eines unabgeschlossenen Textes, und so sprengt sie den kategorialen Rahmen, der Genettes Distinktion trägt. Sperriger noch der zweite Roman, Tristan als Mönch. Ursprünglich wohl war dies ein charakteristischer Vertreter dessen, was Genette suite nennt, nämlich der in der deutschen Tristantradition ausnahmshafte, in der Romania viel häufigere Fall eines sogenannten Episodengedichtes. In ihm partizipiert, wie es etwa Maries de France Geißblattlai oder die Folie de Berne vorführen, immer noch eine List- und Betrugs- 293 geschichte an den Strukturen, am epische Handlung generierenden Potential der ehebrecherischen Dreieckskonstellation, und gestaltet so erweiternd jenen 'Tristanroman' mit aus, der als Integral der Einzeltexte entsteht. Doch die von solcher Klassifikation vorausgesetzte ursprüngliche Selbständigkeit des Tristan als Mönch-Textes ist nur eine Vermutung, wenn sie auch von den Strukturen des Textes her wahrscheinlich gemacht werden könnte. Überliefert hingegen ist die suite nur als continuation, genauer: als Teil einer solchen. Die Mönchserzählung und der Schluß von Türheims Gotfrit-Fortsetzung bereiten der Tristangeschichte der Brüsseler Handschrift den nötigen Liebestod-Schluß, auch wenn die Kontinuität dieser continuation eine paradigmatische ist, nicht eine handlungslogischer Kontinuierlichkeit. Man kann daran zumindest dies lernen, daß suite und continuation noch weniger, als Genette impliziert, als Kategorien der Textualität, sondern nur als solche der Intertextualität begründet werden können. Ob ein Text dies oder jenes ist, bestimmt sich nicht nach seinen internen Strukturen, sondern nach denen der narrativen Kontexte, in denen er funktioniert.45 Zwar könnte kaum jeder Text in allen Kontexten funktionieren, insofern begrenzen intratextuelle Strukturen intertextuelle Konstellationsmöglichkeiten, doch tun sie dies, wie eben der Brüsseler Tristan zeigt, viel weniger strikt, als wir erwarten. Treibt man den Versuch, Gérard Genettes Klassifikation und das Textmaterial dieser Untersuchung gegeneinander auszuspielen, noch einen Schritt weiter, dann könnten auch die drei verbleibenden Romane, der Rennewart sowie Ulrichs und Heinrichs Tristan, zu Provokationen jener Klassifikation werden. Sie setzt nämlich über die bereits angeführten Kriterien hinaus voraus, das Erzählen einer continuation stehe "sous le contrôle constant d'une sorte de script intérieure [...]."46 Fortsetzungen wird hier ein kohärentes, vom fortgesetzten Text her sich begründendes narratives Konzept abverlangt, und mindestens in dieser Hinsicht ist anhand der deutschen Texte Bruckners Urteil zu bestätigen, daß "Genette's analysis does not always fit the medieval character of intertextuality [...]."47 Zwar dieses Verlangen einer über bloße Handlungskontinuität hinausgehenden konzeptuellen Kohäsion mit dem vervollständigten Text ist eine stete Implikation des Fortsetzungsbegriffs im konventionalisierten Sinn. Erstmals waren diese Untersuchungen dieser Konnotation in der Form von Klaus Grubmüllers Apriori begegnet, bei den Fortsetzern könne man von vorneherein "vom Willen zur Fortführung auch der vorgegebenen Konzeption ausgehen [...]." 48 Dieses Apriori bestimmte die gesamte bisherige Forschungsgeschichte der hier untersuchten Romane in allen ihren Facetten und hat immer wieder zu dem Urteil geführt, sie seien ihrer Aufgabe (!) nirgends gerecht geworden, verfehlten nicht allein Anspruch und Niveau der fortgesetzten Torsi, sondern zudem die – wie immer umstrittenen – narra- 45 Den komplementären Fall zur suite als continuation, die continuation als suite, könnte man gleichermaßen am Brüsseler Tristan konstruieren. Kaedin-Kassie- und Liebestod-Geschichte werden hier gewissermaßen als Episodengedicht, als suite, aus der Türheimschen continuation herausgelöst und mit einer anderen suite, Tristan als Mönch, zur neuen continuation zusammenmontiert. 46 Genette (1982), S.183. 47 Bruckner (1987), S.245. 48 Grubmüller (1985), S.338; vgl.oben S.20. 294 tiven Konsequenzen, die sich aus jenen ergäben.49 Doch führten die vorliegenden Interpretationen wohl zu der Einsicht, daß ein solches Apriori weder allgemein zu begründen, noch von den Texten her kasuistisch zu plausibilisieren ist. Fortsetzung, so war unter den verschiedensten Aspekten zu zeigen, kann in der Großepik des deutschen Mittelalters immer Konzeptionswechsel sein, stellt sich immer wieder dar als narratives Verfahren, die "contrôle constant" durch einen vorgegebenen "script intérieure" zu durchbrechen – wenn es sie denn gegeben haben sollte. Man kann demnach zeigen, daß Gérard Genettes klassifikatorischer Raster der Vielfalt überlieferter Konstellationen von narrativem "achèvement" und narrativer "prolongation" nicht gerecht wird, jedoch nicht nur dieser, sondern auch jener Gliederungsvorschlag, den ich oben um diesen Raster herum aufbaute. Er bietet eine Klassifikation fortsetzenden Erzählens im engeren Sinn an, die erste Schneisen durchs Gestrüpp der Verflechtungen von 'klassischen' und solchen Texten zu schlagen erlaubt, die auf sie Bezug nehmen – mehr nicht. Diese Raster entsprechen nicht einem Plan, nach dem sich das ganze Gebiet durchforsten ließe. Ihnen, und, wie ich glaube, auch anderen generellen Klassifikationen gegenüber, die mehr sagen wollen, als daß die Texte in stupender Variationsdichte immer wieder und immer neu das Oszillieren des Intertextuellen zeigen, wird es auf lange hin stets noch den einen und anderen Fall geben, der sich nicht rubrizieren läßt. Es ist nicht nur der Begriff der Intertextualität, welcher "vorerst nicht disziplinierbar", dessen "Polyvalenz irreduzibel" erscheint 50, sondern auch das, was der Begriff bezeichnet. Dies zu verdeutlichen, ist der über den heuristischen hinausreichende Zweck der vorgeschlagenen Klassifikation. Und so wäre denn von den in Rede stehenden Fortsetzungskonstellationen selbst her jenes Ergebnis noch einmal konkret zu bestätigen, welches zuvor, gewissermaßen von der Gegenseite einer Reflexion auf einige Grundbestimmungen mittelalterlichen Erzählens her, allgemein entwickelt worden war. Jene Romane, die man Fortsetzungen nennt, bilden nicht, was die Germanistik in ihnen gesehen hat, ein nach außen, gegenüber anderen Texten deutlich abzugrenzendes, nach innen gut strukturierbares Corpus von Sonderfällen der mittelhochdeutschen höfischen Erzählliteratur. Der Terminus der Fortsetzungskonstellation kann in doppelter Auslegung verstanden werden. Einerseits, so wie hier, bezeichnet er intertextuelle Beziehungen von – immer im üblichen Sinn – fortgesetzten und fortsetzenden Texten. Anderseits wäre dem ein komplementärer Sinn beizugesellen: die Bezüglichkeit von Kontinuationen eines zu anderen, gar alternativen Kontinuationen desselben Textes. Es ist keineswegs selbstverständlich, daß diese Konstellation in der deutschen Tristan- wie Willehalm-Überlieferung jeweils und in je spezifischer Weise gegeben ist. An zwei Stellen meiner Studien sind solche eigentümlichen Konfigurationen der Interpretation beson- 49 Zuletzt zum Beispiel Behr (1988), S.319; Simon (1990), S.146; Haug (1991), S.348 Anm.10. Die einzige, wenn auch unentschiedene Ausnahme, die mir im Laufe der Arbeit begegnete, ist eine Bemerkung von Brinkmann (1980), S.214. 50 Lachmann (1990), S.56. 295 ders dienlich gewesen.51 Doch lohnt vielleicht auch die Frage, was sie jenseits ihres analytischen Nutzens zu erwägen geben. Zunächst wohl dies, daß die Konkurrenz der Interpretationen zu den großen Romanen Gotfrits und Wolframs – die schließlich nicht aus historischer Entfremdung erwachsen und ein möglichst zu überwindendes Defizit literaturwissenschaftlicher Arbeit, sondern deren hermeneutisches Prinzip ist – schon unter den frühest dokumentierbaren Lektüren dieser Romane ganz konkret nachzuweisen ist: wenn nämlich die in Frage stehenden Texte als Zeugnisse der 'Klassiker'-Rezeption und also ihrer Interpretation gelesen werden. In diesem Sinne bezeugen etwa die Arabel Ulrichs von dem Türlin und Ulrichs von Türheim Rennewart ganz verschiedene Lektüren von Wolframs Heidenkriegsroman.52 In ihm entdecken sie jeweils besondere Provokationen, die Brüchigkeiten von Figurenkonzepten etwa, die es im Vorgang ihrer epischen Plausibilisierung aufzuheben gilt, oder eine Form der Problematisierung des Kreuzzuges, die aus der Perspektive der Fortsetzung aporetisch wird und narrativ zurückgenommen werden muß. Der epische Rahmen, in welchem beides geschieht, ist die Verlängerung des kriegerischen Antagonismus von Christen und Heiden 'nach hinten' zurück bis in die Generation Karls, Rolands und Paligans, sowie 'nach vorne' bis hin zu Malefers Sohn Johannes. In diesem handlungstechnischen Sinn wie hinsichtlich der orthodoxen Korrektur des Skandalösen im Willehalm stünden die beiden Fortsetzungen in einem Verhältnis der Komplementarität zueinander.53 Eine Aufgabe jener Interpretation des integralen Willehalm-Zyklus, welche in der Konsequenz dieser Untersuchungen liegt, wenn sie auch von ihnen noch vermieden wird, wäre es, darüberhinaus zu prüfen, ob Ebenen aufzufinden sind, auf denen sich solche Komplementarität bis zu einem Konkurrenzverhältnis steigert. In derartigem Zusammenhang ließe sich zum Beispiel die Hypothese erproben, daß die beiden Fortsetzungen zwei fundamental alternative poetologische Möglichkeiten höfischen Erzählens verwirklichen: die Arabel ein an den Repräsentanten selbstreflexiv-fiktionaler Narration deutlich orientiertes bildmächtiges, zeichendichtes, zitatreiches Erzählen auch voller allegorischer Paradigmatik; der Rennewart hingegen über weiteste Strecken eine aufs 'historisch Faktische' gehende 51 Erstens bei der Konfrontation von Tristan als Mönch mit denjenigen Teilen der Türheimschen Fortsetzung, die er in der Brüsseler Handschrift substituiert (vgl.oben III.4.), sowie zweitens bei der Freiberg-Interpretation (IV.), die das Profil dieses Textes immer wieder vor der Kontrastfolie von Ulrichs von Türheim Tristanerzählung zeichnen konnte. 52 Andere Lektüren, etwa in den Kurzfassungen von Arabel und Rennewart, in der ChronikKompilation Heinrichs von München, im Prosaroman, kämen hinzu. 53 Dies ließe sich weiter verfolgen. Zum Beispiel entdeckt der erste Teil des Rennewart an Kyburcs Bruder Defizite, die denjenigen völlig komplementär sind, welche die Vorgeschichte zuletzt an Arabel aufhob, indem sie sie in die Figur Kyburcs transformierte, vgl.VI.3. Beiläufig folgt daraus für den trilogischen Zusammenhang der Texte, daß sich die axialsymmetrische Handlungsstruktur des Willehalm nach beiden Seiten hin verlängert: das Letzte vor der ersten Alischanz-Schlacht sind Investitur, Taufe und Heirat Arabels (vgl.V.6.), das Erste nach der zweiten sind Taufe, Schwertleite und Hochzeit ihres Bruders Rennewart. Dieser wie jener Handlungszusammenhang sind schon aus Gründen des äußeren Umfangs nicht jene vernachlässigbaren, weil angeblich intratextuell funktionslosen epischen Einsprengsel, als die sie lange galten. 296 Poetologie des plot, die in manchem dem Darstellungsverhalten später Prosaromane näher zu sein scheint, als demjenigen hochhöfischer Versromane.54 Unübersehbarer als hier sind in der Tristanüberlieferung die Fortsetzungskonstellationen von intertextueller Konkurrenz alternativer Formen des Weitererzählens geprägt. Immerhin drei solcher Alternativen, alle aus dem 13.Jahrhundert55, standen in den vorangegangenen Studien mit zur Diskussion: 1. Gotfrits Tristan + die Fortsetzung Ulrichs von Türheim 2. Gotfrits Tristan + Tristan als Mönch + das letzte Viertel der Fortsetzung Ulrichs von Türheim 3. Gotfrits Tristan + die Fortsetzung Heinrichs von Freiberg Damit ist freilich der Kanon des Überlieferten noch keineswegs erschöpft, denn mit diesen Fortsetzungskonstellationen konkurrieren zum Beispiel im 13.Jahrhundert die Kurzfassung zur ersten Alternative im Münchner Tristan, im 14.Jahrhundert der Schreiberschluß zu Gotfrits Torso in der Handschrift W56, im 15.Jahrhundert die Handschrift P mit dem letzten Drittel von Eilharts Tristrant als GotfritKontinuation.57 Diese Ausdifferenzierung verschiedener Typen spätestens seit dem 2.Drittel des 13.Jahrhunderts ist nicht nur ein Rezeptionszeugnis für den klassischen Rang von Gotfrits Roman. Sie mag auch auf die Antwort, Einspruch gar, gebietende Provokationskraft dieses Werkes hindeuten. Zugleich geraten im System der Narration und Renarration, das sich in solche Fortsetzungsalternativen ausdifferenziert, diese nicht nur jede für sich mit dem fortgesetzten Torso in ein diskursives Verhältnis der Intertextualität, sondern auch untereinander; dies liegt im Begriff höfischen Erzählens, den ich hier zu profilieren suche, und bestätigt ihn. Die Fortsetzungskonstellati54 Freilich ließe sich ein derartiges Konkurrenzverhältnis auf höherer Ebene wieder in seine Komplementarität zurückführen: der Zyklus der Willehalm-Romane wäre nicht nur die 'Summe' der Lebensgeschichte seines Protagonisten, sondern auch ein Kompendium poetologisch alternativer Narrativiken. - In diesem Zusammenhang möchte es stutzig machen, daß - das allgemein vertretene epochale chronologische Sukzessionsschema der Poetologien von (höfischem) Vers- und (spätmittelalterlichem) Prosaroman zugrundegelegt - an dieser Stelle der entstehungsgeschichtlich ältere Text der poetologiegeschichtlich jüngere wäre. 55 Zur schwierigen Datierung der Konzeption des Brüsseler Tristan noch ins 13.Jahrhundert vgl.Sedlmeyer (1976), S.262. Anders - ohne Argumente - Rosenfeld (1953), Sp.499. 56 Cod.Vindob.2707,3. Geboten wird eine moralisatio, deren ideologische Stoßrichtung mit derjenigen von Fortsetzungen im geläufigeren Sinn wohl verglichen werden könnte: nieman herren gelovben sol wan si sint aller vntrúwe vol dar an gedenket schoene wip vnd lant iu túre sin ivwern lip ich ratez schoenen frovwen iuch vil minncliche frowe vlivch manne vnd herren heinlichkeit si bringet niht wan herzeleit diz sage ich schoenen wiben die swarzen lan ich beliben. (Text nach GT [Marold / Schröder], Apparat zu 19552). 57 Ms.germ.2o 640 (in der Eilhart-Forschung B). 297 onen sind mindestens in dem Sinne intertextuell referenzialisiert, daß jede ihrer Neukonstitutionen als Entscheidung gegen Alternativen zu verstehen ist.58 Die Akte der Uminterpretation der Tristangeschichte, ihrer Rückführung in die regulierte Normalität des gesellschaftlich und ethisch Normativen, die Prozesse der orthodoxen Domestikation von Gotfrits abweichendem Erzählen, als welche die hier untersuchten Fortsetzungen sich interpretieren ließen, geraten dieserart selbst in die Diskussion. Die Kritik kann von neuer Kritik kritisiert, der Widerruf kann widerrufen werden. Das heißt nicht, das System des Erzählens insgesamt kehre stets zur unvermittelten Affirmation des Tristan zurück. Es heißt, daß es dessen Problempotential nicht etwa durch einen singulären Vorgang der narrativen Kontrafaktur zurücknehme, sondern vielmehr mit ihm gewissermaßen im Oszillieren der Intertextualität zu Rande zu kommen suche. Die deutsche mittelalterliche Tristantradition nach Gotfrit – die Prosaauflösung von Eilharts Tristrant vielleicht inklusive – versteht sich insofern als permanente Konstituierung eines kritischen intertextuellen Diskurses im Medium des Wieder-, Weiter- und Neuerzählens, in welchem die ästhetischen und ethischen Zentrifugalkräfte seines Romans neutralisiert werden. Die dabei erprobten Formen des Erzählens und ihre Formationen sind variantenreich. Doch ist die Konkurrenz der Konstellationen weniger eine ideologische, als eine narratologische. Das Erzählen der einen ideologischen Alternative entfaltet sich als Alternativität der vielen Narrationen. Verbindlich ist dabei die Ablehnung der utopischen Dimensionen von Gotfrits Liebesroman, die Revokation seiner hochgespannten Herausforderung zur LiebeLeid-Annahme, die Kritik an der Radikalität seiner Konzeption einer bedingungslosen, ordnungssprengenden, anarchischen Liebe. "Continuation", so hatte Bruckner resümiert, und die vorgelegten Studien bestätigen es unter vielfältigen Aspekten, "is conceived as a kind of intertextuality that plays on contiguity: it places two texts side by side, without requiring that they be the same" – obwohl solches begegnen kann "– but we are nevertheless asked to consider them as stories in sequence. The 'predicament' of difference that emerges then generates further acts of interpretation, whether by other versions or modern critics."59 Nicht anders als auf der Ebene der Intratextualität von Chrétiens, Hartmanns, Gotfrits oder Wolframs Romanen sind bei den Fortsetzern auf der Ebene der Intertextualität die Rezipienten in den Prozeß narrativer Sinnerzeugung, in den Prozeß der Interpretation einbezogen, und konstituiert sich dieser erst im Vorgang ihrer Partizipation. Daß dabei alles auf die orthodoxe Kontrafaktur ethisch und ästhetisch normsprengender Texte hinausläuft, heißt gerade nicht, das Oszillieren der Intertextualität, der Prozeß des Wieder-, Weiter- und Neuerzählens werde stillgestellt. Es heißt, er werde forciert, denn dies ist die Form kontrafazierender Kontinuationen und, darin sind diese paradigmatisch, die Weise, in der sich das System mittelalterlichen volkssprachigen Erzählens aufbaut. 58 59 Das läßt sich konkret zeigen, vgl.oben III.4. Bruckner (1987), S.257f. 298 299 VIII. ZWEITE ANSICHT: VOM SYSTEM DER TEXTE. ASPEKTE DER GLEICHZEITIGKEIT DES UNGLEICHZEITIGEN 1. Synchronie der Texte: Das Geflecht von Bezügen zwischen mittelalterlichen narrativen Texten aufzureißen ins intertextuelle System des Wieder- und Weiter-, des Um- und Neuerzählens wäre das eine. Ich benützte zu diesem Zweck einen sehr weiten Intertextualitätsbegriff, der zuweilen wohl gegenüber einem allein noch metaphorischen Wortgebrauch kaum mehr strikt abzugrenzen ist. Dies könnte, ginge es hier um Terminologie und Theorie der Intertextualität, gegenwärtig nicht mehr gerechtfertigt werden. Zu fortgeschritten sind längst die Projekte der systematischen und – wenn auch kaum in der mediävistischen Literaturwissenschaft – der historischen Ausdifferenzierung von Intertextualität.1 Indes geht es hier um Geschichte und Theorie höfischer Romane, und dies im Kontext einer Forschungssituation, in welcher die Akzentuierung der irreduziblen fremden Vielfalt textueller Gegebenheiten und intertextueller Relationierungen wohl noch hilfreich sein könnte. Die vorerst bewußt undifferenziert belassene Universalität des Intertextualitätsbegriffes wird hier also benützt, um unter anderem die serielle Konzeption der literarischen Reihe von früh-, hoch- und späthöfischen Romanen in die mehrdimensionale des literarischen Systems zu transformieren, um einen noch immer überall präsenten geschlossenen Werkbegriff aufzusprengen, um die Monoperspektivität einer an einem kanonischen Modell narrativer Sinnbildung orientierten Erzählgeschichte in verschiedenen Blickrichtungen zu durchkreuzen. Einiges davon will ich in diesem Kapitel zu skizzieren versuchen. Dies übrigens eingedenk dessen, daß folgende Forschungsschritte auch in der Mediävistik zur systematischen Differenzierung der Formen des Intertextuellen und zur historischen Rekonstruktion ihrer Evolutionsprozesse fortschreiten müssen; daß es also künftig auch auf terminologische Spezifikation ankommen wird. Eine der dabei wichtigen Fragen wird es sein, inwiefern und mit welchen Kategorien sich im System der Narration und Renarration ein Teilsystem bestimmen und intern strukturieren läßt, das jenen Textzusammenhang theoretisch zu fassen erlaubt, für welchen fachspezifische Redekonventionen den Gattungsterminus 'höfischer Roman' zur Verfügung stellen. Die Schwierigkeiten, welche dabei zu gewärtigen wären, schlagen sich unter anderem wohl in einem der bemerkenswertesten Desiderate der mediävistischen Germanistik nieder, im Fehlen einer Gattungsgeschichte des höfischen Romans2, und im Fehlen einer Konzeption für sie. Beides setzte diachrone und synchrone Strukturierungen, mindestens Operationalisierungen im System von Narration und Renarration voraus, als deren Ergebnis erst die Ebene eines gattungshaft Allgemeinen oberhalb 1 2 Vgl.unter anderem Genette (1982); Broich / Pfister (1985); Lachmann (1990), bes.S.51ff. Vgl.Ruh (1977), S.5. 300 der einzelnen Texte und unterhalb ihrer intertextuellen Systembildung sich abzeichnen könnte. Dafür scheint es insofern noch zu früh zu sein, als die Mediävistik zwar bei der Umorientierung von einem überhistorisch-normativen zu deskriptivfunktionalen Termini ihre kategorialen Anforderungen an den Gattungsbegriff grundlegend differenziert hat.3 Doch ist historische Konkretion dieses Kategorienrasters für die Gruppe der Artusromane, das Mindeste zu sagen, sehr viel weiter gediehen 4, als für andere Sektoren dessen, was dem Fach höfischer Roman heißt. Als Index dieser Forschungssituation, nicht nur als Zeugnis der Integrationsprobleme von Aufsatzsammlungen, wird es sich daher lesen lassen, wenn etwa der jüngste Band zum Thema sehr bedachtsam allererst die Ortung von Positionen des Romans im späten Mittelalter ankündigt.5 Der Weg zu einer Gattungsgeschichte des mittelalterlichen Romans in Deutschland scheint also noch weit zu sein, und dies trotz des von Handbuchprojekten ausgehenden Zwangs zur Synthese6, auch trotz der ebenso eindringlichen wie souveränen Darstellungen Kurt Ruhs und Walter Haugs. Seine Literaturheorie im deutschen Mittelalter7 wäre ein unersetzlicher Teil solcher Gattungsgeschichte, doch mit ihr selbst als einer Historie auch der narrativen Praxen nicht zu verwechseln. Kurt Ruhs Höfische Epik hingegen nähert sich dem Ziel wie vielleicht kein anderes Projekt 8, dies indes um den Preis, die Texte in einer Folge von Einzelinterpretationen gegeneinander isolieren zu müssen, und dabei zwar nicht ihres synchronen und diachronen Zusammenhalts verlustig zu gehen, aber wohl seiner historiographischen Darstellbarkeit. Wirklich weit entfernt bin ich davon, dem Leser und mir selbst etwa den Anspruch zumuten zu wollen, die hier gewissermaßen von den Versuchen ihrer Eingrenzung her angepeilte Leerstelle lasse sich im folgenden, und sei es lediglich im Sinne eines konzeptionellen Vorschlags, auffüllen. Ich bin skeptisch, daß mir dabei auch nur ein lehrreiches Scheitern gelingen möchte. Es kann sich hier vielmehr nur darum handeln, auf der Grundlage der vorgetragenen Interpretationen einige Fragen der konzeptionellen Möglichkeiten einer solchen Gattungsgeschichte zu diskutieren. Ich schicke dem voraus, daß sich jene Gruppe von Texten, die ein Terminus 'höfischer Roman' als identifizierbare vorstellt, allenfalls im Sinne einer Arbeitshypothese vorweg umreißen ließe, und daß sich dieses Textcorpus auf dem Wege der Ausarbeitung einer Theorie und Geschichte der Gattung nicht unerheblich verändern könnte. Aus diesem hermeneutischen Grund, ebenso aber auch wegen der fremden Variations- und Kombinationsmöglichkeiten mittelalterlichen Erzählens meine ich, es sei vorerst vernünf3 Vgl.unten S.312 Anm.28. Vgl.etwa Cormeau (1977); Kern (1981); Cormeau (1984); Haug (1989a), S.651ff. 5 Vgl.bei Haug (1991). 6 Vgl.zum Beispiel die Beiträge "Antikenromane" von Horst Brunner, "Artus- und Gralromane" von Klaus Grubmüller, "Wolfram von Eschenbach" von Ulrich Müller, "Gottfried von Straßburg" von Horst Wenzel und "Andere Großepen" von Alfred Ebenbauer in Liebertz-Grün (1988). Hier sind es die Genrenormen des Handbuchartikels, welche von den einschüchternden Problemen der Konzeption literarischer Gattungsgeschichte dispensieren. 7 Vgl.Haug (1985). 8 Vgl.Ruh (1977/1980) und ders. (1978). 4 301 tig, den Horizont weit zu stecken. So ist zum Beispiel das Programm einer Gattungsgeschichte des höfischen Romans mit einer Historie der Artusromane noch nicht abgegolten, ist es mit ihr vielmehr, so wird sich im folgenden ergeben, in einer Weise akzentuiert, die Modifikationen, Perspektivveränderungen erforderlich macht. Wobei noch davon abgesehen ist, daß eine solche Akzentuierung nicht nur einem bestimmten narrativen Sinnbildungsmodell, dem des Chrétien-Hartmannschen Romans, sondern über die matière de Bretagne auch einer Kategorie der Stoffgeschichte eine Zentralposition aufbürdet, welche nicht von vorneherein systematisch leicht begründbar wäre. Es kommt hinzu, daß allein ein offenes Konzept den engsten Kanon der Texte, wie er etwa in Kurt Ruhs Höfischer Epik repräsentiert ist, entgrenzen könnte, ohne dabei den quantitativ gewichtigsten Teil der mittelalterlichen deutschen Romanüberlieferung zur amorphen Gruppe der "Anderen Großepen" verkümmern zu lassen, der gegenüber sich jeder Ordnungsversuch als oberflächlich oder vergeblich zu inszenieren hätte.9 Offen müßte dieses Konzept endlich auch in dem Sinne sein, daß es Übergangsformen zwischen höfisch-romanhaftem und etwa legendarischem, historiographischem oder heroischem Erzählen nicht als synkretistische Sonderfälle ausgrenzen muß, sondern als genuine Gattungsmöglichkeiten höfischer Romane integrieren kann.10 Die Willehalm-Romane und die an ihnen ansetzende Geschichte des Um- und Neuerzählens könnten die Dringlichkeit solcher konzeptionellen Flexibilität einprägsam illustrieren. Es wird also hier, wie in diesem Buch überhaupt, dafür plädiert, vorläufig mit einem sehr offenen, auch unspezifischen Begriff des höfischen Romans zu arbeiten. Mit einem Begriff, der vielleicht zunächst kaum mehr konnotiert als Formen großepischen Erzählens, welche im Interaktionsraum einer dominant mündlichen Kultur – auf den sie sich funktional, kommunikativ und intertextuell beziehen – genuin schriftsprachlich, buchepisch verfaßt sind11, und welche am gesellschaftlichen Ort des 'Hofes' und seiner Rituale sozialer Integration als Medien kommunikativer Selbstverständigung einer feudalaristokratischen Elite funktionieren. Dieser oder vergleichbarer Art einen Textbereich im Sinne seiner wissenschaftlichen Operationalisierung abzustecken, wäre ein erster, noch ganz heuristischer Schritt auf dem Wege zu einer Theorie und Geschichte des höfischen Romans. Ein zweiter, bedeutenderer Schritt folgt der Frage danach, wie sich ihre Elemente zum Ganzen der Gattung konfigurieren, er fragt also nach den Strukturen des Gattungssystems. Auch dabei ist der Anspruch denkbar zurückgenommen. Ich beschränke mich auf einige seiner Aspekte, solche zwar, welche Momente der Selbstbeschreibung des Gattungssystems hervortreten lassen, sowie solche einer relativen Synchronie von Ungleichzeitigem. Das dahinter stehende gemeinsame Interesse richtet sich gemäß dem im vorangegangenen Kapitel Erwogenen auf den polydimensionalen Systemzusammenhang der Texte, und also auf die allmähliche Ablösung von gattungshistori9 So Alfred Ebenbauer in Liebertz-Grün (1988), S.279-289; vgl. auch Röcke (1984). Vgl.dazu auch unten IX.3. 11 Zur einläßlicheren Bestimmung des Romanbegriffs und zu seiner Distinktion gegenüber dem Terminus 'Epos' vgl.Jauss (1977), S. 310ff.; Haug (1985), S.91f.; Müller (1987); Simon (1990). 10 302 schen Konzepten, welche höfische Romane nach den Regeln des Gänsemarsches als literarische 'Reihe' anordnen. Ich weiß wohl, daß ich mir mit solcher Akzentuierung von Gleichzeitigkeit die Dynamik des Systemzusammenhangs der Gattung als Problem einhandele. Es ist auf der hier eingenommenen Diskussionsebene nicht zu lösen, allenfalls etwa als System'evolution' zu metaphorisieren. Doch sei die Hypothese angedeutet, daß die Geschichte des Gattungssystems in späteren Arbeitsschritten, vor denen ich hier haltmache, möglicherweise nicht als (serielle) Ablösung von Texten, sondern abstrakter als historischer Wandel jener Regelsysteme zu konzipieren wäre, welche textuelle und intertextuelle Systembildungsprozesse steuern.12 Ich diskutiere also einige Aspekte des Gattungssystems 'höfischer Roman', und mache dieserart erneut von Lizenzen zur Fragmentarizität und Fortsetzbarkeit meiner Erwägungen Gebrauch. Zugleich greife ich, so deutete sich längst an, fallweise auf systemtheoretische Argumentationsmuster zurück – ohne sie für jetzt schon an die in letzter Zeit mit wachsender Intensität geführte Diskussion um eine systemtheoretisch orientierte Literaturwissenschaft anschließen zu können13 oder sie von dort her kritisch begründen zu wollen; zudem im vollen Bewußtsein, daß es, wo die Verstehbarkeit historisch außerordentlich fremder Objektzusammenhänge im Vordergrund steht, vorerst nicht ohne theoretische Plattitüden abgehen wird. Was jedoch systemtheoretisch sich als eine Trivialität darstellt, das könnte, so vermute ich, gleichwohl einmal Skepsis erwecken, wenn es als Modell der Beschreibung intertextueller Konfigurationen konkreter Texte, zumal solcher aus dem Zentrum des altgermanistischen Kanons adaptiert wird. Es mag dies eine Skepsis sein, welche durch derlei Projekte die Ästhetizität der Kunst mißachtet oder gar zerstört sieht. Richtig ist daran vielleicht, daß ein noch kaum je überbrückter Hiatus abstrakte Theorieentwürfe und konkrete historische Textarbeit auseinanderhält: so trivial literaturgeschichtliche Konzeptionen der Mediävistik – und auch die folgenden Überlegungen – aus der Perspektive neuerer systemtheoretischer Diskussionen aussehen mögen, so leichtfertig scheinen in umgekehrter Blickrichtung diese die Besonderheiten des historisch je Individuellen auf dem Altar ihrer eigenen Systemzwänge zu opfern. Selbstverständlich wird dieser Hiatus hier nicht geschlossen. Ich lasse vielmehr – wie wenn man völlig unbekümmert sein könnte – die angedeuteten theoretischen Kontroversen und Animositäten für jetzt auf sich beruhen, um zu erproben, ob man etwas in den Blick bekommt, wenn man die hier in Frage stehenden Dimensionen einer Geschichte des höfischen Romans mit einigen fundamentalen systemtheoretischen Denkfiguren zu konzeptionalisieren versucht. Hernach mag man dann prüfen, ob das Gesehene eine Einsicht und daher den Versuch wert war. Den Ausgangspunkt wähle ich bei Ausschnitten eines jüngst erschienen Entwurfes von Walter Haug. Er strukturiert mit systematisch weitreichendem Anspruch eine Reihe von Positionsbeschreibungen spätmittelalterlicher Romane, resümiert eigene Ansätze Haugs und entwirft, sie weiterverfolgend, die Geschichte des höfischen Ro12 13 Vgl.auch unten IX.3. Vgl.zuletzt etwa Schwanitz (1990), sowie die Beiträge in Meyer / Ort (1990), zumal die gut dokumentierte "Theoretische Vorbemerkung" der Herausgeber, ebd. S.1-14. 303 mans in Deutschland ausdrücklich als System. "Über die Schwierigkeiten des Erzählens in 'nachklassischer' Zeit" lautet der Titel dieses Entwurfes14, der in der vorausgesetzten Behauptung prinzipiell problematischer Postklassizität eine Gerichtetheit der Evolution des Gattungssystems der höfischen Romane in dessen Rekonstruktion schon vorab hineinschreibt, welche, wie es scheint, aus dieser doch allererst entwickelt werden sollte. Daß diesem Titel insofern Signifikanz – vielleicht wider auktorialen Willen – eignet, mag sich auch zeigen, wenn man auf ihn die Gegenprobe macht. Wie unwahrscheinlich klänge nicht eine Überschrift 'Über die Schwierigkeiten des Erzählens in klassischer Zeit'? Schwierig sei, so zeigt es die Darstellung Haugs, nachklassisches Erzählen eben als ein solches, als ein auf Klassizität von normativer Geltung bezogenes Erzählen. Die Gattungsgeschichte des höfischen Romans wird hier also rekonstruiert als "Entwicklung des großepischen Erzählens nach Chrétien" (S.341, Hervorhebung P.S.). Diese Wahl eines Augenpunktes determiniert noch nicht eo ipso die Anordnung der Texte etwa nach dem konventionellen literaturgeschichtlichen Schema der literarischen Reihe – die von Haug repräsentierte und vielfach auch inaugurierte Richtung in der Erforschung mittelalterlicher volkssprachiger Erzählliteratur hat sich von solchen Schlichtheiten längst verabschiedet. Auch wenn man die Gruppe der Texte als etwa nach den Regeln intertextueller Referenzen verknüpftes Geflecht aufbaut, spricht zunächst kein prinzipieller Einwand dagegen, eine seiner Verknotungen zum Ausgangspunkt der Rekonstruktion zu wählen. Gleichwohl läßt sich fragen, inwieweit die damit in Kauf genommene Monoperspektivität das Verhältnis von Wahrnehmungschancen und Blickverstellungen beeinflußt. Jedenfalls wird man dem hier diskutierten Konzept mit der Feststellung nicht Unrecht tun, daß es durch einen solcherart ausgeprägten Monoperspektivismus gekennzeichnet sei und daß es die Totalität der nach-chrétienschen mittelalterlichen Romangeschichte als Abweichung von der Norm des mit Chrétiens Namen verknüpften Erzähl- und Sinnstiftungsmodells erscheinen läßt. "Es ist eine offene Streitfrage, in welchem Maße die Romanentwicklung nach Chrétien in der Perspektive seines Modells zu interpretieren ist. Das Fortwirken älterer narrativer Muster, Einflüsse von anderen Gattungen oder Typen her – man denke insbesondere an historische Romane oder auch an die neue Kleinepik – oder auch die Existenz einfacherer Modelle mit arthurischer Thematik neben Chrétien, all dies muß davor warnen, den Blick zu strikt auf Chrétien und seine Wirkung zu richten."15 Historische Einwände gegen den attestierten Monoperspektivismus sind hier von Haug zusammengetragen, doch meint er sie mit der Feststellung entkräften zu können, "daß die deutsche Tradition des höfischen Romans sich in sehr viel höherem Maße als Auseinandersetzung mit dem Chrétienschen Modell darstellt als die französische." (Ebd.) 14 Vgl.Haug (1991); danach die folgenden Zitate im Text. Dieser Aufsatz führt Argumentationen vielfältiger vorangegangener Studien des Verfassers fort und zusammen. Auf diese hier jeweils noch einmal zu verweisen wird nicht nötig sein, weil es im folgenden nicht um eine materiale Darstellung der nachklassischen Romanentwicklung, sondern um deren konzeptionelle Möglichkeiten geht. 15 Ebd.S.343, vgl.auch S.364f. 304 Den Komparativ in dieser Feststellung zu entfalten hindert mich der Mangel romanistischer Fachkompetenz. Doch kann nach dem Modus gefragt werden, in welchem das Argument die von Haug vorgenommene Perspektivierung der Gattungsgeschichte zu begründen in der Lage wäre. "Auseinandersetzung mit dem Chrétienschen Modell" formuliert eine Relation zwischen Texten, die sich in einem allgemeinen Sinne als intertextuelle begreifen läßt. Dabei kommt es auch hier noch kaum darauf an, in der Konkurrenz ausdifferenzierter Intertextualitätsbegriffe eindeutig Position zu beziehen. Es genügt zu sagen, Intertextualität bedeute, daß der Rezipient "den Werkcharakter des Einzeltextes negieren muß, um den Reiz eines schon zuvor begonnenen Spiels mit bekannten Regeln und noch unbekannten Überraschungen auszuschöpfen."16 Klar ist, daß Haugs Argumentation in diesem Sinne ein Konzept entfalteter Referenzen zwischen verschiedenen narrativen Prozessen als eine Form jeweiliger Sinnkonstitution voraussetzt.17 Es versteht sich auch, daß die Projekte der Intertextualität, insofern sie die Geschichte des Erzählens als unablässiges Spielen solcher Referenzen rekonstruieren, eine Konzeptionalisierung und Begründung dessen ermöglichen, daß andere Texte in einen 'Dialog' mit Texten Chrétiens oder in eine Auseinandersetzung mit dem dort generierten Erzählmodell respektive Hartmanns von Aue Anverwandlungen eintreten können. In Intertextualitätskonzepten ist zugleich, und ohne das Aufgeben nötiger Differenzierungen, zu bündeln, daß solche Auseinandersetzungen auf der Oberfläche von Texten selbst expliziert (markierte Intertextualität), oder aber in den Lektüren sei es mittelalterlicher Rezipienten, sei es erst moderner Wissenschaftler lokalisiert sein können. Schließlich ist von solchen methodologischen Ansatzpunkten her ein entscheidendes Moment der Synchronie in der Relationalität von Texten bewußt zu machen: ins Geflecht der Intertextualität werden auch solche Texte eingebunden sein, die ihrer Entstehung nach älter als diejenigen Chrétiens und Hartmanns sind, doch als tradierte in deren Rezeptionszusammenhängen ungebrochene Aktualität besitzen. Intertextualitätskonzepte begründen also die von Haugs Entwurf der Romangeschichte "nach Chrétien" zum organisierenden Prinzip erhobene "Auseinandersetzung mit dem Chrétienschen Modell" – doch tun sie dies nur in dem Maße, in welchem sie die Exklusivität der begründeten intertextuellen Referenzen ausschließen. Intertextualität ist, dem häufigen metaphorischen Wortgebrauch zum Trotz, gerade nicht der (asymmetrische) exklusive Dialog zwischen einem Text und einem Prätext, ist nicht ein Konzept der Zwei-, sondern der Mehr-, ja Vielstimmigkeit. Beziehungen zwischen Texten als intertextuelle zu denken, wie es von Haugs Abriß der Romanentwicklung vorausgesetzt wird, heißt, diese als polyperspektivisches Gefüge zu konzipieren: Perspektivität ist dabei vorausgesetzt, Monoperspektivität jedoch von den Begründungszusammenhängen her ausgeschlossen. 16 17 Jauss (1977), S.16. Dies jedenfalls spätestens dann, wenn sie - wie bei Haug - den Bereich des Artusromans selbst weit überschreitet und im Sinne abstrakter Modellbeziehungen auch solche Texte mit Chrétien konfrontiert, die von einer Markierung entsprechender Intertextualität weit entfernt sind. 305 Intertextuelle Referenzialisierungen der von Haug beschriebenen Art sind, anders gesagt, nur in einem Geflecht solcher Referenzialisierungen zu rechtfertigen, weil im hermeneutischen Prozeß ihrer Herausarbeitung Kriterien der Perspektivbegrenzung allenfalls kasuistisch im Rahmen komplexer Einzelinterpretationen angegeben werden könnten. Intertextualität ist prinzipiell kontextuell und der Ausschluß von Kontexten jeweils gezielt nachzuweisen. Die Richtung meines Einwandes gegen Haugs Entwurf der Romangeschichte läuft damit derjenigen gewissermaßen stracks entgegen, welche anläßlich seiner Literaturtheorie im deutschen Mittelalter (1985) etwa von Christoph Huber formuliert worden ist: "Die hartnäckige Rückwendung auf die klassischen Erzählmuster ist als Interpretationsmaßstab für die praktische und theoretische Programmbildung prinzipiell sinnvoll und erweist sich immer wieder als fruchtbar. Dennoch wäre die Grenze dieses Verfahrens im Rahmen einer intertextuellen Methodik zu suchen. Wo ist ein Dialog der Texte zu verankern? Wie weit ist der Anschluß an die Autorintention zu binden, wie weit setzt er sich als realisierte Werkstruktur durch? [...] Die Wiederkehr einzelner Erzähleinheiten garantiert noch nicht die Auseinandersetzung mit den integralen klassischen Modellen. Es ist mit der Verselbständigung und Verfügbarkeit von Motiven zu rechnen. Selbst wenn man von ihrem ursprünglichen Ort noch weiß."18 Meine Gegenfrage lautete, ob nicht hinter diesem Einwand die Hoffnung auf der Lauer liege, die Autoren untersuchter Texte könnten die Grenzen intertextueller Referenzialisierungen schon abgesteckt haben, sie könnten also in der Lage sein, selbst und vor jeder Interpretation zu explizieren, was sich prinzipiell in dieser erst artikulieren läßt. Gegenüber einer derartigen Hoffnung gibt indes die Hermeneutik Anlaß zu grundsätzlicher, die vorliegende Untersuchung Gelegenheit zu konkreter Skepsis.19 Hinsichtlich von Fortsetzungen ist es, wie die Dinge liegen, methodologisch unproblematisch, intertextuelle Fragestellungen zu verfolgen, und wo immer diese Studien der handschriftlichen Spur ihrer Gegenstände nachgingen, stießen sie sogleich auf reiche überlieferungsgeschichtliche Bestätigungen von Intertextualität. Doch wo immer diese interpretatorisch zu entfalten war, wurden Relationen zwischen Text und Prätext sichtbar, die mit den in Prologen und Erzählerexkursen inszenierten nicht einfachhin identisch sind: diese könnten in der vielfachen, kanonbildenden Betonung klassischer Verbindlichkeit und Vorbildlichkeit der Prätexte in bestimmter Perspektive geradezu als Kontrafakturen der narrativ realisierten Referenzialisierungen erscheinen. Das heißt - und hermeneutisch ist es fast ein Gemeinplatz - , der explizite Dialog oder Polylog der Texte, die Markierung von Intertextualität, sei auch eine Inszenierung, die zugleich auf ihre intratextuellen Funktionen zu befragen und als Interpretationskriterium für Intertextualität nicht unmittelbar verbindlich ist. Kriterien für Intertextualitäten finden sich nicht darin, wie explizit diese auf der Textoberfläche gespielt werden, sondern in der Verpflichtung 18 19 Christoph Huber, Rezension von Haug (1985), in: AfdA 99 (1988), S.60-68 (Zitat S.67). Zu fragen wäre, inwieweit Verfügbarkeit schon ein Index reduzierter Sinnstiftungsmöglichkeiten sein könnte, und wie man diese interpretatorisch entfalten wollte. Die Markierung von Intertextualität ist, wie die 'Signalhaftigkeit' von Textelementen überhaupt, nicht im Vorwege zur Interpretation unmittelbar gegeben, sondern als deren Resultate vermittelt, vgl.Broich / Pfister (1985), S.31ff. 306 der Interpretation selbst auf Konsistenz. Das Maß der Intertextualität ist dies, inwieweit es für die Interpretation unerläßlich ist, von ihr her die Identität des Textes zu denken. Haugs Rekonstruktion nachklassischen Erzählens entlang von dessen Bezügen auf das Chrétiensche Modell des höfischen Romans erscheint also im Maße ihres Begründetseins als partial. Das Oszillieren der Intertextualität hat in jenem Bereich, der historischem Verstehen manchmal zugänglich ist, keinen exklusiven Ausgangsoder Fluchtpunkt. Doch daß eine intertextuelle Relation nur als Alternative zu anderen zu denken sei, die sie demnach mit repräsentiere, bedeutet nicht Beliebigkeit im Geflecht des Intertextuellen. In diesem gibt es vielmehr tatsächlich Ordnungen und Hierarchien, oder: privilegierte Perspektiven. Diejenige auf Chrétiens Artusromane und deren Aneignungsformen bei Hartmann von Aue und Wolfram scheint solcherart bervorzugt zu sein. "Im 12.Jahrhundert tritt in der Erzählliteratur bekanntlich ein neues sinnkonstituierendes Muster auf: das Muster des arthurischen Romans. Chrétien de Troyes hat es mit seinem Erstling, dem 'Erec', geschaffen." (S. 338) Das Historische erscheint hier als das Voraussetzungslose20 und die Unbestimmtheit der Metapher vom Auftritt ist dessen Gestalt. Die geschichtliche Darstellung darf, ja sie muß dieserart ungeschichtlich ihre Einstiegspunkte wählen, weil sie andernfalls im infiniten Regress selbst sich zu Tode hetzte. Allerdings setzt Haug nicht nur seinen Ausgangspunkt, sondern er setzt zugleich dessen historische Geltung voraus – in Argumenten wie "solange das Chrétiensche Modell in Geltung ist" (S.344) auch ganz unvermittelt. Das ist prekär, und ich will eine Begründung im Vorgriff auf das folgende Teilkapitel andeuten. Geltung ist ein relationaler Begriff, etwas bezeichnend, was sich literarisch in Formen der Intertextualität realisiert. Geltung wäre darum als Funktion der in und zwischen den Texten sich vollziehenden Diskurse zusammen mit diesen zu rekonstruieren, nicht einer solchen Rekonstruktion als vermeintliches Faktum vorzugeben. Konkret: Chrétiens Modell narrativer Sinnkonstitution ist nicht in Geltung, vielmehr stellt sich seine Geltung in intertextuellen Prozessen der Bezugnahme und Adaption (und Adaptation), Modifikation und Kritik je neu ein. Literarische Verbindlichkeit ist nicht apriorisch da, sondern das System der Texte und ihrer Intertextualitäten erzeugt sie als Funktionselement seiner Selbsregulation, nützt sie als Diskursebene seiner Selbstreproduktion. Etwas polemisch könnte man sagen, jene Emanationen des Geschichtsprozesses, auf die andere Konzepte ein Gutteil ihrer Begründungslasten abwälzen, die Macht der Tradition, die Zwänge des Stoffes oder die Imperative der Gattung, erscheinen in Walter Haugs Konzeption der nachklassischen Romanentwicklung, tiefer gelegt und konkreter gefaßt, in Gestalt der Geltung von Chrétiens Modell selbstreflexiv fiktionaler erzählerischer Weltbewältigung. Wenn man so argumentiert, dann verschieben sich zentrale Frageperspektiven, zumindest treten den etablierten alternative zur Seite – darum eben wird hier so argumentiert. Die Frage, wie produktive Rezipienten klassischer Erzählmuster von diesen abweichen – und eine Antwort auf sie entwirft Haugs hier diskutierter Text in ungemein umsichtiger und differenzierter Form –, wäre also um die andere Frage nach 20 Vgl.auch oben S.286 Anm.31. 307 jenen Funktionen zu ergänzen, welche die Klassizität des geltenden Modells für das literarische System besitzt, das sie im Modus der Abarbeitung an ihr allererst erzeugt. Es ginge insoweit nicht mehr nur um die Bedeutung der Klassizität eines bestimmten Modells für den systematisierenden Entwurf der Romanentwicklung - sie legitimiert die Verwendung des Modells als regulatives Ordnungsprinzip des Entwurfes –, sondern für die Romangeschichte selbst. Deren Konzept hat, mit einem Wort, die Geltung des Gültigen als etwas geschichtlich Erzeugtes und Funktionierendes selbst mitzureflektieren. Wie immer man das Gültige, auch das ästhetisch Gültige zu bestimmen unternimmt: seine Geltung ist historisch erzeugt und begrenzt. Geschichtliche Geltung ist darum jeweils geschichtlich aktuelle Geltung. So läßt sich auch von diesem Argumentationszusammenhang her ein fundamentales Moment historischer Gleichzeitigkeit in der Romanentwicklung zur Sprache bringen, wofür ich mich ein letztes Mal des Rückgriffs auf den Haugschen Aufsatz versichere. Als eine der charakteristischen Möglichkeiten, sich der Herausforderung zu stellen, als welche der Chrétiensche Typus des Artusromans begriffen werden konnte, präpariert er dessen "Entproblematisierung" heraus (S.343-347): "Der krisenlose Held gegenüber der aventiure-Welt und in einem Verhältnis zum Hof, das schwanken kann zwischen idealer Repräsentanz und kritischer Opposition: das ist die Konstellation des entproblematisierten Chrétienschen Modells, wie wir es etwa im 'Wigalois', im 'Daniel' oder in der 'Crone' vor uns haben." (S.344) Nur für einen Moment und allein zum methodologischen Exempel könnte man dem eine andere Konstellation literarischer Entproblematisierung einer hochgespannten Vorgabe gegenüberstellen: Wolframs Willehalm und seine Fortsetzung in Ulrichs von Türheim Rennewart. Sie erinnerte daran, daß Kontrafakturen eine Form der Vergegenwärtigung des Kontrafazierten sind und ermöglichte es, am Einzelfall zu verfolgen, welcher wahrhaft herkulischen Anstrengungen es bedürfen kann, wenn hochreflexive literarische Prozesse der Problematisierung nicht durch solche der Entproblematisierung prolongiert werden sollen.21 Dies wäre eben die Konstellation auch im späteren deutschen Artusroman. Bei den Willehalm-Romanen war der Anteil offensichtlich, den die in der Fortsetzungskonstellation gegebene und in der Überlieferung bestätigte grundsätzliche Zusammengehörigkeit der beiden Texte an dieser intertextuellen Situation hat. Zusammengehörigkeit heißt hier Gleichzeitigkeit der Texte in den Codices und in den kommunikativen Prozessen ihrer Aneignung durch Rezipienten – aller unverkennbaren und nicht nur werkchronologischen Ungleichzeitigkeit von Willehalm und Rennewart ungeachtet. Wiederum und auch in dieser Hinsicht sind Fortsetzungen jene Paradigmata volkssprachlicher Großerzählungen, an denen Grundsätzliches besonders deutlich zu erkennen ist. Denn freilich sind auch in der Geschichte des Artusromans Vorgänge wie die "Entproblematisierung des Chrétienschen Erzählmodells" oder die "Provokation [seiner] Prämissen" (S.347) nur verständlich, wenn dessen von den späten Texten stets erneut präsentierte (und so gesicherte) Gegenwärtigkeit mitbedacht wird. In kommunikativen Sinnbildungsprozessen können auch Erec 21 Vgl.oben VI.7. 308 und Daniel, Iwein und Wigalois usw. synchrone Texte sein; und wiederum gibt es, wie sich versteht, überlieferungsgeschichtliche Bestätigung solcher Gleichzeitigkeit.22 Auch im Zeitalter seiner handschriftlichen Reproduzierbarkeit besitzt das Kunstwerk Aktualität nicht nur zum Zeitpunkt seiner ursprünglichen Produktion, sondern je neu reproduzierte Präsenz, und sei es die Präsenz des nur noch archivalisch Interessanten – solange es eben tradiert wird. Dies ist keine spektakuläre Überlegung, doch scheinen mir ihre Konsequenzen für Konzeptionen höfischer Romangeschichte nicht immer hinlänglich bedacht zu sein. Selbstverständlich rechnet auch Walter Haugs Entwurf "mit der Präsenz und Wirkung [...] vor- und außerarthurischer Sinnbildungsmuster" (S.354). Daß indes die 'klassischen' Modelle in nachklassischer Zeit ebenfalls gegenwärtig bleiben, ist nicht mit gleicher Selbstverständlichkeit bewußt gehalten. Haug spricht auch von der "Auflösung des klassischen arthurischen Modells" (ebd.), und die Annahme, daß dies nur im Sinne einer typologischen Beschreibung langfristiger Entwicklungen zu verstehen sei, wird durch die pointiert teleologische Ausrichtung seines Entwurfes (vgl. etwa S.364) nicht wahrscheinlicher gemacht. Demgegenüber soll hier das Projekt der Rekonstruktion der Entwicklungen zwischen mittelalterlichen und neuzeitlichen Formen romanhaften Erzählens zurückgestellt und quer zu Haugs Perspektive der Blick gewissermaßen auf gegebene historische Systemkonfigurationen des höfischen Romans im späteren Mittelalter gerichtet bleiben. In ihnen sind die ungleichzeitigen Texte in Handschriften höchst konkret, in intertextuellen Relationen ganz grundsätzlich simultan da. Insbesondere werden wie immer problematische oder problematisierende Texte von jenen, die sich entproblematisierend auf sie beziehen, nicht ausgelöscht, sondern vorausgesetzt und, sei es auch im Modus der Negation, tradiert. Wie überhaupt Widerspruch, Kritik, Kontrafaktur, Parodie, Fortsetzung etc. die Referenztexte nicht zum Verstummen, sondern zum Sprechen bringen; das System der Narration und Renarration stürzte anders in sich zusammen. Und eben darin liegt eine wesentliches Moment der Synchronie im System ungleichzeitiger Texte, besser: im Geflecht ihrer intertextuellen Verknüpfungen und deren kommunikativer Realisierung. Die Denkfigur, welche diese Argumentation bei der spezifischen Gleichzeitigkeit der Texte ansetzen läßt, wiederholt jene, welche im vorangegangenen Argumentationsschritt zugunsten der vorgängigen Gleichwertigkeit der ungleichwertigen Texte eingesetzt worden ist. Und wie dort winkt auch hier sogleich der Lohn einer solchen 22 Obwohl "Einzelüberlieferung bei den nachklassischen Artusromanen" dominierte (Schiewer [1988], S.241), gibt es doch auf der Ebene der Codices Gegenbeispiele, so den Vindobonensis 2779 unter anderem mit Iwein und Crône, oder die Handschrift Add.19554 der British Library mit Gwigalois und Iwein; vgl.Becker (1977), S.61ff., 69ff. Auf der Ebene bibliotheksmäßiger Textzusammenstellung ist die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ohnehin evident. Noch zu Anfang des 16.Jahrhunderts im Ambraser Heldenbuch (Wien, ÖNB, Ser.nova 2663) Maximilians I., dessen 'Ruhmeswerk' ein prominentes Beispiel für jenen "Kurzschluß zwischen Literatur und Leben" ist, in den nach Haug (1991), S.364 (vgl. uch ders. [1987], S.266ff.), die Tendenzen der "Entproblematisierung des arthurischen Modells" letztlich führen, sind dessen paradigmatische Vertreter, Erec und Iwein, in voller Gegenwärtigkeit präsent - aktuell bis in die frühneuhochdeutsche Gestalt der Sprache hinein. Vgl.zum Beispiel auch Gerhardt (1972), hier S.38. 309 Konzeption: Kategorien der Ungleichzeitigkeit und Regeln der chronologischen Schichtung von Texten, die in diesen selbst zum Beispiel Autoren- und Werkkataloge (Gotfrit, Heinrich von dem Türlin, Rudolf von Ems, Hugo von Trimberg), prologische Totenklagen (Fortsetzer) und poetologische Entwürfe (Konrad von Würzburg) prägen, werden selbst als historische wahrnehmbar. Sie können darum als Strukturen der Selbstorganisation des literarischen Systems beschrieben und, hermeneutisch am dringlichsten, von den chronologischen Organisationsrastern der wissenschaftlichen Rekonstruktionen abgehoben werden. Das System des höfischen Romans konstituiert sich, seiner fundamentalen Simultaneität ungeachtet, selbst als ein chronologisch ausgefaltetes – darin je neu die Gegenwärtigkeit des Vergangenen sichernd. Die daran hängenden Fragen hinsichtlich der nur ausnahmsweise expliziten Literatur'Geschichte' als Systemfunktion in der Gattungsevolution des höfischen Romans selbst sind noch kaum artikuliert, geschweige denn beantwortet. Dies kann sich nun an dieser Stelle noch nicht ändern, und muß es vielleicht auch nicht, wenn sich denn der Leser mit dem Autor dabei bescheiden mag, daß hier einstweilen nur sehr allgemein über die Konzeptionsmöglichkeiten einer Geschichte und sodann einer Theorie des höfischen Romans nachgedacht wird; daß dies auch eine Form ist, sich von diesen Fragen vorerst noch zu dispensieren, versteht sich. Extrapoliert man aus der von Walter Haugs Aufsatz "über die Schwierigkeiten des Erzählens in 'nachklassischer' Zeit" ausgegangenen Diskussion, was sich hinsichtlich solcher Konzeptionsmöglichkeiten ergeben hat, so läßt sich vielleicht das Folgende sagen. Das Wagnis beginnt bei der Präsupposition, daß so etwas wie eine Geschichte des höfischen Romans noch anders möglich sei, als in der von Kurt Ruh in glanzvoller Souveränität verwirklichten Form einer Reihe von Einzeldarstellungen.23 Karl Bertau hat das Moment enzyklopädischer Simultaneität, welches in dieser Abschottung freilich aufeinander bezogener serieller Textinterpretationen steckt, kritisiert: "Aus meinen historischen Voraussetzungen hege ich die Vorstellung, Geschichte könne nur mit sukzessivlogischen Kategorien gedacht und geschrieben werden, und sie sei eine Geschichte."24 Zugleich hat er jedoch diese Insistenz auf der Möglichkeit einer solchen Historie wieder revoziert, wenn er sie apriorisch eben nicht historisch, sondern ästhetisch fundiert und "entschieden Partei [ergreift] für eine auch durch ästhetische Urteile sich beschränkende [Literaturgeschichte]. Sinnvoll erscheint mir eine Literaturgeschichte als Geschichte von Kunstwerken höchsten Ranges."25 Doch jene eine Literaturgeschichte wäre dies nicht mehr, denn es hätte in den Kanon des Überlieferten das ästhetische Urteil vorab einen Schnitt gesetzt, das Höchstrangige vom Minderwertigen sondernd. Hingegen verhielte sich zu jener integralen Literarhistorie das ästhetische Urteil nicht als ihre Voraussetzung, sondern als eine Resultante. Sinnvoll und möglich erschiene mir daher eine Literaturgeschichte als Geschichte des Überlieferten, die es, wenn auch nicht schon auf den ersten Schritten, erlauben wird, den äs23 Vgl.Ruh (1977/1980) und ders.(1978). Bertau (1983), S.16. 25 Ebd., S.41; zur Kritik vgl.auch Haug (1991), S.364. 24 310 thetischen Rang von Kunstwerken als historischen begründbar und verstehbar zu machen. Dies könnte, wie in der mittelalterlichen literarischen Kultur des unablässigen Wieder-, Weiter- und Neuerzählens die Dinge für die Gattung des höfischen Romans liegen, eine Geschichte der intertextuellen Referenzen zwischen den Texten und der von einer Möglichkeit solcher Intertextualität her gedachten Identitäten der Texte sein. Insofern sie dies wäre, rekonstruierte diese Historie die Geschichte der Literatur als Geschichte von Systemveränderungen. Intertextualität wäre der Sammel- und Oberbegriff all jener Formen der Bezüglichkeit zwischen Texten, welche diese zum literarischen System verflechten, sie dabei nicht ihrer Identität beraubend, sondern so allererst die Möglichkeiten ihrer Identifizierbarkeit konstituierend: erst im System der Intertextualität ist der mittelalterlich fremde Text als ein solcher überhaupt in seiner Identität zu verstehen. Intertextuelle Beziehungen, so die oben schon angedeutete Argumentation, bauen sich in einem, so weit wir sehen können, immer schon gegebenen System intertextueller Beziehungen auf. Aus entgegengesetzter Perspektive ist sodann zu sagen, daß Selbstreferenzialität, zentrales Thema in allen neueren systemtheoretischen Diskursen26, sich im System der Literatur und spezieller im (Sub)System des höfischen Romans eben in jenen Formen aktualisiert, für welche hier der Begriff der Intertextualität genützt wird. Schichtungen von Texten innerhalb eines Systems, seien sie Hierarchien normativ ästhetischer oder Ordnungen chronologischer Art – dies wäre ein aus der oben mit Haug geführten Diskussion folgender zweiter Satz –, erscheinen in solcher Konzeption als Strukturen, die nicht 'von außen' her (aus einer modernen Ästhetik oder mit den geschichtswissenschaftlichen Möglichkeiten der Datierung) begründbar sind, sondern als Funktionen des literarischen Gattungssystems selbst, als Modi seiner Selbstbeschreibung und Selbststeuerung erfaßt und funktional erklärt werden können. Dies ist nicht mißzuverstehen. Strukturierungen nicht von außen zu implantieren, sondern als Selbststeuerungen des Systems der Texte zu rekonstruieren heißt nicht, Ordnungen und Wertigkeiten würden gleichsam auf die Ebene 'nur' intertextueller Verknüpfungen verschoben, während die Texte 'selbst' als amorphe Menge von Gleichwertigem und Gleichzeitigem darunter zurückblieben; so weit geht der Angriff auf die Konventionen altgermanistischer Literaturgeschichte nicht, oder im Gegenteil: mit derartigen, Substanzen gut aristotelisch von Akzidenzien unterscheidenden Denkfiguren sind Textsysteme nicht rekonstruktiv aufzubauen. Denn auch dies sind historisch kontingente Raster, die der geschichtlichen Überlieferung eine hierarchische Ordnung – hier die von Text-Substanz und Intertext-Akzidenz – vorab und unreflektiert unterstellen, deren Triftigkeit dann nicht mehr geprüft werden kann. Vielmehr ist in meiner Argumentation, dies der dritte Satz, das System des höfischen Romans eben als Geflecht des Heterogenen und Alternativen vorausgesetzt; bereits die Rekonstruktion einer Begründung der Möglichkeit, die Gattungsentwicklung mit Haug von Chrétien her zu systematisieren, führte ja genau zu der Einsicht, daß diese Möglichkeit nur als solche, das heißt als Alternative anderer Möglichkeiten zu be26 Vgl.etwa Schwanitz (1990), S.55ff. u.ö. 311 gründen ist. Kurz gesagt hat es eine systematische Geschichte des höfischen Romans mit Differenzen zu tun: sie beschreibt die Gattung als System zur Erzeugung von Intertextualität und also von Differenzen, oder – unschöner – als einen Einheitsraum der Emergenz von Differenz; sie beschreibt, nun dem Anspruch dieser Erwägungen gemäß die terminologische Nähe zur Systemtheorie sofort wieder zurückgenommen, den höfischen Roman als ein Gattungssystem alternativen Erzählens. Mir scheint, daß aller theoretischen Begründungszusammenhänge ungeachtet eine solche Fassung (hermeneutisch wenig überraschend), nahe an jenen Erfahrungen wäre, die in den fünf Interpretationskapiteln dieser Arbeit an den Texten selbst zu machen waren. Eine Rekapitulation wird sich hier erübrigen. Nur erinnert sei indes daran, daß sich narrative Alternativität, so wie es hier auch theoretisch begriffen wird, keineswegs nur zwischen fortgesetzten und fortsetzenden Texten ausspannt, sondern auch zwischen diesen selbst (etwa im Falle der konkurrierenden GotfritFortsetzungen ganz konkret), zwischen ihnen und dem Gesamtzusammenhang höfischen Erzählens überhaupt. Nicht zuletzt wurden die hier interpretierten Tristan- und Willehalm-Romane auch darin als Paradigmata des (mittelalterlichen) Erzählens sichtbar, wie in ihnen und in jenen kommunikativen Sinnstiftungsvorgängen, deren Medien sie sind, der Zusammenhang der Literatur sich dadurch gestaltet, "daß innerhalb ihres Systems und mit Hilfe seiner Gegebenheiten Spannungen ausgetragen werden, wobei in gleicher Weise mit Desintegration wie mit neuen Strukturierungen gerechnet werden muß. Von der historischen Logik her kann deshalb das Mißlingen so aufschlußreich sein wie die in sich geschlossene Neukonzeption, kann der Abweg genauso seine Wahrheit in sich tragen wie der, von der Systemgeschichte her gesehen, erfolgreiche Durchbruch in die Zukunft." (S.365) Geschlossene Neukonzeptionen sind in der Erzählliteratur des deutschen Mittelalters offene Entwürfe, auf die das literarische System mit Reintegrationsstrategien antwortet. Diese haben die Gestalt der in diesem Buch thematisierten Texte, vielmehr – in jener Genauigkeit, auf die es hier ankommt: sie nehmen die Form des von Alternativen des Erzählens her generierten Diskursiven an; die Fortsetzungen tradieren im Modus ihrer diskursiven Vergegenwärtigung die fortgesetzten Texte und werden mit ihnen zusammen in der literarischen Kultur tradiert. Darin steckt der vierte Satz, der hier aus dem Vorangegangenen abgeleitet werden soll. Sinn ist Prozeßsinn, er ist "prinzipiell als Übergang zu denken." (S.340) Allenfalls in der ideologischen Fiktion einer punktuellen Isolierbarkeit solcher Texte, die tendenziell auf Sinn-Drosselung hin erzählen, gegenüber dem System intertextueller Sinn-Erzeugung kann Sinn momentan und punktuell als fixer, unabänderlicher, alternativloser erscheinen. Daß literarischer Sinn derart einmal gegenüber jedem Gegen-Sinn imunisiert wäre, bildete den Inbegriff einer bornierten Textrezeption. Doch wie sollte man ihrer hermeneutisch inne werden können? Nun mag es sein, daß es (für uns) einen Unterschied macht, ob die Identität des Einzeltextes darin auf ihren Begriff kommt, daß er hochkomplex, problembewußt, Sinn dynamisierend und also steigernd erzählt, daß also der Prozeß diskursivierender Alternativbildungen vielschichtig und poyldimensional in das System des Einzeltextes selbst hereingenommen ist, oder ob im Gegenteil für eine Textidentität Ten- 312 denzen monologischer Sinn-Drosselung und Deproblematisierung bestimmend werden. Jenes hat seinen altgermanistischen Inbegriff im 'klassischen' Modell des arthurischen Romans, in Gotfrits Tristan, im Parzival und im Willehalm, dieses hingegen gibt es gar nicht, jedenfalls ist es für eine hermeneutisch konzipierte Geschichtswissenschaft nicht verfügbar – sie kann Sinn und Unsinn wissenschaftlich prozessieren, doch wie sollte radikaler Nicht-Sinn in ihr gedacht, von ihr interpretatorisch verstehbar gemacht werden? Sinn-Drosselung begegnet ihr nur als Tendenz, als graduelle Abstufung der sinndynamisierenden Alternative, wofür zum Beispiel spätere Artusromane, die eine Entproblematisierung des Chrétienschen Erzählmodells (Gwigalois, Daniel, Crône), gar die Entproblematisierung solcher 27 Entproblematisierung (Pleiers Garel ) prozessieren, und aus dem diesen Studien zugrundeliegenden Textcorpus etwa die flächigen Mittelteile des Rennewart einstehen könnten. So beschreiben läßt sich der Sachverhalt indes nur auf der (im RennewartKapitel auch eingenommenen) Systemebene des Einzeltextes, wenn er als Subsystem des Gattungssystems höfischer Roman begriffen wird. Auf dessen Ebene hingegen generieren Entproblematisierung und Sinn-Eindämmung neue Diskurse und gesteigerten Sinn: indem sie mit ihren Alternativen intertextuell konfrontiert werden. Der Monolog erzeugt ein vielstimmiges Gespräch wenigstens über seine eigene Möglichkeit, über sich selbst – und der wissenschaftliche Diskurs über historische Formen des narrativen Monologisierens ist nur die jüngste Fortsetzung dieses Gesprächs. Tatsächlich also ist Sinn stets diskursiv, ist der Sinn eines Erzähltextes immer auch intertextuell vermittelt, ist er der Prozeßsinn der Intertextualität alternativer (und sei es in ihren Trends der Problematisierung oder Entproblematisierung gegenläufiger) narrativer Sinnangebote. Wäre es anders, dann könnte die Literatur vielleicht nur mit einem (dem dann heiligen) Text auskommen. Den Sinn macht aber erst die Differenz, und das ist ihr Sinn. 'Text' ist ein Pluraletantum.28 2. Inszenierung des Kanons: Erzählerische Vorgehensweisen der Problematisierung, der narrativen Alternativbildung, der Differenzierung sind gut aufgehoben in einer solchen Konzeption, die wie die hier vorerst historisch indifferent skizzierte den Zusammenhang der im Gattungsbegriff des höfischen Romans gebündelten Texte zu denken versucht. Gerade diese Strategien des Erzählens sind es, die in den Interpretationskapiteln dieser Arbeit in mannigfachen Brechungen, in distinkten narrativen Funktionskontexten, auf den verschiedensten Ebenen der Texte und exemplarisch auch in deren überlieferungsgeschichtlichen Verflechtungen immer wieder zu beobachten waren. Das liegt freilich an den interessegeleiteten Perspektiven des Beobachters, doch auch daran, daß der Gegenstand, insofern an ihm allgemeine Bedingungen mittelalterlichen Erzählens in spezifischer Unübersehbarkeit erscheinen, solchem Beobachten gegenüber sich als 27 28 Vgl.Kern (1981), S.150ff. Vgl.Jauss (1977), S.16ff. 313 besonders transparent darstellt; der hermeneutische Zirkel läßt sich nicht sprengen. Alternativem Erzählen waren diese Studien auf der Spur, ob sie nun Gotfrits TristanEnde mit dem Eingang der Freibergschen Fortsetzung, das neunte Buch des Willehalm mit den Anfangsabschnitten des Rennewart konfrontierten, ob sie die Radikalisierung von Türheims Tristan-Konzept bei Heinrich von Freiberg oder die Begründung seiner Schlußkonstellation durch Tristan als Mönch verfolgten; ob sie das intratextuelle Verhältnis gegenseitiger Kommentierung von Tristan- und KaedinHandlung bei Türheim, von Malefers Weg durch die und Willehalms Weg aus der Welt in seiner Willehalm-Fortsetzung oder die Deutungsleistungen zu verstehen suchten, die in der Arabel allusorisch präsent gemachte, letal endende Liebesgeschichten heidnischer Königinnen entfalten. Hier und sonst waren es jeweils Formen narrativer Alternativen, die über Differenzen zueinander in intra- oder intertextuelle Reibungsverhältnisse eintraten, darin ihr Sinn und der des Erzählens sich ergaben. Nach der am Schluß des vorangegangenen Abschnitts stehenden Argumentation darf vorausgesetzt werden, daß so gut wie die erzählerischen Prozesse der Differenzerzeugung und also Problematisierung sich solche der Entproblematisierng und daher Differenzeinebnung, wie sie das sechste Kapitel für große Teile des Rennewart annimmt, ins hier umrissene Modell einer systematisch und intertextuell konzipierten Romangeschichte einfügen. Gleichwohl könnte man versuchen, solchen systematisch zwar unschwer zu integrierenden, historisch jedoch eher raren Fällen der erzählerischen De- und Entproblematisierung einen gewissen systematischen Signifikanzwert abzulesen. Formen der Problemeindämmung, der Komplexitätsreduktion in einem System indizieren Tendenzen zur Überkomplexität, einen nur noch schwer zu bewältigenden Problemüberhang, welcher den Systemzustand kritisch werden läßt: Problemeindämmung indiziert solchen Zustand, weil sie die Antwort des Systems auf ihn ist. Problemüberflutung und Problemeindämmung erscheinen im literarischen Systemzusammenhang als Dimensionen des einen Prozesses seiner Selbststeuerung und Selbstreproduktion. So wiederholt sich auf intertextueller Ebene die Struktur, die das Kapitel VI. am Rennewart auch intratextuell beobachtet hatte. Denn schon auf der Ebene dieses Textes war ja das Gegen- und Miteinander von Problemdrosselung und Neuproblematisierung die Figur jenes narrativen Prozesses gewesen, der insgesamt Tendenzen der Problemdrosselung folgt, welche dann in intertextuellen Sinnbildungszusammenhängen mit seinem problematisierenden Gegenstück wiederum als Medium von Problematisierung funktionieren. Faßt man diesen Nexus etwas weniger generalisierend, dann kann man ihn entparadoxieren. Es sind nicht Probleme überhaupt, die in ihm prozessiert werden, sondern es sind im gegebenen Fall des Willehalm und seiner Fortsetzung konkret benennbare Probleme: es ist vor allem das Problem des Problematischwerdens der Möglichkeit eines Kreuzzugsromans dadurch, daß die Selbstverständlichkeit der Legitimität des Heidenkrieges im Verlauf jenes epischen Vorgangs verloren zu gehen droht, den wir Wolframs Willehalm nennen. Systemtheoretisch wäre dieser Text zu beschreiben als eine vom literarischen System selbst (autopoietisch) hervorgetriebene Tendenz zur ethischen (Reflexion aufs Recht des Anderen) und ästhetischen (spezifische Fragmentarizität als Form der Wahrheit 314 des Textes) Überdehnung seiner Möglichkeiten, zur Transformation des Systems in ein neues. Der Rennewart hingegen wäre der Vorgang systemerhaltender Ausbalancierung dieser Tendenz. Wenn man es so konzipieren kann, dann stellt sich die Frage, warum das literarische System auf den es tendenziell transformierenden Text nicht nur mit systemrestituierender Problemdrosselung antwortet, sondern auch damit, daß es ihn sich als klassischen integriert. Anders gesagt: es scheint in dieser Perspektive zunächst verwunderlich, daß die Gattung nicht mit Zensur antwortet, sondern mit dem Instrument des Kanons. Die Konstellation ist im Fall von Gotfrits Tristan und seinen konkurrierenden Fortsetzungen, so braucht hier nach den Interpretationen des ersten Teils nicht mehr klargelegt zu werden, prinzipiell die gleiche: auch dort der normativ und narrativ tendenziell systemsprengende Text, der ein klassischer ist und zugleich doch von den Fortsetzungen zurückgenommen wird. Demgemäß ließe sich an Ulrichs und Heinrichs Tristan dasselbe beobachten wie hier am Rennewart, nämlich, um es zuzuspitzen, das Nebeneinander von Kontrafaktur und Klassikerlob im selben Text. Dieses tragen die Romane in den Prologen ostentativ vor sich her, und die Forschung hat darin ihre Epigonenkonzepte bestätigt gefunden. Den Formen der Kontrafaktur hingegen waren die vorliegenden Studien auf der Fährte. Sie konnten darum die literarische Panegyrik der untersuchten Texte bis zu dem Punkt weithin ausgeblendet lassen, da es nun um ihre Funktion im System der Literatur geht, anstatt um ihre vermeintliche Beglaubigungsleistung für eine überhistorische Gültigkeit geschichtlich kontingenter ästhetischer Wertungssysteme. Beispiele solcher Panegyrik sind nicht selten. In der Willehalm-Fortsetzung Ulrichs von Türheim, auf die ich mich zu Illustrationszwecken beschränken will, begegnet der kanonische Autor in gewissermaßen kanonisierter Form als der wise Wolfram.29 Sein getihte, so inszeniert es der Fortsetzer, waz sueze und meisterlich (159), mithin auf eine Weise maßstabsetzend, die den Nachkommen allein mit vorhten (161) an die Aufgabe herangehen läßt, bis dorthin weiterzuerzählen, dar er gestecket hat sin zil. (163) Das ist die Inszenierung einer Hierarchie auf der Basis von ästhetischer Differenz: Hey, kuenstericher Wolfram! [...] daz mir wær sin kunst gegeben, so wær ich ane angest gar. (TR 21711-21715) Doch läßt sich im Korpus kanonischer Texte zugleich auch eine Stelle finden, nach deren Vorbild solche Hierarchie zu stürzen wäre.30 Am Ende kann darum die Zu29 TR 157. Der locus classicus ist Wirnts Gwigalois (6343-6346): [...] her Wolfram ein wîse man von Eschenbach; sîn herze ist ganzes sinnes dach; leien munt nie baz gesprach. Vgl.dazu (mit weiteren Parallelen) Ragotzky (1971), S.37ff. usw. 30 Ich von Turheim Ulrich 315 sammengehörigkeit des gepriesenen und des preisenden Autors so wichtig sein, wie ihr hierarchischer Abstand: Von Eschenbach her Wolfram und ich von Turkeim Ulrich han [Willehalms] warez lop vil rich mit worten geseit so vil daz ez mizzet fuer daz zil. (TR 36478-36482) Die narrative Inszenierung solcher Enkomiastik hebt, so ist zu sehen, den berühmtesten Autor nicht nur aus dem Kreis der Dichter heraus in die Einsamkeit singulärer Vorbildlichkeit. Sie holt ihn zugleich auch zurück, in die Gemeinsamkeit des Erzählens und Weitererzählens ihn einbindend. Konstitutiv ist für diese literarische Panegyrik die Dialektik von Desintegration und Reintegration.31 Aus ihr lassen sich die Formen des Klassikerlobs auch dort nicht lösen, wo es der Wortlaut der Inszenierung oder ihr engster narrativer Kontext zu gestatten scheinen; auch dort bleibt stets präsent, daß der Ruhm des 'Klassikers' aus dem Munde des 'Epigonen' kommt: nur in solcher Dialektik kann von einen Mann die Rede sein, des lop gar ueber donte swer getihtes ie gepflac. sin lop fuer uns alle wac der dehein buoch gemachet hat. ich bin der des niht lat, ich sage wie er ist genant: sin lop vor uz an den zenkin bant der was geheizen Wolfram. swa in lobes hin gezam, hey, wie sueze er daz sprach! man nante in von Eshenbach. Der Sprecher des Enkomions aber ist es, der dieses auch wieder ins Schweigen zurücknehmen kann, so daß es beiläufig bleibt: Nu wil ich mich des bewegen, niht vil der bi rede pflegen. der rede wirt mir doch zu vil. (TR 4536-4549) Das Klassikerlob, sei es in der Form des Autoren- oder Textkatalogs, sei es , wie hier, als exkursorisches Enkomion des größten Dichters selbst, setzt in den Systemzusammenhang der Erzählliteratur Differenzen. Es trennt die Genannten von den Ungewoelte nicht er [Wolfram] sin gewesen. er ist tot und ich genesen. (TR 21720-21722) Hier ist, unverkennbar, wie mir scheint (so auch TR [Hübner], Apparat zur Stelle), Hartmanns Iwein-Prolog (53ff.) zitiert. Dort ist jene Volte vorformuliert, mit welcher die Hierarchie von Einst und Jetzt vertauscht werden kann; vgl.Haug (1985), S.124f. 31 Vgl.auch oben S.16. 316 nannten, die klangvollen Namen und glänzenden Werke von den Anonymi, es grenzt diese aus dem Körper der Literatur aus – macht sie zu 'nobodies'. Das Klassikerlob kann dieses auch noch selbst inszenieren: die Anonymität dessen, der da in Gotfrits Autorenkatalog kritisiert wird (GT 4636ff.), ist kein Zufall. Literarische Panegyrik bildet also einen Kanon, und das heißt zunächst nur, sie ordnet und hierarchisiert die Literatur.32 Das haben ihre hier bedachten Formen mit anderen anderer literarischer Systeme gemeinsam. Gleichwohl empfiehlt sich eine gewisse Vorsicht bei der Übertragung allgemeiner Konnotationen des Kanonbegriffs auf den mittelalterlich-hochhöfischen Romankanon. Zu seinen Besonderheiten gehört nicht nur, daß er sehr klein ist, und wie andere literarische Kanons "eine nicht streng kodifizierte Form der Kanonbildung" repräsentiert.33 Spezifisch kennzeichnet ihn vor allem auch, daß er – so weit man sieht – nicht systemextern kondeterminiert ist. So deutlich Literatur im Mittelalter, selbst Erzähldichtung, auch die vulgärsprachliche, Attribut von Herrschaft ist, so unverkennbar sie mitbestimmt wird von verschiedenen Formen herrschaftlicher oder genossenschaftlicher Literaturpatronage, so wenig ist doch etwa eine von dort kommende unmittelbare Beeinflussung des hier in Frage stehenden Kanons dingfest zu machen. Analoges gilt etwa für in der Neuzeit dann weitreichend wirksame Systeme der Literaturvermittlung (Drucker- und Verlagswesen, Schule, publizistische und andere Medien, obrigkeitliche Reglementierung und Zensur etc.), die sich teilweise erst rudimentär auszudifferenzieren beginnen und höfische Romanliteratur zunächst kaum integrieren.34 Und die Gegenprobe: eben dort, wo ein das literarische beeinflussendes System – es dient nur der ersten Verständigung, wenn ich es 'den Markt' nenne – von fern zu beobachten wäre, nämlich in der Geschichte der handschriftlichen Überlieferung der höfischen Romane, eben dort wird zwar die Klassizität kanonischer Texte wie des Parzival bestätigt, doch nicht der Kanon als ganzer auch in seiner ausgrenzenden Funktion: die Überlieferungsgeschichte von Gwigalois35, Willehalm von Orlens oder des Oeuvres Ulrichs von Türheim zeigt es. Im Falle des Kanons der hochhöfischen Romanklassiker liegen die Dinge also so, daß man gut tun wird, ihn als in doppeltem Sinne literarischen zu begreifen: als einen eine bestimmte Gruppe literarischer Texte umgreifenden Kanon einerseits, als allein literarisch, in und von der Literatur – sie sei selbst kanonisch (Gotfrits Tristan) oder nicht (etwa die Fortsetzungen) – erzeugten Kanon anderseits. Es handelt sich also um eine Inszenierung, und das heißt, in etwas generalisierter Form nichts weiter, als was oben für den speziellen Fall der epochalen Geltung Chrétiens schon angedeutet wur- 32 Vgl.die Beiträge in Assmann / Assmann (1987). Haug (1987), S.259. 34 Thomasins (Wälscher Gast 1026ff.) und Hugos von Trimberg (Renner 1179ff., 21637ff.) Voten, von der neueren Forschung wiederholt zur Poetologie des höfischen Romans befragt (vgl. zusammenfassend Heinzle [1990], S.75f.), sind als poetische Stellungnahmen kein direktes Zeugnis für Literaturvermittlungssysteme, etwa die Prinzenerziehung, und wenn sie es wären, markierten sie wohl eher den Ausnahme- als den Regelfall. 35 Vgl.Schiewer (1988), S.235ff. 33 317 de36: der mittelalterlich-hochhöfische Literaturkanon ist eine geschichtliche Selbstbeschreibung des literarischen Systems, also eine Gegenstandskategorie, nicht eine der historischen Rekonstruktion. Daß der Klassikerkatalog der germanistischen Mediävistik mit demjenigen des literarischen Systems partiell übereinkommt, ist eine ganz andere Sache. Führt man in einem nächsten Argumentationsschritt diese Überlegung nun mit bereitgestellten Textbeobachtungen zusammen, dann wird eine Funktionalität dieses Kanons sichtbar, die auch die Befunde an den Romanen selbst besser zu verstehen hilft. Zu den gemeinten Beobachtungen, die sich bei allen untersuchten Texten, mit Ausnahme von Tristan als Mönch, so gut wie von selbst verstehen, gehört jenes intratextuelle Ineinander von kanonisierendem Klassikerlob und kritischkontrafaktischer Klassikerproblematisierung. Sein überlieferungsgeschichtliches Abbild hat es in den Handschriftengemeinschaften der kanonischen und nichtkanonischen Texte; in diesem Abschnitt wird dieses Ineinander durch seinen nur scheinbar paradoxalen Sonderfall, die Symbiose von Klassikerlob und – entproblematisierung im Rennewart repräsentiert. Gerade an diesem Sonderfall kann nun aber besonders deutlich werden, was hier generell gilt: daß nämlich die von den Texten als Selbstbeschreibung des literarischen Systems allererst konstituierte Form der Klassizität ein Modus der Problemdrosselung selbst ist. Die Gestalt des Klassikers ist die museale, das Denkmal: dem Diskurs, dem Infragestellen enthoben in den auratischen Bereich dessen, was mit offenem Munde anzustaunen ist, damit es nicht in die Problematisierungsspirale des Gesprächs eingefangen werde. Die Aura des Klassischen, die den fortgesetzten Texten durch die Existenz der Fortsetzungen als solcher wie durch die in diesen vollzogenen Kanonbildungsakte angemutet wird, versteht sich gewissermaßen als Ummantelung, die das systemsprengende Aufbersten der Problempotentiale in Tristan und Willehalm verhindern soll. Versucht man den Zusammenhang noch einmal auf einer anderen Ebene zu fassen, so könnte man sagen: Indem die Fortsetzungen für die in den fortgesetzten Werken gewagten Formen des hochreflexiven, problemoffenen Erzählens durch je distinkte Formen des Weitererzählens ganz spezifische Lektüren (nicht rezeptionsgeschichtlich dokumentieren, sondern) rezeptionssteuernd festlegen, und indem sie zugleich durch den Akt der Kanonisierung, der sie selbst sind und den sie vollziehen, spezifische andere Lektüren, alle 'nicht-klassischen', unterdrücken, beschneiden sie massiv die Sinnpotentiale dieser Werke. Sie schwärzen sie so ein, daß sie ethisch – im Hinblick auf das Verhältnis von ekstatischer Liebe und gesellschaftlichen Zwängen im Tristan, von milites christiani und Heiden im Willehalm – und ebenso ästhetisch – als jedenfalls handlungslogisch nicht mehr offensichtlich unvollständig – in die Raster dessen passen, was im literarischen System der Zeit orthodoxer- und konventionellerweise möglich ist. Man kann das Gemeinte auch auf eine Formel bringen, und sie besagte, daß sich Kanon und Zensur nicht korrelativ gegen-überstünden als Instrumente der Eingrenzung des Erinnerungswürdigen hier und der Ausgrenzung des zu Vergessenden 36 Vgl.oben S.306. 318 dort37, daß vielmehr im Falle des hochhöfischen Romans und seiner Dignisierung durch die Texte des fortgeschrittenen 13.Jahrhunderts Kanon eine Inszenierungsform von Zensur und das heißt zumindest im Sinne funktionaler Ununterscheidbarkeit: Zensur selbst sei. Diese Konzeption kehrt bisherige Deutungen um, sie versteht die einschlägigen Belegstellen in den Prologen und Erzählerkommentaren der hier untersuchten wie anderer 'nachklassischer' Texte nicht als Zeugnisse epigonaler Klassikerdevotion, sondern als Ausdruck sublimer und systemnotwendiger Klassikerkritik. Damit ist auch eine Revision des kanonischen Wissens über den Begriff des Kanons selbst impliziert. Als eine gegebene Reihe von "Musterwerke[n]", deren "Kanonisierung" auf die "sich anschließende Produktion [...] normativ" wirke38, kann die Gruppe der klassischen mittelhochdeutschen Romane nach meinem Verständnis nicht gefaßt werden. Wohl ist es so, daß die nachfolgende literarische Produktion hier anschließt, und zwar in der Regel durch Formen von auch auf der Textoberfläche 'markierter' Intertextualität. Doch wird die Reihe der Bezugstexte dadurch allererst konstituiert; jene Selbstbeschreibungen klassischer Texte als epochaler Neuansatz, die Walter Haug an Chrétiens Erec- sowie Gotfrits Tristan-Prolog und an Wolframs Kyot-Berufung als "Innovationsakt", als "erste Phase" der Kanonisierung beschrieb39, begründet diese nicht selbst, sondern schafft nur für sie eine Anschlußmöglichkeit. Denn es wäre zum Beispiel denkbar, daß spätere Texte diese Selbstbeschreibung un-terlaufen, indem sie sich selbst als kanoninaugurierende Neuerungen inszenieren. Die Nachfolgenden müssen also den Innovationsakt nicht sanktionieren – und sie tun es teilweise auch nur scheinbar: der stoffgeschichtliche Rückgriff der Gotfrit-Fortsetzer auf die EilhartTradition, das Rückgängigmachen jener Lösung aus dem Zy-klus, die das poetologische Konzept des Willehalm fundiert, in Arabel und Rennewart verstehen sich in diesem Sinne. Selbstbeschreibung des literarischen Systems ist der Kanon, bezogen auf seine einzelnen Glieder, kein Produktions-, sondern ein Rezep-tionsphänomen; anders könnte er auch nicht als Zensur funktionieren. Klassiker, mit einem terminologisch obsoleten Wort, werden von Epigonen gemacht. Weil dem so ist, kann vom Akt der Kanonisierung nicht in jedem Fall und unmittelbar auf normative Wirkung des Kanons geschlossen werden. Seine Bildung zwar ist immer normgesteuert, doch muß es nicht der Fall sein, daß solche normative Verbindlichkeit von den kanonischen Werken in extenso repräsentiert werde. Diese können vielmehr, so wollte ich hier argumentieren, eben durch den Kanonisationsakt auch einem Normzusammenhang wieder inkorporiert werden, den zu sprengen sie im Begriff waren. Die Konsequenzen dieser von den historischen Einzelfällen her vorgetragenen Überlegungen für eine allgemeine Fassung des Kanonbegriffs sind hier nicht zu erörtern; es geht mir in diesen Kapiteln allein um Konzeptionsmöglichkeiten einer Geschichte und Theorie höfischer Romane. In dieser Hinsicht aber wird man sagen dür37 Vgl.Assmann / Assmann (1987), S.7ff. Haug (1987), S.259. 39 Ebd., S.259f.; vgl.auch oben S.286 Anm.31. 38 319 fen, daß dieser Deutungsvorschlag bei der Fassung zweier nicht ganz nebensächlicher Probleme weiterhilft. Zum einen ermöglicht er es, die an nachklassischen Texten schon immer beobachtete Spannung von exordialem Lob der Klassiker und unverkennbarer narrativer Distanz zu ihnen (die üblicherweise in der Form einer ästhetischen Werthierarchie erscheint), am Ende dieser Studien als funktionales Ineinander von Kanonisierung und Kontrafaktur zu verstehen. Die Texte sind insofern kohärenter, als sie schienen. Anderseits wird im Moment der – bezogen auf den Einzeltext – Zensur und seiner – bezogen auf das literarische System – Reintegration in dieses eine zentrale Funktion erfaßt sein, die in differenzierten Aspekten die stabilisierende und integrative Bedeutung von Kanonbildungsprozessen im literarischen System des 13.Jahrhunderts und speziell demjenigen des höfischen Romans zu erklären gestattet. 320 IX. DRITTE ANSICHT: VOM SYSTEM DES TEXTES UND DER GESCHICHTLICHKEIT NARRATIVER KOHÄRENZ 1. Erzählebenen: Es ist nicht aus der Lust am Widerspruch geboren, wenn ich den Überlegungen zur Systematisierung einiger Aspekte der Gattungsgeschichte des höfischen Romans nun, gleichsam als Coda dieser Arbeit, ein Plädoyer für die Historisierung unserer Begriffe von höfischem Erzählen anschließe. Beides scheint mir die Situation der Forschung zu provozieren. Jene Überlegungen so sehr wie dieses Plädoyer ergeben sich aber auch aus den hier vorgelegten textanalytischen Studien – wobei deren Priorität gegenüber den Skizzen dieses dritten Teils die tatsächlich induktive Vorgehensweise repräsentiert, welche meine Arbeit bestimmte. Es kommt hinzu, daß sich das Widersprüchliche der Konstellation auflöst, wenn bedacht wird, daß der Systematisierungsvorschlag des vorangegangenen Kapitels das Spielen der Intertextualitäten im System der Texte anvisiert hatte, hingegen das folgende Historisierungsplädoyer nun gewissermaßen 'tiefer' ansetzt. Es gilt den Formen der Konstitution des Erzählten und seiner Sinndimensionen im Erzähltext, also gewissermaßen denjenigen Ebenen eines Textes, an welche intertextuelle Relationen (im Falle markierter Intertextualität) anschließen, oder von denen sie sich (im Falle ihrer Konstitution erst im Prozeß kommunikativer Textaneignung) auch abstoßen können. Indem ich dieserart 'tiefer' ansetze als gattungsgeschichtliche Diskussionen, nehme ich doch zugleich eine 'mittlere', schwer nur und unter den Ansprüchen linguistischer Exaktheit vielleicht überhaupt nicht hinlänglich abzugrenzende Ebene in den Blick. Wie zuvor schon zielt meine Strategie auch hier erneut darauf ab, Theoriebildungsprobleme vorerst (also: hinter diese Studien) zurückzustellen, und zu erproben, wie der historische Gegenstand besser als bisher in den Blick und an manchen Stellen vielleicht sogar verständlich zu bekommen wäre. Ich bin also weit entfernt vom Anspruch etwa auf eine universale, gar formalisierte Theorie narrativer Kohärenz; möglicherweise unterliefe sie tendenziell schon wieder das Vorhaben, Aspekte der Geschichtlichkeit ihres Gegenstandes hervortreten zu lassen.1 Es wird lediglich versucht, oberhalb der Ebenen textlinguistischer Modellbildung – auch der Bildung spezieller von strukturalen Erzähltextmodellen2 – und historisch konkreter, als es auf diesen Ebenen wohl möglich wäre, Folgerungen und Beobachtungen für das Erzählen im höfischen Roman zu verallgemeinern, die sich aus der Praxis der In1 2 Zur Kritik universaler Erzählgrammatiken in der Forschung zum höfischen Roman vgl.Warning (1979), S.554f., 576, 586; Haug (1989a), S.40ff. Vgl.etwa Gülich / Raible (1977), S.192-314 (zu V.Propp, C.Bremond, T.Todorov, T.A.van Dijk und G.Wienold); Haug (1979), S.12 ff.; Warning (1979); Simon (1990). 321 terpretation ergeben. Insofern handelt es sich um eine Art Zusammenfassung des ersten und zweiten Teils dieser Studien unter der leitenden Fragestellung nach den Möglichkeiten nachklassischer (und also auch klassischer) Narration im deutschen Mittelalter. Der einzelne Text oder die Gruppe einzelner Texte sind die Projektionsfläche, auf der sich Intertextualitäten abbilden, nur von dort her lassen sich ihre historischen Formen interpretatorisch entfalten. Doch hat es mit der Metaphorik der Fläche seine Schwierigkeiten, denn plan, so war am Rennewart zu sehen, sind die Texte nur in Ausnahmefällen und auf eine theoretisch durchaus komplex sich darstellende Weise. Selbst wenn man nur einige Beispiele für den Kontakt von Texten mit anderen Texten aus den vorangegangenen analytischen Studien zusammenträgt, ergibt sich schnell eine Bündelung von Beobachtungen, welche es sinnvoll erscheinen lassen, mindestens eine Überschichtung solcher Flächen als modellbildende Grundfigur anzusetzen. Intertextualitätsphänomene sind auf verschiedenen Ebenen der Texte und der von ihnen vermittelten narrativen Prozesse festzumachen. Man könnte damit auf einer im Sinne der strukturalen Erzähltextanalyse 'tiefen' Ebene bei den strukturbildenden Schemabausteinen des Handlungssubstrats der Erzählung beginnen, und rückte also etwa das Zitat der 'Krise' des klassischen Artusromanmodells in Tristan als Mönch, aber auch die Adoption narrativer Schemata wie desjenigen der gefährlichen Brautwerbung in Arabel und Rennewart, wie des Moniage in Türheims Willehalm-Fortsetzung oder schwankhafter Übertölpelungsund Übertrumpfungsmuster in den Wiederbegegnungsabenteuern der GotfritFortsetzungen in den Blick. In solchen Fällen sind Texte über das Tertium einer basalen Option, epische Aktion überhaupt zu generieren und zu organisieren, auf andere Texte, nämlich auf alternative Aktualisierungen einer solchen Option, bezogen. Insofern könnte man davon eine zweite Ebene der Handlungsstruktur abheben, auf der ein Text über eine sozusagen 'direkte' Strukturanalogie mit einem andern in Kontakt tritt; die Gegenentwürfe zu Gotfrits Tristan-Schluß bei Heinrich von Freiberg, zum Willehalm-Schluß bei Ulrich von Türheim, aber auch etwa die Umkehrung der Jugendgeschichte Rennewarts in derjenigen seines Sohnes Malefer wären dafür Beispiele. Auf einer dritten Ebene liegt es, wenn sich nicht dessen Organisationsgerüst, sondern ein episches Geschehen selbst zum Beispiel als handlungsmäßige Umsetzung und konkrete Probe auf etwas verstehen läßt, was ein anderer Text nur allusorisch oder im Medium des Kommentars präsent gemacht hatte. In diesem Sinne verstünde ich die epische Aktualisierung von Gotfrits rezeptionstheoretischem Axiom in Heinrichs Tristan oder auch das bei Wolfram unterschlagene Probleme manifestierende Auserzählen dessen in der Arabel, was im Willehalm lediglich im Modus der Retrospektive auf eine nicht erzählte Vorgeschichte seinen Platz hat. Eine Form markierter Intertextualität ist aber freilich auch die Konzeption eines Handlungsaufrisses, der wie in drei der fünf hier untersuchten Texte insofern ohne eine Initialphase auskommt, als er diese an den üblicherweise fragmentarisch genannten anderen Text gewissermaßen delegiert, diesen also voraussetzend. Auf der Ebene der narrativen Handlungsrollen sind die intertextuellen Bezüge zwischen den kontinuierenden und den fortgesetzten Texten am offensichtlichsten, weil 322 jene ihr episches Personal und dessen Konfigurationen ganz oder doch zu wichtigen Teilen von diesen borgen. Es ist, als ob sich dies völlig von selbst verstünde, und doch handelt es sich, wenn aus Gotfrits Roman Tristan, die beiden Isolten und Marke etwa in Heinrichs von Freiberg Tristan auftreten, theoretisch um die gleiche intertextuelle Form von Figurenzitat, die dort oder in Tristan als Mönch auch den Auftritt von Artus samt seinem Hof regiert und Penteselie in die Heidenkriegswelt des Rennewart integriert. Nicht anders funktionieren intratextuelle Verknüpfungsformen zwischen abgrenzbaren Teilen eines Erzählzusammenhangs, wenn Handlungsrollenkonstellationen, beispielsweise die von Kaedin, Kassie und Nampotanis, durch Strukturanalogie auf andere hin, hier also das Dreieck Tristan Isolt, Marke, transparent gemacht oder wie im Malefer-Teil des Rennewart genealogisch an sie angeschlossen sind.3 Hinsichtlich der Ausstattung der epischen Welt hatten die vorliegenden Studien Momente intertextueller Kohäsion einerseits auf der Ebene von Requisiten zu beobachten, die, wie etwa Synaguns Schwert oder das Pferd des Protagonisten in den Willehalm-Erzählungen, den Horizont einer Geschichte bewußt halten, welcher der epischen Welt selbst entstammt. Neben solchen Mitteln syntagmatischen Anschlusses stehen anderseits diejenigen allegorisch aufgeladenen Elemente, die den neuen Text mit paradigmatisch auf übertragenen Sinn hin geöffneten Attributen des Prätextes verklammern; Beispiele waren das Pferd in Tristan als Mönch, das auf Petitcreiu verweisende gefleckte Reh in Türheims Gotfrit-Fortsetzung oder die Waldhütte beim Freiberger, welche Gotfrits Grottenbeschreibung zitiert. Auf einer Ebene 'oberhalb' derjenigen der Handlungsstruktur und der Räson der Handlungsrollenkonstellationen liegen auch jene gewissermaßen sekundären Sinnzuweisungen etwa durch Normendiskussion im Medium von Figurenreden, die wie das liep [...] gar on leit-Konzept in Tristan als Mönch oder der pointierte Gebrauch der in der pecus bestiale-Metapher geronnenen Heidenkriegsmaxime im Rennewart Positionen des Bezugstextes programmatisch widerrufen. Solche Vernetzung zweier Texte nach der Logik von Spruch und Widerspruch muß nicht weniger haltbar sein als schließlich jene auf der Ebene des erzählerischen Kommentierens, die in den hier analysierten Texten meist der im vorangegangenen Kapitel freigelegten Dialektik von Kanon und Zensur folgte. Dieser Erinnerung an einige Formen intertextueller Kohäsionsstiftung und – sicherung, welche in den fünf Studien dieser Arbeit anzutreffen waren, kommt es selbstverständlich nicht auf erzähltheoretische Systematisierbarkeit an, sondern auf die knappe Demonstration einer Vielfalt von Möglichkeiten. Ebenso wird sich hier verstehen, daß darin die Gotfrit- und Wolfram-Fortsetzungen höfisches Erzählen paradigmatisch repräsentieren können. Die Unterscheidung von Ebenen des Erzählens, die ich vornahm – dies ist die dritte Selbstverständlichkeit – ist ganz heuristisch so, 3 Am einprägsamsten funktioniert Genealogie als Instrument intertextueller Kohäsionssicherung freilich bei den Artusromanen, besonders beim Pleier, dazu Kern (1981), S.117ff. Einschlägige Beispiele aus Fuetrers Buch der Abenteuer sind diskutiert in Strohschneider (1986), S.319f. Anm.6. 323 wie es sich vom Material der Untersuchungen her anbietet.4 Zu Analysezwecken ist damit in Kauf genommen, daß auseinandergelegt wird, was im epischen Prozeß unauflöslich und mannigfach zusammengehört, weil in der Poetik dieses Erzählens eben zum Beispiel Requisiten als Attribute von Handlungsrollen – das heißt: als Elemente ihrer narrativen Konstitution – und diese als Funktionen von Handlungsstrukturen dienen. Nun könnte man versuchen, von einer solchen Heuristik aus zu abstrahierenden Beschreibungen von Textebenen voranzukommen, die etwa binarisierend auktoriale Erzählung und Erzählerkommentar, bei jener dann Narrationen (von epischem Geschehen) und Deskriptionen, bei diesem direkte Hörerapostrophe und Inszenierungsformen des Kommentars (wie die sogenannten Aventiure- oder Minne-Dialoge) unterscheidet; weiterhin ließe sich die Narrationsebene ausdifferenzieren etwa in die Struktur ihres Handlungssubstrates und die erzählerisch aufgebauten Figurenkonstellationen, die Deskriptionsebene in die Beschreibung solcher Attribute, Requisiten, Raum- und Zeitkonstellationen, deren Bezeichnungsfunktion im Horizont der erzählten Welt bleibt, und anderer, die diesen Horizont beispielsweise allegorisch transzendieren. Eine derartige, noch recht simple Modellbildung legt zweierlei Perspektiven nahe, eine vertikal paradigmatische, die die in einem Textabschnitt aktualisierte Hierarchie der Erzählebenen in den Blick nimmt, und eine horizontal syntagmatische, welche auf die Vermessung der je einzelnen Erzählebene durch den ganzen Text hindurch und vielleicht in ihren intertextuellen Weiterungen zielt. Im Hinblick auf solche horizontalen Weiterungen könnten die vorgelegten Interpretationen zu dem Ergebnis geführt haben, daß von Text zu Text und beinahe von Erzählebene zu Erzählebene solche Intertextualitätsverhältnisse die narrativen Prozesse in je spezifischer und durchaus nicht einfach zu harmonisierender, also diskursgenerierender Weise verklammern. Dies läßt sich etwa an jenem trivialen Fortsetzungsbegriff noch einmal rekapitulieren, von dem die Textanalysen dieser Arbeit ja ausgegangen waren und der sich dort gleichwohl unter der Hand so auflöste, daß das Kapitel über "Fragmente und Fortsetzungen" im Grunde nur eine Explikation nachzutragen hatte. Dieser triviale Begriff von Fortsetzung (dem ich nur sein Lexem zur unspezifischen Kennzeichnung einer allein forschungspraktisch noch begründbaren Textgruppe entlehne) schlägt einen ausdifferenzierten Kanon narrativer Möglichkeiten auf nicht eben erkenntnisfördernde Weise über seinen Leisten handlungstechnischer Zusammengehörigkeit. Dies war an der hier insgesamt noch schmalen Textbasis und vor jeder Einbeziehung dessen schon deutlich zu sehen, was in einer Typologie höfischer Romanfortsetzungen seinen Platz hätte; also vor jeder Rücksicht etwa auf die Fortsetzung von Konrads Trojanerkrieg, den Anhang zu Etzenbachs Alexander oder die Straßburger Lamprecht-Bearbeitung, auf die Überlieferungsgemeinschaft von Herborts Trojalied mit Veldekes Eneasroman, auf Lohengrin, Rappoltsteiner Parzival 4 Insofern gibt sich mein Gebrauch eines Begriffs der Text- und Erzählebene gegenüber formalisierten strukturalistischen oder systemtheoretischen Konzepten die Blöße, zuweilen ein sozusagen bloß metaphorischer zu sein; zur Rechtfertigung vgl.Simon (1990), S.222ff. 324 oder die Iwein-Fortsetzungen, auch etwa auf Pleiers Garel und Tandareis - von den Fortsetzungskonstellationen der heroischen Epik für jetzt ganz zu schweigen. Bereits der allgemeinste und, wie es scheint, in seiner Banalität gar nicht diskussionswürdige Begriffsinhalt von 'Fortsetzung' als kontinuierliches Weiterführen eines erzählten Handlungszusammenhangs bereitet Schwierigkeiten. Tristan als Mönch setzt in diesem Sinne Gotfrits Torso nicht fort und wird seinerseits nicht vom Schluß des Türheimschen Tristan weitergeführt. Und doch sind die drei Texte als Kom-Ponenten eines einzigen, freilich diskontinuierlichen Erzählzusammenhangs überliefert, dessen konzeptioneller Fluchtpunkt zudem noch heute angepeilt werden kann. In analoger Weise wäre auch in den Handschriften mit der Arabel-Fassung *R und dem Willehalm der Handlungsnexus selbst nicht geschlossen, das leistet erst die (anonyme?) Arabel-Fortsetzung, und doch ist unverkennbar, wie die Vorgeschichte Geschehniskonstellationen ihrer 'Fortsetzung' begründet (Heidenangriff als Rache für den Brautraub) und Figurenkonzepte im Sinne normativer Orthodoxie korrigiert (Stichworte: Willehalms Heroenstatus, Kyburgs Virginität). Und umgekehrt: Wohl schließen Ulrichs und Heinrichs Tristanromane mit der Entscheidung des Protagonisten für die zweite Isolt und mit der Hochzeit in Karke handlungslogisch an Gotfrits Fragmentschluß an. Aber was ist damit über die intertextuellen Relationen schon ausgesagt, wenn sie beide auf die von Gotfrit ausdrücklich verworfene alternative Tradition der Stoffgeschichte zurückgehen, welche in Eilharts Tristrant zu fassen ist – und dies selbst dann, wenn sie wissen, wie in der von Gotfrit fortgeschriebenen Tradition der version courtoise die Tristangeschichte zu enden hätte. Der Handlungsnexus von fortgesetztem und fortsetzendem Werk ist vielleicht auch nicht das Wesentlichste, wenn er konterkariert wird von grundsätzlicher Andersheit der Erzählordnung der Fortsetzung, welche, wie beim Türheimer mittels Sinnkonstitution über die Struktur des Handlungssubstrats, als Einspruch gegen Gotfrits Entwurf einer bedingungslosen Liebe semantisiert oder mittels Kontrafaktur des Geschehnisschemas als Umverteilung der im Willehalm dem christlichen Heidenkrieg zugewachsenen Problemlasten konzipiert sein kann. Handlungszusammenhänge könnten weiterhin gewissermaßen lediglich als Oberflächenphänomene im Verhältnis von Prätext und Text sich darstellen, wenn, was die Logik der erzählten Geschehnisse fortzusetzen scheint, näherhin als korrigierendes Neuerzählen längst durchschrittener Phasen der Geschichte sich entpuppt, wenn Fortsetzung also substituierende Wiederholung ist: dies war am Eingang des Rennewart zuletzt zu verfolgen und eben dies blieb der Forschung am Artusteil des Freibergschen Tristan verborgen, weil sie vom epigonalen Text nichts erwartete als die triviale Identität seiner Handlungs-, seiner Erzähl- und seiner Sinnstruktur. Die Erzählwerke blieben also unterbelichtet, rückten ihre intertextuellen Relationen, die ihre Identität ausmachen und auf die der Fortsetzungsbegriff schließlich so oder so zielt, stets nur in eine Perspektive, welche von der Erwartung syntagmatischer Kontinuität der Handlungsführung bestimmt wird. Von einem in aller Selbstverständlichkeit gebrauchten Terminus continuatio her ist wenig für die historische Erkenntnis der 'Fortsetzungen' zu gewinnen. Er erreicht die tatsächliche Komplexität der Erzählprozesse nicht, die sich in der Komplexion unterscheidbarer narrativer Ebe- 325 nen mit je spezifischen Konstellationen von Intertextualität aufbaut. Zuweilen fügen sich die Romane eben nicht oder aber auf eine von ihren dominanten Elementen der Sinnkonstitution ablenkende Weise dieser Erwartung auf syntagmatische Handlungskontinuität und spotten ihrer in beiden Fällen. Denn es gehört zu den Möglichkeiten des höfischen Epischen im 13.Jahrhundert, über handlungslogische Leerstellen, Inkohärenzen und auch Widersprüche hinweg epische Integration im Modus des Durchspielens paradigmatischer Problemkonstellationen zu konstituieren.5 Umgekehrt kann das Erzählen die Einheit von Fortzusetzendem und Fortsetzung an einem bestehenden Handlungsnexus vorbei, sozusagen ihm zum Trotz, als Einheit von Faktur und Kontrafaktur, als Zusammenhang von Spruch und Widerspruch entwerfen. Zu den Erzählmöglichkeiten gehört es, mit den narrativen Ebenen kombinatorisch umzugehen, ihre Hierarchie immer wieder neu zu disponieren. So können die dominanten Sinnkonstitutionsleistungen eben von der Handlung oder dem Erzählerkommentar, von narrativer Struktur oder semantisierten Requisiten, vom szenischen oder motivischen Inventar oder den Raum-, Zeit- und Figurenkonstellationen der epischen Welt und von der Verschränkung und Reibung solcher Ebenen her erbracht werden. Und demgemäß wäre dann das Verhältnis von fortgesetztem und fortsetzendem Roman für die verschiedenen Narrationsebenen differenziert, möglicherweise als Kontinuation und Alternative, Neukonzeption und Gegenentwurf in einem zu beschreiben. Die Modellierung von Texten oder den in ihnen vermittelten Erzählprozessen als komplexe Hierarchien von Ebenen ist der allgemeinen Texttheorie nicht fremd, ebensowenig der Theorie der Erzähltexte. Es scheint auch der heuristische Gewinn solcher analytischen Auffächerungen schnell einsichtig – wie immer man im Einzelnen Entscheidungen der Segmentierung und Hierarchisierung diskutieren wird: es sind basale Operationen der Konzeptionalisierung literarischer Gegenstände als Voraussetzung wissenschaftlicher Diskurse über sie. Im Falle des in diesen Studien untersuchten Textcorpus führt solche Auffächerung narrativer Ebenen und der auf ihnen je konstituierten intertextuellen Referenzen zur Einsicht in die fundamentale Geschichtlichkeit und nicht hintergehbare historische Fremdheit dessen, was als Identität, als Kohärenz einer Narration und als Stimmigkeit ihrer intertextuellen Kohäsionen begreifbar wäre. Vom Textmaterial her ergab sich die Einsicht, daß eine 'Fortsetzung' auf verschiedenen Ebenen ganz widersprüchliche Beziehungen zu einem fortgesetzten Text aufbauen kann, und auch, daß dabei keineswegs diejenige der Fortführung des plot jenes Fundament ihrer Sinnkonstitution sein muß, von dem her sich die Hierarchie der Erzählebenen reguliert. So aber steht mit der Auffächerung der intertextuellen Kohäsion von Prätext und Text auch deren intratextuelle Kohärenz auf dem Spiel – von derjenigen der diptychischen oder trilogischen Erzählzusammenhänge in den Handschriften zu schweigen. Wenn ein Text Kontinuation und Alternative, Neukonzeption und Gegenentwurf eines andern zugleich sein kann, dann benötigt man einen Begriff von Erzählen, der dieses nicht von vorneherein den schlichten Regeln von Widerspruchsfreiheit und motivationaler oder kausaler Stimmigkeit unterwirft. Einen Begriff also, der historisch andere Regeln narrativer Kohärenz zuläßt als diejenigen, welche in den 5 Vgl.Müller (1987), S.254f. 326 in der Altgermanistik nicht selten noch immer herrschenden klassizistischen Werkbegriff eingegangen sind. 2. Widersprüche: Die Formen dessen, was von einem solchen Werkbegriff aus als narrativ inkohärent sich darstellt, sind vielfältig. Sie umfassen Auflösungen erzählerischer Kontinua ebenso wie synkretistische Zusammenballungen von disparaten Erzählelementen, Strategien textueller Offenheit und Motivationsmangel, Motivationsüberschüsse nicht anders als Entwürfe epischer Figuren, welche sich bürgerlichen Konzepten personaler Identität kaum fügen wollen.6 Der ausgeprägteste Fall narrativer Inkohärenz ist indessen der offene Widerspruch zwischen zwei Präpositionen eines erzählerischen Textes. An ihm können zunächst modellartig zwei Strategien wissenschaftlicher Bewältigung von erzählerischer Inkohärenz diskutiert werden. Die mediävistische Germanistik, ihrer narratologischen, historischen und ästhetischen Kategorien lange Zeit insgesamt sicher, hatte traditionellerweise mit Widersprüchen in der volkssprachigen mittelalterlichen Erzähldichtung wenig Schwierigkeiten. Vor einem Saeculum stellten Max H.Jellinek und Carl Kraus einen umfänglichen, wiewohl an keiner Stelle Vollständigkeit erstrebenden oder erreichenden Katalog solcher Widersprüche zusammen7, und sie bilanzierten ihre Sammeltätigkeit mit der These, "dass es unberechtigt sei, bei gewissen Werken die ursprüngliche Widerspruchslosigkeit zu einer aprioristischen Forderung zu erheben [...]." 8 Daß schon dieser Katalog als ein frühes Dokument tentativer Annäherung an die Alterität mittelalterlichen Erzählens Anstoß sein könnte, mit einer besonderen ('Fiktions'-)Logik episch aufgebauter Welten, mit einer spezifischen Logik ihrer narrativen Vermittlung sowie schließlich auch mit der Historizität, der geschichtlichen Veränderbarkeit dieser Logiken zu rechnen, wurde allerdings in der Fachgeschichte nur ganz selten nicht ausgeblendet. Sehr zugeschliffen könnte man sagen, die Verfahren der klassischen Textkritik einerseits, das klassizistische System normativer ästhetischer Wertungen anderseits wären die Filterlinsen der optischen Apparatur, welche diese Ausblendung ermöglicht. Sie stellen nämlich auf der gewissermaßen untersten und der obersten Ebene literarischer Kritik Instrumente bereit, mit erzählerischen Inkohärenzen der einen oder andern Art umzugehen, ohne daß dies dazu zwänge, den angedeuteten Anstoß zur Historisierung aller Erwartungen an die Logiken des Erzählten wie des Erzählens aufzunehmen. Zunächst war Inkohärenz so als Überlieferungssymptomatik zu verstehen, als Resultat von Zufällen der Texttradierung, von Schreiberversehen und Kopistenwillkür. Unstimmigkeiten und Widersprüche können dieserart kaum je zum 6 7 8 Vgl.etwa Jellinek / Kraus (1893); Heinzle (1978), bes.S.167ff.; Kudrun (Stackmann), S.XVff.; Campbell (1987). Vgl.Jellinek / Kraus (1893), S.684ff. Ebd., S.716. 327 Gegenstand historischer Erkenntnis werden, sondern erscheinen als Schlacken, die der Überlieferungsprozeß am Körper des Textes hinterließ. Recensio, Emendatio und Konjektur sind die Mittel, ihn davon zu reinigen. Es sind die Verfahren jener Denkmalpfleger, die wie etwa in der Architektur9, so auch in der Literatur die nach fremden Regeln geordneten Ensembles des Überlieferten auseinanderlegen, die den Raum und den Stil der Kathedrale gegenüber den aggregativ und sukzessive angelagerten Schichten der Anbauten und Ausstattungen verabsolutieren, die den 'originalen' Text aus den Depravationen einer defizienten Manuskriptkultur herausschälen wollen. Denkmäler solcher Denkmalspflege sind etwa jene monumentalen Textsammlungen, in denen, wie in der "Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart", aller Wildwuchs handschriftlicher Texttradition soweit beschnitten ist, daß jedenfalls äußerlich ein Text dem andern zum Verwechseln ähnelt. Das was sie dem Chaos der geschichtlichen Überlieferung entgegensetzen, ihr Ordnungsprinzip, ist die Uniformität – vom Einband der Edition bis zur grammatischen 'Normalisierung', also Normierung ihres Wortlauts. Die epistemologische Selbstverständlichkeit, die das historistische Paradigma des 19.Jahrhunderts solcher Textkritik als sein Erbe dreingab, erhellt schlaglichtartig aus den Anstrengungen, welche auch die nur vorläufige Suspendierung der Orientierung am auktorial autorisierten 'Original' dem Editor aufbürdete. In seiner Einleitung zum Friedrich von Schwaben, mit dem die "Deutschen Texte des Mittelalters" als Reihe 'bereinigter' Handschriftenabdrucke eröffneten, schrieb kein anderer als Max Hermann Jellinek, elf Jahre nach dem Aufsatz über erzählerische Widersprüche, er folge der Stuttgarter Handschrift überall dort, "wo die Möglichkeit vorhanden war, daß der Schreiber sich bei seiner Fassung irgend etwas gedacht hat. Die Entscheidung war durchaus nicht immer leicht, und gar oft hätte die kritische Herstellung weniger Mühe gemacht."10 Ein sehr viel jüngeres, nicht weniger einprägsames Beispiel für die Selbstverständlichkeit textkritischer Eskamotierung dessen, was als Widerspruch eines Textes angesehen wird, begegnete im Arabel-Kapitel dieser Untersuchung.11 Indem ich daran erinnere, bestreite ich nicht, daß es Zufälle der Überlieferung, Schreiberversehen und Kopistenwillkür gibt. Sie lassen sich in Einzelfällen auch historisch demonstrieren12 – doch eben dabei transformiert sich das scheinbar Arbiträre, kritisch zu Überwindende, in einen Gegenstand geschichtlicher Erkenntnis und geht seiner Kontingenz ver9 Vgl.Kemp (1987), S.218. Friedrich von Schwaben (Jellinek), S.XVIII. Die Traditionskonstanz des hier exemplifizierten literarhistorischen Paradigmas ist möglicherweise sehr viel ausgeprägter als die der mittelalterlichen Literatur; vgl.auch S.206 Anm.22. 11 Vgl.S.168 und Anm.133. Zur Methodologie altgermanistischer Editorik vgl.Stackmann (1965), Kühnel (1972 / 1976), sowie die sehr umsichtigen Erörterungen Heinzles (1978), bes.S.56ff., 99 ff., die sich nur hinter der Genregrenze heroischer Epik etwas zu bedeckt halten. Eine Methodendiskussion, wie sie in der Romanistik etwa im jüngsten Themenheft der Zeitschrift Speculum (65 [1990], H.1, hrsg.von Stephen G. Nichols) Profil gewann, ist in der altgermanistischen Editorik gegenwärtig nicht zu erkennen. 12 Vgl.etwa Asher (1972), auch zum Beispiel Stackmann (1964), S. 251f.; Kennedy 1970). 10 328 lustig. Wenn man die Termini also, wie es nötig ist, hermeneutisch konzipiert, dann sind Zufall, Versehen und Willkürakte nichts anderes als Kennworte für jene Typen von Textveränderung, die historischer Erklärung vorerst unzugänglich bleiben.13 Freilich können die textkritischen Instrumente zur Behandlung so oder anders begründeter textlicher Inkohärenz auch versagen, etwa weil diese nicht nur punktuell auftritt, weil sie auf der Ebene des Einzelwortes, des Verses, der Versgruppe nicht zu 'heilen' wäre. Subsidiär oder substitutiv mögen an dieser Stelle wie andernorts im Rahmen epochaler Deutungssysteme die Probleme von produktionsästhetischer Seite aus aufgefangen werden. Solche Rahmen stellen einerseits Konzepte archaischer Primitivität des Erzählens, wie sie etwa von der Stoffkritik der Spielmanns- oder Heldenepikforschung impliziert werden14, anderseits jene Implemente von sei es moralischen, ästhetischen oder intellektuellen Wertungsgefügen, deren prägnanteste Gestalt die Konzepte des Epigonischen ausprägen. Sie lassen den Autor oder die Umstände, den Geist seiner Zeit (Mündlichkeit des Produktionsprozesses, Verbürgerlichung der höfischen Kultur usw.) als Letztbegründungsinstanz dessen erscheinen, was sich als Unzulänglichkeit des Werkes zu verstehen anbietet. Mit von solchen Erklärungsmustern her konzipierten Interpretationen hatten sich die Studien dieser Arbeit immer wieder auseinanderzusetzen, daher sich Beispiele hier erübrigen. Wiederum lohnt es sich aber vielleicht hinzuzufügen: daß es miserable Texte, primitive Formen der Narrativik und stupide Erzähler gibt, wird hier keineswegs in Frage gestellt. Wo es jedoch um das Verstehen kulturell fremden Erzählens geht, da immerhin sind solche Urteile als historische Begründungen jedenfalls so lange nicht auf Parameter wie narrative Inkohärenz zu stützen, so lange nicht die Historizität unserer wie der kulturell fremden Erwartungen an erzählerischen Zusammenhalt und epische Stimmigkeit reflektiert ist. Das bedeutete unter anderem, Inkohärenzen eines narrativen Textes interpretatorisch zu entfalten, also verstehend am Gegenstand bleiben zu wollen, und die Verschiebung von Begründungskontexten, sei es in die Produktion, sei es in die Distribution des Erzählwerkes, so lange wie irgend möglich hinauszuschieben.15 Die hier angedeutete methodenkritische Position, die kaum nur längst überwundene wissenschaftsgeschichtliche Stufen der germanistischen Mediävistik, sondern nicht selten wohl auch ganz gegenwärtige im Visier hat, darf vielleicht einmal zu der eben schon implizierten Dichotomie vereinfacht werden: verschieben klassische, von wenigen noch immer mit bewunderungswürdiger Meisterschaft geübte Verfahren der Textkritik Inkohärenz weitmöglichst vom Text weg in dessen handschriftliche Distribution, so verlegen Epigonenkonzepte sie aus dem Text heraus in den Produktionsprozeß. Auf beiden Wegen läßt sich das angestrebte Ziel erreichen: das Werk wird von seinen Widersprüchen insofern freigehalten, als man sich diesen nicht mehr in hermeneutischer Verstehens- und historischer Erklärungsanstrengung stellen muß. 13 Vgl.auch Grubmüller (1984), S.218f. Vgl.Heinzle (1978), S.144ff., bes.S.162ff.; Campbell (1987), S. 352f. 15 Dies ist natürlich kein Plädoyer gegen eine Funktionsgeschichte mittelalterlicher Erzählliteratur, sondern für sie: für eine Funktionsgeschichte nämlich der Ästhetizität des Erzählens selbst, nicht bloß eine Parallelisierung erzählter Inhalte mit sozialgeschichtlichem Datenmaterial. 14 329 Diese Zuspitzung ist polemisch und darin gleichermaßen ungerecht wie vom Einzelfall her stets zu widerlegen. Immerhin aber bewährt sie am Stolperstein narrativer Widersprüche, der hier vorerst Formen erzählerischer Inkohärenz exemplarisch vertrat, die Einheit des Faches von der Ebene kritischer Textherstellung bis zu derjenigen des ästhetischen Werturteils. Ich denke, daß diese Einheit in der hier angedeuteten Weise nicht mehr theoretisch zulänglich begründbar ist. Ich denke auch, daß die Öffnung unserer eigenen literarischen Erfahrung ein Festhalten an anachronistisch fixen Normen erzählerischer Kohärenz, gar an trivialen des erzählten Geschehniszusammenhangs, überflüssig macht, weil die wenigstens seit Sterne und Diderot traditionsreichen Entwicklungen des Erzählens in der Moderne den Sinn für die Alternativität und Disponibilität narrativer Logiken geschärft haben. Der methodische Fortschritt der Literaturwissenschaft müßte es längst erlauben, auch in der mediävistischen Germanistik von der Eliminierung narrativer Inkohärenz zugunsten ihrer interpretatorischen Entfaltung abzulassen. Interpretationstheoretisch betrachtet bringt eine solche Entfaltung Inkohärenz des Erzählten zur Geltung und löst sie dabei gewissermaßen zugleich auf. Inkohärenz setzt nämlich einen Begriff von Kohärenz voraus. Wird diese für bestimmte Dimensionen eines Textes behauptet, dann geht es so "gar nicht um die Glättung der tatsächlich im Text vorhandenen Widersprüche [...], sondern allererst um die Beschreibung des Systems des Bedeutenden, von dem aus sich Widersprüche als Widersprüche erkennen lassen."16 Dies aber wäre nur der erste Schritt einer Textinterpretation, der noch nicht erreichte, was man mit Uwe Japp das "Prinzip der gesättigten Analyse" nennen könnte17, eine Interpretation nämlich, deren Explikationsmächtigkeit gegenüber dem Text nicht auf einige seiner Teile beschränkt bleibt. Eine gesättigte Interpretation impliziert vielmehr den Anspruch, potenziell den integralen Text explizieren zu können – einschließlich seiner Widersprüche. Nicht deren Harmonisierung oder Annihilierung ist das Programm. Im Gegenteil "geht es darum – und das ist eben die besondere Zielsetzung der gesättigten Analyse oder umfassendsten Interpretation –, die Widersprüche als die eigentliche Komplexität des Werkes zu erhalten und zu entfalten. Man muß dabei allerdings ein anderes Niveau aufsuchen als das eines Spruches innerhalb eines Widerspruches, [...] man muß sich auf das Niveau der Opposition begeben. Erst hier kann sich die gesättigte Analyse entfalten, die den Entscheidungen und Sympathien eines strikt alternativen Denkens stets die Nähe zum ganzen Text voraus hat."18 Für die Interpretation bedeutet dies praktisch, daß sie jenes System intratextueller Bezüge von Textelementen zu rekonstruieren hat, in dem Widersprüche funktionieren, oder daß sie jene historisch variablen Regeln intratextueller Bezugsetzung explizieren muß, von denen her erklärlich würde, inwiefern auf geschichtlichen Stufen eines Textverständnisses solche Verknüpfung überhaupt nicht vorgenommen wurde oder belanglos war, welche allererst zwei Propositionen eines Textes in eine Relation 16 Japp (1977), S.68. Ebd., S.74; vgl.auch Danneberg / Müller (1984), S.210ff. 18 Ebd., S.75. 17 330 der Kontradiktion oder Inkohärenz rückt. Diese zweite Klausel ist direkte Konsequenz der Arbeit mit mittelalterlich fremden Erzähltexten. Ausdrücklicher als die Argumentation von Uwe Japp rechnet sie mit der Historizität narrativer Rationalitätsstandards. Sie reagiert also auf die Existenz solcher erzählerischer Textgegebenheiten, welche nur von anachronistischen, nicht aber auch von aus dem kulturell fremden Text entwickelbaren Logiken eines epischen Signifikantensystems her als Widersprüche konstruiert werden können. In diesem wie im erstgenannten Fall löst die praktische Interpretation die Formen von Inkohärenz auf, die sie expliziert: dort, insofern sie sie aus der Negativität des bloß Inkohärenten zur Funktionalität des narrativ begründeterweise Inkohärenten positiviert, und hier, indem sie das historische System epischer Sinnkonstitution, geschichtlich alternativer Erzählkohärenz in seiner Alterität expliziert, von dem her für uns manifeste Inkohärenz nicht konstituiert und also auch nicht konstatiert werden kann. Das eine Verfahren vollzieht sich im fortschreitenden Wechsel der analysierten Erzählebenen, der erst auf jener Ebene zum Stillstand kommt, auf welcher der Funktionszusammenhang von Spruch und Widerspruch, der Nexus von Textelementen entfaltet werden kann, die auf tieferer Ebene als inkohärent erscheinen. Die zweite Vorgehensweise ist dem nicht im Hinblick auf das je einzelne Textdatum, doch den Interpretationszusammenhang insgesamt komplementär. Sie spürt nicht den Verknüpfungsrelationen von Textelementen nach, sondern im Gegenteil den zwischen ihnen bestehenden Abschottungen. Systemtheoretisch formuliert versuchte sie Textgegebenheiten als Subsysteme eines textuellen Systems zu begreifen, welche durch eine System-Umwelt-Grenze von andern Subsystemen desselben Systems getrennt sind und mit diesen nicht beliebig Interpenetrationsbeziehungen eingehen. Dabei geht es um die Historizität der je möglichen Austauschrelationen dieser Art. Es geht um die Frage, welche von ihnen in einem geschichtlich gegebenen Fall – mit sinnkonstitutiven Folgen – zwischen solchen Subsystemen auftreten und welche solcher Austauschrelationen – in alternativen historischen Regelkontexten intratextueller Beziehungsstiftung als kontradiktorisch oder inkohärent erscheinend – auf geschichtlich vorgegebenen Stufen des Textverständnisses ausgeschlossen bleiben. In eine der einprägsamsten hermeneutischen Metaphern übersetzt hieße dies zu beschreiben, auf welche interpretatorischen Fragen ein fremder Text keine Antwort gibt, welche jeweiligen Kohärenzerwartungen es wären, die ihn stumm oder verstummen lassen. Die, um es konkret zu machen, forschungsgeschichtlich durchaus dominante, von bestimmten Lektüren des Gotfritschen Tristan her determinierte Erwartung etwa, die Fortsetzungen führten den narrativen Diskurs über Tristanminne und gesellschaftliche Ordnung so wie Gotfrit in der reibungsvollen Verschränkung von episodisch erzählter Fiktion und exkursorischem Erzählerkommentar weiter, gehört zu jenen kontraproduktiven interpretatorischen Voraussetzungen, welche die Chancen verringerten, daß die Texte zum Sprechen zu bringen wären. In diesen Fortsetzungstexten sind das Erzählte und der Erzählerkommentar gewissermaßen an jenen Stellen, an denen in Gotfrits Tristan die Austauschrelationen anknüpfen, gerade gegeneinander abgedichtet. Es treten dafür andere Beziehungen von Erzähltem und 331 Kommentieren auf und schließen sie etwa als Kontrafaktur und Kanonisierung im Verhältnis zum Prätext funktional zusammen. Ich schiebe ein zweites Beispiel, eines von beliebig vielen, zu Demonstrationszwecken nach, das im Rahmen dieser Untersuchung von wesentlich weniger Präokkupationen umstellt ist, als das vorangegangene. Das vierundzwanzigste der Kinder- und Hausmärchen von Jacob und Wilhelm Grimm, "Frau Holle" betitelt19, erzählt eine Initiationsgeschichte, deren Raumkonzeption das Selbst und das Andere, Diesseits und Jenseits, Ober- und Unterwelt in einer vertikalen Struktur von Oben und Unten konnotiert. Als 'Herunterfallen` wird diese topographische Ordnung auf der Geschehnisebene erzählbar, und insofern scheint sie kohärent zu sein: die Töchter fallen im Brunnen in die Tiefe, die Äpfel fallen vom Baum, Gold und Pech regnen auf die im Tor stehenden Mädchen herab, als Frau Holle sie wieder in ihre Herkunftswelt 'hinauf' schickt. Nur Frau Holles Bettfedern fallen von der unteren Welt als Schneeflocken von oben auf die obere Welt herab. Es handelt sich um eine offensichtliche Inkohärenz des Textes, und gleichermaßen evident ist es, daß diese Feststellung dem Text gegenüber ganz inadäquate Kohärenzerwartungen impliziert. Zwei unterschiedliche topographische Ordnungssysteme, je funktional auf andere Textelemente bezogen, koexistieren – wie es auch in geträumten Geschichten geschieht – im Märchen von Frau Holle, ohne miteinander so in Kontakt zu geraten, daß sie zu widersprüchlich einander ausschließenden werden könnten. Die Frage, warum das so sei, kann auf der Ebene einer Textinterpretation nur mit 'Es ist so' beantwortet werden. Ich deutete an, daß dieses Beispiel nicht auf den Nachweis etwa der Märchenhaftigkeit mittelalterlichen, höfischen Erzählens zielt, und ich habe deswegen den Fall einer inadäquaten Kohärenzerwartung vorsätzlich nicht auf der seit Vladimir Propp von der strukturalen Erzähltextanalyse bevorzugten Ebene der Sujetfügung konstruiert.20 Es geht hier allein um die Plausibilität von Konzeptionen des Erzählens, die mit gegenüber dem Alltagsbewußtsein erzählerisch alternativen und gegenüber modernem Bewußtsein historisch alternativen Formen narrativer Kohärenz, also auch Formen der Konstruktion und Abgrenzung von Kohärenz und Inkohärenz rechnen. Das aber setzt eben voraus, die eigenen Selbstverständlichkeiten, nach denen Textelemente zueinander in Beziehung gesetzt werden, nicht für das überhaupt Selbstverständliche zu halten; es setzt voraus, in fremden geschichtlichen Regelzusammenhängen des Erzählens nicht nur die kulturelle Fremdheit des Erzählten zu erwarten, sondern auch die des Erzählens selbst, im hier diskutierten Ausschnitt also die Fremdheit von Regeln, nach welchen innerhalb etwa eines höfischen Romans Elemente kontextualisiert oder nicht kontextualisiert wurden. Nur ganz beiläufig füge ich 19 Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen hrsg.von Heinz Rölleke. Stuttgart 1984, Bd.1 S.150-153. - Es wird sogleich deutlich sein, daß es nur um eine punktuelle exemplarische Illustration geht, womit eine Fortführung der Diskussion um die sei es strukturelle, sei es motivationale Märchenhaftigkeit höfischen Erzählens etwa im Artusroman ausdrücklich nicht impliziert ist. 20 Dazu in der Altgermanistik zuletzt Simon (1990). 332 die Mutmaßung hinzu, daß solche Regeln etwas mit den kulturellen Reproduktionstechniken einer Gesellschaft überhaupt, ganz konkret unter anderem mit dem in ihr herrschenden Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, auch mit den Dimensionen von Texten zu tun haben. In von Mündlichkeit geprägten Kontexten literarischer Rezeption mag beispielsweise die Bezugsetzung zwischen weiträumig verteilten Elementen eines sehr umfangreichen Erzählwerkes einen ganz anderen Stellenwert besessen haben, als er dem wissenschaftlichen Leser vertraut ist, der in seiner kritischen, durch unzählige bunt unterschiedene Marginalien detailliert und individuell strukturierten Textausgabe geläufig vor- und zurück- und wieder vorblättert. Zwei interpretatorische Vorgehensweisen sind im vorangegangenen unterschieden worden, an denen sich auch die vorliegenden Studien bei der Auseinandersetzung mit den 'offenkundigen' Widrigkeiten ihrer Texte orientierten. Sollten sie dabei erfolgreich gewesen sein, dann indem sie sie überwanden, und das heißt: genau in dem Maße, indem sie epische Inkohärenz in die Kohärenz ihres erzählerischen Funktionierens hinein oder aber ganz auflösten durch die Explikation von Aspekten eines geschichtlichen Erzählsystems, in welchem sie narrativ zu konstruieren nicht möglich war. Diese Auflösung bleibt, so ließe sich nachtragen, unvermeidlich. Sie ergibt sich aus den Rationalitätsstandards hermeneutischer Diskurse, an denen in dieser Hinsicht Momente der Kolonisation gegenüber den Logiken des Erzählens überhaupt, denjenigen des kulturell fremden im besonderen sich zeigen. "Die konsistente Interpretation", und andere als konsistente Interpretationen sind im Wissenschaftssystem nicht zugelassen, "wiederholt die Kohärenz des Werks, indem sie sie expliziert. Völlige Nicht-Kohärenz dagegen kann nicht verstanden werden; insofern bedeutet sie auch nichts."21 Das heißt umgekehrt auch: hermeneutisch konzipierte Literaturgeschichte kann nicht umhin, das, was ihr zunächst als manifester Widerspruch oder bare Inkohärenz begegnet, als nur vorerst noch unaufgelöste Unstimmigkeit und alsbald sich verflüchtigende Kontradiktion zu betrachten – gegebenenfalls verließe sie zu diesem Zweck auch den Bereich der Textinterpretation und konzipierte etwa die topographischen Ordnungen von "Frau Holle" als spezifisch märchenhaft, als Ausprägungen eines mythischen Bewußtseins, eines kollektiven Unterbewußten. Inkohärenz ist in diesem Sinne immer scheinhaft, uneigentlich, und in dieser Uneigentlichkeit von Textbefunden, welche der Konsistenz der Interpretation vorübergehend Widerstand leisten, steckt das, was man das Apriori der Sinnvermutung nennen könnte. Dieses Apriori verletzen bestimmte fundamentale Kategorien der klassischen Textkritik, nämlich die Zufälle der Überlieferung und die Fehler der Schreiber, ebenso wie solche ästhetischen Wertungssysteme, die etwa widerständige Textgegebenheiten à Konto eines insuffizienten Autors buchen. Jedoch wird ohne ein solches Apriori der Sinnvermutung eine historisch bewußte Literaturwissenschaft nicht wirklich zu begründen sein. 21 Japp (1977), S.67; vgl.ders. (1984), S.254. 333 Aus den vorgetragenen Überlegungen folgt für die methodische Bemühung um Formen alternativen Erzählens – und nur als solche könnte ich mir eine Geschichte und Theorie höfischer Romane denken –, daß sie die Alterität ihres Gegenstandes nicht vom Begriff des Widerspruchs oder der Inkohärenz her rekonstruieren kann, sondern nur als Verwirklichung alternativer Formen von erzählerischer Kohärenz. Die Argumentation begründet, wie ich hoffe, für die germanistische Erforschung mittelalterlichen Erzählens einen Perspektivenwechsel. Sie begründet Versuche, in durchaus tastender Weise dem näher zu kommen, was sich einmal als alternatives Regelsystem narrativer Kohärenz im Rahmen der Erzählkultur einer sehr fremden Welt herausschälen lassen könnte. Dabei ist ein Begriff alternativer Erzählkohärenz gegenüber der Alterität des fremden Erzählens offener zu halten als die Kategorie der Inkohärenz. Diese transportiert immer schon und meist unreflektiert ihr Komplement, die vom literarischen System des Wissenschaftlers her determinierte und insofern gegenüber dem geschichtlichen Gegenstand anachronistische Kategorie der Kohärenz. Hingegen ist ein Begriff alternativer Kohärenz selbst schon eine Reflexionsform auf die Alterität von – hier historischen – Alternativen. Das heißt, daß sich ein positiver Begriff eines solchen alternativen Erzählsystems jedenfalls apriorisch nicht definieren läßt.22 Nötig scheint der angedeutete Perspektivenwechsel jedoch trotz der mit ihm verquickten Zumutung, auf positive wissenschaftliche Verfügbarkeit des historisch alternativen Erzählens vorerst verzichten zu müssen. Ich habe diese Notwendigkeit in einer hermeneutischen Überlegung zu fundieren versucht, weil ich die konkrete Einlösung des angedeuteten Programms an dieser Stelle schuldig bleiben werde; gleichwohl lassen sich, so beabsichtigte ich es immerhin, die Studien des ersten und zweiten Teils dieser Arbeit auch als erste Schritte zu einer solchen Einlösung lesen. Daß der genannte Perspektivenwechsel komplementär zu seiner hermeneutischen Begründbarkeit indes auch von der konkreten Sache her plausibel sein könnte – wie wenn es diese Sache losgelöst von der hermeneutischen Bemühung um sie gäbe –, das sollte sich beim Blick auf repräsentative Forschungspositionen und dann in einer knappen Retrospektive auf eine der voranstehenden Studien zeigen können. Dort, wo in der altgermanistischen Literaturwissenschaft alternative Formen narrativer Kohärenzbildung in mittelalterlichen Texten zum Problem geworden sind, spielt der Terminus 'Punktualität' eine gewisse Rolle. Punktualität eines narrativen Darstellungsverhaltens meint dabei, was ich oben als wechselseitige Abschottung von Elementen eines Erzählprozesses zu umschreiben versuchte. Punktuell wäre danach eine Erzählweise zu nennen, in der bestimmte intratextuelle Verknüpfungsrelationen gewissermaßen nicht vorkommen. In aller Regel sind, insofern hier nämlich von 'Un22 Es heißt vielleicht auch, daß die Grenzen der Seriosität noch nicht übertreten sind, wenn ich mir in dieser Argumentation die Diskussion eines Terminus narrativer Kohärenz im Kontext linguistischer Erforschung von Textkohärenz noch erspare (vgl.zum Beispiel Hantsch [1975], S.14ff.; Frank [1982], S.138ff.; Nöth [1985], S.457ff. usw.) und stattdessen diesen Kontext allein mit den folgenden bibliographischen Nennungen andeute; vgl.also etwa Hendricks (1967), Gülich / Heger / Raible (1974), Werlich (1979), Giora (1985) einerseits, van Dijk (1972), Schmidt (1979a) anderseits. Als Überblick kann Charolles / Petöfi / Sözer (1986) dienen. 334 stimmigkeiten' der Handlungsebene die Rede ist23, damit syntagmatisch lineare Verkettungen gemeint. Ob man neben solcher syntagmatischen Punktualität auch mit punktuellem Darstellungsverhalten auf der paradigmatischen Achse zu rechnen hätte, wie seine Aktualisierungen auf der Textebene aussähen und wie sie konzeptionell zu fassen wären, wurde nicht diskutiert. Die Mühen, die die Interpretation zum Beispiel mit den widersprüchlichen Qualifizierungen der Tristanminne in Ulrichs von Türheim GotfritFortsetzung hat, geben ebenso einen Vorschein der Schwierigkeiten, welche eine solche Diskussion zu gewärtigen hätte, wie im selben Text das gefleckte Reh, das auf paradigmatischen Sinn zu verweisen scheint, dessen dann doch bislang noch nicht inne zu werden war. Die Diskussion könnte an dieser Stelle möglicherweise an die Studie Clemens Lugowskis anknüpfen, die als Szenenfaszination oder -isolierung, als Überfremdung eines Erzählzusammenhangs mit momentan Interessierendem solche Textphänomene im Prosaroman des 16.Jahrhunderts mit positiverem Akzent benennt, welche den 'Inkohärenzen' mittelalterlicher Erzählliteratur vergleichbar sind. Die Geschichte des neuzeitlichen Romans wird hier als Ablösung des Erzählens von jener hinter der erzählten Welt liegenden paradigmatischen Ordnung beschrieben, für die Lugowskis esoterischer Terminus vom "mythischen Analogon" einsteht.24 Ohne Rücksicht auf Lugowski hat das, worauf das Wort vom punktuellen Erzählen zielt, am prägnantesten Joachim Heinzle beschrieben. Er geht, wie es sein Textcorpus der späten Dietrichepik in der Tat nahezulegen scheint, von einem "Desinteresse" der Texte "an der Kongruenz einander entsprechender Aussagen" aus25 – wobei sich eine erste Skepsis sogleich in die Form der Frage kleiden ließe, ob das Desinteresse an der Kongruenz ein Interesse an der Inkongruenz sei oder wie sich andernfalls zwischen diesen konkurrierenden Deutungen entscheiden ließe? Dieses Desinteresse wirke "zusammen mit einem Darstellungsprinzip, das sich in mittelalterlicher Literatur allenthalben beobachten läßt: der Betonung der einzelnen Szene, des einzelnen Motivs gegenüber dem Gesamtzusammenhang. Wir kennen diese Punktualität der Darstellung aus der Episodenstruktur des höfischen Romans ebenso wie etwa aus der Bilderbogentechnik des 'Nibelungenliedes', in dem es ganz offenbar auf die einzelne Szene, den einzelnen Auftritt, die einzelne Gebärde mehr ankommt als auf die logische Geschlossenheit der Handlungszusammenhänge."(S.170) Im Kontext solchen punktuellen Erzählens, so führt Heinzle weiter aus, könne "der Einsatz traditioneller, d.h.vorgeprägter und durch langen Gebrauch 'objektiv' gewordener Darstellungsmittel" einerseits zu Widersprüchen, anderseits "zu einer gewissen Beliebigkeit in ihrer Wahl führen [...]." (S. 172) Heinzle demonstriert das an einem Beispiel aus dem Sigenot, das ich hier ganz zitiere: "Auf Dietrichs Frage, wie es ihm im Kampf mit dem Riesen ergangen sei, berichtet Hildebrand, dieser habe ihn durch Schläge mit einem ausgerissenen Baum betäubt und so den Sieg davongetragen; nach der vorhergehenden Schilderung aber wurde 23 So auch bei Campbell (1987). Vgl. Lugowski (1976); Müller (1985a), S.92ff. 25 Heinzle (1978), S.170; danach die folgenden Zitate im Text. 24 335 der Kampf dadurch entschieden, daß Hildebrand, von Sigenots Stange getroffen, stürzte und dabei sein Schwert verlor, das der Riese an sich reißen konnte." (S.172) Vielfach begegnen in der mittelalterlichen Erzählliteratur Sachverhalte dieser Art – in der Arabel zum Beispiel als Spannung zwischen auktorialer und personaler Erzählung von Willehalms Gefangenschaft und Flucht. Das Beispiel aus dem Sigenot zwinge, so Heinzle, zu der Annahme, "daß es dem Verfasser wie dem Publikum nicht darauf ankam, auf welche Weise Hildebrand unterlag: beide Möglichkeiten waren denkbar und aus der Tradition der Riesenkämpfe bekannt, waren 'objektive' Darstellungsmittel und als solche gleichermaßen 'wahr' und damit austauschbar." (S.172f.) Im Maße, in dem diese Deutung überzeugt, bleibt sie zugleich unbefriedigend. Denn sie begründet von einer fremden Erzählkultur her die Lizenz für den narrativen Substitutionsakt, nicht diesen selbst, nicht seine Funktion. Doch steht auch dies in Frage: was ist es für ein Erzählen, in dem ein solcher Austausch eben so 'selbstverständlich' wie oder 'selbstverständlicher' als eine in der Sache kongruente Wiederholung ist? Hat die Substitution eine bestimmte Sinnbildungsfunktion? Diese müßte ja nicht von einem Interesse an Inkongruenz her aufschließbar sein, welches die punktuellen Textelemente schon in ein Negationsverhältnis einspannte und also um ihre Punktualität brächte; aber von wo aus dann? Heinzle resümiert: "Die Punktualität der Darstellungsweise als Folge einer bestimmten Perzipierungsart [in einer mündlichen Kultur, P.S.] und Ausfluß eines bestimmten Stilwillens bildet den allgemeinen Horizont, innerhalb dessen Unstimmigkeiten nicht nur tragbar sind, sondern überhaupt nicht wahrgenommen werden und in diesem Sinne auch nicht existieren." (S.173) Dieserart läßt sich von der Vorstellung der Punktualität her ein Teil dessen operationalisieren, was uns in den Texten als widersprüchlich oder inkohärent entgegentritt. Doch ist das Problem so nicht gelöst: es gibt in mittelalterlichen Erzählungen genügend Elemente, welche nicht punktuell sind, welche sorgfältig und mit Bedacht auf Kohärenz und Widerspruchsfreiheit, nicht selten über weite Texträume hinweg, miteinander koordiniert sind. Beispiele dafür finden sich keineswegs nur im Oeuvre Wolframs, denn sie sind zunächst keine Frage ästhetischer Qualität, sondern eines texttheoretisch-hermeneutischen Prinzips: wären nicht selbst die wüstesten, anarchischsten, unstimmigsten Texte auch kohärent, könnten sie als Texte überhaupt nicht identifiziert werden. Das fundamentale Problem ist also weniger die narrative Lizenz dazu, Elemente in eine Erzählung aufzunehmen, die, aufeinander bezogen, als widersprüchlich oder unstimmig erscheinen. Das Problem, die Alterität mittelalterlichen Erzählens, ist ein uns fremdes Ineinander von Punktualität bestimmter Textelemente in bestimmten Hinsichten hier und sinngenerierender Integration derselben Textelemente in anderen Hinsichten sowie anderer Textelemente dort. Das Besondere ist, mit anderen Worten, daß in den alten Erzählungen offenbar die Grenzen zwischen Kohärenzen und Inkohärenzen nach nicht mehr geläufigen Regeln gezogen wurden, daß wir daher unentwegt und reflexhaft Widersprüche finden, wo vielleicht keine sind, und Kohärenz sehen, wo es möglicherweise von Unstimmigkeiten wimmelt; ein Beispiel für den zweiten Fall will ich alsbald nachreichen. Eben dies versuchte die These zu formulieren, daß das eigentliche Problem an den fremden Texten nicht ihre narrative Inkohärenz, sondern ihre alternative Kohärenz sei. 336 Daß Joachim Heinzles Themenentfaltung, so energisch (und dies gilt erst recht vor dem Hintergrund der Forschungssituation) sie sich dem hier diskutierten Problem nähert, dieses schließlich doch verfehlt, liegt daran, daß sie Inkohärenz im Grunde als historisch lizensierte Abweichung von normierten Kohärenzstandards begreift, die letztlich doch unsere eigenen bleiben; daß erzählerische Unstimmigkeit und Widersprüchlichkeit als fallweise Negation einer gewissermaßen 'normalen', vielleicht überzeitlich universalen Logik des Erzählens konzipiert sind. Hier ist von der Geschichtlichkeit narrativer Inkohärenz, nicht derjenigen narrativer Kohärenz her gedacht. Ganz ähnlich wäre etwa auch gegenüber dem "kleinen Organon einer alternativen Ästhetik für das spätere Mittelalter" zu argumentieren, zu dem Walter Haug vor kurzem eine Interpretation des Hug Scheppel Elisabeths von Nassau-Saarbrücken weiterentwickelt hat.26 Das gegenwärtig erörterte Problem steht auch dort, wie nicht anders zu erwarten, an prominenter Stelle, auch dort aber nicht in der Perspektive einer alternativen erzählerischen Kohärenz, sondern in derjenigen narrativer Inkohärenz; so signalisiert es schon das Stichwort: "Widersprüchlichkeit statt Problementfaltung" (S. 200). Es stellt sich dabei die Frage, was "reine[], unbewältigte[] Widersprüchlichkeit" etwa einer Figurenkonzeption (S.201) denn sei, wie unter ihren Bedingungen eine epische Figur noch als sie selbst identifiziert werden könnte; nicht nur, wie solche Widersprüchlichkeit ermöglicht werde, sondern auch, zu welchem Zweck; nach welchen Regeln erzählerische Kohärenz wie Inkohärenz konstituiert und ausdifferenziert werden. Die Textfelder der Dietrichepik und der spätmittelalterlichen Prosaromane, darunter speziell einer aus Chanson de geste-Tradition, von denen her Heinzle und Haug ihre hier herangezogenen Positionsbestimmungen zur Problematik epischer Inkohärenz entwickelten, grenzen einerseits gattungssystematisch, anderseits gattungsgeschichtlich an den Bereich jener sogenannt späthöfischen Romane an, den diese Studien paradigmatisch im Blick hatten. Die narrative Symptomatik des Inkohärenten, besser: alternativer Konzepte von erzählerischer Stimmigkeit indes, die jene Positionsbestimmungen provozierte, unterscheidet sich von derjenigen in den hier untersuchten Fortsetzungen unabgeschlossener Versromane allenfalls in Abstufungen, kaum jedoch grundsätzlich. Ich hege darum die Vermutung, hier werde nicht über textsortenspezifische Erzählweisen diskutiert, sondern vielmehr an Beispielen, an denen sie von uns aus am schwersten einfach übersehen werden könnte, die Alterität mittelalterlichen Erzählens überhaupt (oder: nuancierte Ausprägungen dieser grundsätzlichen Alterität) zum Thema gemacht. Daraus würde ich folgern, daß es für eine Verwendung narratologischer Parameter im Kontext der Gattungsdiskussion zur mittelalterlichen volkssprachigen Erzählliteratur forschungsgeschichtlich noch verfrüht ist. Umgekehrt hieße dies, daß es im Interesse der Historisierung unserer Begriffe vom mittelalterlichen Erzählen, daß es im Hinblick auf eine Annäherung an das, was hier mit dem vorläufigen Etikett alternativer Erzählkohärenz zu operationalisieren versucht wird, wohl vernünftig sein könnte, Grenzen zwischen den narrativen Gat26 Haug (1989e), danach die folgenden Zitate im Text. Vgl.auch Warning (1979), S.583, 586f. 337 tungen zunächst nicht zu hoch zu ziehen. Diese Narratologie würde also erst einmal eine der Alternativität mittelalterlichen Erzählens generell, und erst in späteren Schritten auch eine ausdifferenzierte der speziellen Gattungszusammenhänge sein können.27 Wenn man davon ausgeht, daß es oberhalb der tiefsten Strukturen von Sujetfügungen und oberhalb allgemeinster Sätze über das Erzählen als Humanum und oberhalb genereller textlinguistischer Aussagen so etwas wie eine 'normale', standardisierte Logik der Narration, von der aus Inkohärenz als ihre Negation vermessen werden könnte, nicht gibt – jedenfalls keine positiven Feststellungen über sie formulierbar sind –, dann könnte sich freilich sogleich die Frage einstellen, wie weit man bei der Historisierung unserer Begriffe von narrativen Ordnungssystemen gehen müsse, wie weit man dabei gehen könne. Anstatt einer Antwort, die ich nicht weiß und die es vielleicht auch nicht gibt, weil möglicherweise nur eine Vielzahl von Antworten allein von Fall zu Fall gelingen könnte, will ich hier noch einmal an ein Beispiel aus den voranstehenden Studien erinnern. Ganz konkret illustriert es das Argument dieses Abschnitts, daß die Chancen zur Historisierung unserer Begriffe von mittelalterlichem Erzählen auf dem Perspektivenwechsel von der narrativen Inkohärenz der Texte hin zu ihrer alternativen erzählerischen Kohärenz beruhen. Das Beispiel bildet jener Text, der in der Reihe der hier untersuchten insofern eine Ausnahmestellung einnimmt, als er nicht einen anderen von dessen fragmenthafter Abbruchstelle aus 'nach hinten' weiter-, sondern 'von vorne her' zu dessen wohldefiniertem Anfang hinerzählt, Ulrichs von dem Türlin Arabel. Mit diesem strukturellen hängt ein ideologisches Spezifikum zusammen. Als einziger Text in diesen Studien erschloß sich Ulrichs Roman nicht in der Richtung ideologischer Normalisierung oder Domestikation von unorthodoxen Problemverwerfungen, wie sie die fortgesetzten Texte im Spannungsfeld von sei es ekstatischer Liebe und gesellschaftlicher Ordnung, sei es Verwandtschaftsthematik und Heidenabschlachten aufweisen. Die Arabel wurde vielmehr interpretierbar auch in dem Maße, in dem sie als narrativer Prozeß der sukzessiven Plausibilisierung von inkonsistenten Figurenkonzepten begriffen wurde. Der Protagonist des Heidenkrieges mit seiner Schande signalisierenden Nasenwunde, die jungfräuliche Braut, die bereits einmal verheiratet war und Mutter ist: das sind Sperrigkeiten von Wolframs Text, an denen zwar kaum je ein moderner Leser Anstoß nahm, weil es zu seinen habitualisierten Rezeptionsschemata nicht gehört, etwa die Nase und die Ehre eines Helden aufeinander zu beziehen, Inkonsistenzen indes, deren einschneidende Bedeutung durch den umfangreichen Vorgang ihrer erzählerischen Auflösung eindrucksvoll gegenwärtig wird. Neben jenen isolierten Textelementen, deren Relationierung wir vergeblich erwarten, gibt es in dieser Literatur auch solche, die ganz überraschend aufeinander bezogen werden. Es gibt nicht nur Widersprüche, die unsere Kohärenzerwartungen enttäuschen, sondern auch intratextuelle Sinnzu27 In der gegenwärtigen Forschungssituation hat die Zuordnung von Formen narrativer 'Inkohärenz' zum Erzählen des Epos wohl noch den unerwünschten Effekt, daß dasjenige des mittelalterlichen Romans von der Historisierung der Kohärenzerwartungen frei bleibt; vgl.Müller (1987), S.225ff.usw.; Simon (1990), S.172ff. 338 sammenhänge, die, wie hier die fremden Regeln einer Semiotik der adeligen Körper, unsere 'Inkohärenzerwartungen' auf den Kopf stellen. In beidem zeigt sich die Alterität fremder Formen narrativer Kohärenz im Mittelalter, derer man, dies war die These, schwerlich inne würde ohne den Wechsel der Perspektive von als Negation standardisierter Kohärenznormen begriffener Inkohärenz zur Alternativität historischer Kohärenz des Erzählens. 3. Die Partitur alternativen Erzählens: Was die alternative Kohärenz des uns fremden mittelalterlichen Erzählens, was also dessen Identität wäre, weiß ich nicht zu sagen, ich deutete aber an, daß man es vielleicht nicht positiv wissen, sich ihm möglicherweise allein auf dem Wege der Konstruktion seiner Alterität nähern könnte. Zum Ende dieser Studien – und dies ist nach allem hier nicht nur in salvatorischen Klauseln, sondern auch im Zugriff aufs geschichtliche Material Gesagten nur ein anderes Wort für einen vielleicht möglichen Anfang –, zu diesem Ende meiner Studien also soll ein Vorschlag zu formulieren gewagt werden, in welcher Richtung dieser infinite Weg zur Alterität mittelalterlicher Narrativik eventuell einzuschlagen sein könnte. Dieser Vorschlag hätte sich freilich in der interpretatorischen Arbeit an den je einzelnen Texten und Erzählzusammenhängen stets neu zu bewähren – ohne dies für jetzt noch tun zu können. Es handelt sich bei ihm allenfalls um ein heuristisches Modell möglicher Deskriptionen, keinesfalls um einen Satz präskriptiver Normen für die Interpretation höfischer Romane. Am liebsten würde ich diesen Vorschlag verstanden wissen als ein resümierendes Experiment, das darin besteht, einige Denkfiguren an dieser Stelle nun einmal in lockerem Zusammenhalt zu explizieren, welche das interpretatorische Nachdenken über fremde, schwerverständliche Erzähltexte in dieser Arbeit hier und da leiteten, vielleicht auch ihr Teil dazu beitrugen, wenn es in ihr nicht völlig ohne notierenswerte Einsichten abgegangen sein sollte. Es macht den avisierten lockeren Nexus wohl leichter verfolgbar, wenn ich im vorhinein andeute, daß die folgenden Überlegungen insgesamt auch als der Versuch gelesen werden könnten, eine von der neueren Gattungs- und Textsortendiskussion längst in ihrer Erkenntnisförderlichkeit ausgewiesene und darum etablierte Denkfigur für die Diskussion auf der Systemebene des einzelnen Erzählprozesses im Mittelalter zu adoptieren und fruchtbar zu machen. Ich meine die Denkfigur, daß man in hermeneutischen Erkenntnisprozessen weiterkommt, wenn man einen Terminus wie 'Gattung' oder 'Textsorte' oder eben hier 'Erzählzusammenhang' nicht als überhistorischnormative, sondern als deskriptiv-funktionale Kategorie konzipiert, also etwa unter "Textsorten bestimmte historisch-normhafte Kompatibilitätsfiguren von Textkomponenten" versteht.28 In vergleichbarer Weise geht es im folgenden um einen Schritt in 28 Stempel (1972), S.178. Das ist nicht mißzuverstehen: Normen kehren hier wieder, doch nicht als Beschreibungs-, sondern als Gegenstandskategorie. Vgl.für die mediävistische Diskussion etwa 339 Richtung auf einen Begriff vom Erzählen im Mittelalter, der – das wäre die hermeneutische Illusion – ohne die Implikation der in unseren eigenen Kohärenzerwartungen aktualisierten Erzähl
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