Schriftliche Abiturprüfung Geschichte (Baden-Württemberg): Übungsaufgabe 1: Die Revolution von 1848, Das Kaiserreich M 1: 5 10 15 20 Petition Mannheimer Bürger an die Zweite Kammer der badischen Ständeversammlung Hohe Kammer! Eine ungeheure Revolution hat Frankreich umgestaltet. Vielleicht in wenigen Tagen stehen französische Heere an unseren Grenzmarken, während Russland die seinigen im Norden zusammenzieht. Ein Gedanke durchzuckt Europa. Das alte System wankt und zerfällt in Trümmer. Aller Orten haben die Völker mit kräftiger Hand die Rechte sich selbst genommen, welche ihre Machthaber ihnen vorenthielten. Deutschland darf nicht länger geduldig zusehen, wie es mit Füßen getreten wird. Das deutsche Volk hat das Recht zu verlangen: Wohlstand, Bildung und Freiheit für alle Klassen der Gesellschaft ohne Unterschied der Geburt und des Standes. Die Zeit ist vorüber, die Mittel zu diesen Zwecken lange zu beraten. Was das Volk will, hat es durch seine gesetzlichen Vertreter, durch die Presse und durch Petitionen deutlich genug ausgesprochen. Aus der großen Zahl von Maßregeln, durch deren Ergreifung allein das deutsche Volk gerettet werden kann, heben wir hervor: 1. Volksbewaffnung mit freien Wahlen der Offiziere. 2. Unbedingte Pressfreiheit. 3. Schwurgerichte nach dem Vorbilde Englands. 4. Sofortige Herstellung eines deutschen Parlaments. Diese vier Forderungen sind so dringend, dass mit deren Erfüllung nicht länger gezögert werden darf. Vertreter des Volkes! Wir verlangen von Euch, dass Ihr diese Forderungen zu ungesäumter Erfüllung bringt. Wir stehen für dieselben mit Gut und Blut ein und mit uns, davon sind wir durchdrungen, das ganze deutsche Volk. Mannheim, den 27. Februar 1848 (aus: Obermann, Karl (Hrsg.): Flugblätter der Revolution 1848 /49, dtv 4111, München 1970, S. 41) M 3: 5 10 Der Historiker Golo Mann über die Grundlagen des deutschen Kaiserreiches Bismarcks Werk erscheint kompliziert, wenn man es herkömmlichen staatspolitischen Begriffen unterordnen will. Das neue Reich war kein Reich. Es war auch kein echter Bundesstaat, weil es über den „Verbündeten Regierungen“ keine Zentralgewalt gab und das Machtgewicht eines der Verbündeten die Ebenbürtigkeit der andern zur bloßen Höflichkeitsformel machte. Es war auch kein Nationalstaat, insofern ein beträchtlicher Teil der Nation außerhalb blieb und es nach dem Willen des Gründers auch bleiben sollte. Es war, was es war; schwierig zu benennen, aber einfach seiner Entstehung nach. Der Gründung der Amerikanischen Union sind die prachtvollsten theoretischen Erörterungen […] vorausgegangen. Der Gründung des Deutschen Reiches gingen nichts als – wie man es damals sagte – „große Erfolge“ Bismarcks voraus; der Krieg gegen Österreich, die Annexionen, der Norddeutsche Bund, die Militär-Allianzen mit den Südstaaten, das durch Erpressung erzwungene „Zollparlament“, schließlich die während des Siegestaumels von 1870 geschlossenen „Bündnisverträge“. Zuviel kunstvolle Theorie mag einer Sache schaden, wie sie dem amerikanischen Verfassungsleben Ü-1 15 20 25 wohl bis heute geschadet hat. Aber zuviel gewalttätiger Pragmatismus1 aber auch: das hastig-rohe Zusammenwerfen von Stücken, die kein Ganzes ergaben, preußisches Soldatenkönigtum, Staatenbund und allgemeines Wahlrecht. Bismarck hat die Theorie verachtet und sich auf die Macht der Tatsachen verlassen, des Wachsens und Werdens, das sich theoretischen Formeln entzieht. Es ist dann aber so gekommen, dass das, was in Deutschland wurde, sich der Konstruktion von 1870 nicht einfügen konnte, wodurch die schädlichsten Spannungen entstanden. […] Er handelte unter Zwang. Irgendeine Art von Einigung war unvermeidlich, weil die Leute es so wollten und zu wollen nie aufgehört hätten; es war, wie sich zeigen sollte, eine Kraft in deutschen Landen, die nach Organisation, nach freier expansiver Tätigkeit gebieterisch verlangte. Bismarck gab das Minimum: das Bündnis des alten Preußen mit den liberalen Mittel- und Kleinstaaten. Wenn in dieser Lösung etwas verkrampftes, undauerhaftes lag, so war ihr auch wieder die leidliche Ordnung zu verdanken, die nun vierzig Jahre lang in Mittel- und Osteuropa herrschen sollte; die friedliche Koexistenz der drei Kaiserreiche und der mannigfachen, von ihnen behausten Völker. 1 Pragmatismus: dem augenblicklichen Nutzen folgend (aus: Mann, Golo: Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, S. Fischer Verlag, Frankfurt 1967, S. 393 f.) M 2: Caspar Braun: „Neue Wrangelsche Straßenreinigungsmaschine“ Berlin, „Fliegende Blätter“, 1848 Ü-2 Aufgaben: 1. a) Ordnen Sie die Forderungen der Petition (M 1) nach übergeordneten Gesichtspunkten und zeigen Sie, in welcher ideengeschichtlichen Tradition der Text steht. b) Beschreiben Sie das in M 1 angesprochene „alte System“ unter einem leitenden Gesichtspunkt. 8 VP 8 VP 2. Stellen Sie dar, inwieweit die in der Petition erhobenen Forderungen in der Paulskirchenverfassung ihren Niederschlag gefunden haben. 8 VP 3. Beschreiben Sie die Karikatur M 2 und beurteilen Sie davon ausgehend die Behauptung, die Revolution von 1848 /49 sei am Widerstand der alten Mächte gescheitert. 10 VP 4. a) Arbeiten Sie aus dem Text heraus, wie Golo Mann die Entstehung des deutschen Kaiserreiches von 1871 beurteilt. b) Erläutern Sie ausgehend von M 3 Etappen auf dem Weg zur Reichsgründung 1871. 5. Golo Mann bezieht auch Stellung zur Verfassung von 1871. Beurteilen Sie, ob sich mit dieser Verfassung die freiheitlich-demokratischen Hoffnungen vieler Deutscher erfüllt hatten. 6 VP 8 VP 12 VP 60 VP Lösungsvorschlag 1. a) Die Aufgabe verlangt, die in der Petition erhobenen Forderungen in Kategorien zur sammenfassen. (AFB II) r – Politische Forderungen: Freiheit und Gleichheit; Volksbewaffnung; Pressefreiheit; Schwurgerichte; Volksvertretung. – Soziale Forderungen: Recht auf Bildung; Wegfall der Standesschranken. – Wirtschaftliche Forderungen: Wohlstand. – Nationale Forderungen: ein deutsches Parlament. Die Verfasser der Petition stehen mit ihren Forderungen in der Tradition der europäischen Aufklärung und ihrer auf dem Naturrecht gegründeten Forderungen nach Freiheit, Gleichheit, nach Menschenrechten und nach Durchsetzung und verfassungsmäßig abgesicherter Volkssouveränität. Ihre Forderungen sind liberal-demokratisch, d. h. sie spiegeln wesentliche Forderungen des deutschen Liberalismus seit 1815 wider und sie stehen in der Tradition des liberalen Nationalstaates der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. r r b) Bei dieser Aufgabe können Sie das „alte System“ zum einen organisatorisch, zum anderen politisch beschreiben. (AFB I) Organisatorisch gesehen war Deutschland eher ein geografischer Begriff, geschaffen als Folge der napoleonischen Herrschaft und des Wiener Kongresses 1815. An die Stelle der über 1 700 Einzelstaaten war kein Nationalstaat getreten, sondern in der Form des Deutschen Bundes ein lockerer Staatenbund aus 39 souveränen Einzelstaaten, dessen Bundestag aus 17 ständig tagenden Gesandten der wichtigsten Einzelstaaten unter Vorsitz Österreichs bestand. Es handelte sich um keine Volksvertretung, sondern um eine Vertretung der Regierungen („Gesandtenkongress“), in der Einstimmigkeit erforderlich war. In allen entscheidenden Fragen wie in der Rechts-, Wirtschafts- und Ü-3 Finanzpolitik, in Verkehrsangelegenheiten und bei Maßen und Gewichten entschieden die einzelnen Mitglieder souverän. Der Deutsche Bund war ein unauflösbares militärisches Defensivbündnis, letztlich aber diente er der Wahrung der Souveränität der Einzelstaaten und der Aufrechterhaltung der auf dem „monarchischen Prinzip“ aufbauenden obrigkeitsstaatlichen inneren Ordnung. Politisch gesehen befanden sich einzelne Staaten wie Baden, Bayern oder Württemberg in einem Stadium des „Frühkonstitutionalismus“. Ihr Kennzeichen war, dass sie die Forderungen der Aufklärung und des aufstrebenden Liberalismus (vgl. M 1) nach Volkssouveränität rundweg ablehnten, vielmehr die Verfassung als ein Geschenk des Fürsten als Souverän betrachteten. Der liberal-demokratischen Forderung nach einem allgemeinen Wahlrecht wurde ebenfalls nicht entsprochen, stattdessen ein Zensuswahlrecht eingeführt, womit sich ein Teil der deutschen Liberalen allerdings zufrieden gab. Die zumeist Zwei Kammern des „Parlaments“, wobei die zweite Kammer eine Ständekammer war und nur die erste gewählt wurde, besaßen lediglich geringe Rechte, einzig das Budgetrecht ließ eine gewisse Kontrolle der Regierungen zu. Eine Ausnahme hiervon war die badische Verfassung, damals eine der modernsten der Welt. Hier war die zweite Kammer von den Bezirken, und nicht ständisch besetzt. Nicht umsonst wurde Baden zum Kernland des deutschen Liberalismus. Die großen Staaten Preußen und Österreich hatten ihren Untertanen keine Verfassungen gegeben. Eingegangen werden sollte auch auf das „Metternich’sche System“ mit seiner strikten Unterdrückungspolitik und seinen Polizeistaatmethoden, wie sie sich vor allem in und als Folge der „Karlsbader Beschlüsse“ zeigten. Die „Karlsbader Beschlüsse“ sollten gemäß dem Grundsatz der „Legitimität“ die „innere Sicherheit“ in den Staaten des Deutschen Bundes sichern. Dazu wurden polizeistaatliche Methoden angewendet, für die sich vor allem Metternich stark gemacht hatte. Zu ihnen zählten die „Säuberung“ der Universitäten von Professoren und Studenten, die das obrigkeitsstaatliche System infrage stellten und liberale bzw. nationale Forderungen erhoben. Außerdem wurden die Universitäten durch Staatskommissare überwacht, ein Spitzelsystem eingerichtet, die Burschenschaften unterdrückt, Vereine kontrolliert. Schließlich schuf man eine Vorzensur für Zeitungen, Zeitschriften und andere Druckerzeugnisse unter 20 Bogen (rund 320 Seiten), um so der Verbreitung liberaler und nationaler Ideen entgegenzuwirken. Eine eigens eingerichtete Zentraluntersuchungskommission in Mainz untersuchte politische Straftaten. Eine Folge waren die „Demagogenverfolgungen“, wesentliches Merkmal dieser reaktionären Epoche der Restauration. 2. Die Verfassung von 1849 wollte die liberal-demokratischen Forderungen nach Volkssouveränität, gesicherten Grund- und Menschenrechten, nach nationaler Einheit im kleindeutschen Rahmen und nach Berücksichtigung föderativer Traditionen realisieren. Erreicht wurde, dass eine Verfassung Rechte und Pflichten von Regierung und Parlament regelte, eine alte Forderung der Verfassungsbewegung. Der neue Staat sollte eine konstitutionell-parlamentarische Monarchie sein mit weitgehenden Volksrechten, die sich v. a. in den gesetzlich gesicherten Grundrechten wieder finden. Allerdings erhielt der Kaiser, dessen Thron erblich war, eine starke Stellung, da er über ein „suspensives Vetorecht“ verfügen sollte, das Volkshaus auflösen und die Diplomatie bestimmen konnte. Darüber hinaus war er Befehlshaber der Streitkräfte. Der Grundsatz der Volkssouveränität fand seinen Ausdruck in demokratischen Wahlen zum Volkshaus (ohne Frauenwahlrecht) sowie in den Rechten dieses Teils der Legislative, durch welche die Möglichkeiten der Exekutive erheblich eingeschränkt wurden. Das Volkshaus hatte das Budgetrecht und das Gesetzgebungsrecht, wobei allerdings die andere Kammer des Reichstages, das „Staatenhaus“, benannt nach den Parlamenten und Regierungen der 39 Einzelstaaten, ein Mitspracherecht besaß. Damit war die angestrebte Parlamentarisierung erreicht, zumal die Minister der Volksvertretung verantwortlich waren. Ü-4
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