Bedauerlicherweise konnte im Zentralblatt die Rezension meines Buches "Mathematik für die ersten Semester", 2. Aufl., Oldenbourg 2010, von Dr. Franz Lemmermeyer erscheinen, offenbar ohne auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft worden zu sein. Er schreibt: “Mathematik für die ersten Semester” enthält den Teil der Mathematik, der für ein Studium technischer Fächer ausreicht: etwas elementare Geometrie, lineare Algebra, Infinitesimalrechnung, sowie die Anfangsgründe der Vektoranalysis und der Differentialgleichungen. Die Darstellung geht für ein Buch dieser Art im großen und ganzen in Ordnung, und zahlreichen Übungsaufgaben runden es ab. Hätte der Autor es dabei belassen, wäre außer einigen größeren und kleineren Fehlern nicht viel zu bemängeln gewesen. Der Satz trifft genau den Kern dieser "Rezension". Unglücklicherweise setzt der Autor aber seinen Feldzug gegen die moderne Mathematik (dazu zählen die Errungenschaften der letzten 2500 Jahre: die Existenz von Geraden, Kreisen, oder der Primfaktorzerlegung einiger natürlicher Zahlen wird ebenso bestritten wie die von irrationalen Zahlen) auch in diesem “Lehrbuch” fort. Das ist falsch. Ich bestreite weder die Existenz von irrationalen Zahlen noch die von Geraden, Kreisen usw. Die Menge der reellen Zahlen besteht aus allen rationalen und allen irrationalen Zahlen (S. 36). Man stelle die Menge der Punkte eines Kreises um den Ursprung (0 | 0) in kartesischen Koordinaten dar (S. 49). Was ich bestreite ist die Existenz einer vollendeten Unendlichkeit. Diese Mathematik ist 2500 Jahre ohne aktual unendliche Mengen ausgekommen. Das beginnt mit dem unsäglichen Vorwort, in dem den Lesern erklärt wird, dass praktisch alle Sätze, die in diesem Buch bewiesen werden (oder auch nicht), falsch sind; in den Worten des Autors: sie “leiden Ausnahmen”. Dieser Satz ist ein bekanntes Zitat von Abel zu Sätzen Cauchys. Mein Satz bezieht sich darauf, dass es unmöglich ist und für immer bleiben wird, Irrationalzahlen wie ◊2 oder π mit einem relativen Fehler < 1/210100 ihres Wertes darzustellen. An dieser Tatsache bin ich unschuldig. Ihre Erkenntnis sollte nicht verdrängt oder bestraft werden. Das Problem liegt in den Augen des Autors daran, dass z.B. die Funktion f(x) = x2−2 stetig ist und das Vorzeichen wechselt, aber mangels der Existenz von ◊2 keine Nullstelle hat. Selbstverständlich existieren irrationale Zahlen, aber nicht ihre vollständigen Dezimaldarstellungen. Das sollte ein Mathematiker zu unterscheiden wissen. Diese Schlampigkeit im Großen setzt sich im Kleinen fort: Funktionen f: X Ø Y werden ordentlich erklärt (mit Hilfe der vom Autor abgelehnten Mengenlehre), Ich lehne die Mengenlehre nicht ab. Ich lehne ihre transfiniten Teile ab. Auch das sollte ein Mathematiker zu unterscheiden wissen. doch dann erscheint auf S. 20 aus heiterem Himmel folgende Definition: “Sei α eine reelle Zahl. Eine lineare Abbildung f ist eine Abbildung mit den Eigenschaften f(x1 + x2) = f(x1)+f(x2) und f(αx) = αf(x).” Bei dieser Definition ist so ziemlich alles falsch, was man falsch machen kann: reelle Zahlen wurden noch nicht eingeführt; Die Zahlenmengen einschließlich der natürlichen, ganzen, rationalen, reellen und komplexen Zahlen werden auf S. 8 eingeführt - übrigens in allen drei Auflagen. Definitionsbereich und Bildbereich der Abbildung sind nicht festgelegt, wodurch die Addition x1+x2, die der Bilder oder die Multiplikation mit α keinen Sinn macht; Auf S. 19 ist definiert: Abbildungen von Zahlenmengen auf Zahlenmengen bezeichnet man meist als Funktionen. Alle Folgen und alle Funktionen sind also Abbildungen. Danach folgen Beispiele für Relationen mit Zahlen. Offensichtlich sind die Objekte aus Definitionsbereich und Bildbereich solche, für die Addition und Multiplikation definiert sind. Es kann nicht erwartet werden, dass alle relevanten Definitionen auf jeder Seite wiederholt werden. Die Schlampigkeit des Rezensenten setzt sich noch eine Weile fort. Um den Leser nicht zu ermüden, hier nur noch ein Beispiel: Da der Autor der Meinung ist, dass Funktionen N Ø R nicht stetig sein sollten, ersetzt er die übliche Definition der Stetigkeit auf S. 199 durch eine eigene, die sich aber schon bei oberflächlicher Betrachtung als vollkommen sinnfrei herausstellt. Nur bei oberflächlicher Betrachtung! Denn meine explizit nur für reelle Funktionen gegeben Stetigkeitsdefinition leistet alles, was in der reellen Analysis benötigt wird, vermeidet aber das geradezu perverse Ergebnis, wonach diskreten Folgen Stetigkeit bescheinigt wird. Einige Fragen bleiben. Muss man solche Werke ausführlich besprechen? Man sollte es jedenfalls nicht tun, ohne das Werk gelesen zu haben, wie es offenbar hier geschehen ist. Und nach einem Schwall unsachlicher Rhetorik stellt Lemmermeyer die abschließende Frage: Und zu guter Letzt eine Frage an den Oldenbourg-Verlag, der dieses Machwerk auf dem Rückumschlag als “solides Fundament” auch für “Studierende der Mathematik” anpreist: olet pecunia? Audacter calumniare - semper aliquid haeret wäre hier wohl ein passenderer Schluss. Eine zweite Rezension des Rezensenten (zu meinem Buch: Die Mathematik des Unendlichen, Shaker, Aachen, 2006) zeugt von einem Verständnis dieses Rezensenten, das Matthias Claudius vortrefflich in Worte gefasst hat: Seht ihr den Mond dort stehen? Er ist nur halb zu sehen, Und ist doch rund und schön! So sind wohl manche Sachen, Die wir getrost belachen, Weil unsre Augen sie nicht sehn. W. Mückenheim
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