ein tiefgründiger mensch mit einer unglaub

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«EIN TIEFGRÜNDIGER
MENSCH MIT EINER UNGLAUB­LICHEN MENSCHLICHKEIT»
Gion Antoni Derungs –
der rätoromanische Musikpionier
Auch über seinen Tod hinaus bleibt Gion Antoni Derungs
einer der grossen der rätoromanischen Komponisten.
Als Vermittler der eigenen Musikkultur schuf er Werke aller
Musikgattungen: von der Oper bis zu Sinfonien, Kammer-,
Chor- und Orgelmusik. Im September dieses Jahres wäre er
80 Jahre alt geworden.
Text Maya Höneisen
 XXX. (Foto: XXX)
 XXX. (Foto: XXX)
Bei Susi Derungs in Chur stapeln sich
die Kopien auf dem Wohnzimmerboden. «Die grossen Werke habe ich inzwischen gemacht», sagt sie, meint damit die Opern und Sinfonien und wirft
einen Blick auf das Cembalo, an welchem ihr Mann, Gion Antoni Derungs,
Tag für Tag sass. «Oft ging er im Fürstenwald spazieren, wo in der Ruhe der
Natur seine Werke entstanden», erzählt
sie weiter. «Wenn er zurückkam, brachte er sie aufs Notenblatt».
Seit zwei Jahren arbeitet Susi Derungs
bereits an der Inventarisierung seines
Werkes. Die Originale plus eine Kopie
gehen an die Kantonsbibliothek. Eine
zusätzliche Kopie behält sie bei sich, damit sie diese selbst an interessierte Dirigenten ausleihen kann. «Tonnen von
Papier», sagt sie, als sei sie selber erstaunt über den Umfang der Arbeit ihres
Mannes. «Früher haben wir alles zusammengemacht», sagt sie leise. Nach seinem Tod habe sie die grosse Verantwortung über dieses Erbe erst belastet, fährt
sie einen Augenblick später fort. Heute
sehe sie die Aufgabe der Inventarisierung seines Nachlasses als sein persönliches Geschenk an sie.
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TERRA GRISCHUNA 2 | 2015
Inzwischen sind etwas über 200 Kompositionen als Originale im Archiv der
Kantonsbibliothek in Chur. Ob das Material dereinst digitalisiert wird, ist im
Moment noch ungewiss, dürfte gemäss
Freude an der Musik. Sein Lehrer an der
Klosterschule Disentis, Giusep Huonder, erkannte die Begabung und ermunterte seinen Schüler, sich an seinen eigenen Onkel, Duri Sialm, in Chur
Musiktheater
«
war vor Gion Antoni
Derungs im Kanton Graubünden
undenkbar. Gian Gianotti
»
Angaben der Bibliotheksleiterin, Petronella Däscher, aber zu einem späteren
Zeitpunkt gut möglich sein. Susi Derungs indes schätzt, dass sie noch weitere eineinhalb Jahre brauchen werde,
bis der immense Umfang des gesamten
Werkes geordnet ist.
Rätoromanischer Opern- und
Musiktheaterpionier
1935 geboren und vaterlos – sein Vater
starb, als der Sohn kaum eineinhalb
Jahre alt war – in Vella aufgewachsen,
zeigte Gion Antoni Derungs schon früh
zu wenden. Nach der Matura studierte
Derungs am Konservatorium in Zürich
Klavier, Orgel, Schulgesang, Dirigieren
und Partiturspiel. Ab 1962 unterrichtete er am Lehrerseminar in Chur und
wurde Organist an der Kathedrale in
Chur. Zudem leitete er sein selbst gegründetes Quartett und die romanischen Chöre. Ende der Sechzigerjahre
komponierte er sowohl sein erstes Violin- als auch sein erstes Klavierkonzert,
1971 folgte die «1. Sinfonia, Opus 37».
Über 400 Werke schuf er in den weiteren Jahren.
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AUFFÜHRUNGEN ZUM
80. GEBURTSJAHR VON
GION ANTONI DERUNGS
Prolog des Johannes op. 129
29. März 2015, Bischofszell
2. April 2015, St. Gallen
3. April 2015, Heiden
Leitung: Mario Schwarz
Cinque danze galanti per quintetto
op. 87 und Lieder
5. April 2015, Savognin
Leitung: Luzius Hassler
Sechste Sinfonie op. 153, Zweites
Konzert op. 109, Chanzuns d’amur
op. 148, Bündner Tänze op. 174
2. Juni 2015, Bern
Leitung: Mario Schwarz
Lieder für Männerchor
7. Juni 2015, Ilanz
13. Juni 2015, Meiringen
Leitung: Luzius Hassler
Serenata Bodana op. 154
20. Juni 2015, Fischingen
26. Juni 2015, Rheineck
Leitung: Mario Schwarz
Musikszenische Biographie von
Armin Brunner
17. Juli 2015, Vella
23. Oktober 2015, Luzern
25. Oktober, Zürich
und zum rätoromanischen Volkslied
von Derungs an. Dem Volkslied habe
er in seinen Kompositionen eine neue
Identität gegeben, erklärt er. Für Scherrer gab es zwei Komponisten Derungs:
vokal einen unglaublich feinfühli­gen,
stark romanischen mit von Ravels
Klangwelt inspirierten französischen
die Rätoromanen
«inErdiehatkompositorische
Moderne geführt.»
Clau Scherrer
Farben. Instrumental, Ende der 70-er,
anfangs 80er- Jahre, einen Expressionisten, der im Stil experimentell war.
Später sei Derungs wieder zur Tonalität
zurückgekehrt und habe sich in seiner
letzten Complet, anfangs 2014 urauf­
geführt im Kloster St. Johann im Val
Müstair anlässlich des Origen-Karlsjahrs, ganz mit ihr versöhnt, erinnert er
sich.
Eine konkrete Einreihung von Derungs
in die Musikgeschichte fällt Scherrer
allerdings schwer. Arnold Spescha,
langjähriger Freund des Komponisten,
schreibt ihm Einflüsse von Strawinsky
und Schostakowitsch als auch von
Schweizer Komponisten wie Willy
Burkhard und Paul Müller zu. In den
60er-Jahren habe er sich auch mit der
 XXX. (Foto: XXX)
Volkslieder, Desiderio p. 162 und
Sontga Margriata op. 78
Sonntag, 6. September 2015, Chur
Leitung: Clau Scherrer
Nibels/Vier Proprien op. 170
31. Oktober 2015, Appenzell
1. November 2015, St. Gallen
Leitung: Mario Schwarz
 XXX. (Foto: XXX)
1986 schrieb Derungs mit «Il cerchel
magic» die erste rätoromanische Oper
überhaupt. Der Regisseur, Gian Gianotti, erinnert sich an die damalige kul­
turelle Situation im Kanton Graubünden: «Musiktheater war vor Gion Antoni Derungs undenkbar. Mit einer tie­fen Ernsthaftigkeit und einer starken
künstlerischen Herangehensweise hat
er die Volkstümlichkeit in die Professionalität übernommen und Vorausset-
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TERRA GRISCHUNA 2 | 2015
zungen für das heutige Musiktheater
geschaffen».
Eine grosse Freundschaft und eine enge
Zusammenarbeit verbanden den Komponisten über viele Jahre mit Giovan­ni
Netzer. Nebst zahlreichen anderen
Kompositionen für das Origen-Kul­
turfestival schrieb er bereits 1998 «König Balthasar» für den Intendanten.
Sein szenisches Oratorium «Apocalypse» hob 2005 das Festival mit aus der
Taufe. Im Jahr darauf eröffnete die
Oper «Benjamin» die Origen-Theaterburg. Auf die Frage, wie denn Gion Antoni Derungs als Mensch gewesen sei,
antwortet Netzer mit einem Schmunzeln: «Er war ein lustiger Mensch, einer
mit einem ganz speziellen Humor».
Ein vielfältiger Komponist
Der Dirigent Clau Scherrer spricht die
grosse Affinität zur geistlichen Musik
Sechste Sinfonie op. 153 und
Zweites Klavierkonzert op. 109,
Franz Schubert, Sinfonie Nr. 9,
Die Unvollendete
10. November 2015, Konstanz
11. November 2015, Zürich
Leitung: Mario Schwarz
evtl. noch zusätzlicher Text, um den Kasten bündig zu füllen
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Avantgarde der damaligen Zeit auseinandergesetzt, wie etwa Ligeti und Lutoslawski, ein Phänomen, das in manchen Kompositionen Spuren hinterlassen habe, so Spescha. Für ihn war er
aber auch ein konsequenter Mensch,
der immer seinen eigenen kompositorischen Weg gegangen und sich treu ge-
Chur
Vella
 In Vella geboren und in Chur gearbeitet
und gelebt: Gion Antoni Derungs.
Autorin Maya Höneisen ist freischaffende
Journalistin, sie lebt in Paspels.
[email protected]
Literatur Thomas Gartmann: Gion Antoni
Derungs, in: Komponisten der Gegenwart
(KDG), Edition text+kritik, 2007
Abbildungen Archiv Gion A. Derungs
Online www.gionantoniderungs.ch,
www.musinfo.ch
blieben sei, «ein tiefgründiger Mensch
mit einer unglaublichen Menschlichkeit». Einer, der ohne Unterschied für
jeden Dirigenten komponiert hat, der
mit einem Anliegen auf ihn zukam.
Und für Scherrer ist eines klar: «Gion
Antoni Derungs hat die Rätoromanen
in die kompositorische Moderne geführt».
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