the PDF file

V. Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus – moderne Ideologien und ihre
Transformationen
Wie auch der Jihadismus stehen der Antisemitismus und der antimuslimische Rassismus in engem
Zusammenhang mit kulturalistischer Ideologie. Huntington selbst betrachtet antimuslimischen
Rassismus und Islamismus, wie in Abschnit II.2.3 gezeigt, als konsequenten Ausdruck kulturellen
Selbstbewusstseins. Huntington (2002), der sich im „Kampf der Kulturen“ affirmativ auf den
kulturalistischen Vordenker des Nationalsozialismus Oswald Spengler bezieht (vgl. ebd., S. 74),
knüpft – trotz oder gerade wegen seines immer wieder demonstrativ betonten Kulrurrelativismus –
an eine Tradition von antimuslimisch rassistischem und auch antisemitischem Denken an. Viele von
Huntingtons Motiven lassen sich auch im 1887 erstmals erschienen Buch „Das Gesetz des
Nomadentums und die heutige Judenherrschaft“ des Wiener Orientalisten Adolf Wahrmund (1919)
wieder erkennen, das im folgenden Unterabschnitt eingehender dargestellt werden wird.
Wahrmunds Buch ist insofern für die vorliegende Arbeit relevant, als dass sich in ihm eine
gemeinsame Wurzel von Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus erkennen lässt, die in
beiden Fällen auf das – kulturalistische interpretierte – Unverstandene am Kapitalismus
zurückgeht1. Die Betrachtung des historischen Ursprungs der benannten Ideologien soll logische
Zusammenhänge zwischen ihnen erkennbar machen, die gegenwärtig durch diskursive
Frontstellungen und hegemoniale Interpretationen von Geschichte und Zeitgeschichte verschleiert
werden.
Schließlich soll in einem weiteren Abschnitt anhand des Buches „Antisemitismus als kultureller
Code“ der israelischen Historikerin Shulamit Volkov dargestellt werden, welche Funktion
kulturalisierte Feind-Definitionen für reaktionäre Bewegungen einnehmen können.
V.1 Die Arier und der „Semitismus“: Adolf Wahrmunds „Gesetz des Nomadentums“
Zwar nimmt Wahrmund im Gegensatz zu Huntington keine Definition des Begriffes 'Kultur' vor,
allerdings beruht auch Wahrmunds Argumentation auf einem objektivistischen Kultur-Begriff, der
Kultur als Ansammlung von Normen, Werten und Traditionen betrachtet, die gesellschaftliche
Zustände hervorbrächten. Während Huntington den Zusammenhang zwischen 'Kultur' und 'Natur
1 Die Feststellung einer gemeinsamen Wurzel der benannten Ideologien bedeutet keinesfalls, dass
der in heutigen Zeiten in vielen europäischen Ländern virulente antimuslimische Rassismus mit
dem nationalsozialistischen Vernichtungsantisemtismus gleichzusetzen sei. Es geht auch nicht
um einen "Vergleich" wie ihn Sabine Schiffer und Constantin Wagner (2009) in ihrem Buch
"Antisemitismus und Islamophobie – ein Vergleich" durchführen. Vielmehr soll die gemeinsame
Verwurzelung beider Ressentiments in einer kulturalistisch verzerrten Wahrnehmung der
kapitalistischen Vergesellschaftungsweise dargelegt werden.
nicht thematisiert, betrachtet Wahrmund einen Einklang beider als dichotom begriffenen Sphären
als Idealzustand. Vor allem soll aber die 'arische Kultur' von Elementen 'fremder Kulturen' frei
gehalten werden. „Indem das uns alle Bewältigende der überlieferten Kulturbehelfe selbst
bewältigt, diese dem Gebote der Natur und des Evangeliums dienstbar gemacht werden, gewinnt
insbesondere der festansassäige Ackerbauer die Freiheit, sein Leben nach eigenem Gesetze zu
gestalten, und damit auch die Lebensfreude wieder, und es eröffnet sich die Aussicht, durch
Ausschließung der dem Nomadengesetz entsprechenden 'Revolution' die Dinge auf der Erde mehr
und mehr nach dem arischen Gesetze der Evolution gestalten zu können. Wir müssen aber die
Grundlage einer neuen Anschauung der menschlichen Dinge gewinnen, die für Jahrtausende
ausreicht, ohne daß der Zusammenhang (die Kontinuität) mit der Vergangenheit gewaltsam
abgebrochen wird, – wir müssen die vorhandenen Kulturbehelfe bewältigen und dem Evangelium
dienstbar machen, ohne die Lebens- und Gesellschaftsformen, welche die Kultur geschaffen hat,
gewaltsamer Zerstörung preiszugeben, und wir müssen den Sinn für das Natürlich-Gefundene
wieder gewinnen, ohne das Wissen über jene geschichtlichen Vorgänge zu veerlieren, die uns das
Natürliche veredeckt hielt“ (Wahrmund 1919, S. 6).
Der antagonistische Kulturkampf zwischen 'dem Westen' und 'dem Islam' bei Huntington findet sich
über 108 Jahre zuvor bereits bei Wahrmund in Form des Antagonismus zwischen festansässigem
'Ariertum' und nomadischen 'Semitismus'. Der Begriff des Semitismus umfasst hierbei sowohl die
Jüd_innen, als auch die Muslime (vgl. ebd., S. 9).
Hintergrund des Konfliktes sind laut Wahrmund unterschiedliche kulturelle Gesetzmäßigkeiten,
denen Arier und Semiten folgen würden: „Die sogenannten arischen oder indogermanischen Völker,
nämlich die Hindu, Perser, Armenier, Griechen, Italiker, Kelten, Germanen und Slawen, sind seit
Jahrtausenden seßhafte Ackerbauer, und wenn sie einmal durch Überbevölkerung oder andere Not
zum Wandern gezwungen werden, so ziehen sie nur aus, um von neuem feste Wohnsitze
aufzusuchen“ (ebd., S. 10). Der Semite hingegen folge dem „Gesetz der Wüste“ (vgl. ebd., S. 11)
und Wahrmund leitet die Implikationen dieses vermeintlichen Gesetzes mit einer frappierend an den
postmodernen Kulturalismus erinnernden Herleitung aus der arabischen Sprache her: „Den Begriff
des lilängeren Aufenthaltes an einem Orte bezeichnet der Araber durch Stehenlassen (iqâmet), der
Zelte nämlich. Für Stamm oder Volk kann er das Wort qaum verwenden, d.h. ein Aufstehen, ein sich
Erheben – ursprünglich nur von einer Abteilung gebraucht, die sich eben zum Wechsel der
Weideplätze oder zum Kampfe erhebt, – daher sagen die Franzosen in Algier: les goums (qaum) se
sont levés, – und die Beweglichkeit des Wohnsitzes gehört so sehr zu den unerläßlichen
Voraussetzungen seiner Glückseligkeit, daß die Begriffe festwohnen und arm elend sein für ihn
zusammenfallen“ (ebd., S. 12). Das Gesetz der Wüste schreibe es dem Araber vor, sich – anders als
der Arier, dessen 'Kultur' auf eigener Arbeit gründe – dem parasitären Ausrauben sesshafter
Kulturen zu verschreiben: „Mit dem Titel Gâzi (Râzi) ist das hächste Ziel erreicht, welches ein
Muslim sich stecken kann, und es ist wohl zu merken, daß die Hauptmerkmale dieses Begriffes
Überfall, Zerstörung, Mord und Raub sind. Die Gewohnheit der Razzien ist aber auf das Gesetz der
Wüste zurückzuführen“ (ebd., S. 15). Das für den 'sesshaften Arier' gefährlichste Volk sind nach
Wahrmund freilich „die Juden“, die „das Ergebnis einer künstlichen Geistesschulung“ (ebd., S. 25)
seien. 'Der Jude' ist für Wahrmund gewissermaßen der ultimative Nomade: der Tempel seines
Gottes sei „zerstört worden“ und deshalb hat sich das jüdische „Volk […] über die Erde zerstreut,
aber es 'kampiert' heute noch, im heiligen Kriege gegen alle Welt begriffen, rings um die
'Bundeslade', welche die Gegenwart des alten Nomadengottes versinnlicht“ (ebd., S. 27). Der Jude
razziiert die arische Kultur nicht durch externe Eroberungen, sondern er führt Wahrmund zufolge
den Krieg gegen sie von innen heraus. Dabei eigne er sich 'arisches Kulturgut' an und verändere es
auf eine spezifisch jüdische Weise: „In der Tat ist beim Juden auch die Vertriebs- und
Verschleisserfähigkeit für die geistige Ware zur Kunstfertigkeit entwickelt; dabei geht es aber ohne
etwas Aneignung nicht ab, und es muß auch die zu Markte gebrachte fremde Geistesware unter
jüdischen Händen immer eine Art Judaisierung erfahren, eben weil dem Vermittler das
Geisterzeugte zur Ware wird. Ein Bilderhändler alteriert ein Gemälde von Rafael oder Rubens nicht
in seinem Werte, wenn er auch von der Kunstschätzung nur die Grimmasse machen kann; die
arische Idee aber wird durch den jüdischen Vermittler alteriert, weil sie durch seinen Judenkopf
gehen muß, um von ihm ausgesprichen zu werden“ (ebd., S. 35f).
An dieser Stelle wird noch einmal besonders deutlich, wo – bei allen Unterschieden – die
Schnittmengen zwischen dem modernen deutschen Antisemitismus, einem reaktionären
Kulturrelativismus im Stile Huntingtons und dem in Abschnitt III.2 mit Verweis auf Kurz bereits
angesprochenen kulturalistisch gewendeten Weltbild der postmodernen Linken liegen. Das
„Geisterzeugte“ wird im o.g. Zitat nicht aufgrund der Integration aller gesellschaftlichen Sphären in
kapitalistischen Markt zur Ware, sondern aufgrund der im „Judenkopf“ enthaltenen Ideenwelten.
Vergesellschaftung wird zum Produkt spezifischer Ideensysteme erklärt.
Für Wahrmund sind, wie bereits erwähnt, 'der Araber' und 'der Jude' zwei Vertreter des semitischen
Nomadentums. Anhand von Wahrmunds Text lässt sich eine heute längst in Vergessenheit geratene
gemeinsame logische Wurzel von Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus ziehen, die auf
kulturalistischer Ideologie beruht. Es ist in diesem Denken „das Gesetz der Wüste“, eine Art
kultureller Hintergrund das die semitische Neigung zum razziieren hervorbringt. Jede semitische
Aneignung wird als „pars pro toto“ (Geertz, s. Abschnitt IV.1) der gesamten semitisch-nomadischen
Kultur angesehen. Wenngleich heute der antimuslimische Rassismus und der Antisemitismus in
manchen Fällen sogar in einem scheinbaren Gegensatz stehen, enthalten sie diesen Logikstrang
nach wie vor. Der sekundäre, auf Israel gerichtete Antisemitismus, ist voll von Vorwürfen einer
vermeintlichen 'Künstlichkeit' und des razziieren fremden Bodens (vgl. z.B. Jebsen 2013). Und dem
'politischen Islam' wird ebenfalls vorgeworfen, Europa erobern zu wollen, eine „schleichende
Islamisierung“
voranzutreiben
(vgl.
z.B.
Sabaditsch-Wolff
2011).
Antisemitismus
und
antimuslimischer Rassismus haben sich diskursiv in unterschiedliche Richtungen entwickelt. Dieser
bezeichnet den Glauben an eine heimliche vermeintlich jüdische (und gegenwärtig auch
zionistische) Weltherrschaft, jener die Vorstellung einer Bedrohung des 'Abendlandes' durch eine
Machtübernahme des 'islamischen Kulturkreises'. Diese sich auseinanderwickelnden Tendenzen
sind bereits bei Wahrmund erkennbar. Und dennoch bleibt die gemeinsame logische Wurzel, die in
letzter Konsequenz eine kulturalistische Auffassung des Unverstandenen am Kapitalismus darstellt.
Das erklärt auch, warum die kulturalistische Ideologie gegenwärtig eine derartige Relevanz inne
hat. Inbesondere die Krisenerscheinungen des Kapitalismus sind es, die die Ohnmacht der
kapitalistischen
Subjekte
gesellschaftlichen
gegenüber
Verhältnissen
den
sichtbar
von
machen.
ihnen
selbst
Der Versuch
(unbewusst)
der
hergestellten
systemimmanenten,
konformistischen Wiederermächtigung führt nicht über die Reflexion über die eigene Stellung im
Vergesellschaftungsprozess und auf daraus folgende Handlungsoptionen. Er führt gerade über die
Projektion der eigenen Leid- und Ohnmachtserfahrungen auf ein ideologisch exkommuniziertes
Äußeres. Während in der Gegenwart vor allem die Zerfallsprozesse in der Peripherie und daraus
erwachsende vermeintliche und tatsächliche Terrorismusgefahren und Migrationsströme – also
gerade der Ausschluss von Menschen von der Möglichkeit ihre Arbeitskraft zu verkaufen (nicht
gleichbedeutend mit deren Ausschluss aus den Zwängen der Wertvergesellschaftung) – mittels
kulturalistischer Logik erklärt werden, war es zu Wahrmunds Zeit die Industrialisierung und die
Unterwerfung unter die Konkurrenz des Arbeitsmarktes, der auf affirmativ-konformistische Weise
kulturalistisch
verarbeitet
wurde:
„Wien
zählte
früher
über
2000
ganz
unabhängige
Schneidermeister; heute ist deren Zahl jedoch auf ca. 300 herabgesunken, voon welchen jedoch nur
30-40 ein namhaftes Geschäft besitzen. Die übrigen sind zu Sklaven des jüdischen Magazineurs
herabgesunken, der ihnen Hungerlöhne zahlt“ (Wahrmund 1919, S. 71). Wahrmunds
konformistische Sichtweise zeigt sich daran, dass er die von ihm affirmierten Konsequenzen des
Kapitalismus (Auflösung unmittelbarer Herrschaft) als 'christliche Errungenschaften' definiert,
während er die von ihm als negativ angesehenen Konsequenz (Arbeit als Ware, allgemeine
Konkurrenz, Effizienssteigerung, Zentralisierung, Rationalisierung, Minimalprinzip) als jüdisch
veräußerlicht2: „Im gesamten Altertum war das Handwerk Sklavenarbeit; das Christentum hat das
Handwerk geschützt und geadelt durch die Zunft. Die Zunftverbände sind aufgelöst worden; was ist
natürlicher als daß da, wo der Semite das Gesetz gibt, das Handwerk in die Sklaverei zurücksinkt?“
2 In Abschnitt III.1 wurde bereits gezeigt, dass diese beiden Seiten des Kapitalismus untrennbar
miteinander zusammenhängen.
(ebd., S. 73). In gleicher Weise verhält es sich, wenn Huntington die Werte der Aufklärung,
Menschenrechte oder Freiheit der Märkte affirmativ 'dem Westen' zuschreibt und ihre verzerrten
Spiegelbilder, den Nihilismus der Jihadist_innen und die Plünderungsökonomien der Peripherie
ideologisch in andere 'Kulturkreise' veräußerlicht.
Schließlich ist noch ein letzter Hinweis in Bezug auf Wahrmunds Aktualität zu geben. Zwar war zu
Wahrmunds Zeiten der kapitalistische Markt noch in einer Expansion begriffen, während er
gegenwärtig an seine inneren Schranken stößt und dennoch hat Wahrmund es verstanden, eine bis
heute vorhandene Tendenz kapitalistischer Vergesellschaftung kulturalistisch verzerrt darzustellen.
Der kulturalistische Begriff des Nomadentums, der von Wahrmund zur Erklärung von Phänomenen
des Fortschritts der kapitalistischen Produktivkräfte und der 'Entwurzelung' traditioneller Strukturen
verwendet wurde, findet sich auch in Hetzels (2001) kulturalismuskritischer Theorie der
Entdifferenzierung: „Der fortgeschrittene Kapitalismus transformiert unser aller Leben zunehmend
in eine Sequenz von Fahrten ohne Ziel und Ausgangspunkt. Vom verelendeten Bewohner der Slums
in der dritten Welt bis zum Protagonisten der freien Marktwirtschaft verwandelt der entfesselte
Kapitalismus alle Menschen in Nomaden. Die permanente Bewegung saugt die Orte auf,
verwandelt sie zu Durchgangs- und Umsteigestationen, reduziert sie auf leere Ortsnamen, die sich
keine Erinnerung mehr knüpfen“ (ebd, S. 120). Wenn es eine Tendenz zum allgemeinen
'Nomadentum' im spätmodernen Kapitalismus gibt, dann ist der gegenwärtige Kulturalismus
möglicher Weise der letzte verzweifelte Versuch diese allgemeine gesellschaftliche Tendenz zur
Umwälzung aller Strukturen, zur ent-Räumlichung und zur Beschleunigung zu externalisieren. Wie
bereits in Kapitel IV.2 dargelegt entzieht der selbe Zusammenhang, der den Kulturalismus als
konformistische Ideologie funktional macht, diesem zunehmend. die Grundlage.
V.2 Die Funktion kulturalistischer Feinddefinitionen und Volkovs „Antisemitismus als
kultureller Code“
Sowohl bei Wahrmund als auch bei Huntington gibt es Hinweise darauf, dass ihre Theorien nicht
nur ideologisch verzerrte Darstellungen ihrer Zeit sind. Der von beiden erhobene Vorwurf an
Mitglieder der eigenen 'Kultur', den notwendigen Kulturkampf nicht annehmen zu wollen, verweist
auch auf eine bestimmte politische Dimension der benannten Texte. Bei Wahrmund (1919) liest sich
das wie folgt: „So selbstverständlich es für den Kenner ist, daß unser Judentum einen Staat im
Staate bilden und auf die Zerstörung des Wirtsstaates ausgehen muß, so schwer entschließt sich der
christliche Laie hieran zu glauben“ (ebd., S. 86) 3. Für Huntington (2002) ist das Problem nicht der
christliche Laie, der die Gefahr der jüdischen Razziierung von innen nicht erkennen will, sondern es
sind Politiker_innen, die einer naiven multikulturalistischen Illusion folgen, während die
„Einwanderer[n] aus anderen Kulturkreisen, [...] eine Assimilation ablehnen und nicht aufhören,
Werte, Gebräuche und Kultur ihrer Herkunftsgesellschaften zu praktizieren und zu propagieren“
(ebd., S. 501). In Europa handele es sich bei diesen für die 'westliche Kultur' schädlichen
Migrant_innen vorwiegend um Muslime. Und die Politiker_innen der westlichen Staaten
unterliegen Huntington zufolge im Angesicht der Bedrohung der 'eigenen Kultur' einer
fehlgeleiteten multikulturalistischen Ideologie: „In den neunziger Jahren machte die Administration
Clinton die Ermutigung multikultureller Verschiedenartigkeit zu einem ihrer Hauptziele“ (ebd., S.
502), wohingegen frühere „politische Führungspersönlichkeiten […] die Gefahren rassischer,
regionaler, ethnischer, wirtschaftlicher und kultureller Verschiedenartigkeit“ (ebd., S. 503)
gefürchtet hätten. Während für Wahrmund die vermeintliche Illusion des friedlichen
Zusammenlebens von 'Ariern' und 'Semiten' noch auf christlicher Gutgläubigkeit beruhte, ist für
Huntington eine politische Ideologie Ursache der mangelnden kulturellen Wehrhaftigkeit: „Die
Multikulturalisten in Amerika verwerfen […] das kulturelle Erbe ihres Landes. Anstatt jedoch zu
versuchen, die USA mit einer anderen Kultur zu identifizieren, möchten sie ein Land der vielen
Kulturen schaffen, will sagen ein Land, das zu keiner Kultur gehört und eines kulturellen Kerns
ermangelt. Die Geschichte lehrt, daß ein so beschaffenes Land sich nicht lange als kohärente
Gesellschaft halten kann“ (ebd.). Hinter der Ideologie des Multikulturalismus steckt laut Huntington
allerdings mehr als nur der Wunsch nach Abschaffung der 'eigenen Kultur' zu Gunsten von 'fremden
Kulturen'. Die mit dem Multikulturalismus vermeintlich einhergehende Forderung nach
Gleichberechtigung für diskriminierte Gruppen sei ebenfalls eine Gefahr für westliche Werte: „Die
Multikulturalisten stellten ein weiteres zentrales Element des amerikanischen Credos in Frage,
indem sie die Rechte von Individuen durch Rechte von Gruppen ersetzten, welche im wesentlichen
über Rasse, Ethnizität, Geschlechterzugehörigkeit und sexuelle Präferenz definiert wurden“ (ebd.,
S. 504). Die politische Frontstellung gegen (vorwiegend muslimische) Migrant*innen bei
gleichzeitiger Ablehnung des vermeintlichen Multikulturalismus und der Infragestellung von
Geschlechternormen und Diskriminierungsformen ist in der deutschen Rechten gegenwärtig en
vogue. Der Autor Akif Pirincçi – der im vergangenen Jahr bei der rechtsradikalen Düsseldorfer
Burschenschaft Rhenania Salingia und in diesem Jahr beii einer Demonstration von „Köln gegen
die Islamisierung des Abendlandes“ aufgetreten war (vgl. MBR Köln 2015) – bringt das in seinem
Buch „Deutschland von Sinnen. Der Irre Kult um Frauen, Homosexuelle und Zuwanderer“ wie
3 Wie in Abschnitt II.2.3 gezeigt, bedient sich Huntington des Begriffes der "Wirtskultur" in
Bezug auf die Zielländer von muslimischer Migration. Ein weiterer Hinweis auf die
gemeinsame kulturalistische Wurzel von Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus.
folgt zum Ausdruck: „Upps, jetzt habe ich ein Wort gesagt, das die jüngeren Leser gar nicht mehr
kennen, weil dessen Benutzung zur öffentlichen Ächtung führen könnte, und das voll nazi ist:
Landsmann. In dem Wort […] stecken gleich zwei total faschistoide Wörter drin. Zunächst ›Land‹,
was es ja eigentlich so nicht geben darf, wenn man die Sache mit den ›offenen Grenzen‹ und ›Jeder
ist ein Ausländer‹ ernst nimmt. […] So richtig faschistoid wird es aber erst mit dem Zusatzwort
›Mann‹, wo wir doch gelernt haben, daß der Mann nur ein gesellschaftliches Konstrukt ist und, als
es ihn noch gegeben hat, er nur gewalttätig, frauendiskriminierend, sexistisch, halt so ein Nazi war.
Vielleicht haben Türken und Araber Landsmänner, aber wir hier in Deutschla … ähm, auf
deutschem Staatsgebiet kennen wir so etwas nicht“ (ebd., S. 233).
Nun wird es schwierig sein, einen inhärent logischen Zusammenhang zwischen der Feindschaft
gegen über Angehörigen von vermeintlich muslimischen Bevölkerungsgruppen und der Feindschaft
gegenüber der Gleichberechtigung von Frauen, Homosexuellen und anderen diskriminierten
Gruppen zu finden. Es erscheint sogar logisch widersprüchlich, wenn kulturalistische Ideologen auf
der einen Seite 'dem Islam' zuschreiben, seine Werte seien nicht mit den Freiheits- und
Gleichheitsversprechen der Aufklärung vereinbar und auf der anderen Seite die Forderung nach
Einlösung genau dieser Versprechen durch diskriminierte Gruppen für kulturschädlich halten. Vor
diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob es gegenwärtig zwischen antimuslimischem Rassismus
und anderen reaktionären Ideen vielmehr einen funktionalen als einen inhärent-logischen
Zusammenhang gibt. Volkov (2000) stellt eine derartige These in Bezug auf den Antisemitismus des
frühen 20. Jahrhunderts in Deutschland auf. „Für Millionen Deutsche aber und für die Mehrheit der
deutschen Juden blieb 'Antisemitismus' ein kultureller Code. Sie wiegten sich in der – wenngleich
nicht mehr ganz unangefochtenen – Sicherheit, es mit einem vertrauten Bündel von Auffassungen
und Einstellungen zu tun zu haben“ (ebd., S. 36). In letzter Konsequenz, so Volkov, habe diese
Auffassung dazu geführt, dass auch Jüd_innen das mörderische Potenzial des Antisemitismus
unterschätzt hätten (vgl. ebd.). Volkovs These vom 'Antisemitismus als kulturellem Code' meint,
dass der Antisemitismus des 20. Jahrhunderts in Deutschland „nicht nur Judenhaß“ bedeutet hätte,
sondern ein „ein zum Symbol erhobener Judenhaß“ (ebd., S. 28) gewesen sei. Antisemitismus sei
nicht nur Feindschaft gegen konkrete Jüd_innen gewesen, sondern eine Haltung gegen jeden
'Semitismus'. Dieser Begriff sei notwendig gewesen, „um den symbolischen Prozeß auszudrücken,
der judenfeindliche Einstellungen zur Analogie für eine ganze Serie anderer Auffassungen machte“
(ebd.). Die kapitalistische Modernisierung hatte eine affirmative Krisenideologie hervorgebracht,
die – wie im vorhergehenden Abschnitt erläutert – die unverstandenen und abgelehnten Prozesse
des Kapitalismus auf kulturalistische Weise externalisierte. Volkovs These kann diese Analyse um
eine weitere Facette ergänzen. Denn der Antisemitismus war ihr zufolge nicht nur Ideologie,
sondern auch ein Label für eine Reihe an reaktionären Einstellungen: „Wie ein antisemitischer
Standpunkt im Wilhelminischen Deutschland praktisch eine anti-emanzipatorische Position und
Widerstand gegen die unterschiedlichen Bekundungen des modernen sozialen und politischen
Freiheitsringens bedeutete, so bedeutete die Ablehnung des Antisemitismus das Eintreten für
Emanzipation, und zwar nicht allein der Juden, sondern der Gesellschaft insgesamt“ (ebd., S. 35).
Angesichts dessen, dass Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus zwar weder vergleichbar
noch gleichzusetzen sind, aber eine gemeinsame kulturalistische Wurzel haben, stellt sich die Frage,
ob der antimuslimische Rassismus gegenwärtig auch einen Symbolcharakter inne hat. Bei
Huntington ist es sicherlich eher ein genereller Kulturalismus, der unter anderem 'den Islam' als
'dem Westen' feindlichen 'Kulturkreis' betrachtet, der sich noch undifferenziert mit einer Ablehnung
links-liberaler und 'multikulturell' orientierter Regierungspolitik sowie der Gleichberechtigung von
diskriminierten Gruppen verbindet. Im Deutschland der Gegenwart jedoch deutet einiges darauf
hin, dass das kulturalistische Feindbild 'des Islam' nicht nur eine ideologische, sondern auch eine
symbolisch-politische Funktion inne hat. Die rassistische Bewegung PegIdA (Patriotische Europäer
gegen die Islamisierung des Abendlandes) konnte seit Ende 2014 wöchtlich in ganz Deutschland
tausende Menschen auf die Straßen bewegen (vgl. Rucht 2015). Dabei sind die Forderungen relativ
diffus. Abgelehnt werden in einem offiziellen Positionspapier unter anderen „Waffenlieferungen an
verfassungsfeindliche,
verbotene
Organisationen
wie
z.B.
PKK“,
„Parallelgesellschaften/Parallelgerichte in unserer Mitte, wie Sharia-Gerichte, Sharia-Polizei,
Friedensrichter usw.“, „eine frauenfeindliche, gewaltbetonte politische Ideologie“ und auch „dieses
wahnwitzige „Gender Mainstreaming“, auch oft „Genderisierung“ genannt, die nahezu schon
zwanghafte, politisch korrekte Geschlechtsneutralisierung unserer Sprache!“ (Söhler 2014). Man
wolle sich „NICHT dem medialen Mainstream und somit auch nicht den 'Gutmenschen'!“ (vgl.
PegIdA 2015) beugen.
Dass das alles unter dem kulturalistischen Label „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des
Abendlandes“ läuft, ist kein Zufall. Auf der einen Seite ist das der Popularität und Funktionalität
kulturalistischer Ideologie für eine konformistische Kritik an den politischen Verhältnissen
geschuldet. Andererseits handelt es sich um den Versuch, die Anti-Islamisierung als Symbol zu
nutzen, um in Zeiten einer fragmentierten und organisatorisch schwachen Rechten das reaktionäre
Potenzial in der großteils postpolitisch gewordenen deutschen Bevölkerung zu einer rechten
Bewegung zu formieren.