Psychologisches Symposium 16. Oktober 2015 Rotenburger Werke Reflexionen zur Dekonstruktion einer (noch) unbeliebten Lebensphase ____________________ Thomas Friedrich-Hett Essen / Marburg Altern Dekonstruktion gesellschaftlicher Diskurse und Vorurteile _______________________ 1. Altersbilder und Wirklichkeiten - Die Macht der inneren Bilder 2. Herausforderungen für die klinische Praxis 3. Stolpersteine in der Arbeit mit älteren Menschen 4. Systemische Konzepte für die Arbeit mit älteren Menschen 5. Methoden und Arbeitsfelder 1.Altersbilder und Wirklichkeiten I 1.Altersbilder und __________________________ 1.Altersbilder undWirklichkeiten WirklichkeitenI I __________________________ __________________________ Der größte Irrtum junger Menschen Ist ihre Vorstellung vom Alter. • • Alter negativ betrachtet Alterund undAltern Alternwerden werdenweitgehend weitgehend negativ betrachtet Hermann Kesten (Friedan, (Friedan,1995) 1995) • Alter und Altern werden weit gehend negativ betrachtet (Friedan, 1995) • • Vorurteile Vorurteileführen führenzuzuStigmatisierungen Stigmatisierungenund undBenachteiliBenachteiligungen gungen(z.B. (z.B.Baltes, Baltes,1996) 1996) • Vorurteile führen zu Stigmatisierungen und Benachteiligungen (Baltes, 1996; Lehr & Niederfranke, 1991) • • Neg. Erwartungshaltungen begünstigen Fähigkeitsverluste Neg. Erwartungshaltungen begünstigen Fähigkeitsverluste (Lehr, (Lehr,1994) 1994) • negative Erwartungshaltungen begünstigen Fähigkeitsverluste (Lehr, 1994) 1.Altersbilder und Wirklichkeiten II __________________________ • Vorherrschendes Defizitmodell ist fachlich überholt, trotzdem beherrschen Abbau und Kostenfragen die Medien (Gergen & Gergen, 2004) • Altersverfall als eine sich selbst erfüllende Prophezeiung die Fähigkeitsverluste begünstigt, betrachtbar (FriedrichHett, 2005) • Alter kann als soziale (Baltes, 1996) und relationale Kategorie verstanden werden (Friedrich-Hett, 2007) 1.Altersbilder und Wirklichkeiten III __________________________ • Die Mehrzahl altert bis ins achte Lebensjahrzehnt relativ gesund, ein allgemeiner Altersabbau beginnt erst bei 80-85 Jahren (Baltes & Staudinger, 1996) • Die meisten Krankheiten im Alter sind keine Alterskrankheiten, sondern alternde Krankheiten (Lehr, 2009) • Der subjektive Gesundheitszustand korreliert hoch mit Langlebigkeit, der objektive Gesundheitszustand nur gering (Lehr & Thomae, 1987; Mayer & Baltes, 1996) 1.Altersbilder und Wirklichkeiten IV __________________________ • Pflegebedürftigkeit wird überschätzt, erst über 90-Jährige erhalten zu 61% Leistungen der Pflegeversicherung, zuvor sind es nur 2-5% (Deutscher Bundestag, 2010, 186) • Pos. Affekte und Einstellungen schützen vor Gebrechlichkeit (Ostir et al., 2004), hohe soz. Partizipation/Beziehungsvielfalt vor Funktionsverlust (Avlund et al., 2004) • Ältere mit negativen Altersbildern bewegen sich weniger, als Ältere mit positiven (Wurm et al., 2010) 1.Altersbilder und Wirklichkeiten V __________________________ • Bzgl. Intelligenz zeigen über 50% der 60-75jährigen keine Verluste, 10% sogar eine Steigerung (Schaie, 1983) • Neurobiologie bestätigt neurologische Plastizität auch im Alter (Grawe, 2004) • Lernfähigkeit ist erhalten, Lernen ist nur langsamer und weniger umfangreich, z.T. aber auch genauer, dafür aber störanfälliger (Kruse & Lehr, 1996) 1.Altersbilder und Wirklichkeiten VI • Gedächtnisausfälle werden überbewertet, sie hängen häufig mit Belastungen und Stress zusammen (Neupert, 2003) • Demenz überschätzt, bei über 65jährigen ca. 5%, bei über 80jährigen 20%, bei über 90jährigen 30% betroffen (Maercker, 2004) • Kognitives Potential bis ins hohe Alter ist keine Ausnahme, Verluste oft Folge von Berufsausstieg, mangelnder Beanspruchung u.a. (Friedrich-Hett et al., 2014) 1.Altersbilder und Wirklichkeiten VII • Ältere sind genauso glücklich und zufrieden, wie jüngere (Smith & Baltes, 1993) • Ältere sind flexibler als Jüngere hinsichtlich schützender Selbsttransformationen (Brandtstetter & Greve, 1992) • Ältere nehmen Gefühle komplexer, realistischer und erfüllender wahr, als Jüngere (Lawton, 2001) 1.Altersbilder und Wirklichkeiten VIII __________________________ • LZ-Sudie: Menschen mit pos. Altersbildern lebten ca. 7,5 Jahre länger (Levy et al., 2002) • Optimistische Menschen haben nach Statistiken deutscher Versicherungen eine höhere Lebenserwartung (Die Zeit, 10.11.2005, S. 35) • Altern bietet vielfältige Potentiale, pos Altersbilder können Schlüssel zur Selbstentfaltung/Entwicklung und für neue Freiheiten im Alter sein (Friedrich-Hett, 2007; Positiv Aging Newsletter) 2. Herausforderungen für die klinische Praxis I _____________________________________ Das Alter ist wundervoll Wir dürfen es uns nur nicht vermiesen lassen Elisabeth Steinmann • Vorurteile dominieren auch in helfenden medizinischen Berufen, Psychotherapeuten halten Ältere oft für nicht mehr therapierbar (Heuft et al., 2000; Rhiel-Emde, 2000) • Ältere sind bei PT benachteiligt, 89,5% betreuen keinen über 60-jähr. Pat. (D. Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik, Tiefenpsychologie, 1988; Zank, 2002) • Alter ist kein negativer Prädiktor für Therapieerfolg (Smith & Glass, 1975) 2. Herausforderungen für die klinische Praxis II ____________________________________ • Ältere profitieren genauso gut von Psychotherapie wie jüngere (APA, 2004; Heuft & Schneider, 2001). • APA hat Richtlinien für PT mit Älteren vorgeschlagen und warnt vor Diskriminierungen, Therapeuten sollen eigene Vorurteile abbauen (APA, 2004). • Vorbehalte schaden der therapeutischen Beziehung, Erfolg scheint von Altersbildern der Therapeuten abhängig zu sein (Kemper, 1992). 2. Herausforderungen für die klinische Praxis III ____________________________________ • Alter(n)svorstellungen der Profess. sind handlungsleitend für Umgang mit Älteren (Dt. Bundesregierung, 2010, 157). • Misserfolgerwartung in Arbeit mit Älteren kann zu neg. Verstärkung und sich selbst erfüllenden Prophezeiungen werden (Lehr, 2003). • Eher defizitorient. Altersbilder können präventive Maßnahmen be- und verhindern (Dt. Bundesreg., 2010, 161). • PT im Alter soll die Verwirklichung von Entwicklungspotentialen fördern (Kruse, 1990). 2. Herausforderungen für die klinische Praxis IV ____________________________________ • Auch bei Demenz können durch geeignete Therapie/ Betreuung noch Perspektiven entwickelt werden (z.B. Wächtler & Feige, 2005; Kittwood, 2005) • Demenz oft vorschnell diagnostiziert (Stigmatisierungsrisiko!), Abgrenzung zur Depression schwierig • Testdiagnostik oft unsicher! MMST unbrauchbar, Zusammenspiel von klinischer Anamnese, Verlaufs- und bildgebender Diagnostik notwendig! 3. Stolpersteine in der klinischen Arbeit mit älteren Menschen I ____________________________ Nicht das Alter ist das Problem, Sondern unsere Einstellung dazu Markus Tullius Cicero • Ältere reagieren besonders sensibel auf Umgangsformen, Fachsprache und Zeitdruck. • Missverständnisse durch körperliche Einschränkungen (z.B. Schwerhörigkeit, Schmerzen) u. Somatisierung. • Vorbehalte von Therapeuten/Beratern/Pflegenden (s. oben) 3. Stolpersteine in der klinischen Arbeit mit älteren Menschen II ____________________________ • Langeweile: systemisch aufgrund von Sprech- u. Zuhörgewohnheiten, oder mangelnde Neugier und Neutralität (Checchin, 1988) • Fehlender Einbezug relevanter Bezugspersonen • Fehlende Beachtung aktueller und lebensgeschichtlicher Kontextbezüge und Altersbilder • Mythos Widerstand: Idee impliziert eine asymmetrische Expertenhaltung, Sinnhaftigkeit ist Frage der Perspektive 3. Stolpersteine in der klinischen Arbeit mit älteren Menschen III ____________________________ • Probleme durch relevante Haltungsunterschiede, z.B. zu Familienfragen, Sexualität, Homosexualität, Religiösität • Unangemessener Umgang mit Tabus und Geheimnissen • Fehlende Beachtung lebensgeschichtlicher/historischer Kontextbezüge (z.B. Kriegs- und Nachkriegserlebnisse) • Möglichkeit später Retraumatisierung durch politische, oder persönliche Ereignisse 4. Systemische Konzepte für die Arbeit mit älteren Menschen I ____________________________ Es gilt nicht nur dem Leben Jahre, Sondern den Jahren Leben zu geben. Ursula Lehr • Prinzipien für die Zusammenarbeit mit älteren Menschen aus syst. Sicht formuliert (Friedrich-Hett, 2007), Beispiele: • Respektvolle, wertschätzende und neugierige Grundhaltung (Friedrich-Hett, 2012), Umgangsformen beachten • Hohe Bedeutung des Einbezugs von Familien und relevanten Bezugspersonen (Paar- und Fam.gespräche u.a.) 4. Systemische Konzepte für die Arbeit mit älteren Menschen II ____________________________ • Auftrags-, Ziel- und Zukunftsorientierung beachten • Vernetzung mit behandelnden Ärzten und Helfersystemen • Individuelles Verständnis aktueller Problematik unter Einbezug des Lebensverlaufs entwickeln • Aufarbeitung relevanter Krisen und Konflikte mit Förderung entsprechender Verarbeitungsfähigkeiten 4. Systemische Konzepte für die Arbeit mit älteren Menschen III ____________________________ • Entwicklung neuer Perspektiven mit entsprechenden Lebens- und Altersbildern • Ressourcenaktivierung mit „Wiedererweckung“ von Hobbys und Aufbau von Tagesstruktur • Entwicklung und Unterstützung sozialer Beziehungsnetzwerke (es ist nie zu spät neues auszuprobieren!) • Bei Notwendigkeit von Krankenhausbehandl. Tageskliniken bevorzugen, oft psychotherap. Behandlung sinnvoll 5.Methoden und Arbeitsfelder II _______________________________ • Philosophische Beratung (Gutknecht, 2008) • Theatertherapie, Rollenspiel, Sinnes- und Wahrnehmungsarbeit (Friedrich-Hett, Gotzian, Wolff-Ebel, 2007) • Musiktherapie (Petzold, 2005) • Tanztherapie (FriedrichHett & Bergen, 2009;Bräuninger, 2000) • Biographiearbeit (Schramm-Meindl & Meindl, 2008; Petzold, 2004) • Empowerment-Coaching (Meindl & SchrammMeindl, 2007) • Case Management Coaching (Zitt, 2008) • Feministische Seelsorge (Klaus, 2007) Danke für Ihre Aufmerksamkeit PSYCHOLOGISCHE PRIVATPRAXIS _________________________________ THOMAS FRIEDRICH-HETT Diplom Psychologe Lehrtherapeut für systemische Therapie (viisa, SG) 0177-273 03 72 Mailto: [email protected] Friedrich-Hett, T.; Artner, N.; Ernst, R. (Hg.)(2014). Systemisches Arbeiten mit älteren Menschen - Konzepte und Praxis für Beratung und Psychotherapie. Carl-Auer.
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