Vielfalt der Kulturen

Rede Winkelmann Neujahrsempfang 2016
Sprockhövel - Ruhr 2010 - Vielfalt der Kulturen
Begrüßung
„Vielfalt der Kulturen“ … - Dieses Schlagwort scheint angesichts der Ereignisse in
Köln vor einigen Tagen bzw. ihrer medialen Vermarktung für Manche problematisch
oder gar beängstigend.
„Schweigen schützt die Falschen!“
Diese Kampagne haben wir schon Anfang der 90er Jahre von der Sportjugend/dem
Landessportbund NRW zum Schutz vor sexueller Belästigung ins Leben gerufen.
Damals, wie heute, ging es hauptsächlich um Gewalt gegen Frauen.
Wir müssen eine sichtbare Kultur des Respekts vor den Freiheiten der Frauen
etablieren!
Wir müssen Mädchen in Kindergärten und Schulen stärken!
Bringen wir den Jungen bei, dass sie Mädchen und Frauen zu respektieren haben!
Intervenieren wir bei sexistischen Sprüchen und übergriffigem Verhalten!
Ganz egal, welche Herkunft, Religion, kulturelle Hintergründe oder wieviel Alkohol
dabei im Spiel sind.
Vielfalt bedeutet nicht Gleichgültigkeit der Werte!
Und jetzt zum Thema…
Wer an die Highlights des Kulturhauptstadtjahrs 2010 im Ruhrgebiet zurückdenkt,
dem erscheint unsere europäische Gesellschaft unbeschwert und weltoffen. Viele
von uns haben bei strahlendem Sonnenschein begeistert an der spektakulären
Aktion auf der für den Autoverkehr gesperrten A 40 teilgenommen oder sich an den
„Schachtzeichen“ erfreut, die auf gelungene Weise die Vielzahl der Zechen - auch in
Sprockhövel - anschaulich machte. Diese Bilder sind es, die sich in unsere Köpfe
eingeprägt haben und mit positiven Assoziationen verbunden bleiben: Ein besseres
Verständnis füreinander entwickeln, die Gemeinsamkeit des kulturellen Erbes
herauszustellen, das sind die hehren Ziele der Kulturhauptstadtidee, die wir uns im
Fall Ruhr 2010 immerhin 57 Mio. Euro haben kosten lassen – fast ausschließlich
öffentliche Gelder.
30 Jahre, nachdem die hinreißende Melina Mercouri 1985 als griechische
Kultusministerin die Idee der europäischen Kulturhauptstadt ins Leben rief, löst der
Name „Griechenland“ ganz andere Gedanken aus: Finanzkrise, Staatspleite, soziale
Verelendung, Diffamierungen und Repressionen in einem Ausmaß, das wir uns vor
einigen Jahren nicht haben vorstellen können und die EU in eine Zerreißprobe
geführt hat. Ebenfalls im vergangenen Jahr erreichten Feindseligkeit, tätliche und
verbale Aggressionen, Erbarmungslosigkeit und Engstirnigkeit innerhalb der
europäischen Kulturnationen einen traurigen Höhepunkt. Die Herausforderung durch
die große Zahl an Flüchtlingen, die in Europa Schutz vor Krieg, Verfolgung und
Hunger suchen, hat auch ein lange verborgenes, hässliches Gesicht unserer
europäischen Zivilisation gezeigt. Der Literaturwissenschaftler Klaus-Peter Bogdal
brachte es schon vor fünf Jahren auf den Punkt: „Die Fähigkeit zur Entzivilisierung ist
den europäischen Gesellschaften nicht abhanden gekommen.“
Obwohl jeder weiß, dass das Flüchtlingsproblem ein globales ist, siegt im täglichen
Kleinkampf immer wieder die nationale Perspektive. In der Selbstbezogenheit, in der
alle Staaten die neue Lage erörtern, wird schmerzlich deutlich, dass die EU noch
längst kein eigenständiger politischer Körper ist und nicht einmal von seinen
Politikern so wahrgenommen wird.
Die Kulturhauptstadt 2010 mit ihrem schönen Schein ist heute weit entfernt von der
Realität, in der sich derzeit selbsternannte Patrioten und Abendland-Verteidiger,
hochrangige Politikerinnen und Politiker - selbst Staatsführer- mit nationalistischer
Engstirnigkeit und unbarmherziger Kaltschnäuzigkeit durch die europäische
Öffentlichkeit pöbeln. Die schönen Worte von der Vielfalt der Kulturen – sind das nur
Schönwetter-Sprüche für Sonntagsreden? Sind die beschworenen kulturellen
europäischen Werte nichts als ein Regenschirm, der bei schlechtem Wetter
abgegeben werden muss?
Viele von Ihnen kennen das „Märchen vom Auszug aller Ausländer“ von Helmut
Wöllenstein, in dem alle Produkte ausländischer Herkunft vor Weihnachten
beschließen, in ihre Heimatländer auszureisen: Von der Schokolade und den Zutaten
des Dresdner Christstollens über die polnischen Weihnachtsgänse und die
Unterhaltungselektronik bis zu den Autos und dem Straßenbelag. Nur
Tannenbäume, Nüsse und Äpfel sind den Deutschen geblieben.
Diese Geschichte macht die Absurdität klar, mit der die vermeintliche deutsche Kultur
von Rechts definiert wird. Unsere ökonomische und kulturelle Existenz beruht auf
den Verflechtungen der Weltwirtschaft, die irreversibel sind, sofern wir nicht den
Rückfall in die Barbarei erleben wollen. Ein Blick in die Geschichte ist hilfreich:
Waren es doch die Gelehrten aus der der islamisch-arabischen Welt, die nach dem
Zusammenbruch des römischen Reiches die kulturellen Errungenschaften der Antike
gerettet haben. Syrien, heute ein geschundenes Land, war einst ein Schmelztiegel
der Weltkulturen, wo Kunst und Wissenschaften aus allen Hochkulturen bis nach
Indien eine fruchtbare und blühende Symbiose eingingen. Bagdad im heutigen Irak,
Residenz der Kalifen und „Perle des Orients“, hatte im 8. Jahrhundert über 2 Mio.
Einwohner. Zum Vergleich: Köln war im Hochmittelalter mit 40.000 Einwohnern die
größte Stadt im deutschsprachigen Raum. Während im christlichen Abendland
jahrhundertelang Unwissenheit, Intoleranz und bittere Armut herrschten, war Bagdad
die kosmopolitische Gelehrtenmetropole, die allen Hochburgen der Gelehrsamkeit
der damaligen Welt den Rang ablief, wie der gesamte islamisch-arabische Raum
tolerant gegenüber Juden und Christen, die Wohlstand und Kultur des Landes
gleichermaßen bereicherten.
Wir Europäer haben die Erfahrung so vieler grausamer Verwerfungen gemacht.
Heute steht und fällt die Kultur dieser Gemeinschaft mit seiner christlichen, jüdischen,
laizistischen und hoffentlich bald auch muslimischen Offenheit, die wir mühsam
erkämpft haben und die wir uns weder von nationalistischen Politikern noch von
Islamfaschisten jedweder Herkunft nehmen lassen dürfen. Aber wir müssen uns den
aktuellen Probleme stellen: Im Gegensatz zu früher ist die Einwanderung von vielen
unqualifizierten Menschen heute ein Problem. Wer früher unten einstieg, konnte
hoffen, allmählich aufzusteigen. Diese Gewissheit gibt es heute nicht mehr.
Einwanderer, die nicht zügig in der Mitte der Gesellschaft ankommen, schaffen
Probleme. In den französischen Banlieues sind diese Probleme schon länger
virulent, ohne dass Maßnahmen dagegen ergriffen werden. Vielfalt der Kulturen ohne
Zukunftsperspektive für alle Bewohner – das geht nicht, vor allem: das geht nicht gut.
Um den Preis des Untergangs sind die Gesellschaften Europas gezwungen, eine
bisher unbekannte Integrations-, Qualifikations- und Disziplinierungskraft zu
entwickeln, und zwar schnell. Diese Aufgaben müssen nicht im Blick auf kommende
Jahre, sondern auf kommende Jahrzehnte angegangen werden. Noch nie stand
Europa vor einer so großen Aufgabe. Das „muddling through“, das Durchlavieren,
das Fahren auf Sicht, darf es nicht mehr geben.
Die Kraft dazu kommt von den Menschen vor Ort, die unmittelbar mit den
Hilfesuchenden konfrontiert sind und ihr Herz öffnen: Es ist wirklich beachtlich,
welche Ressourcen wir in den Kommunen aus dem Stand mobilisiert haben. Von
den Verwaltungen, die sich in die Bewältigung und Regelung der Aufnahme stürzen
und auch von den Bürgern, die in einem ungeahnten Ausmaß Hilfsbereitschaft an
den Tag legen. Das muss an dieser Stelle und immer wieder gesagt werden: Die
Kommunen bilden das Fundament dieser europäischen Gesellschaft, sie sind es, die
die hilfsbedürftigen Menschen aufnehmen und versorgen. Und für diese Aufgabe
werde ich als Bürgermeister immer wieder und überall Unterstützung einfordern.
Vielfalt der Kulturen hat nicht nur mit Kathedralen, Fördertürmen, Kunst und Theater
zu tun: Es ist auch ein Bestandteil der Herzensbildung. Und die ist weder originär
europäisch, schon gar nicht deutsch, sie ist universal und muss stets gefördert und
wachgehalten werden. Das ist auch und vor allem die Aufgabe der Kommunen. Wir
tragen gern die Verantwortung dafür, Menschen ungeachtet ihrer Herkunft zu
versorgen und zu integrieren. Und wer weiß: Vielleicht hat gerade die Sprockhöveler
Bürgermeisterin von 2050 mit ihren Eltern hier in der Turnhalle Haßlinghausen
Zuflucht gefunden und lernt ihre ersten deutschen Worte.
Lassen Sie uns mit Zuversicht in eine Zukunft mit kultureller Vielfalt blicken – eine
Vielfalt, die uns bereichert und unsere Stadt, unser Land und unser Europa zu einem
besseren Ort macht!
Glückauf !