StR II SoSe 15 ZF 5 Stunde

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Prof. Dr. Dres. h.c. Ulfrid Neumann
SoSe 2015
Vorlesung Strafrecht II
Zusammenfassung 5. Stunde (13.5. 2015)
§ 5 Struktur und Aufbau des Versuchs
1.
Ausgangsfall (RGSt 33, 321): Frau T will ihre Nachbarin N umbringen. Als Adeptin
der Schwarzen Magie besorgt sie sich dazu eine okkultistische Schrift, das sog.
„Siebte Buch Mose“ und murmelt die einschlägigen Beschwörungsformeln.
Fraglich ist, ob ein strafbarer Tötungsversuch (§§ 212, [211], 22 StGB) vorliegt.
a)
Strafbar ist der Versuch bei Verbrechen (§ 12 I StGB) sowie (bei Vergehen) in den
Fällen, in denen das ausdrücklich bestimmt ist (§ 23 I StGB).
b)
Ein Versuch liegt vor, wenn der Täter nach seiner Vorstellung von der Tat
(Tatentschluss, subjektive Komponente) zur Verwirklichung des Tatbestands
unmittelbar ansetzt (§ 22 StGB).
aa)
Der Tatentschluss ist sachlich identisch mit dem subjektiven Tatbestand beim
vollendeten Delikt. Das bedeutet:
-
welche Anforderungen im Rahmen des subjektiven Versuchstatbestands an den
Vorsatz zu stellen sind, richtet sich nach dem subjektiven Tatbestand des
vollendeten Delikts. Insbesondere genügt für den Tatentschluss dort bedingter
Vorsatz (dolus eventualis), wo die vollendete Tat mit bedingtem Vorsatz
begangen werden kann;
-
verlangt der subjektive Tatbestand des vollendeten Delikts über den Vorsatz
hinaus weitere Merkmale (Bsp.: Zueignungsabsicht in § 242 StGB), so gilt dies
auch für den Tatentschluss.
bb)
2.
Für das „unmittelbare Ansetzen“ zur Tatbestandsverwirklichung ist erforderlich,
dass der Angriff auf das Rechtsgut nach der Vorstellung des Täters ohne
weitere Zwischenakte in die Tatbestandsverwirklichung einmündet. Daneben
wird darauf abgestellt, ob aus der Sicht des Täters schon eine unmittelbare
Gefährdung des Tatobjekts gegeben ist. Die Formulierung, der Täter müsse die
Schwelle zum „jetzt geht es los“ überschritten haben, ist durch die BGH –
Rspr. salonfähig geworden (vgl. etwa BGHSt 37, 294, 297).
Im Ausgangsfall (RGSt 33, 321) hat Frau T mit Tötungsvorsatz (Tatentschluss)
gehandelt und nach ihrer Vorstellung zur Tötung der N unmittelbar angesetzt.
Problematisch ist ihre Strafbarkeit nach §§ 212 (211), 22 hier deshalb, weil es sich um
einen untauglichen Versuch handelt.
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a)
Dass der untaugliche Versuch jedenfalls nicht grundsätzlich straflos ist, folgt aus § 23
Abs. 3 StGB. Das gilt für die dort genannten Fallkonstellationen der Untauglichkeit
des Tatobjekts (Beispiel: Versuch der Tötung eines vermeintlich bewusstlosen, in
Wirklichkeit bereits toten „Opfers“) und der Untauglichkeit des Mittels (Beispiel:
Ausgangsfall). Die in § 23 Abs. 3 StGB nicht angeführten Fälle der Untauglichkeit des
Tatsubjekts sind nach h. M. im Regelfall nicht strafbar.
b)
Ob und inwieweit der untaugliche Versuch unter Strafe zu stellen ist, hängt von der
Antwort auf die Frage nach dem Grund der Versuchsstrafbarkeit ab.
aa)
Sieht man diesen Grund in der Gefährdung des Tatobjekts durch die
Versuchshandlung („objektive Theorie“), so muss der untaugliche Versuch
straflos bleiben. Diese Konsequenz wurde insbes. in der älteren Lehre,
exemplarisch bei P. J. A. Feuerbach (1775 – 1833), ausdrücklich gezogen.
bb)
Auf der anderen Seite kann man den Strafgrund des Versuchs in der betätigten
rechtsfeindlichen Gesinnung des Täters sehen. Allerdings gerät diese
Auffassung trotz der Voraussetzung einer „Betätigung“ der Gesinnung in
bedenkliche Nähe zu einem Gesinnungsstrafrecht.
cc)
Die heute überwiegende Auffassung stellt – im Sinne der Theorie der positiven
Generalprävention – darauf ab, dass das Vertrauen der Allgemeinheit auf die
Geltung der Rechtsordnung typischerweise nicht nur durch eine vollendete,
sondern auch durch eine versuchte Straftat erschüttert wird (sog.
„Eindruckstheorie“).
3.
Während nach der unter bb) angeführten Auffassung auch der untaugliche Versuch als
Betätigung einer rechtsfeindlichen Gesinnung generell zu bestrafen wäre, bietet sich
nach der „Eindruckstheorie“ eine Differenzierung an: Beruht der Versuch auf
Vorstellungen über Kausalzusammenhänge, die nur in der Wahnwelt des Täters
existieren, so wird dieser Versuch nicht ernst genommen, kann also das
Rechtsbewusstsein in der Gesellschaft nicht erschüttern. Nach h. M. ist der sog.
„abergläubische Versuch“ als Steigerungsform des in § 23 Abs. 3 StGB erfassten
„grob unverständigen“ Versuchs deshalb straflos.
4.
:
Zur Technik der Prüfung eines Versuchstatbestands
a) Es gibt keinen Versuch „an sich“, sondern nur den Versuch der Begehung eines
bestimmten Delikts. Die Bestimmungen der §§ 22, 23 StGB sind daher bei der
Fallprüfung immer im Zusammenhang mit einem Deliktstatbestand des BT zu zitieren.
b) Bei der Versuchsprüfung ist der subjektive Tatbestand (= Tatentschluss) vor dem
objektiven (= unmittelbares Ansetzen) zu prüfen, da sich allein aus dem Tatentschluss
ergibt
aa) welcher Versuchstatbestand in Betracht kommt;
bb) ab welchem Teilakt ein „unmittelbares Ansetzen“ zur
Tatbestandsverwirklichung anzunehmen ist.
c) Vor Eintritt in die Versuchsprüfung ist festzustellen,
aa) dass es an der Vollendung des Delikts fehlt;
bb) dass der Versuch der Begehung dieses Delikts strafbar ist (vgl. § 23 I StGB).
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5. In bestimmten Deliktstatbeständen wird der Versuch der Tat (i. S. d. § 22) der
Vollendung gleichgestellt („Unternehmensdelikte“, § 11 I Nr. 6 StGB), um damit die
(fakultative) Strafmilderung nach § 23 II StGB auszuschließen (Bsp.: § 81 StGB).
6. Die das Versuchsstadium noch nicht erreichende bloße Vorbereitung einer Straftat ist
als solche nicht strafbar, kann aber selbständig unter Strafe gestellt sein (Bsp.: § 83 StGB).
§ 6 Der Rücktritt vom Versuch
1. Der Grund für die Privilegierung des Rücktritts vom Versuch (§ 24 I, II StGB) ist
umstritten. Die wichtigsten Interpretationen:
a) es soll für den Täter ein Anreiz geschaffen werden, auf die Vollendung der Tat
(und damit auf die Verletzung des Tatopfers/-objekts) zu verzichten
(kriminalpolitische Theorie; Theorie der „ goldenen Brücke“);
b) es soll der Täter für die freiwillige Aufgabe der Tat belohnt werden;
c) es soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass bei freiwilliger Aufgabe
der Tat eine Strafe weder unter general- noch unter spezialpräventiven
Gesichtspunkten erforderlich ist (Strafzwecktheorie).
2. Straflosigkeit nach § 24 StGB verdient sich grundsätzlich der (Versuchs-)Täter, der
dafür sorgt, dass keine Rechtsgutsverletzung eintritt. Welches Verhalten erforderlich
ist, damit aus der Versuchshandlung keine Verletzung des Tatopfers/-objekts
(Vollendung) resultiert, hängt von den Umständen ab:
a) Fall (1): Krankenpfleger K will die Patientin O, die ihn testamentarisch als
Alleinerben eingesetzt hat, vergiften. Um einen natürlichen Tod
vorzutäuschen, will er die tödliche Gesamtdosis in mehreren Einzeldosen und
über einen längeren Zeitraum hinweg verabreichen. Als sich die O nach der
Verabreichung der 1. Dosis in qualvollen Krämpfen windet, wird er von
Mitleid ergriffen und lässt von seinem Plan ab.
b) Fall (2): K will die O mithilfe einer tödlichen Dosis einer toxischen Substanz
töten. Als er die Reaktion der O (wie Fall 1) sieht, veranlasst er, von Mitleid
ergriffen, die Einleitung (erfolgreicher) lebensrettender Maßnahmen.
Im Fall 1 liegt ein unbeendeter Versuch vor (§ 24 I S. 1 Alt. 1 StGB). Es genügt für den
Rücktritt das Unterlassen des Weiterhandels (Aufgeben der weiteren Ausführung der Tat). Im
Fall 2 (beendeter Versuch, § 24 I S. 1 Alt. 2 StGB) muss K die Vollendung der Tat (durch
gegensteuernde Maßnahmen) verhindern.
3. Die Abgrenzung zwischen beendetem und unbeendetem Versuch ist nicht nach
objektiven Kriterien, sondern aus der Perspektive des Täters vorzunehmen.
Danach ist der Versuch
- beendet, wenn der Täter glaubt, alles zur Erfolgsherbeiführung
Erforderliche getan zu haben;
- unbeendet, wenn der Täter glaubt, nicht alles dazu Erforderliche
getan zu haben.
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a) Aus dieser subjektiven, an der Täterperspektive orientierten Abgrenzung von
beendetem und unbeendetem Versuch folgt, dass
- ein beendeter Versuch auch vorliegen kann, wenn die bisherige
Versuchshandlung objektiv nicht geeignet ist, den Erfolg
herbeizuführen;
- umgekehrt ein unbeendeter Versuch vorliegen kann, wenn die
Versuchshandlung ohne aktive Gegensteuerung zur Vollendung führt.
aa) Fall (3): Wie Fall (2). K hält aber die von ihm der O verabreichte Dosis irrtümlich für
tödlich und veranlasst die Einleitung – vermeintlich – lebensrettender Maßnahmen.
Hier kommt ein Rücktritt nach § 24 I S. 1 Alt. 2 StGB trotz Vorliegens eines beendeten (!)
Versuchs nicht in Betracht, weil die Einleitung der – vermeintlich – lebensrettenden
Maßnahmen mangels Kausalität nicht die Vollendung der Tat verhindert hat. K ist aber
straflos nach § 24 Abs. 1 Satz 2 StGB.
bb) Erkennt der Täter nicht, dass er schon alles zum Erfolgseintritt Erforderliche getan hat
und gibt die „weitere Ausführung“ der Tat auf, so kommt es im Regelfall zur Vollendung der
Tat ( von der ein Rücktritt nicht möglich ist):
Fall (4): Wie Fall (1); K verkennt aber, dass die von ihm der O verabreichte Dosis bereits
tödlich ist. O stirbt. K ist wegen eines vollendeten Tötungsdelikts strafbar.
4. § 24 StGB setzt in allen Varianten ein freiwilliges Handeln des Täters voraus. Für die
Abgrenzung freiwillig/unfreiwillig kommt es entscheidend darauf an, ob der Täter aus
autonomen oder aus heteronomen Motiven von der Vollendung der Tat Abstand
genommen hat. Ist die Entscheidung des Täters gegen die Vollendung der Tat durch
das Auftreten unerwarteter Umständen motiviert, so ist sie heteronom, wenn infolge
dieser Umstände die Tatbegehung erschwert oder das Entdeckungsrisiko erhöht wird.
Teilweise wird darauf abgestellt, ob der Rücktritt den Maßstäben der
„Verbrechervernunft“ entspricht (so Roxin).
5. Nicht möglich ist ein Rücktritt vom fehlgeschlagenen Versuch (h. M.). Nach h. M.
und der Rechtsprechung des BGH (vgl. BGHSt 34, 53) ist ein Versuch nicht
fehlgeschlagen, wenn der Täter den Erfolg in unmittelbarem Anschluss an den ersten
Teilakt, wenn auch (nur) mit einem anderen Mittel, herbeiführen konnte
(„Gesamtbetrachtungslehre“; Gegenauffassung: „Einzelakttheorie“).