Eine heilige Kuh wird geschlachtet

Eine heilige Kuh wird geschlachtet
Die Kultusministerin greift angesichts des Stundenausfalls zu Maßnahmen, die bislang undenkbar schienen.
30.09.2015 Von Carola Lauterbach
Der Lehrermarkt ist leer gefegt. So die Ansage der sächsischen
Kultusministerin zum Start ins neue Schuljahr vor reichlich einem
Monat. Nicht einmal alle zur Verfügung stehenden Stellen konnten
besetzt werden. Erstmals ist Sachsen im größeren Stil auf
Seiteneinsteiger angewiesen. Gut ein Fünftel der neuen Stellen wird
heute von den Akademikern ohne Lehramt besetzt. Das allein sagt
schon viel. Und der Blick auf die jüngste Unterrichtsausfall­Statistik
macht die Situation nicht besser.
Demnach fanden im vergangenen Schuljahr an Sachsens öffentlichen
Schulen 4,1 Prozent der Stunden nicht statt, anders gesagt: Jede 25.
Stunde fiel aus. Das ist nicht nur ein Anstieg gegenüber dem Vorjahr
um ein Prozent. Es ist der zweithöchste Wert seit 2001. Nun verweist
die Statistik des Kultusministeriums in diesem Zusammenhang zwar
Brunhild Kurth: „Ich löse – vorübergehend – den Bereich Externe
Evaluation auf“.
auf die hohe Beteiligung der Lehrer an Streiks im Schuljahr 2014/15.
© dpa
Altersstruktur der sächsischen Lehrerschaft stimmt einfach nicht. Die
Aber natürlich haben die Lehrer nicht das ganze Jahr gestreikt. Die
jetzige Kultusministerin Brunhild Kurth (CDU) nannte diese in einem
SZ­Interview einmal „deutschlandweit fast einmalig“. Und weil sich
daran auch in den kommenden Jahren kaum etwas ändern dürfte, greift Kurth jetzt zu Maßnahmen, die im Kultus­Kosmos für
nahezu undenkbar galten. Sie holt Lehrer, die zeitweise mit anderen Aufgaben betraut sind, zurück vor die Klasse. Ein Schritt mit
großer Signalwirkung.
Der Unterricht hat Vorrang
Der Ministerin bleibt eigentlich keine andere Wahl. Sie sagt: „Oberste Priorität hat die Absicherung des Unterrichts.“ Doch sie hat
die Folgen jahrzehntelanger Nichteinstellung junger Pädagogen auszutarieren. Denn in den Lehrerzimmern fehlt der starke
„Mittelbau“, die Ende 30­ bis Ende 40­Jährigen. Jene, die puffern könnten, wenn Vertreter der starken Generation der über 50­
Jährigen krankheitsbedingt öfter und länger ausfallen. Oder, wenn die zaghaft anwachsende Gruppe der Jungen Nachwuchs
bekommt und wegen kranker Kinder zu Hause bleiben muss. Das erzeugt Unterrichtsausfall! Kann man sich unter diesen
Vorzeichen Schmeckerchen leisten? Nein. Daher verkündet Kurth: „Ich löse – vorübergehend – den Bereich Externe Evaluation
auf“. Einen Bereich, auf den Sachsen besonders stolz war, eine heilige Kuh. Jenes Instrument, mit dem die öffentlichen Schulen
jeweils über einen längeren Zeitraum aufwendig begutachtet werden. Allein zwischen 2007 und 2013 wurden über 180 000
Unterrichtsstunden beobachtet und über 140 000 an Schüler, Eltern und Lehrer ausgereichte Fragebögen ausgewertet. Das Ziel:
Bestandsaufnahme, Schwächen erkennen, Ergebnisse ableiten, die Schulqualität verbessern. Alle Schulen sind so bereits einmal
„evaluiert“ worden.
Nun wurde der zweite Zyklus ministeriell gestoppt. Das betrifft 111 Schulen. An jenen 34 Schulen, wo das Verfahren bereits
begonnen wurde, werde es ordnungsgemäß abgeschlossen. Nach den Herbst­, spätestens aber nach den Winterferien sollen alle
24 Fachlehrer, die für diese Tätigkeit aus dem Schulalltag herausgelöst wurden, in diesen wieder integriert sein. Lehrer, die dann
also Mathematik, Physik, Deutsch, Geschichte, Englisch und Gemeinschaftskunde unterrichten. Ein Schulleiter ist dabei, auch ein
Oberstufenberater.
Kurth verteidigt ihr Vorgehen, mit dem sie dem Vernehmen nach in der Kultusbürokratie nicht nur Begeisterung auslöste. Auch
wenn es sich nur um 24 Lehrer handelt, sie seien „im Unterricht besonders wertvoll“. Sie gibt sich auch überzeugt, dass es in
Sachen Qualitätsentwicklung keinen Abbruch geben werde. Erforderliche Maßnahmen könnten jederzeit auf unkonventionelle
Weise eingeleitet werden.
An den Schulen, vor allem dort, wo das Verfahren bevorstand, gibt es gemischte Meinungen zum Evaluations­Aus. Von
Erleichterung – „wegen des unfassbar großen Aufwandes und der zu veranstaltenden Unterrichts­Show“ – bis zu echtem
Bedauern, weil das Verfahren wichtige Impulse für die Qualität des Unterrichts gegeben habe. Dieser Grundgedanke wird
tatsächlich von niemandem geleugnet, nur: Die Rahmenbedingungen für so etwas stimmten nicht, heißt es. Die Personaldecke sei
zu dünn. „Und wenn wir ehrlich sind“, fasst einer zusammen, „die meisten Schulen waren schon ziemlich genervt davon.“
Dennoch überrascht es die meisten Schulleiter, dass die Ministerin „das Tafelsilber zu verscheuern beginnt“. Sie mutmaßen,
hoffen und argwöhnen gleichermaßen, „dass das nur ein Anfang ist“, um weitere Lehrer aus Institutionen abzuziehen und wieder
vor die Klasse zu bringen.
Artikel­URL: http://www.sz­online.de/sachsen/eine­heilige­kuh­wird­geschlachtet­3211929.html