vattenfalls braunkohle geschäft mit risiko

REPORT
NOVEMBER 2015
VATTENFALLS BRAUNKOHLE
GESCHÄFT MIT RISIKO
JULIAN SCHWARTZKOPFF & SABRINA SCHULZ
Diese Studie entstand im Auftrag der Klima-Allianz. Die Klima-Allianz ist ein breites Bündnis
von über 100 Organisationen, das sich für eine Stärkung der Klimapolitik in Deutschland einsetzt.
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Danksagungen: Wir danken Stefanie Langkamp, Simon Wolff, René Schuster, Tobias
Austrup, Susanne Neubronner, Christian
Schaible und Dave Jones für Anregungen und
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2
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REPORT
NOVEMBER 2015
VATTENFALLS BRAUNKOHLE
GESCHÄFT MIT RISIKO
JULIAN SCHWARTZKOPFF & SABRINA SCHULZ
3
Vattenfalls Braunkohle. Geschäft mit Risiko
INHALT
About E3G ........................................................................................................................2
Copyright .........................................................................................................................2
EXECUTIVE SUMMARY .....................................................................................................5
EINLEITUNG .....................................................................................................................6
POLITISCHE RISIKEN .........................................................................................................7
1) Die deutschen und europäischen Klimaziele erfordern einen Kohleausstieg .............7
2) Der deutsche Braunkohleausstieg hat schon begonnen .............................................9
3) Weitere Maßnahmen gegen Braunkohle werden kommen .....................................12
4) Es wird keinen deutschen Kapazitätsmarkt geben....................................................14
WIRTSCHAFTLICHE RISIKEN ...........................................................................................15
1) Die Reform des Emissionshandels wird CO2-Preise in die Höhe treiben...................15
2) Die Strompreise sind auf Abwärtskurs ......................................................................17
3) Gaspreise brechen ein ...............................................................................................20
4) Nach 2021 sind Nachrüstungen nötig, um neue EU-Emissionsgrenzen zu erfüllen..20
5) Ewigkeitskosten könnten höher ausfallen als erwartet ............................................23
RECHTLICHE RISIKEN ......................................................................................................24
1) Klagen gegen die Braunkohlenpläne für Welzow-Süd II und Nochten 2...................24
2) Haftung für Wasserverschmutzung durch Vattenfalls Tagebaue .............................24
3) Haftung für Verstöße gegen die Habitatrichtlinie .....................................................26
4) Haftung für Infrastrukturschäden und Baumaßnahmen ...........................................26
4
Vattenfalls Braunkohle. Geschäft mit Risiko
EXECUTIVE SUMMARY
Derzeit sucht Vattenfall nach einem Käufer für sein Braunkohlegeschäft. Bei einem
Kauf gehen Investoren jedoch das Risiko ein, dass sie Kraftwerke stilllegen müssen,
noch bevor diese sich vollständig amortisiert haben. Tatsächlich sind die Aussichten
für das Braunkohlegeschäft in Deutschland durch eine Vielzahl von politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Risiken stark getrübt. Das Zeitfenster, um mit Braunkohlekraftwerken noch Geld zu verdienen, schließt sich bereits.
Politische Risiken
Mit Blick auf die politischen Rahmenbedingungen ist schon heute absehbar, dass die
Bundesregierung weitere Maßnahmen zur Reduzierung der Braunkohleverstromung
ergreifen wird. Noch vor 2020 müssen Investoren mit einem Nachsteuern bei der
Braunkohle rechnen, etwa dann, wenn die Europäische Kommission die Kapazitätsreserve, welche Kraftwerksbetreiber für das schrittweise Abschalten von Braunkohlekraftwerken entschädigt, modifizieren oder kippen sollte. Der Kohleausstieg könnte
zudem ein Thema rund um die Bundestagswahl 2017 werden. Darüber hinaus hat die
Bundesregierung der Einführung eines Kapazitätsmarktes, der insbesondere Kohlekraftwerken genützt hätte, eine klare Absage erteilt. Spätestens nach 2020 muss die
Bundesregierung tiefgreifende Maßnahmen im Braunkohlesektor ergreifen, um
Deutschlands Klimaziele für 2030 zu erreichen. Der Kohleausstieg hat in Deutschland
bereits begonnen, und sein Tempo wird perspektivisch rasant zunehmen.
Wirtschaftliche Risiken
Schon heute macht die Energiewende es fossilen Formen der Stromerzeugung immer
schwerer, wettbewerbsfähig zu wirtschaften. Die Grundlaststrompreise sind über die
letzten Jahre rasant gefallen – aktuell liegen sie unter 30 Euro/MWh. Sinkende Gaspreise, Überkapazitäten im Strommarkt sowie der steigende Anteil von erneuerbarer
Energie werden diesen Trend weiter verstetigen. Gleichzeitig ist absehbar, dass die
Reform des Emissionshandels bis 2020 einen Anstieg der CO2-Preise auf 20 Euro/t CO2
oder mehr mit sich bringt. Zudem werden neue Schadstoffgrenzen ab 2021 kostspielige Nachrüstungen erfordern. Weiter gibt es Anzeichen, dass sich die bestehenden
Rückstellungen für die Rekultivierung als unzureichend erweisen. Die genannten
Trends stellen eine zukünftige Profitabilität der Braunkohleverstromung stark in Frage.
Rechtliche Risiken
Nach deutschem Recht ist der zukünftige Besitzer von Vattenfalls Braunkohlesparte
für eine Reihe von Umweltschäden und andere bergbaubedingte Kosten haftbar. Die
letzten Urteile des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs
haben die Position von Umweltgruppen und von Tagebauen betroffenen Anwohnern
noch gestärkt, was eine steigende Zahl von Klagen zur Folge haben kann. Die Erschließung der ausgewiesenen neuen Braunkohletagebaue Welzow-Süd II und Nochten 2,
die Teil des Verkaufspakets darstellen, ist durch laufende Klagen gefährdet. Ein potentieller Käufer erwirbt nicht nur das Braunkohlegeschäft, sondern auch eine Reihe von
Rechtsstreitigkeiten.
5
Vattenfalls Braunkohle. Geschäft mit Risiko
EINLEITUNG
Im Oktober 2014 kündigte Vattenfall an, sein Braunkohlegeschäft zu verkaufen, um
seine Klimabilanz zu verbessern. Am 22. September 2015 schaltete das Unternehmen
eine Anzeige in der Financial Times, die den Verkaufsprozess eröffnete. Zum Verkauf
stehen Vattenfalls Braunkohlekraftwerke Jänschwalde, Boxberg, Lippendorf und
Schwarze Pumpe sowie die damit verbundenen Tagebaue. Darüber hinaus beinhaltet
das Portfolio zehn nahe gelegene Wasserkraftwerke. Interessenbekundungen nahm
die Citibank, die den Verkauf verwaltet, bis zum 6. Oktober entgegen. Bisher sind die
deutsche Steag sowie die tschechischen Unternehmen EPH, ČEZ und Czech Coal als
potentielle Käufer bekannt. Vattenfall möchte den Verkaufsprozess bis Mitte 2016
abschließen, doch ein Blick auf die politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen zeigt, dass das Geschäft deutlich mehr Risiken birgt, als es auf den
ersten Blick scheint.
Laut Halbjahresbericht musste Vattenfall 2015 Abschreibungen von 1,9 Mrd. Euro
(17,8 Mrd. SEK) an seiner Braunkohlesparte hinnehmen. Das Unternehmen begründete dies mit „verringerten Produktionsmargen […] und gestiegenen Geschäftsrisiken“.1
Die massive Wertberichtigung war eine Folge veränderter regulatorischer Rahmenbedingungen im Rahmen der Energiewende sowie aktualisierter Tagebaurekultivierungspläne und erster legislativer Maßnahmen der Bundesregierung zur Reduzierung
der Braunkohleverstromung. Sie zeigt, wie stark sich bereits heute die gesetzlichen
und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen auf die Wirtschaftlichkeit des Braunkohlegeschäfts niederschlagen.
Die Abwertung lässt das Verkaufsangebot auf den ersten Blick als günstige Investition
erscheinen. Allerdings ist unwahrscheinlich, dass die Wertkorrektur bereits das volle
Ausmaß der Risiken für die Braunkohleverstromung in Deutschland widerspiegelt. Das
Beratungsunternehmen Energy Brainpool beziffert den Kapitalwert des Braunkohleportfolios auf gerade einmal 468 Mio. Euro.2 Die Bewertung wurde von Greenpeace in
Auftrag gegeben und basiert auf der Annahme, dass die Kraftwerke bis 2030 abgeschaltet werden und CO2-Preise deutlich ansteigen. Es handelt sich hier also um eine
niedrige Schätzung, die abbildet, was das Braunkohleportfolio unter einer ambitionierteren Klimapolitik wert wäre. Die Landesbank Baden-Württemberg schätzt den
Wert des Braunkohlegeschäfts dagegen auf 2 bis 3 Mrd. Euro.3 Dies ist wiederum ein
sehr hoher Wert auf Grundlage der aktuellen Rahmenbedingungen.
Eine Fortschreibung der aktuellen Rahmenbedingungen ist allerdings äußerst unwahrscheinlich. Eine Reihe parallel stattfindender Entwicklungen stellt mittelfristig die
Wirtschaftlichkeit des Braunkohlegeschäfts in Frage. Seit das Deutsche Institut für
Wirtschaftsforschung (DIW) 2014 erstmals die Risiken für Vattenfalls Braunkohlegeschäft herausgearbeitet hat, haben sich die Perspektiven für Braunkohle weiter ver-
1
Vattenfall (2015) Interim Report January–June 2015
2
Energy Brainpool (2015) Economic analysis of Vattenfall’s lignite power plants offered for sale
3
Bloomberg (2015) Greenpeace says can find cash to buy Vattenfall coal assets, 6 October 2015
6
Vattenfalls Braunkohle. Geschäft mit Risiko
schlechtert.4 Die deutsche Energiewende treibt einen grundlegenden Wandel des
Strommarkts voran, und Braunkohle hat darin keine Zukunft mehr.
POLITISCHE RISIKEN
1) Die deutschen und europäischen Klimaziele erfordern einen
Kohleausstieg
Die Ergebnisse der Klimawissenschaftler lassen keinen Zweifel daran, dass ein Großteil
der bekannten fossilen Brennstoffreserven nicht verbrannt werden darf, wenn die
gefährliche Grenze zu zwei Grad Erwärmung nicht überschritten werden soll. Wissenschaftler am University College London haben berechnet, dass 80 Prozent der verfügbaren Kohlereserven unangetastet bleiben müssen, um das 2-Grad-Limit einzuhalten.5
Deutschland richtet seine Energiepolitik grundsätzlich an diesen wissenschaftlichen
Empfehlungen aus und legt großen Wert darauf, im Klimaschutz Vorreiter zu sein.
Dies hat sich zuletzt erneut 2015 beim G7-Gipfel in Elmau gezeigt, wo Angela Merkel
eine Gipfelerklärung durchgesetzt hat, die ein Ende der Verwendung fossiler Brennstoffe bis Mitte des Jahrhunderts beinhaltet. 6
Dementsprechend sehen die selbstgesetzten deutschen Klimaziele bis 2050 eine nahezu komplett emissionsfreie Wirtschaft vor.7 Konkret zielt Bundesregierung bis zu
diesem Datum auf eine Emissionsminderung von 80 bis 95 Prozent gegenüber 1990
ab. Auch die EU hat sich mit der Energy Roadmap 2050 das gleiche Ziel gesetzt.8 Mehrere Studien haben in diesem Kontext bewiesen, dass Deutschland bis spätestens
2040 aus der Kohle aussteigen muss, um die Ziele umzusetzen. Ein Braunkohleausstieg muss sogar noch früher erfolgen.
Dass die Dekarbonisierung im Stromsektor sogar deutlich vor 2050 stattfinden muss,
liegt daran, dass die Minderungspotenziale in anderen Sektoren wie Verkehr, Industrie oder Landwirtschaft entweder begrenzt, sehr kostenintensiv oder derzeit politisch
nicht durchsetzbar sind. Entsprechend hat Kohle im Strommix der Zukunft keinen
Platz mehr. Für einen Käufer der Vattenfall-Braunkohle besteht somit das Risiko, dass
sich Investitionen in die Kohlestromerzeugung künftig nicht mehr rechnen und damit
de facto zu stranded assets werden.
Dies wird auch durch den ambitionierten Emissionsreduktionspfad untermauert.
Deutschland plant, seine Treibhausgase um 40 Prozent bis 2020 und um 55 Prozent
bis 2030 zu reduzieren (verglichen mit 1990). Die genannten Ziele wurden von der
schwarz-gelben Koalitionsregierung im Energiekonzept 2010 beschlossen9 und im
Dezember 2014 von der schwarz-roten Koalition mit dem Klimaaktionsprogramm
4
DIW (2014) Risks of Vattenfall’s German Lignite Mining and Power Operations - Technical, Economic, and Legal
Considerations, Politikberatung kompakt 87
5
Briggs (2015) Most fossil fuels 'unburnable' under 2C climate target, BBC article from 7 January 2015
6
Reuters (2015) G7 leaders bid 'Auf Wiedersehen' to carbon fuels, 8 June 2015
7
BReg (2010) Energiekonzept für eine umweltschonende, zuverlässige und bezahlbare Energieversorgung
8
Europäische Kommission (2011) Energy Roadmap 2050, COMM/2011/0885
9
BReg (2010) Energiekonzept für eine umweltschonende, zuverlässige und bezahlbare Energieversorgung
7
Vattenfalls Braunkohle. Geschäft mit Risiko
2020 ausgebaut und konkretisiert.10 Tabelle 1 gibt einen Überblick über die beschlossenen Klima- und Energieziele.
Tabelle 1: Energie- und Klimaziele Deutschlands
Quelle: DIW (2014) Gestaltungsoptionen im Rahmen des Braunkohleausstiegs
Wie das Festhalten an Klimazielen über die Regierungswechsel hinweg zeigt, findet
diese Klimapolitik auch parteiübergreifend Zustimmung. Im Wahlprogramm anlässlich
der Bundestagswahl 2013 haben sowohl die CDU11 als auch die SPD12 das Klimaziel für
2020 explizit gestärkt. Die SPD ist für die Zeit nach 2020 sogar für stärkere Reduktionen eingetreten. Auch in der Koalitionsvereinbarung der Großen Koalition sind die
Ziele verankert.13 Ähnliches trifft auf die Wahlprogramme der Oppositionsparteien zu.
Sogar die FDP, sonst klimapolitisch eher zurückhaltend, bezog sich im Wahlkampf auf
die vereinbarten Ziele.14 DIE LINKEN15 und Bündnis 90/Die Grünen16 forderten in ihren
Wahlprogrammen sogar noch eine Verschärfung.
Abbildung 1 stellt grafisch dar, was die langfristigen Klimaziele für den Stromsektor
bedeuten. Um das Jahr 2035 herum entspricht das gesamte verfügbare Emissionsbudget des Stromsektors in etwa der Menge der heutigen Braunkohleemissionen. Da
erneuerbare Energien jedoch vor allem mit Gas flankiert werden sollen, wird ein
Braunkohleausstieg bereits deutlich früher erfolgen müssen.
Die Ursache findet sich in der hohen CO2-Intensität der Braunkohle. Obwohl nur
26 Prozent des Stroms mit Braunkohle erzeugt werden, ist der Energieträger für mehr
10
BMUB (2012) The German Government’s Climate Action Programme 2020, Kabinettsbeschluss vom 3.12.2014
11
CDU Wahlprogramm 2013
12
SPD Wahlprogramm 2013
13
Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD
14
FDP Wahlprogramm 2013
15
DIE LINKE Wahlprogramm 2013
16
Bündnis 90/Grüne Wahlprogramm 2013
8
Vattenfalls Braunkohle. Geschäft mit Risiko
als die Hälfte aller Emissionen im Stromsektor verantwortlich. Insgesamt gehen 18
Prozent aller deutschen Treibhausgasemissionen auf Braunkohle zurück.17 Gleichzeitig
weist der Stromsektor das größte technologische Minderungspotenzial auf. Entsprechend muss er nach dem Willen der Regierung besonders hohe CO2-Einsparungen
erbringen.18 Dieses Prinzip ist integraler Bestandteil der Energiewende und bedeutet
in der Konsequenz, dass der Ausstieg aus der Kohle – insbesondere der Braunkohle –
unabdingbar ist. Potenzielle Käufer des Portfolios müssen sich darüber im Klaren sein,
dass sich das Zeitfenster, in dem Braunkohlekraftwerke in Deutschland noch profitabel betrieben werden können, bereits jetzt schließt.
Abbildung 1: Emissionen des Stromsektors und Zielpfad
Source: IÖW-Präsentation bei Fachgespräch DER LINKEN im Bundestag am 15.09.2015
2) Der deutsche Braunkohleausstieg hat schon begonnen
Zusätzlich zu den langfristigen deutschen Klimazielen haben sich die Aussichten für
die Braunkohleverstromung im Jahr 2015 noch einmal deutlich verschlechtert. Im
März legte Wirtschafts- und Energieminister Sigmar Gabriel einen Gesetzesvorschlag
für die Einführung eines „Klimabeitrags“ vor. Der Gesetzesentwurf löste eine kontroverse, aber gleichzeitig unerwartet dynamische Diskussion um die Zukunft der Braunkohle aus. Das Instrument sah Strafzahlungen für die CO2-Emissionen von Kraftwerken
ab einem bestimmten Grenzwert vor, was in der Praxis vor allem ältere Braunkohlekraftwerke betroffen hätte. Auf diese Weise sollte der CO2-Ausstoß um 22 Millionen
Tonnen bis zum Jahr 2020 reduziert und die bestehende Lücke zur Erreichung der
Klimaziele geschlossen werden.
Aufgrund des Widerstands von Energieversorgern, der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) und Landespolitikern wurde der Klimabeitrag schließ17
BNetzA, UBA (Stand 2014)
18
Siehe Energiekonzept 2010 und Klimaaktionsprogramm 2020
9
Vattenfalls Braunkohle. Geschäft mit Risiko
lich zu Gunsten eines Kompromisses fallen gelassen, der die Emissionsreduktionen im
Stromsektor halbiert und die Schließung von Braunkohlekraftwerken anstelle von
Strafzahlungen mithilfe einer Klimareserve sicherstellt.19 Die Maßnahme sieht vor,
dass Braunkohleblöcke im Umfang von 2,7 GW ab 2017 schrittweise in eine Reserve
überführt werden, um dann nach jeweils vier Jahren stillgelegt zu werden. Aus dem
Portfolio Vattenfalls sind zwei Blöcke am Standort Jänschwalde betroffen, die jeweils
2018 und 2019 in die Reserve überführt und dann 2022 und 2023 stillgelegt werden
sollen.20
Auch wenn die Energiekonzerne den Klimabeitrag erfolgreich abwenden konnten,
handelt es sich bei der Klimareserve bereits um einen Teilausstieg aus der Braunkohle.
So hat die Bundesregierung erstmals ein Gesetz explizit gegen Braunkohleverstromung erlassen. Gleichzeitig hat das Gerangel um den Klimabeitrag die Debatte um
einen Kohleausstieg enorm befeuert. Dabei zeigte sich, dass die Notwendigkeit eines
Ausstiegs aus der Kohle in Deutschland praktisch unbestritten ist. Lediglich die Frage
des Zeitrahmens wird noch kontrovers diskutiert. Im Laufe der Debatte bezogen mehrere einflussreiche Stimmen zu dieser Frage Stellung: 21
>
Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD) forderte in mehreren Medienauftritten und Interviews einen Kohleausstieg bis 2040/45.22 Sie hat diese Forderung vor
den Klimaverhandlungen in Paris noch verschärft und von einem Kohleausstieg bis
2035/40 gesprochen. Zudem hat sie betont, dass sich Deutschland noch in dieser
Legislaturperiode, direkt nach der Klimakonferenz, der Kohlefrage stellen müsse.23
>
Der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) hat 10 Thesen zur Zukunft der
Kohle veröffentlicht.24 Hierbei empfahl er unter anderem einen Kohleausstieg bis
2040.
>
In der Konsultation zum Klimaschutzplan 2050 haben mehrere Verbände und
Bundesländer als zentrale Maßnahme ein Kohleausstiegsgesetz vorgeschlagen.25
>
Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) hat es bislang vermieden, öffentlich von
einem Kohleausstieg zu sprechen. Dennoch betonte er schon im Juni 2015, dass
die Emissionsreduktionen im Stromsektor nach 2020 drastisch beschleunigt werden müssten und bis 2030 zusätzliche Emissionsminderungen von 200 Millionen
Tonnen CO2 nötig seien.26 Ohne einen Braunkohleausstieg ist dieses Ziel nicht zu
erreichen (vgl. Abbildung 1).
19
BReg (2015) Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung des Strommarktes (Strommarktgesetz)
20
FAZ (2015) Teilausstieg aus der Braunkohle besiegelt, 24.10.2015
21
Auch auf internationaler Ebene wächst der Druck. So hat sich Großbritannien kürzlich auf einen Kohleausstieg bis
2025 verpflichtet und auch die Niederlande denken laut Medienberichten über einen Kohleausstieg nach.
22
Die Welt (2015) Der verbissene Kampf um die Kohle muss aufhören, 3.7.2015
23
Berliner Zeitung (2015) Bundesregierung will Ausstieg aus Kohleverstromung fix machen, 25.11.2015
SRU (2015) 10 Thesen zur Zukunft der Kohle bis 2040
24
25
BMUB (2015) Zusammenstellung aller Maßnahmenvorschläge der Bundesländer, Kommunen und Verbände für
den Klimaschutzplan 2050
26
Sigmar Gabriel (2015) Herausforderung Energiewende: "Die Stunde der Überschriften ist vorbei", Rede anlässlich
des BDEW-Kongresses 2015, 30.6.2015
10
Vattenfalls Braunkohle. Geschäft mit Risiko
>
IG BCE-Vorsitzender Michael Vassiliadis gestand in einem Interview im April 2015
ein, dass ein Kohleausstieg bis 2040 ökonomisch machbar sei.27
Auch in der Wissenschaft herrscht Konsens, dass ein Kohleausstieg bis 2040 notwendig ist und für Braunkohle noch früher. Verschiedene Studien haben unabhängig voneinander Emissionsminderungspfade für das deutsche Stromsystem berechnet. Das
Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR),28 der SRU29, das Umweltbundesamt
(UBA), das Energieberatungsunternehmen enervis30 und das DIW31 kommen alle zu
dem Schluss, dass Kohle ab 2040 keinen Platz mehr im deutschen Stromsystem hat
und um 2030 herum sehr deutlich verringert werden muss. Braunkohle wird in diesen
Studien in der Regel noch früher und stärker reduziert als Steinkohle.
Tabelle 2: Vorschläge zur Reduzierung der Emissionen im Stromsektor
Quelle: DIW (2014) Gestaltungsoptionen im Rahmen des Braunkohleausstiegs
Schon heute wird über konkrete Instrumente für einen Kohle- bzw. Braunkohleausstieg diskutiert. Die Bundesregierung, Oppositionsparteien (Bündnis 90/Die Grünen
und DIE LINKE) sowie zahlreiche NGOs und Forschungsinstitute haben konkrete Vorschläge unterbreitet (siehe Tabelle 2), die Vattenfalls Braunkohle auf unterschiedliche
Art treffen würden. Während einige die Vollaststundenzahl senken, erhöhen andere
die CO2-Kosten. Wiederum andere erwirken bei Nichteinhaltung bestimmter Kriterien
sogar Kraftwerksschließungen.
27
Interview mit Michael Vassiliadis, Die Zeit, 24.04.2015
28
Joachim Nitsch (2013) „Szenario 2013“ – eine Weiterentwicklung des Leitszenarios 2011. Deutsches Zentrum für
Luft- und Raumfahrt (DLR), Stuttgart, Deutschland
29
SRU (2011): Sondergutachten: Wege zur 100 % erneuerbaren Stromversorgung
30
Hilmes, U., Herrmann, N., (2014): Der „ideale Kraftwerkspark“ der Zukunft; Flexibel, klimafreundlich, kosteneffizient – Maßstab für einen optimierten Entwicklungspfad der Energieversorgung bis 2040; Energiewirtschaftliche
Untersuchung. enervis energy advisors GmbH, Berlin.
31
DIW (2014) Braunkohleausstieg - Gestaltungsoptionen im Rahmen der Energiewende (No. 84), Politikberatung
kompakt
11
Vattenfalls Braunkohle. Geschäft mit Risiko
3) Weitere Maßnahmen gegen Braunkohle werden kommen
Bereits 2015 bröckelte der politische Rückhalt für Braunkohle. Mit Blick auf die Zukunft sind weitere Maßnahmen gegen die Braunkohle deutlich absehbar. Deutschland
befindet sich aktuell nicht auf Zielpfad, um die Klimaziele für 2020 zu erreichen. Zwar
sollen die Klimareserve sowie zusätzliche Maßnahmen zur Förderung von Energieeffizienz und Kraft-Wärme-Kopplung die vorhandene Lücke zum Klimaziel schließen. Der
jüngst erschienene vierte Monitoringbericht zur Energiewende32 äußert jedoch ernsthafte Bedenken, dass diese Maßnahmen so umgesetzt werden33 und betont, dass
nach 2020 beträchtliche Zusatzanstrengungen erbracht werden müssen, um die nötige CO2-Ersparnis von 200 Millionen Tonnen bis 2030 zu erreichen.34
Gleichzeitig ist nicht davon auszugehen, dass die Bundesregierung zulässt, dass die
deutsche Energie- und Klimapolitik scheitert. In diversen Umfragen befürworten 57
Prozent bis 89 Prozent35 der deutschen Bevölkerung die Energiewende. Kohle ist hingegen äußerst unbeliebt. Laut einer Meinungsumfrage vom September 2015 sind
lediglich fünf Prozent der Bürgerinnen und Bürger dafür, dass Deutschland in Zukunft
weiterhin Kohlestrom nutzt.36 Da die Regierung vom Stromsektor besonders hohe
Emissionsreduktionen erwartet37 und Braunkohle für einen unverhältnismäßig hohen
Anteil der Emissionen verantwortlich ist, wird eine Reduzierung der Braunkohleverstromung zu den wichtigsten Maßnahmen gehören, um die deutschen Klimaziele zu
erreichen.
Auch wenn die Einigung auf die Klimareserve laut Bundesregierung Planungssicherheit
bis 2020 schaffen soll, ist dies alles andere als gesichert. In mehreren Szenarien sind
zusätzliche Maßnahmen bereits vor 2020 denkbar:
Zunächst ist weiterhin offen, ob die Europäische Kommission die Klimareserve als
unzulässig ablehnt. Tatsächlich hat die EU-Kommission die Reserve bereits als Beihilfe
eingestuft.38 Demnach ist ihre Zustimmung nötig, bevor die Reserve in Kraft treten
kann. Die Maßnahme wird außerdem in der Sektorenuntersuchung für Kapazitätsmärkte, die 2015 begonnen hat, einer eingehenden Prüfung unterzogen werden.39
Während es möglich ist, dass sich die Bundesregierung mit der EU-Kommission auf
einen politischen Kompromiss einigt, kann es auch dazu kommen, dass die EUKommission der Reserve ihre Zustimmung verweigert. Ein im Juli erstelltes Rechtsgut32
BMWi (2015) Die Energie der Zukunft – Vierter Monitoring-Bericht zur Energiewende
33
BMWi (2015) Die Energie der Zukunft – Vierter Monitoring-Bericht zur Energiewende
34
Sigmar Gabriel (2015) Herausforderung Energiewende: "Die Stunde der Überschriften ist vorbei", Rede anlässlich
des BDEW-Kongresses 2015, 30.06.2015
35
WiWo (2014) Allensbach-Umfrage: Hohe Zustimmung für Energiewende, 14.06.2015; BDEW (2015) BDEWUmfrage: Große Mehrheit unterstützt die Energiewende - Umsetzung wird kritisch beurteilt, 11.02.2014; Innovationsforum Energiewende (2015) Deutscher Energie-Kompass 2014: Das Stimmungsbarometer der Energiewende
36
Zeit (2015) Allensbach-Umfrage: Kohle unbeliebter als Atomkraft, 16.09.2015
37
Siehe Klimaschutzplan 2050 und Wirtschaftsminister Gabriels kürzlich vor dem BDEW gehaltene Rede
38
FAZ (2015) EU stellt deutschen Braunkohlekompromiss in Frage, 14.09.2015
39
Europäische Kommission (2015) State Aid: sector inquiry into capacity mechanisms – frequently asked questions,
press release, 29 April 2015
12
Vattenfalls Braunkohle. Geschäft mit Risiko
achten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestags kam bereits zu
dem Schluss, dass die vorgeschlagene Klimareserve mit EU-Beihilferecht unvereinbar
ist.40 Ein separat von Greenpeace in Auftrag gegebenes Gutachten kommt zu dem
gleichen Ergebnis.41 Auch innerhalb von Deutschland wird die Reserve juristisch angefochten. So bereitet der Stadtwerkeverbund Trianel derzeit eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof vor. Konkret wird beanstandet, dass die Reserve marktverzerrend wirke und die Einführung von sauberen Energietechnologien behindere.42 Ein
potenzieller Käufer des Vattenfall-Braunkohlegeschäfts könnte sich also unverhofft
einer grundsätzlichen Neuverhandlung der Klimareserve gegenüber sehen.
Falls die Klimareserve zu Fall gebracht wird, muss sich die Regierung kurzfristig nach
Alternativen zur Reduktion von Emissionen im Stromsektor umsehen, will sie das Klimaziel für 2020 nicht aufgeben. Hierbei ist auch nicht ausgeschlossen, dass der ursprüngliche Vorschlag, also der Klimabeitrag, erneut vorgelegt wird, was die Marktaussichten von Vattenfalls Braunkohlekraftwerken fundamental verschlechtern würde, da Strafzahlungen für CO2-Emissionen fällig würden.
Das zweite Szenario zur Verschärfung der Gesetzgebung gegen Braunkohle ergibt sich
aus der Überprüfungsklausel im Entwurf des neuen Strommarktgesetzes.43 Der Gesetzesentwurf sieht für 2018 eine Überprüfung der Wirksamkeit der Reserve bezüglich
der erzielten CO2-Einsparung vor. Falls die Minderungen nicht ausreichen, sollen zusätzliche Maßnahmen ergriffen werden. Da die Klimareserve explizit nur eine Reduktion von 11 Millionen Tonnen anordnet, obwohl sie eine Einsparung von 12,5 Millionen Tonnen bis 2020 erbringen soll, ist stark damit zu rechnen, dass die Klausel zum
Einsatz kommt. Die Frage, wie die zusätzlichen 1,5 Millionen Tonnen erbracht werden
sollen, wird 2018 neu diskutiert werden. Das Bundesumweltministerium, das den
Energieversorgern traditionell sehr viel kritischer gegenübersteht als das Wirtschaftsministerium, wird gleichberechtigt an dieser Überprüfung beteiligt sein.
Selbst wenn die Klimareserve also in der jetzigen Form bestehen bleibt, ist damit zu
rechnen, dass die Diskussion über einen Kohleausstieg durch die Regelung erneut
entfacht wird. Allerdings würde das unter einer anderen Bundesregierung und gegebenenfalls in einer neuen politischen Gemengelage geschehen – etwa falls es zu einer
Regierungsbeteiligung der Grünen käme. Da die Überprüfung recht bald nach der
nächsten Bundestagswahl erfolgen soll, kann der Kohleausstieg in diesem Zusammenhang auch zum Wahlkampfthema werden. Für Investoren ist das ein großer Unsicherheitsfaktor. Es ist zu diesem Zeitpunkt schlicht nicht abzuschätzen, welche Zusatzbelastungen durch verschärfte Gesetzgebung auf Vattenfalls Braunkohlekraftwerke zukommen werden.
Nach 2020 ist mit großer Sicherheit von einer drastischen Beschleunigung des Kohleausstiegs auszugehen. Geht man von einem linearen Zielpfad zur Erreichung der Kli40
Deutscher Bundestag (2015) Der Vorschlag zur Einführung einer Kapazitätsreserve im Lichte des EU-Beihilferechts
41
Greenpeace (2015) Klimareserve aus Braunkohlekraftwerken Eine juristische und energiewirtschaftliche Analyse
42
Rheinische Post (2015) Stadtwerke wollen gegen Braunkohle-Reserve klagen, 4.11.2015
43
Art. 13g (8), Entwurf Strommarktgesetz, Kabinettsbeschluss vom 4.11.2015
13
Vattenfalls Braunkohle. Geschäft mit Risiko
maziele im Stromsektor aus, beginnend bei 300 Millionen Tonnen CO2 im Jahr 2020,
müssen die Emissionen jährlich rund 10 Millionen Tonnen sinken (siehe Abbildung
2).44 Dies entspricht jedes Jahr zusätzlichen Emissionsreduktionen in Größenordnung
der Klimareserve.
CO2-Einsparungen in dieser Höhe und in solch kurzer Zeit können nur durch eine drastische Beschleunigung des Kohleausstiegs erreicht werden. Dabei wäre jede der in
Tabelle 1 aufgeführten Maßnahmen potenziell denkbar und würde den Wert von
Vattenfalls Braunkohleportfolio deutlich verringern.
4) Es wird keinen deutschen Kapazitätsmarkt geben
Bis zum letzten Jahr nahmen viele Analysten noch an, dass ein Kapazitätsmarkt der
kränkelnden deutschen Kohleindustrie eine Zukunftsperspektive geben könnte. Kapazitätsmärkte entlohnen Energieversorger dafür, unabhängig vom Strompreis abrufbare Kapazität bereitzustellen. Das hätte älteren Kohlekraftwerken erlaubt, im Wettbewerb gegen erneuerbare Energien zu bestehen, die bereits heute einen immer stärkeren Druck auf die Grundlaststrompreise ausüben.
In jüngster Vergangenheit wurde die Einführung eines Kapazitätsmarktes noch offen –
wenn auch kontrovers – diskutiert.45 Das neue Strommarktgesetz hat dieser Debatte
jedoch ein Ende gesetzt. Es beinhaltet lediglich eine relativ kleine Kapazitätsreserve,
die vom Strommarkt komplett abgekoppelt und darüber hinaus nach 2020 vor allem
für Gaskraftwerke vorgesehen ist. Das Gesetz basiert auf einem umfangreichen Konsultationsprozess, in den sowohl wissenschaftliche Expertise als auch Stellungnahmen
vielfältiger Stakeholder eingeflossen sind:
Im März 2015 veröffentlichte das Bundeswirtschaftsministerium zunächst ein Grünbuch, das explizit eine „Grundsatzentscheidung“ treffen wollte, ob Versorgungssicherheit in Deutschland durch einen Kapazitätsmarkt oder eine Kapazitätsreserve
sichergestellt werden sollte.46 Im Konsultationsprozess wurde der Kapazitätsmarkt mit
breiter Mehrheit abgelehnt – außer von den Energieversorgern und nahestehenden
Gruppen wie der IG BCE.47 Entsprechend lehnte auch das darauf aufbauende Weißbuch die Einführung eines Kapazitätsmarktes entschieden ab.48 Im Vorfeld der Konsultation waren bereits zwei vom Wirtschaftsministerium in Auftrag gegebene Gutachten
zu dem Ergebnis gekommen, dass Kapazitätsmärkte marktverzerrend wirken, Verbraucherstrompreise erhöhen und für die Gewährleistung der Versorgungssicherheit
nicht notwendig sind.49
44
Charlotte Loreck, Öko-Institut, Präsentation bei Fachgespräch der LINKE-Fraktion im Bundestag, 15.09.2015
45
Entwurf Strommarktgesetz, Kabinettsbeschluss vom 4.11.2015
46
BMWi (2015) Grünbuch: Ein Strommarkt für die Energiewende
47
Die Stellungnahmen zur Konsultation sind hier verfügbar
48
BMWi (2015) Weißbuch: Ein Strommarkt für die Energiewende
49
Frontier Economics/Consentec (2014) Folgenabschätzung Kapazitätsmechanismen (Impact Assessment); r2b
(2014) Leitstudie Strommarkt: Funktionsfähigkeit EOM & Impact-Analyse Kapazitätsmechanismen
14
Vattenfalls Braunkohle. Geschäft mit Risiko
Die Einführung eines Kapazitätsmarkts war lange eine Kernforderung der Energieversorger, die argumentierten, dass nur so Versorgungssicherheit gewährleistet werden
könne. Es ist jedoch nicht anzunehmen, dass Deutschland mittelfristig ernsthaft
Schwierigkeiten haben wird, eine sichere Stromversorgung zu gewährleisten. Das
starke Wachstum bei Wind- und Solarstromanlagen, bestehende Überkapazitäten, der
Stromhandel mit Nachbarstaaten sowie eine stetige Verbesserung des Netzausbaus
und der Speichertechnologie werden auf absehbare Zeit dafür sorgen, dass jederzeit
ausreichend Strom zur Verfügung steht.50 Das neue Strommarktgesetz wird auf absehbare Zeit den rechtlichen Rahmen für den Strommarkt vorgeben, und beinhaltet
weder einen Kapazitätsmarkt noch eine Überprüfungsklausel, die eine spätere Einführung möglich machen würde. Potenzielle Investoren können nicht davon ausgehen,
dass Vattenfalls Braunkohlekraftwerke zukünftig von einem Kapazitätsmarkt profitieren werden.
WIRTSCHAFTLICHE RISIKEN
1) Die Reform des Emissionshandels wird CO2-Preise in die
Höhe treiben
Das Europäische Emissionshandelssystem (ETS) wird gerade einer umfangreichen
Reform unterzogen. Das erklärte Ziel der Reform ist, den CO2-Preis zu erhöhen, um
die Lenkungswirkung zu verstärken. Dies hat insbesondere auf die Braunkohleverstromung erhebliche Auswirkungen.
Im September 2015 hat die EU eine Marktstabilitätsreserve (MSR) verabschiedet, die
2019 in Kraft treten wird. Sobald eine bestimmte Menge an Emissionszertifikaten
(EUAs) im Markt überschritten ist, wird die MSR automatisch EUAs in eine Reserve
überführen, um das bestehende Angebot zu verknappen.51 Marktbeobachter gehen
davon aus, dass der CO2-Preis entsprechend steigen wird.
Auch das Gesetzgebungsverfahren zur Reform des ETS nach 2020 ist bereits in vollem
Gange.52 Unter anderem ist eine deutliche Erhöhung des Linearen Reduktionsfaktors
(LRF) von aktuell 1,74 Prozent auf 2,2 Prozent vorgesehen. Diese Zertifikatsverknappung ist Teil des Energie- und Klimapakets 2030, das die EU-Staats- und Regierungschefs im Oktober 2014 verabschiedet haben.53 Auch diese Entwicklung läuft auf eine
Erhöhung der Zertifikatspreise hinaus, was die CO2-intensive Stromerzeugung besonders hart treffen wird.
Darüber hinaus sind weitere Szenarien zur Stärkung des ETS möglich. Die EU sieht für
2030 eine Emissionsminderung von „mindestens 40 Prozent“ vor. Eine Verschärfung
dieses Ziels, beispielsweise in Folge des Klimaabkommens in Paris, ist nicht auszu50
FÖS (2015) Entwicklung von Stein- und Braunkohlekapazitäten im deutschen Kraftwerkspark; DIW (2013) Sicherung der Stromversorgung, Wochenbericht 48
51
EU Ministerrat (2015) Greenhouse gas emissions: creation of a market stability reserve approved, Pressemitteilung, 18.09.2015
52
Europäische Kommission (2015) Proposal for a directive to enhance cost-effective emission reductions and lowcarbon investments, COM(2015) 337
53
Europäischer Rat (2014) Conclusions on 2030 Climate and Energy Policy Framework
15
Vattenfalls Braunkohle. Geschäft mit Risiko
schließen. Weiter wird darüber gesprochen, Zertifikate in der MSR endgültig vom
Markt zu nehmen oder die Untergrenze der Reserve zu senken. Regierungen könnten
außerdem eine Regelung in Anspruch nehmen, die nicht-ETS Sektoren den Kauf von
ETS-Zertifikaten erlaubt. All dies würde das Angebot an Zertifikaten weiter verknappen.
Vor diesem Hintergrund haben viele Marktbeobachter, inklusive Bloomberg New
Energy Finance und Point Carbon, ihre EUA-Preisprognosen kürzlich nach oben korrigiert. Neben den ETS-Reformvorhaben werden ein geringerer Verkauf von überschüssigen EUAs aus dem Industriesektor sowie sinkende Steinkohlepreise als Preistreiber
angeführt. Tabelle 3 gibt einen Überblick über aktuelle EUA-Preisprognosen.54 Die
Schätzungen für 2020 bewegen sich zwischen 10,22 und 30 Euro pro Tonne CO2, mit
einem Durschnitt von 19,05 Euro.
Table 3: Aktuelle Zertifikatspreisprognosen (Euro/t CO2)
BNEF
Commerzbank
Consus
Energy Aspects
ICIS-Tschach
Markedskraft
Nomisma
Energia
Point Carbon
Societe Generale
Vertis
Virtuse
Average
Median
Previous poll
% change
Ende
2015
9,00
9,00
8,25
8,50
9,50
7,50
8,10
Ende
2016
n/a
9,00
8,40
10,50
12,70
8,50
9,20
Ende
2017
14,00
9,50
8,80
12,00
15,90
n/a
9,90
Ende
2018
n/a
n/a
9,40
14,00
19,20
n/a
11,20
Ende
2019
n/a
n/a
11,70
18,00
27,20
n/a
12,50
Ende
2020
30,00
n/a
12,10
21,00
29,50
n/a
14,60
8,90
8,81
11,80
9,00
14,90
9,23
17,10
9,52
18,00
9,85
19,00
10,22
8,50
8,70
8,60
8,70
8,50
+1,2%
10,30
10,10
10,00
9,80
9,90
+1%
n/a
11,50
12,05
11,75
11,05
+9%
n/a
13,00
13,35
13,00
11,40
+17,1%
n/a
14,40
15,95
14,40
12,80
+24,6%
n/a
15,80
19,05
17,40
16,85
+13,1%
Quelle: Carbon Pulse
Über die dargestellte Emissionsintensität lässt sich die Auswirkung höherer EUAPreise auf einzelne Kraftwerksblöcke abschätzen. Wie in Tabelle 4 erkennbar ist, hat
der Großteil von Vattenfalls Kraftwerksblöcken eine Emissionsintensität von ca. 1,15 t
CO2/MWh. Dies ist fast doppelt so hoch wie die marginale Emissionsintensität des
Kraftwerkssektors, welche auf 0,65 t CO2/MWh geschätzt wird.55 Höhere CO2-Preise
lassen somit die Kosten dieser Braunkohlekraftwerke etwa doppelt so schnell steigen
54
Carbon Pulse (2015) Poll: Analysts raise EU carbon price estimates, big jump for 2018-2020, 09.10.2015
55
Die Schätzung geht von einer Mischung aus mehrheitlich relativ effizienter Steinkohle, sowie geringeren Anteilen
von Gaskraft, erneuerbarer Energie und Braunkohle aus.
16
Vattenfalls Braunkohle. Geschäft mit Risiko
wie ihre Einnahmen.56 Bei einer Erhöhung der EUA-Preise um einen Euro verlieren
diese Kraftwerke damit Einnahmen von rund 0,5 Euro/MWh.
Table 4: Emissionsintensität von Vattenfalls Braunkohlekraftwerken
Kraftwerk
Block
g CO2/KWh
Boxberg
Boxberg R
0,964
Boxberg
Boxberg Q
0,964
Boxberg
Boxberg P
1,159
Boxberg
Boxberg N
1,159
Jänschwalde
Jänschwalde F
1,163
Jänschwalde
Jänschwalde E
1,163
Jänschwalde
Jänschwalde D
1,163
Jänschwalde
Jänschwalde C
1,163
Jänschwalde
Jänschwalde B
1,163
Jänschwalde
Jänschwalde A
1,163
Lippendorf
Lippendorf R
0,949
Schwarze Pumpe
Schwarze Pumpe B
0,983
Schwarze Pumpe
Schwarze Pumpe A
0,983
Quelle: IZES (2015)
Es ist somit davon auszugehen, dass steigende CO2-Preise zunehmend die Wirtschaftlichkeit des Braunkohleportfolios von Vattenfalls beeinträchtigen werden. Ausgehend
von der aktuellen Stromerzeugung von 55 TWh würde eine Verdopplung der Zertifikatspreise auf 16 Euro/t CO2 zu einem Gewinnverlust von 220 Mio. Euro pro Jahr führen.
Unter solchen Bedingungen würde es für einen potenziellen Käufer praktisch unmöglich, Gewinne erzielen – selbst bei drastischen Sparmaßnahmen. Da die Stromerzeugung in Deutschland keine freie Zuteilung von Zertifikaten vorsieht, würde ein höherer
EUA-Preis auch die Kostenvorteile erodieren, die Braunkohlestrom derzeit noch gegenüber anderen fossilen Brennstoffen wie Erdgas hat.
2) Die Strompreise sind auf Abwärtskurs
Die Energiewende hat zu einer Transformation des deutschen Stromsektors geführt,
welche die Wettbewerbsfähigkeit konventioneller fossiler Stromerzeugung zunehmend in Frage stellt. Die Grundlaststrompreise befinden sich seit 2011 auf Abwärtskurs und liegen aktuell bei unter 30 Euro/MWh.57 Alle Anzeichen deuten darauf hin,
dass dieser Preistrend zumindest mittelfristig anhalten wird.
Diese Entwicklung wirft einen langen Schatten auf zukünftige Marktchancen von
Braunkohle und anderen fossilen Brennstoffen. Abbildung 4 zeigt die Strompreisent56
Ein Teil der Erhöhung der CO2-Kosten schlägt sich auch in höheren Strompreisen nieder. Die Höhe dieses Anteils
wird durch die marginale Kohlenstoffintensität der Stromerzeugung bestimmt, die sich aus der „letzten verkauften
Megawattstunde“ in der Merit Order ergibt.
57
Phelix Base Year Future price, November 2015
17
Vattenfalls Braunkohle. Geschäft mit Risiko
wicklung seit 2011. Seit dem Preishoch im Juli 2011 ist der Grundlaststrompreis um 55
Prozent eingebrochen. Allein in den letzten drei Monaten von September bis November 2015 ist der Forward-Strompreis für 2019 von 31,60 auf 26,85 Euro gefallen.58
Der Strompreisverfall sowie die wachsenden Probleme der konventionellen Stromerzeugung sind auf mehrere Ursachen zurückzuführen. Unter anderem erzeugte
Deutschland 2014 zum ersten Mal mehr Strom aus erneuerbaren Energieanlagen als
aus Braunkohle.59 Erklärtes Ziel der deutschen Energiepolitik ist dabei, den Anteil erneuerbarer Energie im Strommix kontinuierlich weiter zu erhöhen. Anfang 2016 ist die
Verabschiedung eines neuen Strommarktgesetzes geplant, das das Stromsystem an
den steigenden Anteil erneuerbarer Stromerzeugung anpassen soll.60
Abbildung 4: Strompreisentwicklung seit 2011
Quelle: EEX, Phelix Base Year Futures
Die konventionelle Stromerzeugung hat in diesem Zusammenhang immer größere
Schwierigkeiten mit subventionierten erneuerbaren Energien mitzuhalten, weil diese
mit Grenzkosten nahe Null operieren und damit in der Merit Order bevorzugt sind.
Gleichzeitig bestehen im deutschen Kraftwerkspark erhebliche Überkapazitäten von
rund 10 GW,61 die voraussichtlich bis mindestens 2017 bestehen bleiben werden.62
Berücksichtigt man den Stromhandel, sind die Überkapazitäten noch deutlich größer.
In dem für Deutschland verfügbaren europäischen Strommarkt liegen die Überkapazitäten bei etwa 60 GW.63
58
Stand 16.11.2015
59
Agora (2015) Report on the German Power System – Country Profile Germany
60
Entwurf Strommarktgesetz, Kabinettsbeschluss vom 4.11.2015
61
BMWi (2014): Ein Strommarkt für die Energiewende,
Diskussionspapier des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (Grünbuch)
62
BMWi (2014) Leistungsbilanzbericht 2014
63
ENTSO-E (2014) Scenario Outlook and Adequacy Forecast. Dieses Gebiet umfasst Deutschland, seine Nachbarstaaten und Italien.
18
Vattenfalls Braunkohle. Geschäft mit Risiko
Ein weiterer Faktor sind die rapide sinkenden Installationskosten für Wind- und Solarstromanlagen. Dieser Kostentrend wurde in der Vergangenheit regelmäßig und in
praktisch allen großen Energieprognosen, wie zum Beispiel dem World Energy Outlook
der Internationalen Energieagentur, unterschätzt.64 Da keine grundsätzliche Korrektur
der zugrundeliegenden Modelle vorgenommen wurde, ist anzunehmen, dass das
Entwicklungspotenzial der erneuerbaren Energien auch weiterhin unterschätzt wird.65
Fortschritte bei der Batterietechnologie stellen eine weitere technologische Entwicklung mit hohem Veränderungspotenzial dar. Zusammen mit effizienter Speicherung
bietet die erneuerbare Stromerzeugung eine echte Alternative zum Grundlaststrom.
Citibank prognostiziert, dass die Kosten für Stromspeicher bis 2020/2021 weit genug
fallen werden, um konventionelle Versorger vor „erhebliche – und in einigen Fällen
existenzielle – Herausforderungen“ zu stellen.66
Negative Strompreise, wie sie am Spotmarkt zunehmend auftreten, stellen Braunkohlekraftwerke vor zusätzliche Probleme. Während negative Strompreise 2013 nur an 97
Stunden auftraten, würde sich dies in einem "business as usual“-Szenario bis 2022 auf
1.200 Stunden pro Jahr erhöhen.67 Das entspräche 50 Tagen oder etwa 14 Prozent des
gesamten Jahres. Für Braunkohlekraftwerke sind negative Strompreise besonders
problematisch, da sie nicht flexibel genug auf hohe Anteile von erneuerbarer Stromerzeugung reagieren können.
Zum Beispiel liefen Braunkohlekraftwerke 2013 selbst dann auf 40 bis 50 Prozent Auslastung, wenn 65 Prozent des Strombedarfs bereits durch erneuerbare Energien gedeckt wurden. Hätte man die Stromerzeugung noch weiter zurückzufahren wollen,
hätten die entsprechenden Kraftwerksblöcke komplett abgeschaltet werden müssen.
Dies ist allerdings kostspielig - und die Kosten steigen, je länger das Kraftwerk abgeschaltet bleibt.68 Ein Braunkohlekraftwerk bei negativen Strompreisen weiter zu betreiben, kostet also Geld – aber ist immer noch günstiger, als es herunter- und wieder
hochzufahren. Der Wettbewerbsnachteil von Braunkohlekraftwerken, auf Preisschwankungen nicht flexibel reagieren zu können, wird sich in Zukunft voraussichtlich
noch deutlich verschärfen.
Bis die Überkapazitäten im Kraftwerkspark reduziert werden, werden die Strompreise
weiter fallen. Negative Strompreise werden sich von einem anfänglichen Ärgernis hin
zu einer ernstzunehmenden Kostenbelastung entwickeln. Gleichzeitig stellen technologische Fortschritte bei erneuerbaren Energien und Speichertechnik die konventionelle Stromerzeugung vor wachsende Herausforderungen. Angesichts dieser ungünstigen Lage ist es fragwürdig, ob Vattenfalls Braunkohlekraftwerke lange genug profitabel arbeiten können, um die Investitionskosten zurück zu erwirtschaften.
64
Carbon Tracker (2015) Lost in Transition: How the energy sector is missing potential demand destruction
65
Metayer et al. (2015) The projections for the future and quality in the past of the World Energy Outlook for solar
PV and other renewable energy technologies
66
Citigroup (2014) Energy Storage: Game Changer for Utilities, Tech & Commodities, Übersetzung von E3G
67
Agora Energiewende (2014) Negative Strompreise: Ursachen und Wirkungen
68
Intertek Aptech (2012) Power Plant Cycling Costs
19
Vattenfalls Braunkohle. Geschäft mit Risiko
3) Gaspreise brechen ein
Fallende Gaspreise sind ein weiterer Faktor, der die Braunkohleverstromung künftig
beeinträchtigen wird. Seit dem Höchststand im März 2015 ist der Gaspreis bereits um
25 Prozent eingebrochen.69 Verantwortlich dafür ist ein rasanter Absturz der Weltmarktpreise für Flüssigerdgas (Liquefied Natural Gas, LNG). Laut der Energieberatungsfirma Wood McKenzie wird dieser Trend noch auf absehbare Zeit andauern, da
es ein strukturelles Überangebot auf dem Markt gibt und die Kosten der Erschließung
neuer Gasfelder sinken.70
Es ist anzunehmen, dass der sinkende Gaspreis die Stilllegung von Gaskraftwerken
verlangsamen oder sogar beenden wird und damit einem Anstieg der Strompreise in
Folge von Kapazitätsengpässen entgegenwirkt. Gleichzeitig wird so das von der Industrie angeführte Versorgungssicherheitsproblem nach einem Atom- und Kohleausstieg verringert.
Aktuell hat die Braunkohle bei der Stromerzeugung gegenüber Gas zwar noch einen
entscheidenden Kostenvorteil. Wenn die Gaspreise jedoch weiter sinken und gleichzeitig die CO2-Preise steigen, nähert sich der Punkt, an dem Erdgas in der Merit Order
vor die Braunkohle rückt. Eine solche Entwicklung wird auch durch deutlich bessere
regulatorischen Aussichten für Gas als für Braunkohle begünstigt. Mittelfristig will die
Bundesregierung einen Strommix, der fluktuierende erneuerbare Energie mit flexiblen
Gaskraftwerken statt unflexiblem Grundlaststrom ergänzt. Das wird auch im neuen
Strommarktgesetz, das Anfang 2016 verabschiedet werden soll, ausdrücklich erklärt.71
Beides würde zu einer drastisch reduzierten Auslastung der Braunkohlekraftwerke
und zu entsprechenden Umsatzeinbrüchen führen.
Angesichts des steigenden Anteils von erneuerbaren Energien in der Stromerzeugung
könnten Braunkohlekraftwerke ihren Wettbewerbsvorteil gegenüber den flexibleren
und zunehmend günstigen Gaskraftwerken verlieren. Investoren müssen daher sorgfältig abwägen, welche Auswirkungen der fallende Gaspreis auf die zukünftige Profitabilität des Braunkohlegeschäfts hat.
4) Nach 2021 sind Nachrüstungen nötig, um neue EUEmissionsgrenzen zu erfüllen
Eine zusätzliche Kostenbelastung erwächst aus der EU-Richtlinie für Industrieemissionen (IED), welche Emissionsgrenzen für Kraftwerke festschreibt72, und für die eine
deutliche Verschärfung nach 2021 zu erwarten ist.
Die neuen Grenzwerte ergeben sich aus den Umweltstandards für Großkraftwerke,
die aktuell überarbeitet werden. Maßgebend ist dabei das sogenannte Merkblatt über
die besten verfügbaren Techniken für Großfeuerungsanlagen (LCP BREF). Spätestens
69
EEX Erdgaspreis (Spotmarkt) , 30.10.2015
70
Fuel Fix (2015) LNG oversupply likely to burden spot prices, 27.10.2015
71
Entwurf Strommarktgesetz, Kabinettsbeschluss vom 4.11.2015
72
Richtlinie 2010/75/EU
20
Vattenfalls Braunkohle. Geschäft mit Risiko
2017 wird mit der Verabschiedung des Merkblatts im zuständigen Komitee gerechnet.
Die neuen Obergrenzen müssen dann in maximal vier Jahren – also bis 2021 – umgesetzt sein. Sie betreffen insbesondere Emissionen von Schwefeloxiden (SO2), Stickoxiden (NOx) und Feinstaub. Auch für Quecksilber gelten erstmals Grenzwerte und ein
regelmäßiges Monitoring. Dies wird bei mehreren Kraftwerken von Vattenfall eine
Nachrüstung mit Emissionsminderungstechnologien erfordern.
Deutsche Braunkohlekraftwerke haben im Vergleich zum EU-Durchschnitt relativ geringe Schadstoffemissionen. Dennoch überschreiten Vattenfalls Braunkohlekraftwerke die neuen Grenzwerte (siehe Tabelle 5). Tatsächlich übersteigen alle Kraftwerke die
neuen SO2-Grenzwerte deutlich, während bei NOx nur Jänschwalde deutlich über
dem Grenzwert liegt. Auch Boxberg und Lippendorf verfehlen die neuen NOx-Grenzen
leicht und werden voraussichtlich Nachrüstungen brauchen. Am Standort Lippendorf
werden wahrscheinlich darüber hinaus Maßnahmen zur Reduzierung der Quecksilberemissionen nötig sein, da die dort verwendete Braunkohle einen besonders hohen
Quecksilberanteil aufweist.
Tabelle 5: Neue IED-Emissionsgrenzen und Schadstoffausstoß von Vattenfalls
Braunkohlekraftwerken
Kraftwerk
Emissionen (2013,
mg/Nm3)
NOx (>2021 Grenzwert=150 mg/Nm3)*
Jänschwalde
224
Schwarze Pumpe
132
Lippendorf
188
Boxberg
205
3
SO2 (>2021 Grenzwert= 130 mg/Nm )*
Jänschwalde
252
Schwarze Pumpe
222
Lippendorf
288
Boxberg
205
% der neuen Grenzwerte
221%
88%
125%
136%
194%
170%
221%
157%
* das neue LCP BREF muss noch verabschiedet werden
Quelle: E-PTR
Der Einsatz von Anlagen zur Verringerung der Luft- und Wasserverschmutzung wird
voraussichtlich kostspielig sein. Die Minderung der NOx-Emissionen ist dabei besonders teuer. Laut eines Gutachtens von Vattenfall wurden bereits alle möglichen Primärmaßnahmen ergriffen, so dass zur weiteren Emissionsreduktion teurere Sekundärmaßnahmen wie die selektive nicht-katalytische Reduktion (SNCR) und die selektive katalytische Reduktion (SCR) angewendet werden müssen.73 Das Gutachten zeigt
weiterhin, dass aus strukturellen und technischen Gründen von diesen beiden Optionen nur die kostspieligere SCR in Frage kommt.
73
Vattenfall (2013) Transposition of the IED into German law - NOx ELV 100 mg/m³ for existing combustion plants
21
Vattenfalls Braunkohle. Geschäft mit Risiko
Vattenfall schätzt, dass für eine SCR-Nachrüstung am Kraftwerk Boxberg 46,9 Mio.
Euro Kapitalkosten und 4 Mio. Euro jährliche Betriebskosten anfallen werden. Beim
Kraftwerk Schwarze Pumpe belaufen sich die entsprechenden Beträge auf 82 Mio.
Euro Kapital- und 14,2 Mio. Euro Betriebskosten. Das Unternehmen schätzt weiterhin,
dass eine SNCR-Nachrüstung für Jänschwalde 20,3 Mio. Euro Kapitalkosten und 7,2
Mio. Euro Betriebskosten verursachen würde. Gleichzeitig betont das Gutachten jedoch, dass SNCR keine realistische Option für das Kraftwerk sei, womit vermutlich
auch in Jänschwalde die teurere SCR-Technologie nötig sein wird.74
Die Umsetzung der EU-Emissionsgrenzwerte in Deutschland stellt einen weiteren Unsicherheitsfaktor dar. In dem neuen BREF-Merkblatt soll unter anderem stehen, dass
bei der Anwendung von SCR in bestehenden Kraftwerken Emissionswerte noch unter
85 mg/Nm3 erreicht werden können. Das gibt Umweltaktivisten auf Bundes- und Länderebene die Möglichkeit, die Anwendung von noch strengeren Grenzwerten gerichtlich zu erzwingen. Aktuell gilt bereits die Bestimmung, dass Kraftwerke, die nach 2014
den Betrieb aufnehmen, maximal 100 mg/Nm3 NOx ausstoßen dürfen.
Dabei ist zu beachten, dass die oben angeführte Kostenschätzung sich nur auf die
Minderung von NOx-Emissionen bezieht. Um die anderen Schadstoffgrenzwerte ebenfalls einzuhalten, sind für SO2 erhebliche Mehrinvestitionen und für Quecksilber sogar
neue Techniken notwendig. Die entsprechenden Kosten werden voraussichtlich in den
Jahren 2017 bis 2021 zeitgleich mit höheren ETS-Zertifikatspreisen anfallen. Bei einigen Braunkohleblöcken könnte dies ausreichen, um den weiteren Betrieb unwirtschaftlich zu machen.75
Im deutschen Rechtssystem werden die neuen Grenzwerte in der Bundesimmissionsschutzverordnung festgeschrieben. 76 Dabei erlaubt die IED jedem Mitgliedstaat,
strengere Grenzwerte zu setzen. Im Umsetzungsprozess können diese also durchaus
noch anziehen – beispielsweise durch Druck von zivilgesellschaftlichen Organisationen. Es gibt bereits erste Anzeichen, dass die Bundesregierung schärfere Quecksilberstandards in Erwägung zieht.77
Da diese neuen Grenzwerte erst noch verabschiedet und umgesetzt werden müssen,
wurden sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht bei der im letzten Halbjahresbericht
erfolgten Abwertung von Vattenfalls Braunkohlesparte berücksichtigt. Potenzielle
Käufer müssen sich darüber bewusst sein, dass Investitionen in dreistelliger Millionenhöhe erforderlich sein könnten, um nach 2021 die Betriebsgenehmigungen für
den Braunkohle-Kraftwerkspark aufrecht zu erhalten.
74
Ibid.
75
Strengere Schadstoffgrenzwerte waren einer der wichtigsten Faktoren hinter den rasanten Kohlekraftwerksstillegungen in den USA, siehe E3G (2015) G7 coal phase out: United States – A review for Oxfam
76
13. Bundesimmissionsschutzverordnung
77
Spiegel Online (2015) Deutsche Kohlekraftwerke stoßen zu viel Quecksilber aus, 20.03.2015
22
Vattenfalls Braunkohle. Geschäft mit Risiko
5) Ewigkeitskosten könnten höher ausfallen als erwartet
Ein Käufer des Portfolios übernimmt mit den Kraftwerken und Tagebauen auch die in
den Braunkohleplänen der Bundesländer festgeschriebenen Verpflichtungen und Verbindlichkeiten. Hierbei fallen insbesondere hohe Kosten für Renaturierungs- und Umweltschutzmaßnahmen an, die auf Jahrzehnte erbracht und durch Rückstellungen
abgesichert werden müssen.
Die Höhe dieser Kosten ist dabei nur schwer abzuschätzen. Die Rekultivierungskosten,
die für die ehemaligen DDR-Tagebaue anfielen, geben aber zumindest einen Eindruck
von der Größenordnung. Für den Zeitraum 1992 bis 2017 werden die Kosten der Rekultivierung von 120.000 ha Tagebauflächen auf ca. 12,9 Mrd. Euro geschätzt.78 Die
Renaturierung von Vattenfalls 23.300 ha79 Tagebaufläche wird sicherlich weniger teuer ausfallen. Bis jetzt hat Vattenfall zukünftige Zahlungsverpflichtungen von 1,1 Mrd.
Euro bilanziert. Zwei aktuelle Studien stellen jedoch in Frage, ob diese Rückstellungen
ausreichen werden, um die Kosten in vollem Umfang zu decken.80 Dies wird entscheidend von der Qualität der Modelle und Gutachten abhängen, auf denen die Kostenschätzung Vattenfalls basiert. Wurden die Zahlungsverpflichtungen unterschätzt,
müsste ein potenzieller Käufer die Zusatzkosten tragen.
Eine weitere Herausforderung ergibt sich aus dem 2009 verabschiedeten Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz, welches festlegt, dass sämtliche Rückstellungen mit
einer Laufzeit von über einem Jahr entsprechend ihrer Restlaufzeit abgezinst werden
müssen.81 Ziel der Gesetzesreform war, durch Einbeziehung zukünftiger Zinszahlungen
den aktuellen Wert der Rückstellungen besser abzubilden. Angesichts der äußerst
niedrigen Realzinsen am Kapitalmarkt erscheint der Abzinsungssatz jedoch ungerechtfertigt hoch. Wenn die Verzinsung des Vermögens niedriger ausfällt als erwartet, kann
das dazu führen, dass am Ende nicht genug Geld vorhanden ist, um die anfallenden
Verbindlichkeiten zu bezahlen. Solange die Tagebaue und Kraftwerke noch laufen,
können Rekultivierungskosten aus dem laufenden Geschäft bezahlt werden. Sobald
dies jedoch nicht mehr der Fall ist, werden diese Verpflichtungen zum ernsthaften
finanziellen Risiko.
Darüber hinaus hat die Bundesregierung im September 2015 einen Gesetzentwurf auf
den Weg gebracht, der die Nachhaftung für die Folgekosten des Atomausstiegs neu
regelt.82 Dies wurde unter anderem durch E.ONs Pläne ausgelöst, das Atomgeschäft in
ein neues Unternehmen auszulagern. Mit der Änderung müssen Mutterkonzerne unbegrenzt für ihre Töchter haften, auch wenn sich diese abgespalten haben. Eine ähnliche Positionierung ist bei Fragen zur Haftung für die Folgekosten des Braunkohletagebaus zu erwarten.
78
Bund-Länder-Geschäftsstelle für die Braunkohlesanierung (StuBA)
79
FÖS (2014) Kostenrisiken für die Gesellschaft durch den deutschen Braunkohletagebau
80
FÖS (2015) Gesellschaftliche Kosten der Braunkohle
81
Die Abzinsungssätze reichen dabei von 2,08% bei 1 Jahr Restlaufzeit bis 4.05% bei 20 Jahren Restlaufzei. Siehe
Bundesbank (2015) Abzinsungssätze gemäß §253 Abs. 2 HGB
82
BReg (2015) Entwurf eines Gesetzes zur Nachhaftung für Rückbau- und Entsorgungskosten im Kernenergiebereich
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Vattenfalls Braunkohle. Geschäft mit Risiko
RECHTLICHE RISIKEN
Der Braunkohlebergbau stellt einen tiefen Eingriff in Natur und Landschaft dar und
verursacht langfristige Folgeschäden. Der Ausgang juristischer Auseinandersetzungen
ist besonders schwer vorhersehbar bei Bergbaufolgen, die mit der Flora-FaunaHabitat-Richtlinie 83 oder mit der Wasserrahmenrichtlinie (WFD) der EU84 in Konflikt
geraten. Bei einem Teil dieser Konflikte sind Klagen bereits eingeleitet, bei anderen ist
dies jederzeit möglich.
Die Klagerechte von Bürgern und Verbänden wurden durch Urteile des Bundesverfassungsgerichts85 sowie des Europäischen Gerichtshofes86in den letzten Jahren deutlich
gestärkt, so dass sich potenzielle Käufer von Vattenfalls Braunkohlesparte auf eine
Zunahme juristischer Auseinandersetzungen mit offenem Ausgang einstellen müssen.
1) Klagen gegen die Braunkohlenpläne für Welzow-Süd II und
Nochten 2
Braunkohlepläne für die Tagebaue Welzow-Süd II in Brandenburg und Nochten 2 in
Sachsen wurden von den entsprechenden Landesregierungen bereits genehmigt. Dabei ist jedoch noch völlig unklar, ob auch die Erlaubnis zum Kohleabbau letztlich erteilt
wird. Umweltverbände und von einer Umsiedlung bedrohte Anwohner haben bereits
bei den zuständigen Verwaltungsgerichten Klagen eingereicht. Das sächsische Oberverwaltungsgericht verweigerte zwar in erster Instanz sowohl Verbänden wie Betroffenen das Klagerecht.87 Diese Rechtsprechung wird sich im Lichte jüngster Urteile des
Bundesverwaltungsgerichtes 88 jedoch nicht aufrecht erhalten lassen, sodass eine
langwierige gerichtliche Prüfung der Klagen bevorsteht. Auch gegen den beantragten
bergrechtlichen Rahmenbetriebsplan Nochten 2 wurde seitens eines Klagebündnisses
aus Umweltgruppen und Anwohnern eine ausführliche Stellungnahme abgegeben, die
bei Genehmigung des Planes die Grundlage eines Klageverfahrens darstellen kann.89
2) Haftung für Wasserverschmutzung durch Vattenfalls Tagebaue
Die EU-WFD sowie das deutsche Wasserrecht schaffen einen starken Rechtsrahmen
für Gewässer und ermöglichen selbst bei bereits genehmigten Tagebauen umfangreiche nachträgliche Auflagen. 90 Umweltorganisationen haben wiederholt gefordert,
dass Vattenfall Maßnahmen zur Einschränkung der Verockerung und Sulfatbelastung
der Spree und des Grundwassers ergreift. Die zuständigen Behörden haben bislang
83
Richtlinie 92/43/EEC
84
Richtlinie 2000/60/EC
85
Urteil BvR 3139/08 sowie Pressemitteilung
86
Urteil C-137/14
87
1 C 26/14
88
Urteil 4 CN.14 vom 16. April 2015
89
Stellungnahmen und Einwendungen des BUND Sachsen, des Greenpeace Deutschland e.V., der Umweltgruppe
Cottbus e.V. und des Bündnisses Strukturwandel jetzt – kein Nochten 2 vom 18.02.2015
90
Vgl. § 13 Wasserhaushaltsgesetz
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Vattenfalls Braunkohle. Geschäft mit Risiko
noch keine Auflagen erhoben, insbesondere aus Sorge, dass das die Braunkohleförderung unwirtschaftlich machen könnte. Die Einführung von Schutzmaßnahmen wird
von Vattenfall in einem Gutachten als „erheblicher Eingriff in den Produktionsprozess“ charakterisiert, der „den wirtschaftliche[n] Betrieb des Tagebaues und somit die
Exploration der Lagerstätte in Frage [stellen kann].“91 Es ist unklar, ob die Landesbehörden den Verzicht auf eine solche Auflage in Rechtsstreitigkeiten über die Anwendung der WFD dauerhaft aufrechterhalten können.
Die Sulfatbelastung ist außerdem zum Streitfall in der Berlin-Brandenburgischen Landespolitik geworden, da sie die Qualität des Berliner Trinkwassers messbar beeinträchtigt.92 Der Berliner Senat hat wiederholt eine Lösung des Problems gefordert.93
Auch bei der Landesplanungskonferenz diesen September waren der Braunkohleabbau und die Sulfatbelastung die Hauptthemen. 94 Die Verwicklung des Landes Berlin in
diese Streitfrage macht es wahrscheinlicher, dass ein potenzieller Käufer zur Verringerung der Wasserverschmutzung verpflichtet werden könnte.
Ein möglicher Käufer von Vattenfalls Braunkohlegeschäft wird sich außerdem direkt
mit Rechtsfragen bezüglich eines neuen Tagebausees auseinandersetzten müssen, der
durch Flutung des bis Ende 2015 auslaufenden Tagebaus Cottbus-Nord geschaffen
werden soll. Damit wird erstmals im Lausitzer Kohlerevier ein Tagebausee geschaffen,
für den der privatisierte Bergbau die rechtliche Verantwortung trägt.95 Auch hier gibt
es Bedenken bezüglich einer möglichen Sulfatbelastung. Die Tourismusbranche im
Biosphärenreservat Spreewald hat bereits öffentlich Befürchtungen hinsichtlich des
Sees geäußert.96 Umweltgruppen und lokale Betroffene haben eine ausführliche Stellungnahme zu Vattenfalls Antrag über die Anlage des Sees eingereicht, in der strenge
Sulfatgrenzen sowie eine Verpflichtung des Betreibers gefordert werden, die notwendigen Abwehrmaßnahmen auch nach mehreren Jahrzehnten noch zu finanzieren.97 Je
nach Abschluss des Planungsverfahrens könnte nach 2016 eine Klage folgen.
Auch die polnischen Gemeinden Gubin und Brody, die ebenfalls vom Tagebau
Jänschwalde betroffen sind, bereiten aktuell eine Klage wegen Gewässerverschmutzung vor. Gemäß dem polnischen Bergbaugesetz98 haben Gemeinden und ihre Bewohner auch bei Schäden, die durch den Tagebau in Deutschland entstehen, das
Recht auf Schadenersatz. Nach polnischem Recht sind die betroffenen Gruppen zunächst dazu angehalten, eine außergerichtliche Einigung zu erwirken. Sollte dies fehlschlagen, ist eine Klage zu erwarten.
91
Vattenfall Europe Mining AG (2008) Möglichkeiten und Grenzen präventiver Maßnahmen gegen
Kippenwasserversauerung im Kontext der Bewirtschaftungsplanung in vom Braunkohlenbergbau beeinflussten
Grundwasserkörpern, passage translated by E3G
92
LMBV (2015): Gutachten zur Sulfatherkunft in der Spree
93
RBB (2015) Lausitzer Tagebaue bringen Berliner Trinkwasser in Gefahr, 22.04.2015
94
RBB (2015) Berlin und Brandenburg streiten weiter über Braunkohle, 09.092015
95
Die Flutung der DDR-Tagebaue wurde von der LMBV durchgeführt.
96
Lausitzer Rundschau (2014) Spreewald fürchtet Folgen des Ostsees, 27.08.2015
97
Stellungnahme der Umweltgruppe Cottbus e.V.
98
Polnisches Bergbaugesetz
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Vattenfalls Braunkohle. Geschäft mit Risiko
3) Haftung für Verstöße gegen die Habitatrichtlinie
Laut der EU-Habitatrichtlinie sind Unternehmen für Umweltbelastungen und -schäden
in Naturschutzgebieten haftbar. Vattenfalls Tagebaue beeinträchtigen derzeit konkret
die Naturschutzgebiete Pastlingssee und Laßzinswiesen. Ein Nachfolgeunternehmen
könnte hier verpflichtet werden, Schutzmaßnahmen zu finanzieren und Kompensationszahlungen zu leisten.
Die Gebiete Pastlingsee (ein landesweit bedeutsames Moor) und Laßzinswiesen sind
von der Grundwasserabsenkung durch den Tagebau Jänschwalde betroffen. Nachdem
die Wasserstände im Pastlingsee über Jahre sanken, ist er im Frühsommer 2015 nahezu ausgetrocknet. Das führte zu öffentlichen Protesten in der betroffenen Region.99
Die Landesumweltbehörde Brandenburg hat öffentlich dem Tagebau eine Teilverantwortung zugeschrieben.100 Im Schutzgebiet Laßzinswiesen war Vattenfall dazu verpflichtet worden, Infiltrationsanlagen einzurichten, um einer Austrocknung vorzubeugen. Diese erwiesen sich jedoch als nicht ausreichend, so dass die Bergbehörde im
Jahr 2010 die Zuleitung von zusätzlichem Wasser anordnete.101 Die jährlich zu erstellenden Monitoringberichte weisen jedoch weitere Verschlechterungen des Gebietszustandes aus.
In beiden Gebieten erscheinen weitere Schutz- oder Kompensationsmaßnahmen
notwendig. Es ist also durchaus möglich, dass ein potenzieller Käufer von Vattenfalls
Braunkohlekraftwerken hier verstärkt in die Pflicht genommen wird.
4) Haftung für Infrastrukturschäden und Baumaßnahmen
Schäden an Straßen und Gebäuden durch Bodenabsenkung müssen laut Bundesberggesetz vom Bergbaubetrieb bezahlt werden.102 In Deutschland wird aktuell darüber
diskutiert, die Beweislast in solchen Fragen zu Ungunsten des Bergbaubetriebes zu
verändern. Dies könnte die Zahl der Schadensmeldungen und den Bearbeitungsaufwand für Vattenfalls Nachfolgeunternehmen erhöhen. Eine solche Initiative wurde
beispielsweise im Juni von Bündnis 90/Die Grünen im saarländischen Landtag eingebracht103 und wird außerdem seit langem von Umweltverbänden gefordert.104
Für die letzten Betriebsjahre des Tagebaues Jänschwalde soll die Bundesstraße 112
aus dem Abbaugebiet in die Neißeaue verlegt werden. Die Baumaßnahmen finanziert
überwiegend der Tagebaubetreiber. Gegen das Vorhaben ist eine Klage des Umweltverbandes Grüne Liga Brandenburg beim Oberverwaltungsgericht anhängig, was Einfluss auf Fertigstellungstermin und Kosten des Projekts haben kann.105 Kommunalpo99
http://www.lr-online.de/regionen/spree-neisse/guben/Pastlingsee-vor-schwieriger-Rettung;art1051,5115497
100
http://www.lr-online.de/nachrichten/LR-Titel-Landesumweltamt-Tagebau-womoeglich-schuld-amFischsterben;art1674,5109895
101
Erlaubnisbescheid zum Einleiten von gehobenem Grubenwasser in Gewässer (Gräben) in den Jänschwalder
Laßzinswiesen, Landesamt für Bergbau, Geologie und Rohstoffe, 05.11.2010
102
Bundesbergbaugesetz
103
Saarbrücker Zeitung (2015) Saar-Grüne fordern mehr Rechte für Bürger nach Bergschäden, 22.06.2015
104
Siehe z.B. BUND Bergschäden durch Braunkohle
105
http://www.kein-tagebau.de/index.php/de/aktive-tagebaue/jaenschwalde
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Vattenfalls Braunkohle. Geschäft mit Risiko
litiker vor Ort baten im Oktober 2015 den Bundesrechnungshof zu prüfen, ob den
Steuerzahlern zu Unrecht langfristige Folgekosten übertragen werden, deren Verursacher eigentlich der Bergbaubetreibende ist.106
106
Grüne Liga (2015) Ortsvorsteher schalten Bundesrechnungshof zu Straßenverlegung für Braunkohletagebau ein,
Pressemitteilung, 19.10.2015
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Vattenfalls Braunkohle. Geschäft mit Risiko