Beratungsleitfaden zu ELSI-Themen in der Beratung zu

Beratungsleitfaden zu ELSI-Themen
in der Beratung zu altersgerechten
Assistenzsystemen
gefördert vom
Inhaltsverzeichnis
1Einleitung
3
Theoretische Grundlagen der Beratung
2
Herausforderungen der Beratung
im Kontext altersgerechter Assistenzsysteme
4
3Das Konzept der Lebensweltorientierung
10
4Ethische Aspekte
15
5
24
Soziale Aspekte
6Datenschutzrechtliche Aspekte
29
7Technologie und Datenschutz
36
Praxis der Beratung
8
Lebensweltorientierte Beratung
im Kontext altersgerechter Assistenzsysteme
44
9Der Beratungsprozess
51
10Instrumentenkoffer
60
11Verwendete Literatur
85
2
Einleitung
1 Einleitung
Altersgerechte Assistenzsysteme können den Alltag älterer Menschen erleichtern und einen wichtigen Beitrag zur selbstbestimmten Lebensführung
und zu gesellschaftlicher Teilhabe leisten. Die
Gründe, warum viele solcher Technologien jedoch
nicht in dem gewünschten Maße zur Anwendung
kommen, sind vielfältig. Ein wesentlicher Grund
wird zunehmend darin gesehen, dass Akzeptanz
und Nutzung nicht nur eine Frage von Funktionalität und Bedienbarkeit ist. Vielmehr ist eine soziale Einbettung notwendig (vgl. Otto 2010:494),
d. h. die Technologien müssen sich konsequenter
an der jeweiligen Lebenswelt älterer Menschen
ausrichten.
Für die Beratungspraxis wird damit eine Reihe
von Fragen aufgeworfen:
„In welcher Lage befinden sich ältere Menschen,
wenn altersgerechte Assistenzsysteme zur Unterstützung eingesetzt werden?“
„Warum ist eine bislang problemlose Bewältigung
des Alltags problematisch geworden?“
„Wie stellt sich das Bedürfnis nach technologischer Unterstützung dar?“
„Wie kann der ältere Mensch in einer für ihn
schwierigen Situation hinsichtlich altersgerechter
Assistenzsysteme beraten werden?“
Um solche Fragen beantworten zu können und
Beratende in der Praxis angemessen zu unterstützen, bedarf es eines wissenschaftlich fundierten Beratungsansatzes, der die Perspektive
des älteren Menschen in den Fokus nimmt und
zugleich fordert, dass auch gesellschaftliche Rahmenbedingungen kritisch analysiert und gestaltet
werden müssen.
Die verschiedenen Berufsgruppen, die in der
Beratung tätig sind, können sich – je nach Wissensstand und Erfahrung – in dem ersten, wissenschaftlichen Teil über das Konzept der Lebensweltorientierung wie auch über ethische, soziale
und datenschutzrechtliche Aspekte altersgerechter Assistenzsysteme kundig machen.
Der praxisorientierte Teil des Beratungsleitfadens
soll Anleitung bieten, einen Beratungsprozess im
Sinne einer lebensweltorientierten Beratung zu
konzipieren und strukturieren. Im Fokus steht dabei folgende handlungsleitende Fragestellung:
„Welche altersgerechten Assistenzsysteme sind
angesichts der Haltungen des älteren Menschen
und der sich hieraus möglicherweise ergebenden
Spannungsfelder für den Unterstützungsbedarf
geeignet?“
Insgesamt sollen beide Teile des Beratungsleitfadens ein Rahmenkonzept bieten, mit dem die
Lebenswelt des älteren Menschen erkundet werden kann, um mit ihm gemeinsam zu einer Entscheidung zu kommen, die zu einer verbesserten
Lebensqualität führt.
Zum Umgang mit dem Beratungsleitfaden
Der vorliegende ELSI-Beratungsleitfaden soll Beratenden – nicht nur – in kommunalen Beratungsstellen nützliche Informationen bieten, wenn sie
ältere Menschen bei einer Entscheidung über die
Nutzung altersgerechter Assistenzsysteme unterstützen wollen.
Um auf die individuellen Bedürfnisse und unterschiedlichen Lebensentwürfe in der Beratung angemessen reagieren zu können, ist eine generelle
Offenheit und Kreativität erforderlich. Neue Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen und entwickeln
zu können, erfordert seitens der Beratenden jedoch nicht nur Einfallsreichtum und die Bereitschaft, sich auf Unvorhergesehenes und Neues
einzulassen. Eine lebensweltorientierte und zielgerichtete Beratungspraxis benötigt zugleich ein
systematisches Vorgehen, damit individuelle Lösungsmöglichkeiten geplant und entwickelt werden können.
Ausgegangen wird von den typischen Herausforderungen in der Beratung im Kontext altersgerechter Assistenzsysteme, die auf Grundlage der
Analyse aktueller Fachliteratur und Befragungen
der kommunalen Beratungsstellen „Besser leben
im Alter durch Technik“ und der Senioren-Technik
Botschafter ermittelt und herausgearbeitet wurden. Um diesen Herausforderungen begegnen zu
können, wurde das Konzept der Lebensweltorientierung auf den Bereich altersgerechte Assistenzsysteme angewendet und eine praxisorientierte
Anleitung entwickelt.
Im Sinne dieser ‚strukturierten Offenheit‘ lebensweltorientierter Beratung wurde der Beratungsleitfaden als individuell nutzbare Handreichung für die
alltäglichen Praxis konzipiert. Der Verlauf des Beratungsprozesses kann und sollte an die jeweiligen
Bedingungen (zeitlich, räumlich etc.) vor Ort angepasst werden. Der Instrumentenkoffer sollte zur
Unterstützung der konkreten Beratungssituation
angesehen werden, der je nach individuellen Bedürfnissen und beruflichen Erfahrungen verwendet, überarbeitet oder als Anregung zur Entwicklung eigener Instrumente genutzt werden kann.
3
Herausforderungen der Beratung
2
Herausforderungen der Beratung
im Kontext altersgerechter
Assistenzsysteme
Inhalt
2.1Einführung
5
2.2 Ungeklärte gesellschaftliche Rahmenbedingungen
6
2.3 Zunehmender Unterstützungsbedarf im Alter
6
2.4 Familiale Einflussnahme beim Beratungszugang
6
2.5 Unterstützungsangebot jenseits der Lebenswelt älterer Menschen
6
2.6 Komplexität und normierende Wirkung altersgerechter Assistenzsysteme
7
2.7 Haltungen und Verständigungsmuster älterer Menschen
7
2.8 Unausgesprochene Ängste und Befürchtungen älterer Menschen
7
2.9 Familiale Interessenskonflikte
8
2.10 Integration altersgerechter Assistenzsysteme in die Lebenswelt älterer Menschen
8
Ausgewählte Literatur
9
4
Herausforderungen der Beratung
2.1 Einführung
Für die selbstständige Bewältigung des Alltags
werden älteren Menschen zunehmend altersgerechte Assistenzsysteme (an)empfohlen. Wie
gut sie damit zurechtkommen, hängt einerseits
von objektiven Bedingungen und anderseits von
den psychosozialen Voraussetzungen (Alter, Geschlechtszugehörigkeit,
gesundheitlicher
und
kognitiver Verfassung, Bildungs- und Einkommenshintergrund sowie Werte- und Interessensmustern) ab.
Hinsichtlich der Ressourcen, sich neue Technologien anzueignen und mit deren Hilfe den Alltag
zu bewältigen, bestehen demzufolge große Unterschiede. So verfügen ältere Menschen z. B. häufig
nicht über die finanziellen Mittel, um altersgerechte Assistenzsysteme und Dienstleistungen bezahlen zu können.
Vor allem ältere Menschen, die aufgrund ihres biografischen Hintergrundes nur wenige Berührungspunkte mit modernen Technologien im Beruf oder
im Alltag hatten, kann die Nutzung altersgerechter
Assistenzsysteme schnell überfordern. Um altersgerechte Assistenzsysteme nutzen und bedienen
zu können, benötigen sie technische Fertigkeiten
und körperliche Fähigkeiten (Sehfähigkeit, Hörfähigkeit etc.), die nicht immer vorhanden sind.
Des Weiteren bestehen im Kontext von Gesundheitsversorgung und Pflege Abhängigkeitsverhältnisse gegenüber Angehörigen, Ärzten etc., wodurch die Freiwilligkeit der Einwilligung hinsichtlich
des Einsatzes altersgerechter Assistenzsysteme in
der Praxis häufig nicht gewährleistet ist.
Zudem kommen moderne Technologien in der Lebenswelt älterer Menschen kaum vor, wodurch die
Integration in den Alltag erschwert wird.
Mit solchen und weiteren Schwierigkeiten werden
Beratende in ihrer beruflichen Praxis konfrontiert.
Im Folgenden werden die wesentlichen Herausforderungen, die in allen Alterskohorten auftreten
können, vorgestellt.
5
Herausforderungen der Beratung
2.2 U
ngeklärte gesellschaftliche
Rahmenbedingungen
Wie auch in anderen innovativen Feldern findet
bei altersgerechten Assistenzsystemen der Einsatz der Technologien parallel zu der Schaffung
geeigneter Rahmenbedingungen statt und eine
qualifizierte Beratung steht damit vor besonderen Herausforderungen. Denn viele dieser gesellschaftlichen Rahmenbedingungen werden von
den Experten zwar in umfassender Weise diskutiert, jedoch wird konstatiert, dass die Fragen
sowohl auf der individuellen als auch auf der gesellschaftlichen Ebene bislang nicht ausreichend
beantwortet wurden. Dies betrifft vor allem ethische, soziale, (datenschutz-)rechtliche und finanzielle Aspekte (vgl. BMBF 2013:2). Ungeklärte
Fragestellungen in diesen Bereichen können bei
älteren Menschen Befürchtungen und Widerstände auslösen und deren Akzeptanz gegenüber altersgerechten Assistenzsystemen und Dienstleistungen hemmen.
Eine zentrale Hürde sind geringe Kenntnisse über
Zuständigkeiten und Möglichkeiten hinsichtlich
der Finanzierung altersgerechter Assistenzsysteme. Das gilt sowohl für ältere Menschen als auch
für Angehörige und unterstützende Professionen
(vgl. Karbach/ Driller 2011:67). Das liegt zum einen daran, dass bislang nur wenige altersgerechte Assistenzsysteme Marktreife erlangt haben
und für die meisten älteren Menschen zu teuer
sind (vgl. BMG 2013:119). Zum anderen bestehen auch Unsicherheiten bei den Beratenden,
ob, und wenn ja wie und welche altersgerechten Assistenzsysteme in Zukunft im Rahmen der
Kranken- und Pflegeversicherung oder anderer Finanzierungsmodelle (z. B. KfW-Kredit) finanziert
werden.
Sich über altersgerechte Assistenzsysteme eigenständig zu informieren und Beratungsangebote
zu nutzen, ist vor dem Hintergrund solcher und
weiterer noch ungeklärter Fragestellungen häufig
nicht das Anliegen älterer Menschen.
2.3 Z
unehmender Unterstützungsbedarf
im Alter
Eine weitere Herausforderung für die Beratung ist
der zunehmend schlechtere Gesundheitszustand
(siehe Abschnitt 5.5) und die damit einhergehenden Schwierigkeiten älterer Menschen, ihren Alltag zu bewältigen. Vor diesem Hintergrund Hilfe in
Form von professioneller Beratung anzunehmen,
bedeutet für viele ältere Menschen sich einzugestehen, dass sie den Alltag nicht mehr selbst-
ständig bewältigen können. Damit eng verbunden
ist die Vorstellung, auf die Hilfe Angehöriger und
Dritter (Ärzte, Pflegekräfte etc.) angewiesen zu
sein und das Leben nicht mehr selbstbestimmt
und nach eigenen Gesichtspunkten gestalten zu
können.
Tatsächlich kann durch den zunehmend schlechteren Gesundheitszustand eine Abhängigkeit von
individueller Zuwendung und/oder gesellschaftlicher Unterstützungsleistung entstehen. Wenn individuelle Fähigkeiten zur Bewältigung des Alltags
aufgrund körperlicher und/oder geistiger Einschränkungen fehlen, sind diese Personen auf die
Zuwendung und Fürsorge Dritter (Pflegekräfte,
Ärzte, pflegende Angehörige etc.) angewiesen.
Diese Abhängigkeit von der Hilfe anderer ist der
Ausgangspunkt für eine asymmetrische Machtbeziehung zwischen Menschen mit Hilfebedarf
und helfenden Personen (vgl. Kümpers/ Zander
2012:33), da die helfenden Personen entscheiden, ob, in welchem Umfang und unter welchen
Bedingungen die notwendige Hilfe gegeben wird.
Eine solche Abhängigkeitssituation kann dadurch
verschärft werden, dass in weiteren Lebenslagedimensionen Schwierigkeiten bestehen, z. B. hinsichtlich der finanziellen Lage älterer Menschen
(siehe Abschnitt 5.2).
2.4 F
amiliale Einflussnahme beim
Beratungszugang
Eine wesentliche Hürde hinsichtlich des Zugangs
zur Beratung kann darin bestehen, dass die Nutzung altersgerechter Assistenzsysteme nicht dem
Wunsch älterer Menschen selbst entspricht, sondern von außen an sie herangetragen wird. Beratungsstellen werden in den meisten Fällen zuerst
von Angehörigen – oftmals von den erwachsenen
Kindern – aufgesucht, die die Annahme von Unterstützungsangeboten als Wunsch oder gar als
Forderung an die älteren Menschen herantragen
(vgl. Zwicker-Pelzer 2014:47).1 Die älteren Menschen selbst reagieren hierauf nicht selten mit
Skepsis oder sogar mit Widerstand (vgl. ZwickerPelzer 2014:60).
2.5 U
nterstützungsangebot jenseits der
Lebenswelt älterer Menschen
Altersgerechte Assistenzsysteme kommen in der
Lebenswelt älterer Menschen und ihrem sozialem
Umfeld kaum vor. Insbesondere dann, wenn ältere Menschen aufgrund ihres biografischen Hintergrundes nur wenige Berührungspunkte mit
modernen Technologien im Beruf oder im Alltag
6
Herausforderungen der Beratung
2.7 H
altungen und Verständigungsmuster
älterer Menschen
hatten, erschließt sich ihnen der Sinn und Nutzen altersgerechter Assistenzsysteme nicht.
Dass altersgerechte Assistenzsysteme von älteren Menschen oftmals zurückgewiesen werden,
liegt häufig auch daran, dass ihnen diese Form
der Hilfe vor dem Hintergrund ihrer Lebenswelt
weitgehend unbekannt ist und sie nicht selten
diffuse, angstauslösende Vorstellungen davon
haben (vgl. Mollenkopf/ Hampel 1994:91).
Spezifische Haltungen und Verständigungsmuster älterer Menschen können die Beratung
erschweren. Viele ältere Menschen haben im
Laufe ihres Lebens gelernt, bescheiden zu sein
und mit wenig Mitteln den Alltag zu bewältigen.
Daraus folgt nicht selten das Selbstverständnis
„möglichst anspruchslos zu sein.“ (Zwicker-Pelzer 2014:47) Aus diesem Grund werden auch
altersgerechte Assistenzsysteme abgelehnt:
„Selbstverständnis der älteren Menschen ist
häufig: Technik hab ich die letzten 50 Jahre
nicht gebraucht.“2
2.6 K
omplexität und normierende Wirkung
altersgerechter Assistenzsysteme
Eine zentrale Herausforderung für die Beratung
besteht in der Beschaffenheit altersgerechter
Assistenzsysteme selbst: Oft einseitig technikgetrieben (vgl. Otto 2010:492) werden die teils
sehr komplexen altersgerechten Assistenzsysteme von älteren Menschen häufig nicht verstanden. Wenn sie ein Leben lang keine Erfahrung
mit modernen Technologien gesammelt haben,
fehlen ihnen auch die entsprechenden technischen Kompetenzen, die für einen souveränen
und selbstbestimmten Umgang mit altersgerechten Assistenzsystemen notwendig sind. Die
‚wachsende Wissenskluft’ (vgl. Trkulja 2010:63)
hat zur Folge, dass die Funktionsweise altersgerechter Assistenzsysteme und deren Auswirkungen von älteren Menschen nicht mehr verstanden werden (vgl. Manzeschke et al. 2013:9)
und die Technologien nicht bedient werden können. Eine zukünftig – möglicherweise einseitig
markt-getriebene (vgl. Otto 2010:492) –, rasante Weiterentwicklung und ein infolgedessen
unerprobter Einsatz der Technologien, könnten
diesen Effekt noch verstärken.
Die Vorwegnahme von Unterstützungsmöglichkeiten im Rahmen einer Beratung bedeutet für
viele ältere Menschen sich mit der eigenen Hilflosigkeit auseinanderzusetzen (vgl. Böhnisch
2012:270). Somit ruft die Auseinandersetzung
mit Zukunftsszenarien nicht selten Widerstände hervor (vgl. Zwicker-Pelzer 2014:60). Oftmals sind ältere Menschen aus diesem Grund
auch nicht bereit, sich auf Veränderungen in
ihrem Alltag einzulassen (vgl. Zwicker-Pelzer
2014:61).
Eine weitere Schwierigkeit können unterschiedliche Lebenswelten und Verständigungsmuster
von älteren Menschen und oftmals jüngeren
Beratenden sein (vgl. Müller 2014:42). So haben ältere Menschen möglicherweise ihre eigene lebenslage- und milieuspezifische Sprache,
um über ihre Probleme zu reden (vgl. Thiersch
2014:312). Insbesondere technikferne ältere
Menschen haben zudem Schwierigkeiten, ihre
Bedürfnisse hinsichtlich technologischer Unterstützung zu artikulieren (vgl. Müller 2014:39).
Daher ist es nicht immer einfach, eine gemeinsame, alltagsnahe und verständliche Sprache
zu finden. Außerdem betrachten ältere Menschen das Beratungsangebot gegebenenfalls
auch als eine gute Gelegenheit für ein Gespräch
(vgl. Zwicker-Pelzer 2014:61), wodurch wiederum eine strukturierte und zielführende Beratung erschwert wird.
Das kann zu einer weiteren Abhängigkeit von
den Technologien, den Angehörigen und/oder
den Dienstleistern und Experten führen (siehe
Abschnitt 5.8).
Zudem beruhen altersgerechte Assistenzsysteme auf der Idee möglichst unsichtbar Dienstleistungen zu erbringen (vgl. Manzeschke et al.
2013:17). Dabei sammeln und verarbeiten sie
nicht selten sensible personenbezogene Daten
und dringen damit in die Privat- und Intimsphäre älterer Menschen ein. Der ursprünglich gut
gemeinte Einsatz altersgerechter Assistenzsysteme kann normierende Wirkung entfalten und
in Kontrolle der Lebensweise umschlagen (siehe
Abschnitt 5.8). Solche Szenarien können oftmals Widerstände älterer Menschen auslösen.
2.8 U
nausgesprochene Ängste und
Befürchtungen älterer Menschen
Mollenkopf und Hampel konstatieren, dass altersgerechte Assistenzsysteme „oft mit vorgeschobenen Argumenten“ (Mollenkopf/ Hampel
2 Quelle: Datensatz Herausforderungen der Beratung im Kontext altersgerechter Assistenzsysteme, Hochschule Hannover.
7
Herausforderungen der Beratung
1994:91) zurückgewiesen werden. Doch hinter
den manchmal eigenwillig erscheinenden Entscheidungen älterer Menschen, sich auf Veränderungen in ihrem Alltag nicht einzulassen (vgl.
Zwicker-Pelzer 2014:61), stecken nicht selten
konkrete Ängste und Sorgen. Das folgende anschauliche Beispiel verdeutlicht diese Problematik:
„Klientin bekam Tablet zur Kommunikation mit
Kindern. Klientin wollte es nicht und ist auch nicht
damit zurechtgekommen. Immer wieder kam es
zu ‚technischen Defekten’ am Tablet. Erst nach
Thematisierung der Situation kam heraus, dass
sie Angst vor Isolation (Kinder kommen dann
überhaupt nicht mehr) hatte. Nach Aussprache
und Absprache von Besuchen kam das Tablet zum
Einsatz, zur Freude aller (...)“.3
Bekannt ist beispielweise auch die Ablehnung notwendiger Unterstützungsangebote, wie Gehhilfen,
Treppenlifter etc. aufgrund der Angst vor Stigmatisierung bzw. der Gefährdung des positiven
Selbstbilds älterer Menschen (vgl. Mollenkopf/
Hampel 1994:94f).
Des Weiteren scheuen ältere Menschen die ‚strukturell innewohnende Asymmetrie’ einer professionellen Beratung. Das heißt, es wird von einer
Hierarchie der unterschiedlichen Kompetenzen
ausgegangen. Der Beratende hat aufgrund seines
Expertenwissens höherwertige Fähigkeiten und
Kenntnisse über altersgerechte Assistenzsysteme
als der auf Informationen angewiesene, ratsuchende ältere Mensch. Insofern besteht die Befürchtung, dass die eigene Hilfebedürftigkeit dazu
führt, dass der Beratende die Problemlage für den
älteren Menschen definiert und ihm sagt, wie sie
gelöst werden soll.
2.9 Familiale Interessenskonflikte
Einflüsse aus dem persönlichen Beziehungsnetzwerk können erhebliche Auswirkungen auf den
gesamten Beratungsprozess haben (vgl. Weinhold
et al. 2014:287). Soziale Einflüsse wirken häufig
förderlich und unterstützend auf die Beratung,
sie können den Beratungsprozess aber auch erschweren und behindern.
Oftmals versprechen sich die Angehörigen vom
Einsatz altersgerechter Assistenzsysteme eine
Entlastung von überfordernden Pflege- und Versorgungstätigkeiten und erhoffen sich mehr Sicherheit für ihre pflege- und hilfebedürftigen
Eltern und Großeltern. Ältere Menschen lehnen
diese Art der Unterstützung jedoch aus verschiedenen Gründen häufig ab. Bleibt die erwünschte
Reaktion der älteren Menschen aus, können negative Reaktionen der Angehörigen die Folge sein
(vgl. Weinhold et al. 2014:288). Wenn altersgerechte Assistenzsysteme nur von Angehörigen
als ‚gute’ Lösung angesehen werden, geraten die
älteren Menschen unter einen gewissen ‚Legitimationsdruck’: Sie müssen sich und ihre ablehnende
Haltung erklären, werden in ihren Begründungen
ggf. nicht ernst genommen oder vielleicht sogar
für starrsinnig gehalten. Dies ruft bei älteren Menschen oftmals Ängste vor Abhängigkeit, Kontrolle
und Entmündigung durch Angehörige hervor.
2.10 I
ntegration altersgerechter
Assistenzsysteme in die Lebenswelt
älterer Menschen
Damit altersgerechte Assistenzsysteme von älteren Menschen positiv aufgenommen werden,
müssen sie nicht nur einfach zu bedienen sein,
sondern vor allem auch einen konkreten Nutzen hinsichtlich der Bewältigung des Alltags aus
Sicht des älteren Menschen leisten (vgl. Meyer
2011:122). Daher reicht es nicht aus, altersgerechte Assistenzsysteme lediglich zur Verfügung
zu stellen. Gerade ältere Menschen, die in ihrem
Leben wenige Berührungspunkte mit neuen Technologien gehabt haben, benötigen eine längere
Eingewöhnungszeit, um den Umgang zu erlernen
(vgl. Mollenkopf/ Hampel 1994:93). Dies erfordert nicht nur fachmännische Anleitung, sondern
auch unterstützendes Training und Nachbetreuung. Diese Aufgaben werden häufig von Angehörigen oder anderen Bezugspersonen übernommen
(vgl. Otto 2010:494). Eine Schwierigkeit könnte
dabei sein, dass Angehörige und unterstützende
Dienstleister den Umgang mit altersgerechten Assistenzsystemen zunächst einmal selbst erlernen
müssen (vgl. Karbach/ Driller 2011:63). Die erhoffte Entlastung könnte dadurch in eine Überforderung für Angehörige und Dienstleister umschlagen und die Versorgungssituation belasten.
Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass ältere Menschen sich wohler fühlen, wenn keine
Veränderungen in ihrem häuslichen Umfeld vorgenommen werden (vgl. Meyer 2011:111). Ein
häufig bemühtes Beispiel ist das Entfernen von
Teppichläufern in der Wohnung von sturzgefährdeten Personen (vgl. Müller 2014:21). Lebenslang
gewohnte Bewältigungsstrategien werden nicht so
schnell aufgegeben. Auf eine Umstellung bewährter Handlungsmuster hinzuwirken erfordert Einfüh-
3 Quelle: Datensatz Herausforderungen der Beratung im Kontext altersgerechter Assistenzsysteme, Hochschule Hannover.
8
Herausforderungen der Beratung
lungsvermögen, Behutsamkeit und gegebenenfalls
viel Zeit, die im Rahmen strukturierter Beratungsprozesse nicht immer vorhanden ist (vgl. ZwickerPelzer 2014:47).
Ausgewählte Literatur
Mollenkopf, H. (2011): Technische Unterstützungssysteme für alte Menschen: Empowerment
oder Isolation? In: Archiv für Wissenschaft und
Praxis der sozialen Arbeit, 42. Jg. (3). Berlin, S.
29-39.
Müller, C. (2014): Praxisbasiertes Technologiedesign für die alternde Gesellschaft. Zwischen gesellschaftlichen Leitbildern und ihrer Operationalisierung im Design. Lohmar
Otto, U. (2010): Altern und lebensweltorientierte
Soziale Arbeit – aktuelle Herausforderungen. In:
Knapp/Spitzer (Hg.), Altern, Gesellschaft und Soziale Arbeit. Klagenfurt
9
Konzept Lebensweltorientierung
Einführung
3
Das Konzept der
Lebensweltorientierung
Das Konzept der Lebensweltorientierung
Inhalt
3.1.Einführung
11
3.2 Lebenswelt
12
3.3 Lebenslagen
12
3.4 Krisen des Alltags
12
3.5 Auflösen von Krisen: Lebenswelt berücksichtigen, Eigensinn anerkennen
und Problemlösungen aushandeln
13
3.6 Expertenherrschaft: Hilfe als Eingriff in die Lebenswelt
13
Ausgewählte Literatur
14
10 10
Inhaltsverzeichnis
Konzept
Lebensweltorientierung
3.1 Einführung
Lebensweltorientierung ist im Bereich der Sozialarbeitswissenschaft ein etablierter Ansatz, dessen
Ziel es ist, einen ‚gelingenderen Alltag’ zu ermöglichen (vgl. Grunwald/ Thiersch 2014:4). Dabei
geht Lebensweltorientierung davon aus, dass
der hilfebedürftigen Person bei der Bewältigung
ihres Alltags einerseits immer wieder Anstrengungen abverlangt werden, sie aber andererseits
auch über individuelle, erworbene Deutungs- und
Handlungsmuster verfügt, die es ihr ermöglicht,
die Bewältigungsaufgabe zu lösen.
Wenn ein gelingenderer Alltag erreicht werden
soll, ist es für den Professionellen (hier: Beratenden) wichtig, die Perspektive der hilfebedürftigen
Person einzunehmen und deren Umgang mit den
alltäglichen Anforderungen zu verstehen. Dieser
Perspektivwechsel, die ‚Hinwendung zum Adressaten’ ist ein wesentliches Merkmal der Lebensweltorientierung, weil es die entscheidende Voraussetzung für das Erreichen des angestrebten
Ziels darstellt.
der Umgang mit den älteren Menschen gestalten?“, „Wie soll den verschiedenen Herausforderungen begegnet werden?“, „Welche Methoden
sollen eingesetzt werden?“ und „Wie soll mit Konflikten umgegangen werden?“
Wissenschaftlich fundierte Konzepte wie die Lebensweltorientierung bieten Unterstützung bei
der Beantwortung dieser Fragen, weil sie (übergeordnete) Ziele formulieren, Erklärungs- und
Verstehensansätze bieten, Orientierung hinsichtlich methodischer Vorgehensweisen geben sowie
Handlungsmaximen und Lösungsansätze formulieren.
Im Folgenden werden wesentliche Grundlagen der
Lebensweltorientierung vorgestellt und zentrale
Begriffe erläutert.
Auf Basis des Verstehens können Widersprüche
und Hindernisse bei der Alltagsbewältigung identifiziert werden, die einem gelingenderen Alltag
im Wege stehen. Gemeinsam mit der hilfebedürftigen Person können dann neue Handlungs- bzw.
Lösungsmöglichkeiten entwickelt werden.
Dabei nimmt die Lebensweltorientierung gleichzeitig die ‚objektive’ Seite in den Blick, weil mit
den tatsächlichen Lebensbedingungen auch die
Anforderungen des Alltags definiert werden. Diese
Lebensbedingungen können gekennzeichnet sein
durch soziale Ungerechtigkeit, mangelnde Selbstbestimmung oder durch Einschränkungen bei der
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.
Das theoretische Konzept der Lebensweltorientierung hat insofern sowohl einen ‚normativen’ als
auch einen ‚deskriptiven’ Charakter (vgl. Dörr/
Füssenhäuser 2015:9). Normativ, weil es die Anerkennung der prinzipiellen Gleichheit der Menschen
und eine sozial gerechte Gestaltung der Lebensverhältnisse fordert. Deskriptiv, weil es Verstehensansätze für die subjektiven Umgangsweisen
bietet und die Unterschiedlichkeit der Menschen
bei der Bewältigung des Alltags respektiert (vgl.
Grunwald/ Thiersch 2014:9).
Bei einer Beratung, die anerkennt, dass mit altersgerechten Assistenzsystemen Probleme im
Alltagsleben älterer Menschen angegangen werden sollen, stehen folgende Fragestellungen im
Vordergrund: „Was ist das Ziel?“, „Wie soll sich
11 11
Konzept Lebensweltorientierung
Einführung
3.2 Lebenswelt
3.3 Lebenslagen
Die ‚Lebenswelt’ ist jener Teil der (subjektiven)
Wirklichkeit, in der jeder Mensch lebt, in der er
sich ganz selbstverständlich und tagtäglich bewegt, denkt, handelt und mit anderen Menschen
kommuniziert. Auf der Grundlage von Erfahrungen mit alltäglichen Anforderungen bilden sich
Deutungs- und Handlungsmuster aus, die einen
pragmatischen Umgang mit wiederkehrenden
Alltagssituationen ermöglichen. Diese Deutungsund Handlungsmuster sind einerseits von einer
generellen Offenheit geprägt. Das heißt, sie sind
prinzipiell anpassungsfähig, da in ihnen die Möglichkeiten zur Interpretation, Reflexion und Übertragung auf neue Handlungsprobleme angelegt
sind. Im Normalfall verfügt der Mensch damit über
einen ausreichenden Wissensvorrat an Sichtweisen und Handlungsoptionen, mit denen sich verändernde Anforderungen des Alltags bewältigen
lassen. Deutungs- und Handlungsmuster können
sich andererseits im Alltag zu Routinen und Ritualen verfestigen, die nicht mehr reflektiert werden.
Diese wiederum erlauben es, die vielfältigen Anforderungen des Alltags „ohne immer neue Überlegungen und Klärungen zu bewältigen“ (Thiersch
2006:24).
Gleichzeitig nimmt Lebensweltorientierung immer
auch die objektiven Lebensbedingungen in den
Blick. Kraus spricht in diesem Kontext nicht von
Lebensbedingungen sondern von Lebenslagen eines Menschen, zu der „sowohl materielle, als auch
immaterielle Gegebenheiten“ (Kraus 2006:7) gehören. Konkret sind dies Einkommens- und Vermögensverhältnisse, der Gesundheitszustand, die
Wohnverhältnisse, die sozialen Beziehungen bzw.
Netzwerke und der Bildungshintergrund (vgl. Kleiner 2012:26ff und Stiehr et al. 2010). Dabei ist
die jeweilige Lebenslage eines Menschen von gesellschaftlichen Bedingungen und Ressourcen geprägt.
Insofern sind Routinen und Rituale eine Entlastung bei der Bewältigung des Alltags, die angesichts zunehmender Unübersichtlichkeiten moderner Gesellschaften (vgl. Thiersch 2014:311) auch
immer dringender benötigt werden. Verfestigte,
unreflektierte Routinen und Rituale erweisen sich
zugleich aber als unflexibel gegenüber Veränderungen und es besteht die Gefahr, dass neue Anforderungen des Alltags nicht bewältigt werden
können.
Deutungs- und Handlungsmuster wie auch Routinen und Rituale im Umgang mit alltäglichen Anforderungen sind immer abhängig vom persönlichen Erfahrungshorizont sowie der individuellen
körperlichen wie geistigen Ausstattung eines Menschen (vgl. Kraus 2006:6). Sie sind zugleich sozial
bedingt, d. h. sie beruhen neben den subjektiven
Faktoren auch auf gesellschaftlichen Traditionen,
Kultur, Werten und Normen. Da sich die Lebenswelt vor dem Hintergrund subjektiv-biografischer
Erfahrungen und individueller physischer und
psychischer Ausstattung bildet, kann davon ausgegangen werden, dass keine Lebenswelt in ihrer
konkreten Ausformung der anderen gleicht, selbst
wenn sie vor dem Hintergrund gleicher Lebensbedingungen entstehen. Die Orientierung an der
Lebenswelt beinhaltet demnach auch immer die
Erkundung und Berücksichtigung der subjektiven
Wahrnehmung der Lebensbedingungen.
Sowohl in der Fachdiskussion als auch in der Praxis werden die Begriffe Lebenswelt und Lebenslage nicht selten synonym verwendet bzw. falsch
aufgefasst (vgl. Kraus 2006:9). Das hat zur Folge,
dass die subjektive Perspektive der Lebenswelt
vernachlässigt wird und stattdessen ausschließlich objektive Rahmenbedingungen in den Blick
genommen werden (vgl. Bestmann 2013:28).
Tatsächlich unterscheiden sich Lebenswelt und
Lebenslage voneinander und wirken zugleich
wechselseitig aufeinander ein (vgl. Bestmann
2013:28). Der Mensch handelt innerhalb seiner
Lebenswelt, wirkt damit auf seine unmittelbare
Umwelt – auf die Gesellschaft – ein und modifiziert diese. Zugleich begrenzen gesellschaftliche
Rahmenbedingungen die Handlungsmöglichkeiten
eines Menschen und prägen seine Lebenswelt.
Die Lebenswelt kann somit kurz zusammengefasst auch als „Schnittstelle des Objektiven der
Verhältnisse zum Subjektiven der konkreten Bewältigungsmuster“ (Thiersch 2014:315) oder als
„Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft“ (Oelschlägel 2001:40) verstanden werden.
3.4 Krisen des Alltags
Eine Krise entsteht, wenn neue Alltagsanforderungen aufgrund fehlender Ressourcen nicht mehr
bewältigt werden können. Die prinzipielle Übertragung bewährter Deutungs- und Handlungsmuster
auf neue Handlungsprobleme funktioniert in diesem Fall nicht (mehr). Entweder weil individuelle Kompetenzen und Ressourcen fehlen, z. B.
wenn geistige und körperliche Fähigkeiten eingeschränkt oder nicht vorhanden sind, wenn soziale
Beziehungen bzw. Netzwerke sich auflösen oder
bestimmte Erfahrungen aufgrund des spezifischen
Lebenslaufs nicht gemacht und notwendige Kom-
12 12
Inhaltsverzeichnis
Konzept
Lebensweltorientierung
petenzen nicht erlernt wurden. Oder weil gesellschaftliche, rechtliche und politische Strukturen
das Individuum überfordern, z. B. in Situationen
der Armut, der Wohnungslosigkeit, der Arbeitslosigkeit, des Alleinerziehens oder aufgrund des
Migrations- und Flüchtlingsstatus etc. (vgl. Grunwald/ Thiersch 2014:13).
In all diesen belastenden Konstellationen wird
das routinierte und pragmatische Handeln, das
ursprünglich zur Entlastung führt, nun zum Hindernis, neue Lebensaufgaben zu lösen. Durch
das Verharren in Routinen und Ritualen können
neue Handlungsmöglichkeiten nicht entwickelt
und somit neue Alltagsprobleme nicht bewältigt
werden. Anders ausgedrückt: Routinen und Rituale blockieren die bewusste Reflexion und Interpretation neuer Schwierigkeiten im Alltag und die
notwendige Anpassung der bewährten Deutungsund Handlungsmuster bleibt aus bzw. misslingt:
Sinnzusammenhänge und Sicherheiten brechen
zusammen, die Fähigkeit zum bewältigungsorientierten Handeln geht verloren und damit die Möglichkeit, das eigene Leben im Sinne eines besseren und gelingenderen Alltags zu gestalten.
3.5 A
uflösen von Krisen: Lebenswelt berücksichtigen, Eigensinn anerkennen
und Problemlösungen aushandeln
Lebensweltorientierung hat die Intention, Menschen bei der Bewältigung von Krisen im Alltag
professionell und mit spezifischem Wissen zu unterstützen. Dazu werden die alltäglichen Schwierigkeiten und individuellen Problemlagen aus Sicht
der betroffenen Menschen in den Blick genommen, da sie die eigentlichen Expertinnen und Experten für die Wahrnehmung und Gestaltung ihrer
Lebenswelt sind. Lebensweltorientierung bewegt
sich damit in einem Spannungsfeld aus Respekt
und Anerkennung vor der gegebenen Lebenswelt
auf der einen Seite und „Provokationen (Destruktionen) zu einem gelingenderen Alltag auf der anderen Seite.“ (Grunwald/ Thiersch 2011:858)
Die Lebenswelt zu respektieren bedeutet, den Eigensinn und die Eigenwilligkeit eines Menschen zu
verstehen und anzuerkennen. Den Menschen in
seiner Eigensinnigkeit ernst zu nehmen, heißt vor
allem, die Schwierigkeiten eines Menschen „als
Anstrengung um Bewältigung zu sehen“ (Thiersch
2014:315), auch wenn diese vorerst zu einem
unbefriedigenden Ergebnis führt. Das Festhalten
an Lösungsstrategien, mit denen neue Herausforderungen nicht bewältigt werden, ist nicht unbegründet, sondern entsteht vor dem Hintergrund
langjähriger Erfahrungen und hat einen für den
Menschen eigenen Sinn. Dieser Eigensinn muss
erkannt und verstanden werden, um daran anknüpfend neue Lösungen, z. B. bei der Krankheitsbewältigung entwickeln zu können (vgl. Hellige/
Hüper 2012:63f). Es bedeutet anzuerkennen, was
der Mensch bereits in seinem Leben geschafft hat.
In solchen Fällen geht es vor allem um die Herstellung einer aktuellen Handlungsfähigkeit und
nicht um die Auflösung aller äußerlich wahrnehmbaren Schwierigkeiten (vgl. Thiersch 2014:322).
Dazu gehört eine Haltung des Ernstnehmens, des
Einlassens, des Rekonstruierens und des Aushaltens individueller Bewältigungsstrategien.
Lebensweltorientierung wirkt zugleich ‚provozierend’, um „Borniertheiten und Verengungen“
(Grunwald/ Thiersch 2014:12) des Alltags zu überwinden. Das heißt, neben der grundsätzlichen Anerkennung der Lebensmuster, der Bewältigungsstrategien und der Eigensinnigkeit eines Menschen
besteht zugleich der Anspruch, selbstverständliche Bewältigungsstrategien in Frage zu stellen,
um neue Sichtweisen zu aktivieren und den Erfahrungshorizont eines Menschen zu erweitern.
Ziel dabei ist es, in einem grundsätzlich von Offenheit geprägten Aushandlungsprozess, gemeinsam
neue Handlungsoptionen zur Bewältigung des Alltags zu entwickeln. Es geht darum die Menschen
zu ermutigen, sich selbst und ihre Möglichkeiten
neu zu entdecken, um auf diese Weise einen gelingenderen Alltag nach eigenen Vorstellungen
und Wünschen zu gestalten und sich damit als
Subjekt ihres Lebens erfahren können. Lebensweltorientierung „ist insofern subjektorientiert
und parteilich“ (Füssenhäuser 2006:133).
3.6 E
xpertenherrschaft: Hilfe als Eingriff in
die Lebenswelt
Alle Formen von Hilfe müssen immer auch als Eingriff in die Lebenswelt verstanden und kritisch reflektiert werden.
Für eine lebensweltorientierte Praxis bedeutet das
zum einen, dass Unterstützungsangebote gelöst
werden müssen von starren Formen und festgefügten Arrangements der Kommunikation (vgl.
Thiersch 2014:313). Es gilt das Prinzip der ‚strukturierten Offenheit’: Es braucht auf der einen
Seite einen strukturierenden Rahmen für die Unterstützung unter Verwendung unterschiedlicher
Methoden, die institutionalisierte Hilfe muss aber
auf der anderen Seite in den Alltag eingelassen
sein und die verschiedenen Methoden müssen in
den spezifischen Situationen konkretisiert werden
(vgl. Thiersch 2014:317f).
13 13
Konzept Lebensweltorientierung
Einführung
Für die konkrete Praxis bedeutet es zum anderen,
dass Probleme des Alltags in einem generell offenen Prozess, nur gemeinsam mit dem Hilfebedürftigen gelöst werden können. Es geht darum, nicht
Probleme für jemanden zu lösen, sondern Problemlösungen miteinander zu entwickeln. Nach einer ersten Bestandsaufnahme müssen Lösungen
vor dem Hintergrund der Lebenswelt erkannt und
kommuniziert werden. Sie werden im gemeinsamen, offenen Prozess miteinander verglichen
und gegeneinander abgewogen. In dieser Offenheit wird ermittelt, was die Menschen können und
was sie nicht können, sie werden ermutigt und
motiviert, neue Handlungsmöglichkeiten auszuprobieren und erfolgreiche Problemlösungen für
sich selbst zu entwickeln. In diesem Sinne entwirft Lebensweltorientierung gemeinsam mit den
Menschen und ‚auf Augenhöhe’ neue Perspektiven
zur Realisierung eines besseren und gelingenderen Alltags.
Ausgewählte Literatur
Füssenhäuser, C. (2006): Lebensweltorientierung in der Sozialen Arbeit. In: Dollinger/ Raithel
(Hg.), Aktivierende Sozialpädagogik. Wiesbaden,
S. 127-144.
Grunwald, K./ Thiersch, H. (2014): Lebensweltorientierung. In: Enzyklopädie Erziehungswissenschaft Online. Weinheim
Kraus, B. (2006): Lebenswelt und Lebensweltorientierung – eine begriffliche Revision als Angebot an eine systemisch-konstruktivistische
Sozialarbeitswissenschaft. URL: http://www.sozialarbeit.ch/dokumente/lebensweltorientierung.
pdf (02.03.2015)
Aus diesen theoretischen Grundlagen der Lebensweltorientierung ergeben sich spezifische Struktur- und Handlungsmaximen, die in den jeweiligen
Arbeitsfeldern konkretisiert werden müssen (vgl.
Füssenhäuser 2006:135). Die für die Lebensweltorientierung und die soziale Altenarbeit charakteristischen Handlungsmaximen (vgl. Grunwald/
Thiersch 2014:20ff; Füssenhäuser 2006:133ff;
Hildebrandt 2012:255f) lauten:
•
•
•
•
•
Prävention,
Alltagsnähe und Alltagorientierung,
Integration,
Partizipation,
D
ezentralisierung/ Regionalisierung/ Vernetzung
und
• Einmischung.
Eine Konkretisierung der Handlungsmaximen für
die Beratung im Kontext altersgerechter Assistenzsysteme erfolgt im Abschnitt Prinzipien Lebensweltorientierter Beratung (siehe Abschnitt
8.3).
14 14
Inhaltsverzeichnis
Ethische Aspekte
4
Ethische Aspekte
Ethische Aspekte
Inhalt
4.1.Einführung
16
4.2 Gutes Leben
17
4.3 Diskursethik
17
4.4 Prinzipien zur Reflexion moralischer Urteile
17
4.5 Ethische Fragestellungen im Kontext altersgerechter Assistenzsysteme
17
4.6 Leitlinien im Kontext altersgerechter Assistenzsysteme
18
4.7 MEESTAR – Ermittlung und Analyse ethischer Problemfelder
21
4.8 Kipppunkte
22
Ausgewählte Literatur
23
15 15
Ethische
Aspekte
Einführung
4.1 Einführung
Der zu erwartende Wandel in der Altersstruktur
der Bevölkerung wird als relevantes gesellschaftliches Problem betrachtet. Für dessen Bewältigung
wird der Einsatz altersgerechter Assistenzsysteme
seit geraumer Zeit diskutiert und die Entwicklung
von Technologien von politischer Seite gefördert.
Zweifellos haben altersgerechte Assistenzsysteme
das Potenzial, älteren Menschen eine Unterstützung im Alltag zu bieten und ihre Selbstbestimmung zu fördern. Doch zugleich bringt der technische Wandel Herausforderungen auf individueller
und gesellschaftlicher Ebene hervor: „Mensch und
Technik stehen in einem spannungsvollen Wechselverhältnis, bei dem der Mensch die Technik
hervorbringt und mit ihr die Welt und auch sich
selbst gestaltet. Zugleich formt Technik aber auch
den Menschen in seiner Selbst- und Weltwahrnehmung, in seinem Urteilen und Handeln.“ (Manzeschke et al. 2013:5)
Technik kann daher nicht prinzipiell als ‚gut’ oder
‚schlecht’ bewertet werden. Auch ‚gute’ technische Entwicklungen können sich im Nachhinein
als problematisch herausstellen (vgl. Manzeschke
2014:2). Die Entwicklung und der Einsatz neuer
Technologien müssen demnach untersucht, bewertet und gestaltet werden, um mögliche Folgen berücksichtigen und unerwünschte Wirkungen vermeiden zu können (vgl. Manzeschke et al.
2013:6).
Da also der Einsatz altersgerechter Assistenzsysteme gleichermaßen Herausforderungen sowohl
für ältere Menschen wie auch für die Gesellschaft
mit sich bringt, bedarf es einer ethischen Reflexion, die danach fragt, ob und in welcher Form
altersgerechte Assistenzsysteme einen Beitrag
zu einem ‚guten Leben’ leisten können. Zur Unterstützung dieser Reflexion liegen mit der Studie „Ethische Fragen im Bereich Altersgerechter
Assistenzsysteme“ (vgl. Manzeschke et al. 2013)
bereits Leitlinien, das Evaluationsinstrument MEESTAR und Konkretisierungen von Problemstellungen durch Spannungsfelder vor.
Im Folgenden werden wesentliche Ergebnisse der
Studie sowie Grundlagen und zentrale Begriffe der
Diskursethik zusammenfassend dargestellt. Abschließend wird die besondere Herausforderung
einer ethischen Reflexion im Kontext altersgerechter Assistenzsysteme anhand von Beispielen
sogenannter Kipppunkte verdeutlicht.
Solche Herausforderungen zu untersuchen ist die
Aufgabe von Wissenschaft und Forschung. Die jeweiligen Fachdisziplinen nähern sich dieser Aufgabe aus unterschiedlicher Perspektive, je nachdem
ob sie aus naturwissenschaftlichen, ingenieurs-,
geistes- oder gesellschaftswissenschaftlichen Bereichen kommen.
Nachdem in der Vergangenheit nur wenige altersgerechte Assistenzsysteme Marktreife erlangt
haben (vgl. BMG 2013:119) und zum Teil auf
wenig Akzeptanz bei älteren Menschen gestoßen
sind (vgl. BMG 2013:15), ist in den letzten Jahren deutlich geworden, dass die Berücksichtigung
ethischer, sozialer und rechtlicher Aspekte (ELSA)
eine wichtige Rolle bei deren Entwicklung und
Einsatz spielen. So wie sich im Bereich der Biound Medizinethik die Berücksichtigung der ethical,
legal and social implications (ELSI) zu einer eigenständigen Forschungsrichtung entwickelt hat
(vgl. Rehmann-Sutter 2011), gewinnt die ELSIBegleitforschung zunehmend auch an Bedeutung
im Bereich altersgerechter Assistenzsysteme (vgl.
BMBF 2011:2).
16 16
Inhaltsverzeichnis
Ethische Aspekte
4.2 ‚Gutes’ Leben
Die Kernfrage der Ethik lautet: „Was ist ‚gutes’
Leben?“ Dabei geht die ethische Reflexion über
individuelle Vorstellungen, wie ‚wir’ ein ‚gutes’
Leben führen können, notwendigerweise hinaus.
Aus ethischer Perspektive geht es immer auch um
das ‚gute’ Zusammenleben der Menschen in der
Gesellschaft. Die Ethik fragt demnach, wie wir als
Menschen in einer Gesellschaft leben wollen. Dabei will Ethik selbst nicht vorgeben, was ‚gutes’
Leben ist, sondern es geht darum, bestehende
Vorstellungen vom ‚guten’ und ‚richtigen’ Leben
im gesellschaftlichen Diskurs zu reflektieren.
4.3 Diskursethik
Ein gesellschaftlicher Diskurs darüber, was ‚gutes’
Leben ausmacht, ist erforderlich, weil Menschen
unterschiedliche Vorstellungen vom ‚Guten’ oder
‚Richtigen’ bzw. unterschiedliche moralische Urteile haben, die in einer Gesellschaft in Konflikt geraten können. Moralische Urteile sind in der Regel
handlungsleitendende Prinzipien ‚richtigen’ und
‚falschen’ Handelns, z. B. darüber, was der Einzelne tun oder besser lassen sollte, welche ‚Verpflichtungen’ Menschen gegenüber ihren Mitmenschen
haben und wie das Zusammenleben in einer Gesellschaft aussehen sollte. Moralische Urteile können unterschiedlich begründet werden. Historisch
sind Moralvorstellungen religiös geprägt, z. B. auf
der Grundlage christlicher Werte. Daneben bestehen nicht-religiöse moralische Prinzipien, z. B. auf
Grundlage einer humanistischen Weltanschauung.
Weitere ‚absolute’ Prinzipien, auf die verwiesen
wird, sind z. B. Gerechtigkeit, die Natur des Menschen, der subjektive Nutzen oder die Vernunft
(vgl. Manzeschke 2014:20).
Die Aufgabe der Ethik ist es, konfligierende Wertvorstellungen zu ermitteln und kritisch zu reflektieren. Schwierige Situationen sollen bewertet und
geklärt werden, um neue Entscheidungsmöglichkeiten und Handlungsspielräume auf individueller
und gesellschaftlicher Ebene zu eröffnen. Aus diesem Grund kann die kritische Reflexion und Beurteilung moralischer Urteile nur im gesellschaftlichen Diskurs erfolgen. Individuelle Handlungen
werden so in Beziehung zum Allgemeinen gesetzt,
um das ‚gute’ Leben aller Menschen in einer Gesellschaft zu ermöglichen.
4.4 Prinzipien zur Reflexion moralischer Urteile
Um moralische Urteile rekonstruieren und reflektieren zu können, müssen sie in Beziehung zu all-
gemein gültigen Prinzipien gestellt werden, z. B.
Gott, Natur etc. Diese ‚absoluten’ Prinzipien haben
jedoch nur noch eingeschränkte bzw. begrenzte
Gültigkeit (z. B. dient der Verweis auf Gott nur
gläubigen Menschen als Beurteilungsmaßstab moralischen Handelns). In der medizinethischen Debatte werden deshalb Prinzipien ‚mittlerer Reichweite’ herangezogen (vgl. Manzeschke 2014:21).
Sie dienen als Kriterien für die ethische Reflexion
bzw. zur Orientierung bei der Urteilsbildung. Sie
lauten:
Autonomie: Entscheidungen anderer respektieren und Selbstbestimmung fördern,
Wohlwollen: Physisches und psychisches Wohlergehen unterstützen und Risiken für das Wohlergehen berücksichtigen,
icht-Schaden-Wollen: Bei anderen keinen
N
Schaden anrichten bzw. Schaden abwenden,
erechtigkeit: Ungerechte Entscheidungen verG
meiden und gerechte Entscheidungen fördern.
Aber auch Prinzipien ‚mittlerer Reichweite’ sind
nicht unproblematisch. Zwar verschaffen sie einerseits Klarheit bzw. geben konkrete Anhaltspunkte
zur Bewertung moralischer Urteile und Konflikte,
andererseits werden auch solche Prinzipien nicht
immer der konkreten Situation gerecht (vgl. Manzeschke 2014:21). Aus diesem Grund müssen Kriterien zur Beurteilung ethischer Fragestellungen
im jeweiligen Kontext konkretisiert bzw. entwickelt
werden. Beauchamp und Childress haben diese
Prinzipien insbesondere vor dem Hintergrund klinischer Arbeit und in diesem Kontext auftretender
Konflikte entwickelt (vgl. Beauchamp/ Childress
2013). Entsprechend müssen diese Überlegungen
für den Bereich altersgerechter Assistenzsysteme
relativiert und anpasst werden.
4.5 E
thische Fragestellungen im Kontext
altersgerechter Assistenzsysteme
Aus Sicht der Ethik wirft der Einsatz altersgerechter Assistenzsysteme „ernste moralische Fragen
auf“ (Böhme 1997:17).
Wenn z. B. zur Erkennung von Notsituationen die
Wohnung älterer Menschen mit Sensoren ausgestattet wird und im großen Umfang Daten der
privaten Lebensführung erhoben werden, darf die
Beurteilung der technischen Unterstützung nicht
allein unter Gesichtspunkten der Nützlichkeit und
Handhabbarkeit oder des technisch Machbaren
entschieden werden. Solche Unterstützungssze-
17 17
Ethische
Aspekte
Einführung
narien machen deutlich, dass zugleich grundlegende Wertvorstellungen des menschlichen Zusammenlebens betroffen sein können, in diesem
Fall z. B. hinsichtlich der Fürsorge, der Privatheit
und der selbstbestimmten Lebensführung. Somit
kann die Unterstützung älterer Menschen durch
altersgerechte Assistenzsysteme weitreichende
„Auswirkungen auf den Einzelnen wie die Gesellschaft“ (Manzeschke et al. 2013:9) haben.
Wenn altersgerechte Assistenzsysteme eingesetzt
werden sollen, um „Lebensqualität und gesellschaftliche Teilhabe älterer Menschen zu verbessern“ (BMBF 2013:2), muss aus ethischer Perspektive auch gefragt werden:
• Was macht gutes Leben im Alter aus?
• Wie wird man älteren Menschen in ihrer Bedürftigkeit gerecht und unterstützt sie darin, ihr ‚eigenes’ Leben zu führen?
•W
ie gestaltet sich die Versorgung älterer Menschen und welche Rolle kann und soll Technik
dabei spielen?
•W
elche politischen, moralischen und ökonomischen Ressourcen stellt eine Gesellschaft zur
Unterstützung älterer Menschen zur Verfügung?
•W
ie verändert die Technik das Zusammenleben
der Menschen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt?
(Vgl. Ammicht Quinn et al. 2013:7; Manzeschke
2013:5)
Ethische Fragen, so wie hier formuliert, sind der
‚angewandten Ethik’ zuzurechnen. Dabei geht es
vor allem darum, wie „in einer bestimmten historischen Situation mit der Technik die Umwelt des
Menschen neu gestaltet wird, und wie sich in der
Interaktion von Mensch und Technik das Selbstund Weltverhältnis verändert.“ (Manzeschke
2014:31)
4.6 L
eitlinien im Kontext altersgerechter
Assistenzsysteme
Die folgenden Leitlinien sollen allen Beteiligten im
Bereich altersgerechter Assistenzsysteme Orientierung zum ethischen Urteilen, Entscheiden und
Handeln bieten (vgl. Manzeschke 2013:22). In der
Form eines Kernsatzes und einer kurzen Erläuterung bieten sie nicht nur Orientierung, sondern
spiegeln auch den aktuellen Stand der Diskussion
bezüglich ethischer Leitlinien und Handlungsanforderungen in diesem Bereich wieder. Sie sollen
daher an dieser Stelle im Wortlaut wiedergegeben
werden:
„1. Selbstbestimmung: Altersgerechte Assistenzsysteme sollen den Nutzern helfen,
ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
Altersgerechte Assistenzsysteme sollen so gestaltet werden, dass ihre Nutzer innerhalb der
technisch unterstützten Lebensbereiche weiterhin selbstbestimmt entscheiden und agieren
können. Von altersgerechten Assistenzsystemen sollen keine Entscheidungen ausgehen,
wenn dieser Systemschritt nicht vorab mit Einverständnis des Nutzers festgelegt wurde. Der
Einsatz von vollautomatisch agierenden, selbstentscheidenden Systemen soll daher einer besonderen Prüfung unterliegen. Zudem soll es
dem Nutzer prinzipiell möglich sein, die Systeme
(vorübergehend oder dauerhaft) selbständig abzustellen. Anbieter wie Nutzer sollen über diese
möglichen Abschaltungsmechanismen informiert
werden. Im Falle einer selbstgewählten Abschaltung durch die Nutzer müssen die Zuständigkeiten, Verantwortlichkeiten und Haftungsfragen
geregelt und allgemeinverständlich kommuniziert werden.
2. Eingeschränkte Selbstbestimmung/ Autonomie: Der Einsatz von altersgerechten
Assistenzsystemen bei kognitiv beeinträchtigten Personen soll nur nach gesonderter
Prüfung und unter Berücksichtigung des
mutmaßlichen Willens der Personen erfolgen.
Nutzer, die an kognitiven Einbußen leiden, wie
z. B. an Demenz erkrankte Personen, sollten mit
ihren Angehörigen oder Bevollmächtigten bzw.
durch anderweitige Regelungen (z. B. Patientenverfügungen) frühzeitig ihren eigenen Willen und ihre Haltung zum Einsatz von altersgerechten Assistenzsystemen festlegen (bzw. eine
Betreuungsperson benennen). Bei Personen,
die nicht mehr entscheidungsfähig sind, sollen
technische Assistenz-Anwendungen erst nach
ausdrücklicher Rücksprache mit den Angehörigen bzw. den Betreuungspersonen und unter
Wahrung gesetzlicher Vorschriften zum Einsatz
kommen.
3. Teilhabe: Altersgerechte Assistenzsysteme sollen die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und die Integration in gesellschaftliche und soziale Verbindungen
unterstützen.
Mithilfe von altersgerechten Assistenzsystemen
soll ein (vereinfachter) Zugang zum gesellschaftlichen Leben ermöglicht werden (z. B. Unterstützung der Kommunikation und Mobilität).
Hierbei haben individuelle Vorstellungen zur
Teilhabe Vorrang, d. h. es soll keine systemseitige Lenkung stattfinden, wie Teilhabe gestaltet
18 18
Inhaltsverzeichnis
Ethische Aspekte
wird. Es geht dabei sowohl um die Teilhabe der
Nutzer, aber auch um die Teilhabe derer, die
Betreuungs- und Hilfsangebote offerieren. Assistenzsysteme sollen außerdem nicht andere
Formen der Teilhabeermöglichung (z. B. durch
persönliche Freundschaften) verdrängen oder
behindern.
4. Gerechtigkeit: Der Zugang zu altersgerechten Assistenzsystemen soll diskriminierungsfrei gestaltet werden.
Ein vom Einkommen, sozialem Status, Alter, Geschlecht, Bildungsniveau, Technikaffinität unabhängiger, gleichberechtigter und barrierefreier
Zugang zu altersgerechten Systemen ist anzustreben.
5. Sicherheit: Der Umgang mit altersgerechten Assistenzsystemen muss für alle
Nutzergruppen sicher sein, sowohl bei der
normalen Anwendung als auch bei potenziellen Fehlern und Ausfällen der gesamten
Technik oder einzelner Prozessketten.
Altersgerechte Assistenzsysteme sollen nicht
die Sicherheit i. S. v. körperlicher oder geistiger
Integrität der Nutzer und Anbieter beeinträchtigen. Auch Fehler, Funktionsausfälle, prozessuale Unterbrechungen, Netzwerkprobleme oder
anderweitige technische Defekte oder menschliche Irrtümer dürfen die Gesundheit der Beteiligten nicht beeinträchtigen oder gar gefährden.
Altersgerechte technische Assistenzsysteme
dürfen nicht zu zusätzlichen physischen oder
psychischen Belastungen wie etwa Stress, Überforderung, Diskriminierung oder Stigmatisierung
führen.
6. Privatheit: Altersgerechte Assistenzsysteme sollen die persönliche Lebensgestaltung nicht negativ beeinträchtigen.
Die Erhebung und Weiterverarbeitung von Daten, die aus dem privaten Umfeld der Nutzer
von altersgerechten Assistenzsystemen an Dritte geleitet werden, müssen so aufbereitet werden, dass keine weiterführenden Informationen
(z. B. Verknüpfung der Daten) abgeleitet werden können. Warnsignale oder -nachrichten sollten pseudonymisiert und – wo immer möglich
– anonymisiert werden. Die Erhebung und Weiterleitung von Daten aus dem Kernbereich der
Privatsphäre der Nutzer durch altersgerechte
Assistenzsysteme ist wie bei allen datenverarbeitenden Systemen durch besondere Schutzmaßnahmen abzusichern. Der Schutz dieser
Daten, auch durch die Vermeidung der Zusammenführung der Daten mehrerer Nutzer, ist hierbei besonders wichtig.
7. Datenschutz: Personenbezogene und
sonstige vertraulich zu behandelnde Daten,
die im Kontext von altersgerechten Assistenzsystemen erhoben, dokumentiert, ausgewertet oder gespeichert werden, sollen
vor dem Zugriff unbefugter Dritter sowie
vor Missbrauch bestmöglich geschützt werden.
Dritte dürfen nicht unbefugt auf persönliche
Daten von Nutzern zugreifen oder diese verarbeiten. Dies schließt auch den Zugriff auf Daten
des ärztlichen oder pflegerischen Personals ein
(Mitarbeiterdatenschutz). Datenschutzerklärungen sollen einfach und klar verständlich verfasst sein. Im Zweifel ist immer zugunsten der
Person zu entscheiden, von der die Daten originär stammen. Die für die Einhaltung des Datenschutzes und des Rechtes auf informationelle
Selbstbestimmung notwendigen Vorsichtsmaßnahmen und Handlungsanleitungen für einen
richtigen Umgang mit solchen sensiblen Daten
sind in verständlicher Form zu kommunizieren
und transparent zu machen.
8. Aufklärung & Informationelle Selbstbestimmung: Nutzer von altersgerechten,
technischen Assistenzsystemen sollen vollständig über die Funktion und Erhebung
der sie betreffenden Daten und die Funktion des Systems informiert werden und erst
auf dieser Basis eine informierte Einwilligung geben.
Über Umfang, Rahmen, Eingriffstiefe, Funktionalität und Datennutzung der jeweiligen altersgerechten Assistenzsysteme sollen Nutzer
ausführlich, vollständig, verständlich und angemessen informiert werden. Erst auf Basis dieser
Aufklärung und Information sollen Nutzer über
den Einsatz von Assistenztechniken entscheiden.
9. Haftung: Verantwortungsübernahme und
Haftung im Fall einer fehlerhaften Funktion von altersgerechten Assistenzsystemen
müssen transparent und verbindlich geregelt werden.
Die Verantwortlichkeiten und Haftungsrisiken
bei hochkomplexen systemischen Lösungen sind
genau zu definieren. Ein Verantwortungsvakuum
sollte vermieden werden. Zu jedem altersgerechten Assistenzsystem und seinen Funktionen
sollen Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten
klar definiert werden (siehe auch ULD 2010)
10. Altersbilder: Altersgerechte Assistenzsysteme sollen möglichst vielfältige Bilder
vom Alter zulassen.
Ein einseitiges, etwa defizitär gezeichnetes Bild
19 19
Ethische
Aspekte
Einführung
vom alten Menschen soll genauso vermieden
werden wie ein einseitig positiv gezeichnetes Bild
vom alten Menschen als vitaler, leistungsfähiger,
disziplinierter Mensch. Vereinseitigungen werden dem vielschichtigen Phänomen des Alter(n)s
nicht gerecht. Vielmehr ist es notwendig, alle Facetten des Alters im gesellschaftlichen Diskurs
zu berücksichtigen, ohne dabei vorab selektive
und/oder diskriminierende Positionen und/oder
Normen aufzustellen. Der Einsatz von altersgerechten Assistenzsystemen kann daher als inspirierende Anregung verstanden werden, um gesamtgesellschaftliche, offene Diskurse über das
‚gute Alter(n)’ zu initiieren.
11. Vermeiden von Diskriminierung und
Normierung: Stigmatisierungen oder Diskriminierungen im Kontext der Nutzung
von altersgerechten Assistenzsystemen
sind unerwünscht. Genauso unerwünscht
ist es, wenn von den Systemen (direkte
oder indirekte) Normierungen ausgehen.
Es ist eine individuelle Lebensentscheidung, ob
sich eine Person für ein altersgerechtes Assistenzsystem entscheidet oder nicht. Hier soll als
Maßstab der Gleichheitsgrundsatz gelten zur
Vermeidung von Diskriminierungen. Der Einsatz
von Technik kann (versteckt) normierend wirken, z.B. indem sich Menschen an technische
Rhythmen und Routinen anpassen und/oder
sich in ihrem Alltag an Messwerten orientieren
und ihre Handlungen daran ausrichten. Solche
(subtilen) Wirkungen sind offen zu legen. Wenn
sie als unerwünschte Eingriffe in die individuelle
Lebensführung empfunden werden, sind solche
unterschwelligen oder offenen Normierungen zu
vermeiden.
12. Anwendungsfreundlichkeit: Altersgerechte Assistenzsysteme sollen so gestaltet sein, dass der Umgang für die Anwender
einfach, intuitiv und gut nachvollziehbar
ist. Entscheidend für die Gebrauchstauglichkeit
und -freundlichkeit (engl. ‚Usability’) altersgerechter Assistenzsysteme ist eine einfache und
eingängige Bedienung, bei der auch die entlastende und/oder unterstützende Eigenschaft
des Systems zu erkennen ist. Dies muss vor allem vor dem Hintergrund der potenziell älteren
Nutzer Berücksichtigung finden, die z. B. durch
verschlechterte Sensomotorik, eingeschränkte
Mobilität oder reduzierte kognitive Fähigkeiten
(etwa Gedächtnisleistung) andere Nutzungsanforderungen an technische Systeme stellen.
Anforderungen und Nutzerinteressen sind bei
der Planung, Konzeption, Testung, Vermarktung, Anwendung sowie Weiterentwicklung und
Wartung von altersgerechten Assistenzsyste-
men einzubeziehen (siehe auch Friesdorf et al.
2011).
13. Vertragsabstimmungen: Nutzer von altersgerechten Assistenzsystemen soll die
Möglichkeit gegeben sein, aus dem Vertragsverhältnis auszutreten.
Bei der Nutzung von altersgerechten Assistenzsystemen soll die Möglichkeit bestehen, aus
dem Vertragsverhältnis aussteigen zu können,
sollte ein Nutzer sich verunsichert, unwohl, beobachtet, in seiner Privatsphäre beeinträchtigt
fühlen oder anderweitige Bedenken haben. Dabei sind die allgemein geltenden vertragsrechtlichen Grundlagen einzuhalten, damit auch die
Anbieter von altersgerechten Assistenzsystemen
Planungssicherheit haben. Nutzer von Assistenzsystemen sollen zunächst in einem Testlauf die
technische Anwendung ausgiebig testen können,
bevor sie sich für den langfristigen Einsatz bzw.
die langfristige Nutzung entscheiden. Modular
aufgebaute Assistenzsysteme können helfen,
hier eine größtmögliche Flexibilität zu erzielen.
14. Qualifizierung und Weiterbildung: Alle
Akteure im Bereich altersgerechter Assistenzsysteme sollen an regelmäßigen Fortund Weiterbildungsmaßnahmen teilnehmen.
Anbieter von altersgerechten Assistenzsystemen
sollten sich zur ständigen Weiterbildung und
Weiterqualifizierung im Bereich der altersgerechten Assistenztechniken verpflichtet fühlen.
Das impliziert auch die Berücksichtigung von
Nutzer-Akzeptanzstudien und Nutzer-Wünschen
sowie Grundkenntnisse in juristischen, ökonomischen, ethischen und sozialen Fragen.
15. Verantwortung & bestmögliche Unterstützung durch Technik: Anbieter altersgerechter Assistenzsysteme sollen verantwortlich agieren; assistive Technologien
sollten stets zum Nutzen und Wohl der Nutzer eingesetzt werden.
Das vorrangige Ziel von altersgerechten Assistenzsystemen ist, menschliche Hilfe, Pflege und
Betreuung bei älteren Menschen sinnvoll zu ergänzen und dabei einen eindeutigen Mehrwert
für die Beteiligten zu bieten. Die Technik dient
dem Menschen und sollte sich seinen Bedürfnissen, Wünschen und Lebensprozessen anpassen
– nicht umgekehrt (siehe auch ‚11. Vermeiden
von Diskriminierung und Normierung’). Technik
soll nicht Lebensvollzüge in unerwünschter Weise
einengen oder von den Nutzern eine zu starke
Anpassung verlangen. Daher ist es besonders
wichtig, dass Nutzen und Mehrwert von technischen Assistenzsystemen für alle Beteiligten klar
20 20
Inhaltsverzeichnis
Ethische Aspekte
ersichtlich und nachvollziehbar sind. Der Mehrwert kann sich für unterschiedliche Nutzergruppen (Hilfs- und Pflegebedürftige, ‚professionell/
semi-professionell’ Pflegende, Dienstleister, Kostenträger, etc.) in unterschiedlicher Weise manifestieren und ist transparent darzustellen. Dienste und/oder technische Optionen sollen stets nur
mit Zustimmung der jeweils betroffenen Nutzer
verwendet werden. Konflikte zwischen den verschiedenen Nutzergruppen sollen offen und proaktiv kommuniziert werden um eine Lösung herbeizuführen.“ (Manzeschke 2013:22ff)
Diese Leitlinien bilden die Grundlage für eine ethische Reflexion im Bereich altersgerechter Assistenzsysteme. Zur Untersuchung und Bewertung
ethischer Probleme im Anwendungsfall wurde in
der Studie „Ethische Fragen im Bereich Altersgerechter Assistenzsysteme“ ein Modell zur ethischen Evaluation sozio-technischer Arrangements
(MEESTAR) entwickelt, das die Reflexion über den
Technikeinsatz anleitet (vgl. Manzeschke 2015a,
2015b).
4.7 M
EESTAR – Ermittlung und Analyse
ethischer Problemfelder
Im Rahmen der Studie „Ethische Fragen im Bereich Altersgerechter Assistenzsysteme“ wurde
ein Analyseinstrument zur Ermittlung ethischer
Problemfelder entwickelt. Es wurden sieben Bewertungsdimensionen festgelegt, die für soziotechnische Arrangements relevant sind. Damit
werden Ebenen beschrieben, auf denen ethische
Probleme angesiedelt sein können.
Diese werden im Folgenden anhand von Beispielen aus der Perspektive älterer Menschen charakterisiert.
Fürsorge
Hilfe und Unterstützung bei der Alltagsbewältigung; Versorgung durch altersgerechte Assistenzsysteme, z. B. für schambesetzte Pflegesituationen
(Waschen, Unterstützung beim Toilettengang etc.).
besondere bei lebensrettender Technologie.
Privatheit
Schutz persönlicher (sensibler) Daten, z. B. bei
einem Aktivitätsmonitoring (Welche Daten werden erhoben? Wer hat Zugriff auf die Daten?);
Schutz der Intimsphäre, z. B. keine Kameras im
Bad.
Gerechtigkeit
Wunsch nach gleichberechtigtem Zugang zu altersgerechten Assistenzsystemen; Wunsch nach
finanzieller Entlastung, z. B. aufgrund unzureichender (privater) Finanzierungsmöglichkeiten.
Teilhabe
Zugang zum gesellschaftlichen Leben, z. B. durch
Förderung der Mobilität; Unterstützung sozialer
Kontakte, z. B. durch Videotelefonie, ohne andere
persönliche Kommunikationsformen einzuschränken.
Selbstverständnis
Technologie soll nicht stigmatisieren, wie z. B. ein
‚Senioren’-Handy; kritische Reflexion von (positiven und negativen) Altersbildern; Technologie soll
Vielfalt des Alter(n)s abbilden.
MEESTAR umfasst neben den genannten Dimensionen Bewertungsstufen zur Einschätzung dessen,
ob ethische Probleme bei einem sozio-technischen
Arrangement vorliegen:
„Stufe I: Anwendung ist aus ethischer Sicht völlig
unbedenklich
Stufe II: Die Anwendung weist ethische Sensibilität auf, was aber in der Praxis entsprechend berücksichtigt werden kann
Stufe III: Anwendung ethisch äußerst sensibel
und bedarf entweder permanenter Aufmerksamkeit oder Abstand von ihrer Einführung
Stufe IV: Anwendung ist aus ethischer Sicht abzulehnen“ (Manzeschke et al. 2013:14).
Selbstbestimmung/Autonomie
In technologisch unterstützten Lebensbereichen
soll der ältere Mensch selbstbestimmt entscheiden und agieren können, z. B. keine Normierung
durch Technologien; der ältere Mensch soll prinzipiell die Möglichkeit haben, altersgerechte Assistenzsysteme selbstständig abzustellen.
Die Analyse normativen Handelns sollte sich nicht
nur auf die individuelle Ebene beschränken, sondern muss auch organisationale und gesellschaftliche Ebenen in den Blick nehmen. Auch korporative Akteure wie Unternehmen, Institutionen etc.
müssen ihre Handlungen verantworten und auf
gesellschaftlicher Ebene ist zu fragen, wie man in
dieser Gesellschaft leben will und welche Rechte
und Pflichten sich daraus ergeben (vgl. Manzeschke et al. 2013:21).
Sicherheit
Schnelle und unkomplizierte Hilfe in einer Notfallsituation, z. B. nach einem Sturz; Schutz vor
Ausfällen altersgerechter Assistenzsysteme, ins-
Mit der dritten Achse werden die unterschiedlichen Perspektiven, Probleme und Verantwortlichkeiten auf individueller, organisationaler und gesellschaftlicher Ebene in den Blick genommen.
21 21
Ethische
Aspekte
Einführung
Mit Hilfe der drei Ebenen des Analyseinstruments
sollen Spannungsfelder zuerst einmal identifiziert
werden. Je nach Lebenssituation und ethischen
Haltungen können sich Spannungsfelder auf unterschiedliche Weise äußern. Sie können zu ambivalenten Haltungen eines älteren Menschen bei
der Beurteilung altersgerechter Assistenzsysteme
führen (Beispiel 1) oder sie können zu unterschiedlichen und ggf. konfligierenden Haltungen
der jeweils Beteiligten führen (Beispiel 2). Beispiel 3 verdeutlicht ein Spannungsfeld, das zu
einer ambivalenten Haltung eines Angehörigen
führt:
1. Der ältere Mensch wünscht schnelle Hilfe im
Notfall (hohes Bedürfnis nach Sicherheit),
möchte aber keine Überwachung durch Sensoren (evtl. Kamera) in seiner Wohnung (hohes
Bedürfnis nach Privatheit) zulassen.
2. Die An- und Zugehörigen wünschen sich eine
gute Versorgung des älteren Menschen (hohes Bedürfnis nach Fürsorge), der selbst keine
Unterstützung wünscht (hohes Bedürfnis nach
Selbstbestimmung).
3. Angehörige haben den dringenden Wunsch
nach Entlastung (hohes Bedürfnis nach Selbstbestimmung ggf. Teilhabe), möchten aber nicht
als verantwortungslos gelten, eine ‚schlechte
Tochter’ oder ein ‚schlechter Sohn’ sein, die
oder der sich nicht um den älteren Mensch
kümmert (hohes Bedürfnis nach positivem
Selbstbild).
4.8 Kipppunkte
Die ebenfalls im Rahmen der genannten Studie herausgearbeiteten ‚Kipppunkte’ dienen dazu, Übergänge zu beschreiben, „an denen die technisch
positiven Effekte und moralisch vorzugswürdigen
Momente altersgerechter Assistenzsysteme in ihr
Gegenteil umschlagen. Dabei geht es weniger
um eine prinzipielle Ambivalenz, die der Technik
als solcher innewohnt, sondern vielmehr um eine
Veränderung des sozio-technischen Arrangements
über die Zeit hinweg, in deren Verlauf es von einer
hilfreichen Unterstützung in eine kontraproduktive
Belastung umschlägt.“ (Manzeschke 2013: 27)
Folgende Beispiele sollen typische Kipppunkte
verdeutlichen.
Teilhabe als Überforderung und Anspruch
Altersgerechte Assistenzsysteme können die gesellschaftliche Teilhabe fördern, indem sie z. B. die
Kommunikation fördern (Kommunikationsgeräte)
oder die Mobilität erhöhen (Navigatoren, intelligente Mobilitätsberater). Unter dem Aspekt der
Kipppunkte ist zu fragen, wo diese technischen
Assistenzen einer effektiven Förderung dienen und
wo sie einen Menschen überfordern (z. B. durch
ihre Bedienung) oder ihm Kommunikations- bzw.
Mobilitätsmuster ‚andienen’, welche dieser Person
nicht entsprechen, denen sie sich aber auch nicht
einfach zu entziehen weiß. Über den zeitlichen
Verlauf ist zudem zu bedenken, dass ältere Menschen ihren Aktions- und Kommunikationsradius
zunehmend reduzieren, was von den technischen
Systemen nicht pathologisiert und diskriminiert
werden sollte.
Aufklärung als Überforderung
Aus der genetischen Beratung weiß man a) um die
Kommunikationsprobleme, die zwischen medizinischem Personal und Beratenen bestehen, b) um
das kategoriale Problem, zwischen statistischen
Werten und einer persönlichen Lebensentscheidung zu vermitteln. Analoges gilt auch für die
Beratung zu altersgerechten Assistenzsystemen,
so gilt es einerseits, im Rahmen der Beratung
eine Aufklärung anzubieten, die den Menschen
einen Überblick über die Situation und mögliche
Handlungsoptionen bietet. Zugleich und andererseits müssen diese Aufklärungsgespräche an das
Fassungsvermögen der älteren Menschen angepasst werden, was unter Umständen bedeutet, in
mehreren aufeinander folgenden Gesprächen die
verschiedenen Aspekte und ihre Interdependenz
aufzuzeigen und Möglichkeiten einer individuellen Wahl zu erwägen. Ein Gespräch über altersgerechte Assistenzsysteme, welches die Person
überfordern mag, bedeutet nicht zwingend, dass
auch das zu verhandelnde System überfordert.
Hier gilt es genau die Differenz zwischen intellektueller Kapazität und Handlungsfähigkeit im Alltag
auszuloten und was das für den konkreten Unterstützungsfall bedeutet.
Selbstbestimmung als Abgabe von Verantwortung
Ziel der altersgerechten Assistenzsysteme ist es,
die Selbstbestimmung von Menschen zu erhalten,
wenn nicht sogar zu verbessern. In dieser Perspektive erscheint Selbstbestimmung als eine
individuelle Ressource, die bewahrt oder sogar
angereichert werden kann. Es besteht jedoch die
Gefahr, dass mit der technischen Unterstützung
den Menschen die formale Kompetenz zur Selbstbestimmung zuerkannt wird und die soziale Dimension vernachlässigt wird. Das kann im Effekt
dazu führen, dass Menschen zwar technisch wunderbar unterstützt werden, aber sie sozial keine
Ansprache mehr erwarten können, weil es nun an
ihnen liegt (qua Selbstbestimmung) auf andere
zuzugehen. Damit würden sich jedoch Einzelne
wie auch die Gesellschaft ihrer Verantwortung zumindest teilweise entziehen.
22 22
Ethische Aspekte
Technik als Disziplinierung
Entsprechend der o. g. Leitlinien sind Systeme,
von denen im Kontext der Nutzung altersgerechter Assistenzsysteme (direkte oder indirekte)
Normierungen ausgehen, unerwünscht. Werden
jedoch Durchschnittswerte bei der Beobachtung
häuslicher Aktivitäten festgelegt (Toilettengang,
Schlafenszeiten etc.), kann das normierenden
Charakter haben, indem der ältere Mensch seinen Alltag an diesen Werten ausrichtet, damit
nicht ständig ein Alarm ausgelöst wird. Technische Systeme beruhen auf Regelkreisen, in denen
Normwerte Auslöser für bestimmte technische
Aktionen sind. Diese in Technik implementierten
Normen dürften in der Regel ihren Anhalt an praktischen Erfahrungen oder wissenschaftlichen Erkenntnissen haben und somit eine gewisse Plausibilität aufweisen. Soziale Kontexte und die hierin
für Handlungen notwendigen Aspekte sind in der
Regel jedoch vielfältiger als sie sich in ein, zwei,
drei …n technischen Normen niederschlagen. Entscheidungen in sozialen Kontexten basieren in der
Regel auf hermeneutisch evaluierten analogen
Daten; Entscheidungen in technischen Systemen
haben diese analoge Bandbreite nicht, sondern
sind ‚härter’ in ihrem Charakter. Dies gilt es für
die technischen Systeme zu berücksichtigen und
jeweils zu fragen, in welchem Bereich sich diese
technische Härte und Eindeutigkeit als vorteilhaft,
sinnvoll, oder auch problematisch erweist und wie
im letzteren Fall damit umgegangen werden soll.
Entlastung als Verlust von Fähigkeiten
Entsprechend der Leitlinien sollen entlastende
Technologien so gestaltet sein, dass sie älteren
Menschen eine selbstständige(re) Lebensführung
in den eigenen vier Wänden ermöglichen. Aus
zahllosen Studien ist jedoch der Effekt bekannt,
dass Fähigkeiten, die nicht länger trainiert werden, verloren gehen können. Menschen im höheren Alter sind in der Regel altersbedingt mit
dem Verlust sensorischer, motorischer, kognitiver
oder sensomotorischer Fähigkeiten konfrontiert.
Deshalb zielen viele Assistenzsysteme darauf ab,
diese Fähigkeiten zu trainieren, um so den Altersprozess zu entschleunigen und Alltagskompetenz
so lange wie möglich zu erhalten. Es ist nun genauer zu eruieren, unter welchen Bedingungen
altersgerechte Assistenzsysteme eine Fähigkeit
nicht mehr trainieren, sondern sie ersetzen. „In
welchen dieser Fälle könnte das zu einem Verlust
von Alltagskompetenzen der unterstützten Person führen?“ „Will man, kann man diesen Verlust
um eines anderen Gewinns willen rechtfertigen?“
Auch hier ist das Verhalten und die Kompetenz
der zu unterstützenden Person über die Zeit zu
beachten: Ein System, das in der Zeit t1–t2 gute
Unterstützung leistet, kann ab Zeitpunkt t3 prob-
23
lematisch werden, weil eine Person in diesem Feld
nicht mehr gefordert wird und so wichtige Fähigkeiten verlieren könnte.
Ausgewählte Literatur
Ammicht Quinn, R./ Spindler, M./ Beimborn, M./
Kadi, S./Köberer, N./ Tulatz, K. (2013): Technik
als Partnerin älterer Menschen. (Wie) Kann das
gelingen? Bericht über den transdisziplinären, explorativen Workshop des BMBF-Projekts MATERIA.
Manzeschke, A./ Weber, K./ Rother, E./ Fangerau,
H. (2013): Ergebnisse der Studie „Ethische Fragen im Bereich Altersgerechter Assistenzsysteme“. Berlin
Manzeschke, A. (2014): Ethik im Bereich Ambient
Assisted Living. Studienmaterialien der Weiterbildung im Bereich Ambient Assisted Living (BAAL),
Universität Rostock, Zentrum für Qualitätssicherung in Studium und Weiterbildung (Hg.). Rostock
Soziale Aspekte
5
Soziale Aspekte
Soziale Aspekte
Inhalt
5.1Einführung
25
5.2 Ökonomische Lage
26
5.3 Bildung
26
5.4 ‚Entberuflichung’ und nachberufliche Tätigkeiten
26
5.5 Gesundheitszustand
26
5.6 Soziale Beziehungen und Netzwerke
27
5.7 Wohnsituation und sozialräumliche Strukturen
27
5.8 Technisierung des Alltags
28
5.9 Subjektives Wohlbefinden
28
Ausgewählte Literatur
28
24
Soziale Aspekte
5.1 Einführung
Technische Geräte und moderne Technologien
tragen in vielerlei Hinsicht zu einer Entlastung
im Alltag bei. Gerade für ältere Menschen, deren
Handlungsmöglichkeiten aufgrund zunehmender
gesundheitlicher Einschränkungen beeinträchtigt
sind, kann der Einsatz altersgerechter Assistenzsysteme einen Beitrag zu einer selbstbestimmten
Lebensführung leisten und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben fördern.
Doch nicht selten sind ältere Menschen altersgerechten Assistenzsystemen gegenüber eher
kritisch eingestellt und begegnen diesen mit
Desinteresse oder sogar Ablehnung (vgl. Müller
2014:24). Ein Grund dafür ist, dass bei der Entwicklung altersgerechter Assistenzsysteme die
äußerst heterogenen Lebensbedingungen und der
tatsächliche Unterstützungsbedarf älterer Menschen nicht ausreichend berücksichtigt werden,
wodurch eine sinnvolle Integration in den Alltag
älterer Menschen nicht immer gegeben ist (vgl.
Elsbernd et al. 2014:16ff).
Damit altersgerechte Assistenzsysteme einen Beitrag zu einem gelingenderen Alltag leisten können, ist es wichtig, die speziellen Lebenslagen der
Gruppe älterer Menschen genauer zu kennen. So
können im Rahmen der Beratung die objektiven
und subjektiven Faktoren, die bei der Bewältigung
des Alltags von Bedeutung sind, identifiziert werden, um eine sinnvolle Entscheidung hinsichtlich
des Einsatzes altersgerechter Assistenzsysteme
treffen zu können.
Im Folgenden werden die sozialen Aspekte (Lebenslagedimensionen) dargestellt, die eine wesentliche Rolle spielen, wenn die Nutzung altersgerechter Assistenzsysteme in Erwägung gezogen
wird. Die dominierenden objektiven Faktoren bei
der Bewältigung des Alltags sind die ökonomischen Verhältnisse, der Bildungshintergrund, der
Gesundheitszustand, die sozialen Beziehungen
und die Wohnsituation. Dabei ist das allgemeine
Wohlbefinden älterer Menschen auch von der subjektiven Bewertung der tatsächlichen Lebenssituation abhängig.
25
Soziale Aspekte
5.2 Ökonomische Lage
Hinsichtlich der finanziellen Ausstattung älterer
Menschen sind die aktuellen Lebensbedingungen in der Regel das Resultat ihrer jeweiligen
Lebens- und Erwerbsbiografie. Insofern ist von
einer großen Heterogenität innerhalb der Einkommensverhältnisse auszugehen. Haushalte älterer
Menschen verfügen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung über unterdurchschnittliche Einkommen. Voraussichtlich werden die Alterseinkünfte
aufgrund sozialpolitischer Reformen zukünftig sogar noch deutlich geringer ausfallen. Aufgrund armutsfördernder Tendenzen, wie z. B. dem steigenden Pflegebedarf älterer Menschen, ist mit einer
zunehmenden Spreizung armer und reicher älterer Menschen zu rechnen (vgl. Engels 2010:300).
Soziale Benachteiligung und Altersarmut sind die
Folge, wovon insbesondere (alleinstehende) Frauen und ältere Menschen in den neuen Bundesländern betroffen sind. Armut im Alter wirkt sich auf
alle anderen Lebenslagedimensionen älterer Menschen aus.
5.3 Bildung
Generell gilt Bildung als wichtige Ressource mit
Bedeutung für alle weiteren Lebenslagedimensionen. Das Bildungsniveau älterer Menschen stellt
sich sehr heterogen dar. So verfügen ‚jüngere
Alte’ (50-64 Jahre) in der Regel über höhere Bildungs- und Ausbildungsabschlüsse als Menschen
älterer Generationenkohorten. Außerdem sind ‚ältere Alte’ in der Regel weniger in Weiterbildungsprogrammen integriert. Das gilt aufgrund der
geschlechtsbezogenen Arbeitsteilung in der Gesellschaft insbesondere für Frauen. Ebenso verhält es sich mit nachberuflichen Bildungsaktivitäten und -interessen. Diese nehmen außerdem mit
zunehmendem Alter ab. Insbesondere ältere Menschen in ländlichen Regionen mit gesundheitlichen
Einschränkungen und geringem Einkommen weisen geringere Bildungsaktivitäten auf. Vor diesem
Hintergrund fehlen vor allem Angebote mit spezifischen Bildungsinhalten und -methoden für ältere
Menschen.
5.4 ‚Entberuflichung’ und nachberufliche
Tätigkeiten
Das Ende der regulären Berufstätigkeit geht für
viele ältere Menschen häufig mit neuen Problemen
bei der Alltagsbewältigung einher. Aufgrund des
Wandels der Arbeitsgesellschaft und dem damit
einhergehenden Frühverrentungstrend verlieren
ältere Menschen mit dem Ausscheiden aus dem
Erwerbsleben den Bezugspunkt gesellschaftlicher
Integration. Hiervon sind vor allem Menschen mit
beruflich niedrigem Status und mit geringer fachlicher Qualifikation betroffen. Dieses Problem der
sogenannten ‚Entberuflichung’ ist in der Regel mit
finanziellen Einbußen verbunden und gerade diese
Gruppe älterer Menschen hat oft keine Möglichkeit, ihre materielle Situation aus eigener Kraft zu
verbessern. Damit fehlen auch häufig grundlegende Rahmenbedingungen, um soziale Beziehungen
zu pflegen und soziale Netzwerke gehen verloren.
Bei dieser Gruppe – insbesondere bei Frauen –
steigt das Risiko der Isolation und Vereinsamung.
Der Übergang vom Berufsleben zur Ruhestandsphase stellt insofern oftmals eine Belastung dar
und ist mit vielfältigen Bewältigungsproblemen
verbunden.
In der Folge gehen manche ältere Menschen über
die offizielle Renteneintrittsgrenze hinaus weiterhin einer Arbeit nach, um die finanziellen Einbußen zu kompensieren. Andere müssen, trotz der
mit dem Alter einsetzenden gesundheitlichen Einschränkungen, als Selbstständige weiterarbeiten.
Dieser ‚Zwang’ zur Weiterarbeit verhindert insofern die in dieser Lebensphase vorgesehene Möglichkeit zur Entschleunigung und Passivität im Alter (vgl. Manzeschke et al. 2013:28).
5.5 Gesundheitszustand
Das Alter(n) ist durch die „deutliche Zunahme von
gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Behinderungen“ (Depner et al. 2010:23) gekennzeichnet. In höherem Alter leiden die Menschen auch
zunehmend an mehreren körperlichen Krankheiten gleichzeitig (Multimorbidität). Hierbei dominieren insbesondere Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Erkrankungen des Bewegungsapparates.
Ebenso steigt mit zunehmendem Alter das Sturzrisiko, die sensomotorischen Fähigkeiten verschlechtern sich und demenzielle Erkrankungen
nehmen zu. Neben den somatischen Erkrankungen leiden ältere Menschen auch vermehrt an
psychischen Krankheiten (z. B. Depressionen),
teilweise bedingt durch und in Wechselwirkung
mit somatischen Erkrankungen.
Hierbei ist zu berücksichtigen, dass sozial benachteiligte bzw. von Armut betroffene Menschen
statistisch
betrachtet
früher
unter
Mehrfacherkrankungen leiden und stärker gesundheitlich eingeschränkt sind (vgl. RichterKornweitz 2012:136).
Fehlende finanzielle Mittel zur Kompensation
gesundheitlicher Einschränkungen verschärfen
zugleich die Abhängigkeit von individueller Zu-
26
Soziale Aspekte
wendung und/oder gesellschaftlicher Unterstützungsleistung (siehe Abschnitt 2.3). Somit ist der
zunehmend schlechtere Gesundheitszustand im
Alter mit abnehmenden Handlungsmöglichkeiten
und Abhängigkeiten verbunden, was insbesondere bei sozial benachteiligten älteren Menschen die
Selbstbestimmung und die Möglichkeiten zur Bewältigung des Alltags einschränkt.
5.6 Soziale Beziehungen und Netzwerke
Soziale Beziehungen und Netzwerke haben insbesondere im Alter „eine soziale Sicherungsfunktion“ (Künemund/ Kohli 2010:309). Die Anzahl
der sozialen Beziehungen geht in der Regel mit
zunehmendem Alter zurück, und es erfolgt eine
Konzentration auf emotional bedeutsame Beziehungen. Entscheidend für die Zufriedenheit mit
den sozialen Kontakten sind nicht deren Anzahl,
sondern vielmehr die Qualität der Kontakte (vgl.
Jopp et al. 2013:44f) und die subjektiven Erwartungen an soziale Beziehungen. Gründe für den
Wandel der Sozialkontakte sind vor allem der Tod
des Lebenspartners, wovon insbesondere Frauen betroffen sind, das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben und der Auszug der Kinder. Dafür werden andere Sozialkontakte intensiviert, z. B. zu
Freunden, Nachbarn und Bekannten. Außerfamiliale Beziehungen (z. B. in Vereinen) oder zu professionellen Helfern sind vor allem bei kinderlosen
älteren Menschen von Bedeutung.
Notwendige Unterstützungs- und Versorgungsleistungen werden überwiegend in familialen
Beziehungen erbracht, auch wenn die Kinder zukünftig nicht mehr mit im Haushalt der Eltern leben. Gelingende Kommunikation, Wertschätzung
und Verständnis zwischen Eltern und Kindern sind
allerdings Idealvorstellungen, die in der Realität
kaum anzutreffen sind (vgl. Backes/ Clemens
2013:236). Die familialen Beziehungen sind deshalb häufig konfliktbehaftet. 90% der älteren Menschen lehnen es z. B. ab, auf die Unterstützung
von erwachsenen Kindern angewiesen zu sein
(vgl. Voges/ Zinke 2010:301). Denn insbesondere
in kleinen Netzwerken kann es dann zu Abhängigkeiten kommen, in denen Kontrolle gegenüber
älteren, vor allem auf Unterstützung angewiesenen Menschen ausgeübt wird, z. B. wenn Angehörige notwendige Pflegeleistungen verwehren,
den Willen der hilfebedürftigen Person missachten
(Geldverwendung etc.), oder dem älteren Menschen mit Heimübersiedlung drohen. Aber auch
für die pflegenden Angehörigen, überwiegend die
Töchter und Schwiegertöchter, stellt die Pflegesituation häufig eine Überforderung oder Überlastung dar. Die Folgen können Lebenskrisen bei der
27
Pflegeperson sein (z. B. Burnout, Konflikte in der
Ehe etc.), aber auch Auseinandersetzungen in der
Pflegebeziehung, z. B. verbale Aggressionen bis
hin zu Gewalt gegenüber älteren Menschen (Fixierung, körperliche Misshandlung, sexuelle Belästigung etc.).
5.7 W
ohnsituation und sozialräumliche
Strukturen
Mit zunehmendem Alter wird die eigene Wohnung und das nähere Wohnumfeld immer mehr
zum Lebensmittelpunkt älterer Menschen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang vor allem, dass
die eigene Häuslichkeit mehr ist als ein ‚Dach
über dem Kopf’ (vgl. Mollenkopf 2011:31). Die
Wohnung ist ein Lebensraum, den man nach eigenen Vorstellungen gestaltet und genutzt hat,
in dem man sich zurechtfindet und der mit vielen
wichtigen Lebenserfahrungen und Erinnerungen
verbunden ist. Infolgedessen hat der Verbleib
und die selbstbestimmte Gestaltung der eigenen
Wohnung eine starke Wirkung auf das subjektive
Wohlbefinden und auf das soziale Verhalten älterer Menschen.
Ein Großteil der älteren Menschen lebt in einer
nicht altersgerecht umgestalteten Wohnung. Die
objektiven Ausstattungsmängel einer Wohnung
werden von älteren Menschen allerdings häufig nicht als Beeinträchtigung der Wohnqualität
wahrgenommen. Dabei kann es sich bei sozial
benachteiligten älteren Menschen um die Relativierung von Wünschen aufgrund der Unkenntnis
von Alternativen (vgl. Hagen 2009:89), fehlender
Kompetenzen und/oder materieller Ressourcen
handeln. Dies gilt insbesondere dann, wenn aufgrund biografischer Erfahrungen (z. B. bei niedrigem Bildungsstand) spezifische Kompetenzen zur
Formulierung von Lebenszielen und zur Durchsetzung individueller Präferenzen nicht erworben
werden konnten.
Zum Aspekt des Wohnens und der damit verbundenen Zufriedenheit oder Unzufriedenheit und
den Möglichkeiten der Alltagsbewältigung gehört
auch eine gut ausgebaute und altersgerechte Gestaltung der Infrastruktur. Einkaufsmöglichkeiten,
Arztpraxen, Treffpunkte, Unterstützungsangebote, Dienstleister usw. in der Nähe der eigenen
Wohnung und eine sichere Verkehrsgestaltung
sowie eine gute Anbindungen an den öffentlichen
Nahverkehr sind entscheidende Faktoren für die
Lebensqualität und die soziale Integration älterer
Menschen. Insbesondere im ländlichen Raum und
in dünner besiedelten Regionen bestehen erhebliche Infrastrukturprobleme.
Soziale Aspekte
Eine finanziell schlechtere Lage ist ebenfalls häufig mit unzureichenden Wohnbedingungen verbunden. Mangelhaft ausgestattete Wohnungen
in Verbindung mit ungenügender Infrastruktur
führen dann zu einer weiteren Einschränkung der
Mobilität und somit zu weiteren Beschränkungen
gesellschaftlicher Teilhabe und einer erhöhten Abhängigkeit von fremder Hilfe.
5.8 Technisierung des Alltags
Aufgrund der fortschreitenden Technisierung sowohl im Berufsleben als auch im zunehmenden
Maße des Alltags werden ältere Menschen immer
häufiger mit neuen Technologien konfrontiert.
Wie gut sie damit zurechtkommen, hängt einerseits von objektiven Bedingungen und anderseits
von den psychosozialen Voraussetzungen (Alter,
Geschlechtszugehörigkeit, gesundheitlicher und
kognitiver Verfassung, Bildungs- und Einkommenshintergrund sowie Werte- und Interessensmustern) ab.
Demzufolge bereitet die fortschreitende Technisierung vielen älteren Menschen auch Probleme.
Für den oft alternativlosen Einsatz von Automaten
statt persönlicher Dienstleistungen im öffentlichen
Raum (z. B. Bankautomaten, Fahrkartenautomaten etc.) benötigen ältere Menschen technische
Fertigkeiten und körperliche Fähigkeiten (Sehfähigkeit, Hörfähigkeit etc.), die nicht immer vorhanden sind. Notwendige Informationen für die
alltägliche Lebensbewältigung werden teilweise nur noch elektronisch zur Verfügung gestellt
(Auskunfts- und Beratungsdienste etc.), was den
Zugang erschwert, weil ältere Menschen die technischen Hilfsmittel (PC, Smartphone etc.) nicht
besitzen oder aufgrund geringer Technikaffinität
nicht bedienen können. Unübersichtliche Gestaltung und Bedienungsführung technischer Geräte
erschweren gerade älteren Menschen die Nutzung
zusätzlich.
5.9 Subjektives Wohlbefinden
bensziele und entwickeln eigene Maßstäbe, um
das Erreichen dieser Ziele zu beurteilen.“ (Backes/
Clemens 2013:219) So können z. B. gemeinsame
Zeit mit Enkeln zu verbringen oder generell als
sinnhaft und selbstbestimmt erlebte Aktivitäten
(Essenszubereitung, Gartenpflege, Haustiere etc.)
höher bewertet werden als gesundheitliche Einschränkungen. Die Fähigkeit zur Anpassung sowie
das Festlegen eigener Lebensziele und die daraus
resultierende Lebenszufriedenheit oder Unzufriedenheit hängt wiederum von den persönlichen
Ressourcen, z. B. dem Bildungsgrad, den psychischen Eigenschaften und ganz allgemein von den
jeweiligen biografisch erworbenen Kompetenzen
eines Menschen ab. Demnach wäre es falsch zu
glauben, dass sich das Wohlbefinden älterer Menschen allein an den oben beschriebenen objektiven Lebensumständen festmachen lässt (vgl. Jopp
et al. 2013:45). Zugleich sind Beschränkungen
des Konsums materieller, aber auch kultureller
und bildungsrelevanter Art, die Angewiesenheit
auf fremde Hilfe und die Einschränkung sozialer
Bedürfnisse objektive Belastungsfaktoren für die
Bewältigung des Alltags, die subjektiv für viele ältere Menschen nur schwer zu ertragen sind.
Ausgewählte Literatur
Backes, G. M./ Clemens, W. (2013): Lebensphase
Alter. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Alternsforschung (4. Auflage). Weinheim
Bäcker, G./ Kistler, E./ Rehfeld, U. (2014): Aspekte der Lebenslagen Älterer – im Durchschnitt
geht es ihnen gut. In: Bundeszentrale für politische Bildung, Dossier Rentenpolitik, URL: http://
www.bpb.de/politik/innenpolitik/rentenpolitik/179026 /altersbilder-und-lebenslagen-aelterer
(29.10.2015)
Elsbernd, A./ Lehmeyer, S./ Schilling, U. (2014):
So leben ältere und pflegebedürftige Menschen in
Deutschland. Lebenslagen und Technikentwicklung. Lage
Häufig sind ältere Menschen zufrieden mit ihrem
Leben, obwohl die objektiven Rahmenbedingungen (z. B. die finanzielle Situation) und persönlichen Ressourcen (z. B. der Gesundheitszustand)
ungünstig erscheinen. Das hängt zum einen damit
zusammen, dass ältere Menschen ihre Erwartungen und Bedürfnisse an die objektiven Lebensumstände anpassen (z. B. das Anerkennen des
reduzierten Aktivitätsradius aufgrund körperlicher Einschränkungen). Zum anderen setzen sich
(nicht nur) ältere Menschen „ihre eigenen Le-
28
Datenschutzrechtliche Aspekte
6
Datenschutzrechtliche
Aspekte
Datenschutzrechtliche Aspekte
Inhalt
6.1 Einführung
30
6.2 Herausforderungen
31
6.3 Gründsätze des Datenschutzrechts
32
6.3.1 Das Bundesdatenschutzgesetz
32
6.3.2 Exkurs zu Schutzzielen
34
Ausgewählte Literatur
35
29
Datenschutzrechtliche Aspekte
6.1 Einführung
Der Einsatz altersgerechter Assistenzsysteme
stellt in vielen Fällen eine Herausforderung für
den Schutz der Privatsphäre älterer Menschen dar.
Dies liegt an den besonderen technischen Möglichkeiten der Datenerhebung in Bezug auf die Art
und Menge der erhobenen Daten und auch ihrer
‚intelligenten’ Zusammenführung und Auswertung.
Um mit dem älteren Menschen eine selbstbestimmte Entscheidungsgrundlage für oder gegen
die jeweilige Technologie erarbeiten zu können,
muss der Beratende die rechtliche Grundlage der
Datenerhebung erläutern können. Dafür werden
im Folgenden die wichtigsten Bestimmungen des
Bundesdatenschutzgesetzes (BDSG) und ihre Bedeutung für den Beratungsprozess dargestellt.
Die im BDSG festgelegten Rechte und Bedingungen der Datenerhebung können eventuelle Sorgen vor unkontrollierter Überwachung relativieren
und dem älteren Menschen ein ausgewogeneres
Bild bezüglich des Eingriffs in seine Privatsphäre
liefern.
Außerdem werden die sogenannten Schutzziele
der Datensicherheit und des Datenschutzes vorgestellt. Aufgrund ihres praxisnahen Charakters
können sie dem Beratenden eine Hilfe sein, die
Verwirklichung von Datenschutzgrundsätzen in
neuen Technologien zu beurteilen.
30
Datenschutzrechtliche Aspekte
6.2 Herausforderungen
Altersgerechte Assistenzsysteme kommen im privaten Lebensbereich älterer Menschen zum Einsatz. Je nach eingesetzter Technologie werden
dabei sensible Daten wie Gesundheitsdaten oder
Daten der privaten Lebensführung erhoben. In
einer freien Gesellschaft soll jeder Mensch selbst
über die Preisgabe solcher Informationen entscheiden können. Ältere Menschen, die sich mit
altersgerechten Assistenzsystemen auseinandersetzen, befinden sich häufig in einer Lebenssituation, die ihre Entscheidungsmöglichkeiten stark
beeinflussen. Nicht selten sind sie zur Bewältigung des Alltags bereits auf Hilfe angewiesen,
und die Entscheidung für ein Assistenzsystem
geschieht auf Drängen der Angehörigen. Bei der
Datenerhebung, die mit der Technologie einhergeht, handelt es sich gegebenenfalls sowohl um
ein neues quantitatives Ausmaß der Erhebung in
Form verschiedenster Daten, die rund um die Uhr
ermittelt werden, als auch um neue Möglichkeiten
der intelligenten Zusammenfassung und Auswertung dieser Daten. Darüber erleichtert die Technologie auch Datenmissbrauch durch nicht autorisierte Weitergabe und Verknüpfung der Daten.
Altersgerechte Assistenzsysteme ermöglichen
das Zusammenführen von Verhaltens-, Vital- und
Umgebungsdaten zu umfassenden Persönlichkeitsprofilen, was gemäß der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) und des
Bundesgerichtshofes (BGH) sowohl im staatlichen
als auch im privatrechtlichen Verhältnis verboten ist (vgl. ULD 2010:71). Die Gefahren dieser
Formen von Datenmissbrauch sollten nicht verharmlost werden, weil in die Anwendung eines
Assistenzsystems eine ganze Reihe von Akteuren eingebunden sein können, die Zugriff zu den
entsprechenden Daten haben, und für die diese
Daten offensichtlich als Geschäftsmittel oder Gegenstand von Forschungs- und Verwaltungsinteressen in Betracht kommen.
Die genannten Risiken machen es notwendig,
den Umgang mit personenbezogenen Daten im
Zuge des jeweiligen Technologieeinsatzes in der
Beratung zu thematisieren. Nur mit dem Wissen,
welche seiner Daten in welcher Situation und
zu welchem Zweck an wen gehen, ist der ältere
Mensch in der Lage, dies bezügliche Bedenken zu
äußern, und als Resultat des Beratungsprozesses
eine selbstbestimmte Entscheidung für oder gegen den jeweiligen Technologieeinsatz zu fällen.
Im Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) wird dieses
Wissen des Betroffenen5 unter dem Grundsatz
der Transparenz gefasst (§ 4 BDSG)6. An altersgerechten Assistenzsystemen besteht häufig auch
seitens des älteren Menschen der Anspruch, dass
sie ihre Dienste möglichst unbemerkt im Hintergrund erfüllen. Ihr Wirken, und damit auch die
erforderliche Datenerhebung, sollen dem Betroffenen in seinem Alltag gerade nicht omnipräsent
sein. Von den Technologieanbietern wird die Preisgabe privater Informationen seitens des älteren
Menschen in der Regel lediglich wegen der gesetzlichen Informationspflicht thematisiert. Insofern ist Transparenz keine Selbstverständlichkeit
bei der Datenerhebung, sondern sollte bereits in
der Beratung durch eine verständliche Darlegung
thematisiert werden.
Um den älteren Menschen in die Situation zu versetzen, eine ausreichend informierte Entscheidung für oder gegen die Technologie zu treffen, ist
es notwendig, dass der Beratende auch in Hinblick
auf den Umgang mit personenbezogenen Daten
fundierte Kenntnisse über die Funktionsweise der
Technologie hat. Das Instrument Analyse des Umgangs mit personenbezogenen Daten soll die Ermittlung dieser für den Beratungsprozess relevanten Datenströme unterstützen (siehe Abschnitt
7.3). Die Vermittlung dieses vorab gewonnenen
Wissens über die Technologie an den älteren Menschen ist Teil des Beratungsprozesses (siehe Abschnitt 9.5). Eine besondere Herausforderung ist
es, die Abläufe der teils sehr komplexen Technologieanwendung auf einfache, zielgruppengerechte Weise zu erläutern, so dass der Betroffene alle
wichtigen Informationen erhält, ohne durch unbekannte Begriffe verunsichert zu werden.
Auf Seiten des älteren Menschen kann die Preisgabe von Informationen der Privat- und Intimsphäre, die mit dem jeweiligen Technologieeinsatz einhergeht, Angst vor Überwachung oder vor
Missbrauch auslösen. Die Furcht vor Überwachung
muss in der Beratung präzisiert werden (siehe Abschnitt 9.6). Es kann darin der Wunsch zum Ausdruck kommen, dass bestimmte Informationen z.
B. nur Angehörige erhalten sollen. Eine allgemein
geäußerte Angst vor Überwachung kann sich –
ohne dass dies präzisiert wird – auf jeweils sehr
spezifische Informationen beziehen, die der ältere
Mensch auf keinen Fall preisgeben will. Der Beratende sollte in der Lage sein, die verschiedenen
Anwendungsoptionen der Technologie sowie technologische und nicht-technologische Alternativen
zu erörtern, um diesen Sorgen Rechnung zu tra-
5 Das BDSG bezeichnet die Person, deren persönliche Daten erhoben werden als ‚Betroffenen’ der Datenerhebung.
6 Als Textgrundlage des BDSG dient – sofern nicht anders gekennzeichnet – Simitis 2003.
31
Datenschutzrechtliche Aspekte
gen. An diesen Fragen zeigt sich die Komplexität
des Beratungsprozesses, da sich die genannten
Sorgen unter Umständen nicht auf Datenschutzfragen im engeren Sinn beziehen, sondern einen
sozialen Konflikt mit Angehörigen offenbaren oder
einen grundsätzlichen Ambivalenzkonflikt andeuten, auf den z. B. mit Hilfe des Instruments
Umgang mit Ambivalenzen eingegangen werden
sollte. Eng am Datenschutz und den Rechten des
Betroffenen ist die mögliche Angst vor Datenmissbrauch zu behandeln, welche nicht verharmlost werden sollte. Die Aufklärung darüber, welche
der eigenen Daten für die Technologieanwendung
weitergegeben werden müssen, beinhaltet immer
auch die Aufklärung über das Risiko, dass diese
Daten ohne Wissen des Betroffenen anderen Zwecken und Institutionen zugänglich werden. Um
deutlich machen zu können, dass es sich dabei
um einen staatlich sanktionierten Missbrauch der
Daten handelt, sollte der Beratende essentielle
Bestimmungen des BDSG kennen, die im folgenden Abschnitt Grundsätze des Datenschutzrechts
erläutert werden. Diese Ausführungen sollen dem
Beratenden ermöglichen, dem älteren Menschen
die Pflichten des datenerhebenden Technologieanbieters zu erläutern, welche vor einem Datenmissbrauch schützen. Außerdem können dem
älteren Menschen seine Rechte auf Auskunft,
Widerruf und Schadensersatz erklärt werden,
die zum Tragen kommen, falls es Zweifel an einer bereits stattfindenden Datennutzung gibt. Zu
diesen Ausführungen ist der Beratende allerdings
rechtlich nicht verpflichtet. Die Umsetzung der datenschutzrechtlichen Bestimmung, die im Folgenden erläutert werden, ist eindeutig die Pflicht der
datenerhebenden Stelle. Der Beratende benötigt
die Kenntnisse des Datenschutzrechts jedoch, um
dem älteren Menschen im Fall von Zweifeln und
Sorgen eine ausgewogene Entscheidungsgrundlage vermitteln zu können.
6.3 Grundsätze des Datenschutzrechts
Das BDSG ist die einfachgesetzliche Umsetzung
der europäischen Datenschutzrichtlinie (Richtlinie
95/46/EG) und des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung, welches das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im sogenannten Volkszählungsurteil (BVerfGE 65, 1) als Unterfall des
Allgemeinen Persönlichkeitsrechts definiert hat.
Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung
sichert dem Einzelnen das Recht zu, grundsätzlich
selbst darüber zu entscheiden, welche persönli-
chen Sachverhalte er wem zugänglich macht, und
welche nicht (BVerfGE 65, 1). Es handelt sich hierbei um eine wesentliche Bedingung einer freien
Gesellschaft, da die Unsicherheit darüber, wer was
über die eigene Person weiß, die freie Entfaltung
der Persönlichkeit hemmen würde.
In Zusammenhang mit dem Eingriff in private Lebensbereiche durch altersgerechte Assistenzsysteme können auch noch andere Grundrechte betroffen sein. Das Grundrecht auf Gewährleistung der
Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme (häufig ‚Computergrundrecht’
genannt) definiert eigengenutzte IT-Systeme als
digitale persönliche Privatsphäre und unterwirft
diese einem besonderen Schutz vergleichbar mit
dem räumlichen Schutz der Wohnung (Art. 13 GG)
(vgl. Petri 2008:444). In dem entsprechenden Urteil verweist das BVerfG sowohl auf den gesteigerten Umfang gespeicherter persönlicher Daten in
IT-Systemen, als auch auf die potenzielle Verletzlichkeit dieser Systeme (vgl. ULD 2010: 37). Das
Fernmeldegeheimnis gemäß Artikel 10 Grundgesetz schützt die Vertraulichkeit der individuellen
Kommunikation, und damit die Privatsphäre, auf
Distanz.
Die Datenerhebung im Zuge des Einsatzes altersgerechter Assistenzsysteme wird in einem privatrechtlichen Verhältnis zwischen Anbieter und
Käufer geregelt, dessen datenschutzrechtliche
Bedeutung im BDSG behandelt wird. Die aufgeführten Grundrechte sollen verdeutlichen, dass
der Schutz von Persönlichkeit und Privatsphäre,
wie ihn das BDSG vorsieht, als Verwirklichung von
Grundrechten von nachhaltiger Bedeutung ist.7
6.3.1 Das Bundesdatenschutzgesetz
Das BDSG schützt das Persönlichkeitsrecht des
Bürgers, indem es die Erhebung und den Gebrauch seiner Daten durch staatliche oder private
Akteure unter Bedingungen stellt und somit vor
Missbrauch schützt. Die erste Bedingung beim
Einsatz altersgerechter Assistenzsysteme ist, dass
der ältere Mensch dem vorgesehenen Gebrauch
seiner Daten für einen festgeschriebenen Zweck
zustimmt. Seine Einwilligung ist die rechtliche
Grundlage für die Datenerhebung und unmittelbare Verwirklichung seines Rechts auf Selbstbestimmung. Neben der Einwilligung erlaubt das BDSG
in § 4 die Erhebung, Verarbeitung und Nutzung
von personenbezogenen Daten auch aufgrund von
7 Aus diesem Grund ist davon auszugehen, dass die folgenden Prinzipien des Datenschutzrechts auch nach der möglichen Ablösung
des BDSG durch eine neue europaweit geltende EU-Datenschutzverordnung dem Inhalt nach gültig bleiben werden.
32
Datenschutzrechtliche Aspekte
anderen Rechtsvorschriften, wie z. B. das Sozialgesetzbuch den Umgang mit personenbezogenen
Daten für die Sozialversicherung regelt. Für das
privatrechtliche Verhältnis zwischen Anbieter und
Käufer altersgerechter Assistenzsysteme kommt
jedoch nur die Einwilligung als Rechtsgrundlage
in Frage. Damit die Einwilligung Gültigkeit besitzt,
muss eine Reihe von Bedingungen erfüllt sein. Sie
muss freiwillig erfolgen und der Betroffene muss
zuvor ausreichend informiert worden sein. Außerdem muss die Einwilligung schriftlich erfolgen
und sich deutlich von anderen Vertragsinhalten
abheben. (BDSG § 4a) Ausreichend informiert bedeutet, dass der Betroffene - bevor er einwilligt
- erfahren muss, wann welche seiner Daten durch
wen und zu welchem Zweck erhoben werden.
Allgemein gehaltene Informationen, die lediglich
darlegen, dass Daten erhoben werden, reichen
nicht aus. Außerdem müssen diese Informationen klar und verständlich formuliert sein, um als
Grundlage für eine Einwilligung dienen zu können.
Gemäß § 3 BDSG gehören Gesundheitsdaten zu
besonders schützenswerten Daten. Sollten sie
beim Einsatz altersgerechter Assistenzsysteme
erhoben werden, so muss sich die Einwilligung
explizit auf diese Daten beziehen.
Das BDSG verpflichtet die datenerhebende Stelle zu Prinzipien, welche die Datenerhebung auf
Grundlage der Einwilligung unter Bedingungen
stellt. Die Einwilligung in die Datenerhebung,
Verarbeitung und Nutzung reicht immer nur so
weit, wie der vereinbarte Zweck, zu dem sie erhoben werden. Das Prinzip der Zweckbindung
besagt, dass die Erhebung personenbezogener
Daten stets einer solchen Festlegung bedarf und
die Daten nur zur Erfüllung des vereinbarten Vertragszwecks verwendet werden dürfen. Die Weitergabe oder Nutzung der Daten für Markt- oder
Meinungsforschung kann nur erfolgen, sofern der
Betroffene über sein Widerspruchsrecht informiert
wird, oder eine gesonderte Einwilligung mit dem
neuen Verwendungszweck eingeholt wird. (vgl.
BDSG § 28 nach Bizer 2007:352) Des Weiteren
gilt für datenerhebende Stellen das Prinzip der Erforderlichkeit. Dies besagt, dass ausschließlich
Daten erhoben werden dürfen, die für den vereinbarten Zweck erforderlich sind. Außerdem sind
die Hersteller von Produkten dazu verpflichtet, die
Datenverarbeitungssysteme so zu gestalten, dass
möglichst wenige Daten erhoben werden, und soweit möglich – Anonymisierung und Pseudonymisierung zum Einsatz kommen. (BDSG § 3a)
Daten, die nicht mehr zur Erfüllung des Vertragszwecks benötigt werden sind zu löschen, sofern
dem keine anderen gesetzlichen Aufbewahrungsfristen im Weg stehen. (vgl. BDSG § 35 nach Bizer
2007:353)
33
Zur Gewährleistung der Prinzipien des Datenschutzes sind datenerhebende Stellen gemäß § 9
des BDSG zu technischen und organisatorischen
Maßnahmen der Sicherheit ihres Datenverarbeitungssystems verpflichtet. Die Datensicherheit
bei der datenerhebenden Stelle ist Bedingung für
den erfolgreichen Schutz der persönlichen Daten
des Betroffenen. Für die Beratungssituation, in der
Skepsis gegenüber der Sicherheit der Technologie
aufkommen kann, ist es wichtig zu wissen, dass
das jeweilige Unternehmen zur Umsetzung der
erforderlichen Maßnahmen verpflichtet ist, welche personenbezogene Daten vor unberechtigtem
Zugriff schützen. Für die Ergreifung der erforderlichen Maßnahmen wie z. B. Verschlüsselungen,
Passwortschutz und sichere Speicherverfahren
bildet die Anlage des § 9 BDSG nicht immer den
aktuellsten Stand der Technologie ab, weshalb
sich datenerhebenden Stellen häufig an den vorgeschlagenen Schutzmaßnahmen des Bundesamtes für die Sicherheit in der Informationstechnik
(BSI) und den sogenannten Schutzzielen der Datensicherheit orientieren (siehe Abschnitt 7.3).
Altersgerechte Assistenzsysteme können in ihrer
Funktionsweise komplex und schwer verständlich
sein. Dementsprechend sollte trotz einer guten
Beratung eine gewisse Überforderung des Betroffenen bezüglich des Inhalts seiner Zustimmung
nicht ausgeschlossen werden. Es ist möglich, dass
der Betroffene einzelne Aspekte der Datenerhebung nicht verstanden hat oder weiterhin Skepsis
gegenüber der Preisgabe privater Informationen
hegt, das Interesse am Produkt jedoch trotzdem
zur Einwilligung führt. Sollte der Betroffene aus
diesen oder anderen Gründen Zweifel an seiner
Entscheidung haben, sieht das BDSG Wege vor,
wie er auch nach gegebener Einwilligung die Kontrolle über seine persönlichen Daten wiedergewinnen kann. Zunächst sieht § 34 BDSG ein andauerndes Auskunftsrecht vor. Sollte also der
Betroffene unsicher bezüglich Art oder Rechtmäßigkeit der Datenerhebung sein, kann er Auskunft
über Art, Umfang und Zweck der über ihn gespeicherten Daten verlangen. Sollten dabei fehlerhafte Daten auftauchen, so hat er das Recht auf Berichtigung, sowie das Recht auf Löschung von
unrechtmäßig erhobenen Daten. (§ 35 BDSG) Für
den Fall, dass der Betroffene mit der gesamten
Datenerhebung nicht mehr einverstanden ist, hat
er jederzeit das Recht auf Widerruf seiner Einwilligung. Damit ist eine Erhebung, Verarbeitung
und Nutzung seiner Daten ab dem Zeitpunkt des
Widerrufs nicht mehr zulässig. Sieht der Betroffene seine Rechte in irgendeiner Weise verletzt, so
kann er sich an die zuständige Datenschutzbehörde wenden. Dabei handelt es sich um den jeweiligen Landesbeauftragten für Datenschutz oder
Datenschutzrechtliche Aspekte
eine vergleichbare meist dem Innenministerium
angegliederte Behörde (vgl. Bizer 2007:356).
Diese Stelle hat umfassende Prüfungs- und Sanktionsrechte und kann sowohl von Betroffenen, als
auch von den Datenschutzbeauftragten entsprechender Betriebe kontaktiert werden, um eventuelle Verstöße zu melden oder Beratung zu erbitten.
Sollte dem Betroffenen durch eine unrechtmäßige
Datennutzung ein Schaden entstehen, so hat er
gemäß § 7 BDSG das Recht auf Schadensersatz
durch die verursachende Institution und kann den
entsprechenden Rechtsweg bestreiten.
6.3.2 Exkurs zu Schutzzielen
Bei den Schutzzielen der Datensicherheit handelt
es sich um eine von Datenschützern und datenerhebenden Stellen entwickelte Zusammenfassung
der essentiellen Anforderungen nationaler Datenschutzgesetze und europäischer Datenschutzrichtlinien an die Datensicherheit bei Institutionen, die Daten erheben, verarbeiten und nutzen.
Sie beinhalten außerdem konkrete Maßnahmen
zur Umsetzung dieser Anforderungen. Dieses
Kombinat aus Zusammenfassung der gesetzlichen Anforderungen in Form von Prinzipien und
praxisnahen Maßnahmen (z. B. Leitlinien für Passwortsicherheit, Maßnahmen zur Serversicherheit
in unerwarteten Notsituationen oder Mitarbeiterschulungen zur Datensicherheit) gibt den Herstellern datenverarbeitender Systeme bei der Konstruktion ihrer Produkte Orientierung zur Wahrung
der Datensicherheit (vgl. Rost 2011:2).
Die Schutzziele der Datensicherheit lauten Verfügbarkeit, Integrität und Vertraulichkeit. Sie
sollen sicherstellen, dass ein datenverarbeitendes System seine Funktion verlässlich ausführt
(Verfügbarkeit), unerwünschte Nebenwirkungen
berücksichtigt und – soweit möglich – vermeidet
(Integrität), und diese Funktion nur für die betroffene Person erfüllt (Vertraulichkeit). Im Bereich
altersgerechter Assistenzsysteme kann je nach
Funktionsweise der eingesetzten Technologie ihre
Verfügbarkeit von herausragender Bedeutung
sein, da sie gegebenenfalls lebensrettende Maßnahmen initiieren soll.
Wie bereits zum § 9 BDSG ausgeführt ist die Gewährleistung der Datensicherheit eine Bedingung
für gelingenden Datenschutz, jedoch nicht damit
gleichzusetzen. Gerade vor dem Hintergrund moderner Verfahren der Datenerhebung, -speiche-
rung und -auswertung haben Datenschützer daher neben den Schutzzielen der Datensicherheit
Schutzziele des Datenschutzes – Transparenz,
Nichtverkettbarkeit und Intervenierbarkeit – entwickelt. Diese Schutzziele nehmen die Perspektive
des Betroffenen ein, dessen Daten erhoben werden, und unterstützen sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung (vgl. Rost 2011:2). Da sie
auch auf Seiten der Hersteller als Orientierungshilfe bei der Produktentwicklung anerkannt sind
(vgl. VDE DKE 2014:55), und eindeutig parteilich
für die Schutzrechte des Betroffenen ausgerichtet sind, können sie für den Beratenden eine hilfreiche Perspektive sein, um ein Produkt zu beurteilen. Auf dieser Grundlage können technische
Unklarheiten mit dem Hersteller geklärt werden
bzw. kann auf Mängel hingewiesen werden, und
schließlich können dem Betroffenen selbst die Vorund Nachteile des jeweiligen Produkts im praktischen Umgang mit persönlichen Daten aufgezeigt
werden. Der Inhalt des Schutzziels Transparenz
wurde in den Ausführungen zum BDSG in weiten
Teilen benannt. In Ergänzung zur umfassenden
Aufklärung – vor der Einwilligung des Betroffenen
– sollte dieses Ziel auch mit einer entsprechend
transparenten Produktgestaltung und Funktionsweise bekräftigt werden. Beispielsweise wäre es
bei einem Sensorsystem wünschenswert, dass die
Aktivität der Sensoren und stattfindende Datenspeicherung einfach und übersichtlich in einem
Display dargestellt werden. Transparenz wäre so
kein singulärer Akt einer Einverständniserklärung,
sondern würde in der Anwendung laufend hergestellt werden und könnte dazu beitragen dem Betroffenen mögliche Ängste zu nehmen.
Das Schutzziel Nichtverkettbarkeit tritt den gewachsenen technischen Möglichkeiten eines
zweckfremden Gebrauchs erhobener Daten im
Allgemeinen, und dem Zusammenführen (Verketten) verschiedener Datensätze zu Profilen im
Besonderen, entgegen.8 Auf die Möglichkeiten
unrechtmäßiger Bildung von Persönlichkeitsprofilen wurde bereits einleitend hingewiesen. Für
den Betroffenen ist es schwer zu überblicken, ob
Informationen, die ausschließlich für Angehörige
oder für den Hausarzt bestimmt sind, nicht doch
eine Zusammenführung erfahren, womöglich über
die Kombination mit dem eigenen Profil in sozialen Netzwerken oder bei einem Online-Händler.
Nichtverkettbarkeit verlangt, dass Daten technisch und organisatorisch in einer Form erhoben
und gespeichert werden, die sicherstellt, dass sie
nicht mit anderen Daten verknüpft und damit an-
8 Eine grundlegende Analyse zur möglichen Verkettung digitaler Datensätze und technischen Maßnahmen, diese zu kontrollieren,
bietet die Studie Verkettung digitaler Identitäten des unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz Schleswig Holstein (vgl. ULD/
TU 2007).
34
Datenschutzrechtliche Aspekte
deren Zwecken zugeführt werden können. (vgl.
Rost 2011:2) Der Beratende kann darauf achten,
ob der Hersteller besondere Maßnahmen zur Umsetzung dieses Prinzips kenntlich macht, oder ob
das Produkt selbst eine Profilbildung nahelegt.
Das Schutzziel Intervenierbarkeit will dem Betroffenen insbesondere bei dauerhafter Datenerhebung – so wie dies im Bereich altersgerechter Assistenzsysteme häufig der Fall ist – möglichst viel
Kontrolle über die Erhebung der eigenen Daten
sichern. Ein wirksamer Weg der Kontrolle wäre
die Möglichkeit, die Datenerhebung zumindest
vorübergehend abzuschalten, oder gespeicherte
Daten auf einfache Weise selbst löschen zu können. Der Datenerhebung nach eigenem Ermessen
Grenzen setzen zu können, ist ein wichtiges Mittel für den Betroffenen, um unter den Bedingungen dauerhafter und umfassender Datenerhebung
Selbstbestimmung und Privatsphäre zu bewahren. Logischerweise entfällt bei Abschaltung des
Systems die an sich gewünschte Funktion. Sollte
das Wiedereinschalten vergessen werden, können Gefahrensituationen lange Zeit unbemerkt
bleiben, weil alle Beteiligten von einem funktionierenden Warnsystem ausgehen. Insofern sind
bei altersgerechten Assistenzsystemen Wege der
Intervenierbarkeit auch stets eine Abwägungsfrage gegenüber der sicheren und ununterbrochenen
Funktionsweise einer womöglich lebensrettenden
Technologie. Neben den Maßnahmen der Transparenz sind Maßnahmen zur Umsetzung von Intervenierbarkeit9 ein wichtiger Aspekt zur Reduzierung von Angst vor unkontrollierter Überwachung,
und könnten so zu einer erhöhten Akzeptanz auf
Seiten des älteren Menschen beitragen.
um mögliche Anpassungen des deutschen und
europäischen Datenschutzrechtes. So findet sich
das Prinzip der Intervenierbarkeit im derzeitigen
BDSG nicht, seine Aufnahme wäre jedoch eine
mögliche Anpassung des Rechts an eine ‚Rundum-die-Uhr-Datenerhebung’ wie sie im Kontext
altersgerechter Assistenzsysteme vorkommt.
Ausgewählte Literatur
Bizer, J. (2007): Sieben goldene Regeln des Datenschutzes. In: Datenschutz und Datensicherheit
31 (5). Wiesbaden, S. 350–356.
Rost, M. (2011): Datenschutz bei Ambient Assist
Living (AAL) durch Anwendung der Neuen Schutzziele. URL: http://www.maroki.de/pub/privacy/
DS_in_AALSystemen. pdf (06.07.2015)
[ULD] Unabhängiges Landeszentrum für Datenschutz Schleswig-Holstein (2010): Juristische
Fragen im Bereich altersgerechter Assistenzsysteme. URL: https://www.daten schutzzentrum.de/
aal/2011-ULD-JuristischeFragenAltersgerechteAssistenzsysteme.pdf (06.07.2015)
In der Beratungssituation können die Schutzziele
die Kenntnisse der elementaren Bestimmungen
des BDSG nicht ersetzen. Schließlich bildet das
BDSG die rechtliche Grundlage, auf die die Hersteller und Dienstleister verpflichtet sind, und auf
die sich der Betroffene berufen kann. Die Schutzziele selbst wirken auf zwei verschiedenen Ebenen. Erstens wie erwähnt als Orientierungshilfe
für Hersteller bei der Umsetzung der technischen
und organisatorischen Maßnahmen von Datenschutz und Datensicherheit. Auf dieser Ebene
kann die Kenntnis der Schutzziele auch für den
Beratenden von Nutzen sein. Sie können zur Beurteilung neuer Produkte herangezogen werden,
und eine gemeinsame Grundlage für Rückfragen
bei Herstellern sein. Zweitens sind die Schutzziele Ausdruck einer rechtspolitischen Debatte
9 Einen Weg wie mit Hilfe einer elektronischen Gesundheitsakte und einem dazugehörigen Monitoring Control System (MCS) dem älteren Menschen ein hohes Maß an Intervenierbarkeit in mögliche Datenerhebung und Kontrolle über die eigenen Gesundheitsdaten
gegeben werden kann, zeigt der Forschungsverbund GAL (vgl. Helmer et. al. 2012).
35
Technologie und Datenschutz
7
Technologie
und Datenschutz
Technologie und Datenschutz
Inhalt
7.1 Einführung
37
7.2 Funktion des Instruments
38
7.3 Analyse des Umgangs mit personenbezogenen Daten
38
7.4 Beispiel: Ein sensorbasiertes Smart-Home-System
41
7.5 Leistung und Grenzen des Instruments
42
7.6 Weitere Informationsmöglichkeiten
43
Ausgewähle Literatur
43
36
Technologie und Datenschutz
7.1 Einführung
Im vorherigen Kapitel wurden die rechtlichen Bedingungen erläutert, unter denen Datenerhebung
und -nutzung stattfinden. Eine besondere Herausforderung im Kontext altersgerechter Assistenzsysteme ist in diesem Zusammenhang die Komplexität der Datenerhebung und -nutzung selbst.
Welche Daten erhoben werden, wie sie weiterverarbeitet werden, ob sie gespeichert werden und
zu welchen Informationen letztlich wer Zugang
hat, ist schwer zu überblicken. Diese Informationen dem älteren Menschen zu vermitteln ist jedoch sowohl essentiell für eine selbstbestimmte
Entscheidung für oder gegen die Technologie, als
auch für eine rechtsgültige Einwilligung in die jeweilige Datenerhebung.
Im Folgenden wird ein Instrument vorgestellt, mit
dessen Hilfe Beratende neue Technologien bezüglich ihres Umgangs mit personenbezogenen Daten
untersuchen können, um das dabei gewonnene
Wissen in der Beratung weitergeben zu können.
37
Technologie und Datenschutz
7.2 Funktion des Instruments
In der Beratung ist der Umgang einer Technologie mit persönlichen Informationen zunächst keine
juristische Frage. Die Aufklärung darüber, welche
Teile der privaten Lebensführung für Andere einsichtig werden, ist in erster Linie Aufklärung über
die Funktionsweise der jeweiligen Technologie. Auf
Grundlage dieser Aufklärung können Präferenzen
und Sorgen des Betroffenen erörtert und mit Hilfe der Ergänzung rechtlicher Bestimmungen eine
differenzierte Entscheidungsgrundlage erarbeitet
werden. Um diese Grundlage geben zu können,
muss sich der Beratende selbst das Wissen erarbeiten, welche Konsequenzen der Einsatz der jeweiligen Technologie in ihren teils variablen Settings für
die Privat- und Intimsphäre des Betroffenen hat.
Um den Beratenden bei dieser Aufgabe zu unterstützen, wurde das Instrument Analyse des Umgangs mit personenbezogenen Daten entwickelt.
Es bietet eine Hilfestellung, altersgerechte Assistenzsysteme daraufhin zu untersuchen, welche
personenbezogenen Daten während der Anwendung der Technologie für wen einsichtig werden.
Dafür braucht der Beratende ein allgemeines Verständnis der verschiedenen technischen Ebenen
eines altersgerechten Assistenzsystems zwischen
denen Informationen übertragen werden. Indem
der technische Ablauf der Anwendung nachvollzogen wird, lässt sich bestimmen, welche Informationen unter welchen Bedingungen letztlich für
Dritte zugänglich werden. Es ist zu erwarten, dass
dafür auch Rücksprache mit dem jeweiligen Hersteller nötig ist, da gängige Produktinformationen
in dieser Frage möglicherweise nicht aussagekräftig genug sind, und sich diese Informationen auch
nicht auf einfache Weise in der Erprobung des Produkts ermitteln lassen.
Der Einsatz des Instruments findet nicht im Beratungsprozess statt, sondern die Ergebnisse des
Instruments sollen dem Beratenden das Wissen
liefern, das er dem älteren Menschen im Gespräch
vermitteln will.
Weil dem Beratenden diese Informationen nicht
zur Verfügung stehen, muss er mit der Anwendung des Instruments ein Stück Pionierarbeit
leisten, die eigentlich nicht in seine Zuständigkeit
fällt. Grundsätzlich sollte es Aufgabe der Hersteller sein, diese Informationen von vornherein
transparent machen.
Der ältere Mensch erwartet von einem altersgerechten Assistenzsystem eine Förderung seines
Komforts, seiner Sicherheit, Mobilität oder Gesundheit. Als Preis für eine solche Leistung muss
er mehr oder weniger umfassend private Informationen offenlegen. Die Beurteilung der jeweils
erforderlichen Datenerhebung im Verhältnis zur
Leistung, die von ihr erwartet wird, fällt individuell verschieden aus. Was für die einen die nötige
Konsequenz der gewünschten Leistung ist, wird
von anderen als nicht akzeptabler Eingriff in die
Privatsphäre betrachtet, aufgrund dessen der Einsatz des Assistenzsystems abgelehnt wird. Unabhängig davon wie eindeutig oder ambivalent die
Beurteilung ausfällt, erst die Aufklärung über den
Gebrauch personenbezogener Daten versetzt den
älteren Menschen in die Lage, eine eigenständige Beurteilung vorzunehmen. Sollte die erläuterte Technologie zum Einsatz kommen, so sind die
Erläuterungen unmittelbar praktizierter Datenschutz, weil sichergestellt wird, dass die Datenerhebung nur mit dem Wissen des Betroffenen
stattfindet, das datenschutzrechtliche Prinzip der
Transparenz also verwirklicht wird.
7.3 A
nalyse des Umgangs mit
personenbezogenen Daten
Das Instrument soll den technischen Ablauf eines altersgerechten Assistenzsystems daraufhin
untersuchen, welche personenbezogenen Daten
letztlich für andere Personen und Institutionen
einsichtig werden. Welche technischen Ebenen
dafür eine Rolle spielen, soll auf Grundlage der
folgenden Definition altersgerechter Assistenzsysteme entwickelt werden (BMBF/ VDE 2011:12ff):
„Definition 1 (AAL-System im engeren
Sinn) AAL-Systeme im engeren Sinn sind informationstechnische Systeme, die einen älteren
Menschen im Alltag dadurch unterstützen, dass
sie für ihn auf Basis von Daten über die aktuelle Situation Entscheidungen übernehmen oder
Handlungsvorschläge unterbreiten und damit
ein selbstständiges und selbstbestimmtes Leben
im eigenen Heim ermöglichen. (…)
D
efinition 2 (AAL-System im weiteren
Sinn) Ein AAL-System im weiteren Sinn (auch
Monitoring-System genannt) ermöglicht, durch
Bereitstellung von Informationen über die aktuelle Situation des Betroffenen, das [sic!] andere
Menschen Entscheidungen für ihn übernehmen
oder Handlungsvorschläge unterbreiten. (…)
Definition 3 (Assistives Gerät) Ein assistives
System verstärkt die physischen und sensorischen Fähigkeiten des Betroffenen. (…)
Die Abgrenzung zwischen AAL- und assistiven
Systemen besteht darin, das [sic!] ein Teil der
38
Technologie und Datenschutz
Intelligenz des AAL-Systems vor Ort ist, während in normalen Systemen die Daten unbearbeitet weitergegeben werden. Über eine gewisse
Intelligenz hinaus sollten AAL-Geräte folgende
Eigenschaften besitzen:
Kooperation: das Gerät sollte mit anderen Geräten kooperieren können. Die geforderte Kooperationsbereitschaft sorgt für eine weitere
Abgrenzung zu nichtvernetzungsfähigen, autonomen Assistenzsystemen.
Unaufdringlichkeit: das System sollte soweit
möglich mit seiner Umgebung verschmelzen.
Wenn eine vollständige Integration nicht möglich ist, sollte das AAL-System den Nutzer möglichst wenig behindern oder ablenken.
Situationsangemessenheit: das Gerät sollte
auf die Bedürfnisse des Nutzers, der Umgebung
und der Situation angemessen reagieren.
S
icherheit und Robustheit: Gerade für den
Gebrauch durch ältere Menschen müssen die
Geräte besonders sicher und robust sein. Dieser
Punkt ist maßgeblich verantwortlich für die Akzeptanz der Geräte und für deren Marketing“ (…)
Jedes AAL-Gerät bietet verschiedene Interaktionsmöglichkeiten für den Nutzer. Dies sind direkte ‚Interaktionselemente’, die ‚Sensorik’ und
die ‚Aktorik’ des Systems. Weiterhin besteht ein
AAL-System aus Komponenten welche die Entscheidungskompetenz des Systems enthalten.
Diese lassen sich aufteilen in Situationsbewertung und die Aktionsplanung. (…)
Sensoren Um die aktuelle Situation des Nutzers zu bestimmen, stehen unterschiedlichste
Sensoren zur Verfügung. Diese lassen sich in
folgende Gruppen unterteilen: Sensoren zur (a)
Lokalisierung von Nutzern und Gegenständen,
(b) Bestimmung medizinischer Parameter und
(c) Messung von Umgebungsparametern. (…)
Entscheidungskompetenz Die Intelligenz des
Systems entsteht in der Entscheidungskomponente. Diese besteht aus den folgenden zwei
Untersystemen:
‒ Situationsanalyse Aufbauend auf den Sensordaten und den Interaktionen mit dem Benutzer,
muss die aktuelle Situation erkannt werden.
‒ Aktionsplanung Nachdem die aktuelle Situation erkannt wurde, müssen mögliche Aktionen
zur Unterstützung des Nutzers geplant werden.
Aktoren Die geplanten Aktionen werden mittels
39
der Aktoren umgesetzt. Diese können den Zustand der Welt verändern.“
Zur Bestimmung der in der Anwendung eines altersgerechten Assistenzsystems stattfindenden
Erhebung, Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten sind drei der in der Definition
genannten technischen Ebenen besonders zu beachten:
Die Ebene der Sensorik, auf der Daten erfasst
werden, z. B. ein Sensor, der die Betätigung der
Haus/Wohnungstür erfasst.
Die Ebene der Entscheidungskompetenz, auf der
diese Daten interpretiert werden, z. B. aus den
Sensordaten wird geschlossen, dass der Bewohner nicht zu Hause ist.
Die Ebene der Aktorik, wo auf Grundlage der interpretierten Daten Aktionen veranlasst werden,
z. B. elektronische Geräte werden automatisch
ausgeschaltet.
Die Unterscheidung in AAL-Systeme im engeren
und im weiteren Sinn macht deutlich, dass die jeweiligen Aufgaben von Sensorik, Entscheidungskompetenz und Aktorik mit einem unterschiedlichen Automatisierungsgrad vollzogen werden
können. Werden sie manuell vollzogen, so ist entscheidend, ob dies durch den Betroffenen selbst
geschieht oder durch Dritte, also in der Regel ausgewählte Vertrauenspersonen oder professionelle
Dienstleister. Handelt es sich nicht um den älteren
Menschen selbst, so muss klar werden, wer im
Prozess Einsicht in welche Daten erhält.
Das Instrument verfügt über drei Tabellen, jeweils eine für die genannten Ebenen. Mit Hilfe der Untersuchung dieser drei Ebenen soll die
Datenerhebung, -speicherung und -verarbeitung
des jeweiligen altersgerechten Assistenzsystems
nachvollzogen werden. Im Folgenden sollen die
dafür erforderlichen Fragen und Antwortmöglichkeiten erläutert werden.
Auf der Ebene der Sensorik ist zunächst zu fragen, welche Daten erhoben werden. Der Sensor
erhebt sogenannte Rohdaten, die zur Weiterverarbeitung oder Zusammenfassung an die Entscheidungskompetenz übermittelt werden.
Zu diesen Rohdaten gehören:
mgebungsdaten – Daten der Umgebung des BeU
troffenen, z. B. Temperatur, Licht oder Lautstärke.
Verhaltens- und Nutzungsdaten – Daten, die
Auskunft über die Aktivität des Betroffenen geben,
z. B. Bewegung, die durch Raumsensoren registriert werden oder die Nutzung von Elektrogeräten.
Technologie und Datenschutz
Vitaldaten – Daten, die Aufschluss über den körperlichen Zustand des Betroffenen geben, z. B.
Blutdruck, Körpertemperatur oder Puls.
Außerdem sollte für die Ebene der Sensorik festgehalten werden auf welchem Übertragungsweg
die Daten an die Entscheidungskompetenz
übermittelt werden. Eine Funkverbindung muss
unter Umständen besondere Anforderungen an
die Datensicherheit erfüllen.
Für altersgerechte Assistenzsysteme im engeren
Sinn ist charakteristisch, dass die Interpretation
der Sensordaten und das Auslösen einer entsprechenden Aktion vom System selbst vorgenommen
werden. Deshalb ist die Funktionsweise der automatisierten Entscheidungskompetenz entscheidend für den Umgang mit personenbezogenen
Daten im jeweiligen System. Hier wird entschieden, welche der vom Sensor erfassten Daten gespeichert werden, welche Informationen daraus
generiert werden und wer Zugang zu welcher Art
von Information erhält.
Bei der Frage, welche Informationen in der Entscheidungskompetenz gespeichert werden, ist
also zu präzisieren, ob es sich um die vom Sensor
übermittelten Rohdaten handelt, oder um daraus
ermittelte Informationen. Daher sind in dieser Tabelle neben den Rohdaten weitere Typen von Informationen zur Auswahl vorgegeben:
Aggregierte Daten – Zusammengeführte Daten,
in der Regel Abrechnungsdaten und summierte
Nutzungsdaten aus dem Bereich Strom und Kommunikation.
Neu generierte Informationen – Das Ergebnis
einer auf der Ebene der Entscheidungskompetenz
geleisteten Verknüpfung von Umgebungs-, Verhaltens und Vitaldaten, aus der eine neue Information über den Zustand des Betroffenen geschlossen
wird. Dabei ist zu unterscheiden, ob diese Information in ihrer Gesamtheit an Dritte übermittelt
wird, oder bei Auffälligkeiten ein Alarmsignal ohne
Daten ausgesandt wird, die dem Alarm zugrunde
liegen.
Selbstdefiniertes Personenprofil – Einem
Alarm liegt häufig die ermittelte Differenz zwischen erhobenen Daten und im System hinterlegten Normwerten zugrunde. Zu diesem Zweck
muss ein Nutzer- oder Personenprofil mit entsprechenden Normwerten dauerhaft gespeichert sein,
die Vital-, Verhaltens- und Umgebungsparameter
umfassen können.
Ein wichtiges Merkmal ist der Standort der Entscheidungskompetenz. Befindet sie sich in der
Wohnung des Betroffenen, so kann dem älte-
ren Menschen mehr Eingriffsmöglichkeiten in die
Speicherung und Übermittlung von Daten gegeben werden. Des Weiteren sind Settings möglich,
in denen keine erhobenen Daten die Wohnung
verlassen, sondern lediglich Alarmsignale, die sich
aus der Interpretation der Daten ergeben. Auch
beim Verbleib der Daten in der Wohnung sollte
Klarheit darüber bestehen, wer darauf Zugriff hat,
z. B. Angehörige oder ein eingebundener Pflegedienst. Befindet sich die Entscheidungskompetenz
auf einem auswärtigen Server, so verlassen sämtliche auszuwertenden Sensordaten die Wohnung
und sind mindestens dem Dienstleister des altersgerechten Assistenzsystems zugänglich.
Die Ebene der Aktorik bezeichnet die Aktionen,
die auf Grundlage der von der Entscheidungskompetenz ermittelten Informationen ausgelöst werden. Grundsätzlich fallen unter den Begriff der Aktorik auch einfache Komforthilfen, die unmittelbar
vom Sensor ausgelöst werden wie im Bereich der
Temperatur- oder Lichtregulation. Für die Datenschutzfrage „Wer erfährt wann was über mich?“,
sind diese Aktionen jedoch nicht relevant. Es wird
daher der Fokus auf Aktionen gelegt, bei denen
ein Alarm ausgelöst wird oder die regelmäßige
Weitergabe von Informationen an Angehörige,
den Arzt oder andere Dienstleister vorgesehen ist.
Die Beteiligten, die im Fall eines Alarms informiert
werden, können von denjenigen abweichen, die
tatsächlich aktiv werden. So können z. B. eine
Servicezentrale des Herstellers und Angehörige
über eine mögliche Gefahrensituation informiert
werden, während für die Überprüfung der Situation vor Ort ein weiterer Pflegedienstleister vorgesehen ist. Außerdem ist es wichtig festzuhalten,
ob der ältere Mensch selbst Eingriffsmöglichkeiten
in den Alarm hat, also z. B. eine bestimmte Zeit
zur Verfügung hat, einen Voralarm auszuschalten,
bevor Dritte aktiv oder überhaupt informiert werden. Die Typisierung der Antwortmöglichkeiten im
Instrument soll helfen, einen strukturierten Überblick über das jeweilige System zu gewinnen. Für
alle drei Tabellen des Instruments und ihre Antwortmöglichkeiten gilt, dass sie dem Beratenden
eine Anregung sein sollen, über welche technischen Aspekte er sich Klarheit verschaffen sollte, um dem Betroffenen erläutern zu können, wer
unter welchen Umständen was über ihn erfährt.
Insofern sollen die Kategorien gerade in Bezug
auf die jeweiligen Daten/Informationen nur den
Auftakt liefern, die jeweilige Technologie im jeweiligen Setting präziser zu bestimmen, wichtige Kategorien und Informationen zu ergänzen und ggf.
mit dem Hersteller Rückfragen zu klären.
Im Folgenden soll anhand eines Beispiels die Anwendung des Instruments verdeutlicht werden.
40
Technologie und Datenschutz
7.4 B
eispiel: Ein sensorbasiertes SmartHome-System
Bei dem Produkt, das mit Hilfe des Instruments
8 Umgang mit personenbezogenen Daten untersucht wird, handelt es sich um ein umfassendes
Smart-Home System, dessen Einzelkomponenten
den Bedürfnissen des älteren Mensch entsprechend zusammengestellt werden können. Die Daten verschiedener Sensoren werden in einem zentralen Bedienelement in der Wohnung gesammelt
und von dort verschlüsselt an ein Rechenzentrum
übermittelt. Das Rechenzentrum gleicht die eingehenden Daten mit den im Nutzerprofil hinterlegten
Normwerten ab. Sollte das System auf eine ungewöhnliche Situation in der Wohnung schließen,
wird im zentralen Bedienelement der Wohnung ein
Voralarm ausgelöst bzw. auf eine mögliche Gefahrensituation hingewiesen. Der ältere Mensch hat
dann die Möglichkeit mittels einfachem Druck auf
das Bedienelement den Alarm auszuschalten und
damit zu signalisieren, dass keine Gefahr vorliegt
bzw. das Problem selbstständig behoben wird. Geschieht dies nicht, wird ein zuvor benannter An-/
Zugehöriger oder eine Pflegeperson benachrichtigt. Der ausgewählten Person ist es möglich, über
das zentrale Bedienelement mit der Wohnung zu
kommunizieren, also auch Vorgänge in der Wohnung zu hören. Folgende Sensoren können in das
System integriert werden:
‒ Wassersensor: Erkennt und meldet Wasser auf
dem Fußboden, auf dem er angebracht wird, z. B.
aufgrund einer überlaufenden Badewanne
HOCHSCHULE HANNOVER
Fakultät V – Abteilung Soziale Arbeit
‒ Herdsensor: Registriert die Hitzeentwicklung
am Kochfeld sowie vorhandene/ausbleibende Be-
wegung am Herd und kann so versehentlich noch
eingeschaltete Kochfelder melden
‒ Bewegungsmelder: Erkennt Bewegungen im jeweiligen Raum
‒ Tür- und Fenstersensor: Erkennt geöffnete
Fenster bzw. Türen
‒ Rauchmelder: Löst zur frühzeitigen Branderkennung Alarm aus, sobald Rauch registriert wird
‒ Sensormatte als Bettunterlage: Registriert, ob
eine Person im Bett liegt
‒ Wasserflusssensor: Reagiert auf ungewöhnlich
lange fließendes Wasser
‒ WC-Wandtaster: Löst die Toilettenspülung aus
und registriert eine ungewöhnlich lange Nichtbenutzung
‒ Hilferuf-Knopf: Als Arm- oder Halsband getragen kann per einfachem Knopfdruck eine Hilferuf
ausgelöst werden
‒ CO2-Melder: Warnt vor gefährlichem CO-Gas,
das beim Betreiben von Heizkesseln und Kaminöfen entstehen kann
Die gewünschten Komponenten werden in einem
passwortgeschützten Service-Portal installiert und
mit Normwerten versehen, welche den Gewohnheiten des älteren Menschen entsprechen. Diese
Einstellungen können jederzeit angepasst werden
oder Besonderheiten wie eine Urlaubsschaltung
eingestellt werden. Außerdem wird im ServicePortal die Alarmabfolge definiert, also welche Personen in einer Notsituation auf welchem Weg benachrichtigt werden.
GEFÖRDERT VOM
Änderungen müssen stets per Telefon, SMS oder
Blumhardtstraße 2, 30625 Hannover
E-Mail bestätigt werden, was ein hohes Maß an
Sicherheit vor unbefugtem Zugriff bietet.
8 Analyse des Umgangs mit personenbezogenen Daten: Sensorik
Altersgerechtes Assistenzsystem: Smart-Home-System
Sensorik
√
Welche Daten werden erhoben?
Umgebungsdaten (Temperatur, Licht, Lautstärke, …)
Verhaltensdaten (Bewegung, Türöffnung, Nutzung von Geräten, Schrittzähler …)
Vitaldaten (Blutdruck, Blutzucker, Temperatur, …)
Sonstige:
Klärung technischer Fragen mit dem Hersteller
Abb. 1: Instrument 8a (Sensorik)
41
√
√
√
Übertragungsweg
(zur Entscheidungskompetenz oder Aktorik)
Funk
Kabel
√
√
Technologie und Datenschutz
HOCHSCHULE HANNOVER
Fakultät V – Abteilung Soziale Arbeit
GEFÖRDERT VOM
Blumhardtstraße 2, 30625 Hannover
8b Analyse des Umgangs mit personenbezogenen Daten: Entscheidungskompetenz
Entscheidungskompetenz
Wo befindet sich die
Entscheidungskompetenz?
√
In der Wohnung
Auf auswärtigem
Server
√
Wer hat Zugriff auf die
Daten/Informationen?
√
Was wird gespeichert?
I Umgebungsdaten (Temperatur, Licht, Lautstärke, …)
√
Der Betroffene selbst
I Verhaltensdaten (Bewegung, Türöffnung, Nutzung von Geräten, …)
√
An-/Zugehörige
√
(Pflege-)Dienstleister
√
Sozialversicherungsträger
I Vitaldaten (Blutdruck, Blutzucker, Temperatur, …)
II Aggregierte Daten (summierte Rohdaten, Abrechnungsdaten, …)
Hersteller
II Neu generierte Informationen (Person ist gestürzt, Gefahrensituation, ...)
III Selbstdefiniertes Personenprofil
(Normwerte zu Verhalten und Umgebung)
√
?
√
Externer IT-Dienstleister (des
Herstellers oder Dienstleisters)
Forschungseinrichtung
Klärung technischer Fragen mit dem Hersteller
Werden die Daten nach dem Abgleich mit den hinterlegten Normwerten gespeichert? Wenn ja, zu welchem Zweck?
Hat der Betroffene
HOCHSCHULE
HANNOVER
GEFÖRDERT VOM
über das Service
Einsichtsmöglichkeit
in die
gespeicherten
Fakultät VPortal
– Abteilung
Soziale Arbeit
Blumhardtstraße
2, 30625Daten?
Hannover
8c Analyse des Umgangs mit personenbezogenen Daten: Aktorik
Abb. 2: Instrument 8b (Entscheidungskompetenz)
Aktorik / Alarmauslösung
MHH-QuAALi / Teilvorhaben „Entwicklung eines wissenschaftlich fundierten ELSI-Beratungsleitfadens“
Wer wird informiert?
An-/Zugehörige
√
√
Hersteller
(Pflege-)Dienstleister
√
Externer IT-Dienstleister
(des Herstellers oder
Dienstleisters)
Individuell einstellbar
Welche Daten/Informationen werden übermittelt? (unter Umständen
ausschließlich von einer festgelegten Norm abweichende)
√
Wer wird aktiv?
√
I Umgebungsdaten (Temperatur, Licht, Lautstärke, …)
Der Betroffene selbst
√
I Verhaltensdaten (Bewegung, Türöffnung, Schrittzähler, …)
An-/Zugehörige
√
I Vitaldaten (Blutdruck, Blutzucker, Temperatur, …)
Hersteller
II Alarmsignal, interpretierte Informationen
(z.B. Betroffener ist gestürzt)
√
√
(Pflege-)Dienstleister
√
Individuell einstellbar
√
Klärung technischer Fragen mit dem Hersteller
Es ist unklar, wie mit dem zentralen Bedienelement in der Wohnung kommuniziert wird. Benötigt die im Alarmfall
informierte Person dafür eine Handy App oder eine Art Gegensprechanlage? Kann diese Kommunikation – also auch das
Hören in die Wohnung – jederzeit durchgeführt werden oder nur im Alarmfall? Kann die Servicezentrale auch in die
Wohnung hören? …
Abb. 3: Instrument 8c (Aktorik)
7.5 Leistung und Grenzen des Instruments
wie im Falle des Produkteinsatzes die Frage „Wer
erfährt wann was?“ zu beantworten ist. In diesem
Beispiel sind sowohl auf Ebene der erhobenen Daten als auch bei der Frage nach zu alarmierenden Personen individuelle Auswahlmöglichkeiten
gegeben. Dementsprechend können viele Aspekte erst gemeinsam mit dem älteren Menschen
vor Ort erarbeitet werden. Eine Kombination aus
Wassersensor, Rauch- und CO2-Melder und einem
Hilferufknopf würde keine außergewöhnlichen
datenschutzrechtlichen Fragen aufwerfen. Andere Systemelemente wie die Bettsensormatte, der
MHH-QuAALi / Teilvorhaben „Entwicklung eines wissenschaftlich fundierten ELSI-Beratungsleitfadens“
Das Ausfüllen des Instruments zeigt, dass sich
viele Fragen nicht über das Setzen eines Häkchens
beantworten lassen, sondern ergänzende Bestimmungen notwendig machen, oder sich Fragen
ergeben, die häufig nur in Rücksprache mit dem
Hersteller geklärt werden können. Das Instrument
soll dem Beratenden als Anstoß dienen, diese Ergänzungen zu machen und den Fragen nachzugehen, um sich bereits vor dem Beratungsprozess
möglichst viel Klarheit darüber zu verschaffen,
42
Technologie und Datenschutz
Haustürsensor oder der WC-Wandtaster würden
Daten der Privat- und Intimsphäre regelmäßig
an das auswärtige Rechenzentrum weitergeben,
und einen anderen problematisierenden Umgang
in der Beratung erforderlich machen. Dass offene Fragen bezüglich des Umgangs mit persönlichen Daten entstehen, z. B. nicht klar wird, wie
die Nutzung der Hörfunktion der Hauszentrale von
statten geht, ist regelmäßig bei der Anwendung
des Instruments zu erwarten. Denn die Frage des
Instruments „Wer erfährt wann was?“ wird häufig nicht ausreichend von Produktbroschüren und
allgemeinen Herstellerinformationen beantwortet.
Das Instrument will daher dazu anregen, offene
Fragen zu identifizieren und nach Antworten zu
suchen.
Das Beispiel verdeutlicht außerdem, dass mit den
abhakbaren Typisierungen und Bestimmungen
des Instruments keine abschließende Beurteilung
der Technologie vorgegeben ist. Das individuelle
Setting, in das ihr Einsatz eingebettet ist, sowie
die Präferenzen und Sorgen des älteren Menschen
sind auf Grundlage der technischen Analyse zu
behandeln.
7.6 Weitere Informationsmöglichkeiten
Die Beschäftigung mit der Datenerhebung eines
altersgerechten Assistenzsystems wirft Fragen
auf, deren Beantwortung in der Beratung mögliche Sorgen von Betroffenen und Angehörigen beruhigen können. Welche Maßnahmen zur Datensicherheit ergreift das Unternehmen? Mit welchen
Maßnahmen stellt es sicher, dass die Daten nicht
anderen Zwecken zugeführt werden? An welchen
Maßnahmen wird deutlich, dass Datenschutz unternehmerische Praxis ist, und nicht nur ein Bekenntnis in den AGB?
Die Beantwortung dieser Fragen kann jedoch
nicht zu den Kernaufgaben des Beratenden gezählt werden. Sie setzen häufig juristisches und
informationstechnologisches Expertenwissen voraus. Außerdem basieren sie auf der rechtlichen
Verpflichtung datenerhebender Stellen und liegen
damit in deren Verantwortungsbereich.
Verlässliche Anhaltspunkte für den sicheren und
rechtskonformen Umgang mit persönlichen Daten stellen die Zertifikate des Bundesamts für
Sicherheit in der Informationstechnik (www.bsi.
bund.de) und des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz Schleswig-Holstein (www.
datenschutzzentrum.de) dar. Insbesondere bei
Produkten, die sensible Daten erheben, sollte eine
entsprechende Zertifizierung als Standard gefor-
43
dert werden. Sowohl das BSI als auch das Datenschutzzentrum bieten außerdem online eine
Reihe von Tipps auch für den Endverbraucher z.
B. bezüglich Browsersicherheit, Passwortsicherheit oder den Umgang mit sozialen Netzwerken.
Sie können dem Beratenden deshalb als nützliche
Quelle für entsprechende Hilfen dienen.
Ausgewählte Literatur
[BMBF/ VDE] Bundesministerium für Bildung und
Forschung/ Verband der Elektrotechnik Innovationspartnerschaft AAL (Hg.) (2011): Ambient Assisted Living (AAL): Komponenten, Projekte, Services. Eine Bestandsaufnahme. Berlin
Helmer, A./ Steen, E.-E./ Rölker-Denker, L./ Eichelberg, M./ Hein, A. (2012): Umsetzung eines
Konzepts zum Schutz von personenbezogenen
Gesundheitsdaten für eine AAL-Plattform. URL:
http://subs.emis.de/LNI/Proceedings/Proceedings208/1390.pdf (24.09.2015).
Lebensweltorientierte Beratung
8
Lebensweltorientierte Beratung
im Kontext altersgerechter
Assistenzsysteme
Lebensweltorientierte Beratung im Kontext altersgerechter Assistenzsysteme
Inhalt
8.1 Einführung
45
8.2 Kompetenzen des Beratenden
46
8.3 Prinzipien Lebensweltorientierter Beratung
im Kontext altersgerechter Assistenzsysteme
46
8.3.1 Selbstverständnis des Beratenden
46
8.3.2 Zugang zur Beratung
47
8.3.3 Erkundung der Lebenswelt
47
8.3.4 Beratung im Alltag
48
8.3.5 Zielgruppenspezifische Verständigung
49
8.3.6 Beratung als Aushandlungsprozess 49
8.3.7 ‚Strukturierte Offenheit’ der Beratung
49
8.3.8 Interdisziplinarität
50
Ausgewählte Literatur
50
44
Lebensweltorientierte Beratung
8.1 Einführung
Im Kontext altersgerechter Assistenzsysteme ist
es die Aufgabe einer lebensweltorientierten Beratung ältere Menschen darüber zu informieren,
welche technischen Möglichkeiten es zur Unterstützung von Selbstständigkeit und gesellschaftlicher Teilhabe gibt.
Lebensweltorientierte Beratung geht davon aus,
dass geeignete bzw. erfolgreiche und nachhaltige Lösungsstrategien nur in einem gemeinsamen
Aushandlungsprozess entwickelt werden können.
Dazu ist es notwendig, die individuellen Deutungs- und Handlungsmuster bezüglich altersgerechter Assistenzsysteme zu entschlüsseln, um
geeignete Problemlösungsvorschläge anbieten zu
können. Dies geschieht immer „im unbedingten
Respekt vor der Eigensinnigkeit und den eigenen
Möglichkeiten“ (Thiersch 2014:311) eines Menschen. Das kann auch bedeuten, Entscheidungen
älterer Menschen zu respektieren, wenn sie den
Einsatz altersgerechter Assistenzsysteme ablehnen. Lebensweltorientierte Beratung bemüht sich
dabei zugleich, den Erfahrungshorizont älterer
Menschen zu erweitern: Ältere Menschen sollen
unterstützt und ermutigt werden, neue Sichtweisen und Handlungsmöglichkeiten zu entdecken,
zu entwickeln oder neu zu lernen.
Im Folgenden werden die erforderlichen Kompetenzen des Beratenden und die Prinzipien lebensweltorientierter Beratung für den Bereich
altersgerechter Assistenzsysteme vorgestellt und
erläutert.
45
Lebensweltorientierte Beratung
8.2 Kompetenzen des Beratenden
Gestaltung einer professionellen Beratungsbeziehung.
Wird von Kompetenzen gesprochen, so ist damit
die Art und Weise gemeint, die eigenen Ressourcen (Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten,
Erfahrungen, Motivation und Haltungen) in unterschiedlichen Handlungssituationen zielführend zur
Anwendung zu bringen.
Methodenkompetenz umfasst analytische Fähigkeiten, d. h. komplexe Probleme unter Berücksichtigung der individuellen Situation des Ratsuchenden differenzieren und strukturieren zu können,
Wahrnehmungs- und Beobachtungsfähigkeit, d.
h. den Beratungsbedarf wahrzunehmen und alle
für das Gespräch erforderlichen Informationen zu
erfassen, Problemlösungsfähigkeit, d. h. Lösungsvarianten gemeinsam mit dem Ratsuchenden zu
entwickeln sowie Steuerung des Beratungsgesprächs durch die Verwendung geeigneter Methoden.
Beratende benötigen zum einen allgemeine
Schlüsselkompetenzen, die in vielen Berufsfeldern als grundlegend gelten:
„Neugier, Eigeninitiative und Interesse am Lerngegenstand, an neuen Situationen und anderen
Lebensweisen (...);
Kommunikationsfähigkeit als Fähigkeit, in unterschiedlichen Rollen auf andere Menschen zuzugehen (z. B. als Kollegin, Freund, Ratsuchende oder
Ratgebender);
Teamfähigkeit als Fähigkeit, unterschiedliche
Wissensbestände und Persönlichkeitsstile in den
Gruppenprozess zu integrieren und sich im Sinne von Kooperations- und Koordinationsfähigkeit
auf Arbeitsschritte und sinnvolle Arbeitsteilung zu
einigen;
Konfliktfähigkeit als Fähigkeit zur Empathie und
Sensibilität, zum Erkennen und konstruktiven Bearbeiten von Konflikten sowie die Fähigkeit zum
Verhandeln bzw. Aushandeln;
Flexibilität als Anpassungsfähigkeit an sich verändernde Situationen, Menschen und Aufgaben sowie Rollenflexibilität;
Durchsetzungsfähigkeit als Fähigkeit, mithilfe verschiedener Einflussnahmen eigene Ziele zu realisieren;
ganzheitliches Denken als Fähigkeit, Teilschritte einem Ganzen bzw. einem Ziel zuzuordnen.“
(Spiegel 2013:73)
Selbstkompetenz beinhaltet die Fähigkeit zur Autonomie, Moralität, Ich-Stärke, Selbständigkeit
und Verantwortlichkeit, Reflexionsfähigkeit, d. h.
eigene Schwächen und Stärken zu erkennen.
In den folgenden Abschnitten sollen die Schlüsselund Beratungskompetenzen unter Berücksichtigung der wesentlichen Prinzipien lebensweltorientierter Beratung und den Handlungsmaximen
der Lebensweltorientierung (siehe Abschnitt 3.6)
für den Bereich altersgerechter Assistenzsysteme
konkretisiert werden.10
8.3 P
rinzipien Lebensweltorientierter
Beratung im Kontext altersgerechter
Assistenzsysteme
8.3.1 Selbstverständnis des Beratenden
Die in der Beratung strukturell gegebene Asymmetrie kann nicht prinzipiell aufgehoben werden(vgl.
Thiersch et al. 2015:282). Eine belehrende und
asymmetrische Beratung kann jedoch durch eine
kooperative Kommunikationsbeziehung weitestgehend vermieden werden. Für den Beratenden
bedeutet dies zuallererst, sich der gegebenen
strukturellen Asymmetrie bewusst zu sein und die
Unterschiede zwischen dem Beratenden und dem
älteren Menschen transparent zu halten (Alltagsnähe). Es bedeutet auch dem älteren Menschen
Kompetenzen zuzuschreiben. Der Beratende aktiviert Ressourcen und Möglichkeiten des älteren
Menschen, so dass er generell in der Lage ist, sein
Problem selbst lösen zu können (Prävention). Die
Kompetenzen des Beratenden und des älteren
Menschen werden als gleichwertig angesehen. Auf
diese Weise entsteht eine kooperative Kommunikationsbeziehung, der ältere Mensch wird durch
Zum anderen sind allgemeine Beratungskompetenzen erforderlich (vgl. Leopold et al. 2013:177
und Hummel-Gaatz/ Doll 2007:50ff):
Fachkompetenz beinhaltet praktische Erfahrungen bezüglich Beratungssituationen, ein umfangreiches Wissen über das Beratungsthema und
Anwendungswissen über Kommunikationsmodelle
und -techniken.
Sozialkompetenz erfordert Kommunikationsfähigkeit, d. h. Frage- und Gesprächstechniken
situationsgebunden anwenden zu können, Kooperationsfähigkeit durch Einbeziehung des Ratsuchenden sowie Nähe und Distanzfähigkeit zur
10 A
n die zugrunde liegenden Struktur- und Handlungsmaximen wird dabei in Klammern erinnert. Auf die Schlüssel- und Beratungskompetenzen wird in Kapitel 9 Der Beratungsprozess verwiesen.
46
Lebensweltorientierte Beratung
die methodische Unterstützung des Beratenden zu
einem aktiv Handelnden (vgl. Mutzeck 2007:696).
8.3.2 Zugang zur Beratung
Das Unverständnis gegenüber altersgerechten Assistenzsystemen und eine Kränkung älterer Menschen aufgrund der gescheiterten Alltagsbewältigung sowie das Misstrauen aufgrund strukturell
bedingter Abhängigkeitsverhältnisse gegenüber
Helfern und Unterstützungsangeboten (siehe Abschnitte 2.3, 2.5 und 2.8), muss der Beratende
ernst nehmen und mit angemessener Sensibilität darauf reagieren. Dies erfordert Geduld und
Aufmerksamkeit – und vor allem in offenen Beratungssettings oft (sehr) viel Zeit, um die für die
Beratung notwendige Vertrauensbasis zwischen
Beratenden und dem älteren Menschen herzustellen. Eine weitere Herausforderung kann in dem
Zusammenhang die unterschiedliche Alltagskommunikation des älteren Menschen und des (jüngeren) Beratenden sein (vgl. Peters 2011:135f).
Dies erfordert zum einen, dass der Beratende
sich der Problematik des – generationsbedingten
– unterschiedlichen Kommunikationsverhaltens
bewusst ist. Zum anderen sollte der Beratende
ausreichend geschult sein, um angemessen mit
älteren Menschen kommunizieren zu können.
Da Angebote mit einer ‚Komm-Struktur’ ältere Menschen häufig nicht erreichen (vgl. Al Akel
2006:75), sollte eine lebensweltorientierte Beratung insbesondere im Kontext altersgerechter Assistenzsysteme auch als aufsuchendes Beratungsangebot konzipiert sein (Alltagsnähe). Der Zugang
zur Beratung könnte z. B. dadurch erleichtert werden, dass Informationsveranstaltungen in Pflegeheimen, Freizeiteinrichtungen etc. durchgeführt
werden. Um auch die älteren Menschen zu erreichen, die solche Einrichtungen nicht aufsuchen,
wäre eine enge Zusammenarbeit insbesondere mit
Hausärzten, ambulanten Pflegediensten etc. wünschenswert (Dezentralisierung/Regionalisierung/
Vernetzung). Die Beratungsstelle selbst sollte für
ältere Menschen gut erkennbar und leicht erreichbar sein (barrierefrei bzw. barrierearm).
8.3.3 Erkundung der Lebenswelt
Im Fokus lebensweltorientierter Beratung steht
der Mensch mit seinen alltäglichen Problemen
in seinen spezifischen Lebensverhältnissen (Alltagsnähe). Dies bedeutet, den älteren Menschen
„inmitten seines biografischen und aktuellen Alltagslebensfeldes“ (Thiersch et al. 2015:282) zu
sehen. Insofern ist es notwendig, dass die Menschen ausreichend Gelegenheit haben, sich und
47
ihre Lebenswelt darzustellen. Die folgenden Aspekte (Lebenslagedimensionen) sollten beachtet
bzw. erkundet werden:
Ökonomische Lage
Die finanzielle Situation spielt eine zentrale Rolle hinsichtlich des Erwerbs altersgerechter Assistenzsysteme. Somit ist im Rahmen der Beratung
zu erkunden, ob sich die älteren Menschen die in
Frage kommenden Unterstützungssysteme finanziell leisten können. Ist dies nicht der Fall, sollte geklärt werden, ob andere Möglichkeiten der
Finanzierung bestehen, z. B. über Leistungen im
Rahmen wohnraumverbessernder Maßnahmen,
als Hilfs- oder Pflegemittel im Rahmen der Kranken- oder Pflegeversicherung oder als KfW-Kredit
etc. Vor diesem Hintergrund kann auch geprüft
werden, ob bereits eine Pflegestufe vorliegt oder
beantragt wurde.
Ist dies nicht der Fall, könnte die Empfehlung ausgesprochen werden, eine Pflegeberatung (gemäß
§ 7a SGB XI) in Anspruch zu nehmen. Falls es
keine Möglichkeiten trotz eines Versorgungs- oder
Unterstützungsbedarfs gibt, sollte prinzipiell über
alternative Hilfsangebote nachgedacht werden,
wie Nachbarschaftshilfe oder (kostenfreie) kommunale Unterstützungsangebote (Regionalisierung/ Vernetzung). Gegebenenfalls kann der Beratende auf Finanzierungslücken und -bedarfe z.
B. auf kommunaler Ebene hinweisen und Veränderungen gemeinsam mit dem älteren Menschen
anregen (Partizipation/ Einmischung).
Gesundheitszustand
Mit zunehmendem Alter verschlechtert sich in der
Regel der Gesundheitszustand älterer Menschen
(siehe Abschnitt 5.5). Lebensweltorientierte Beratung im Kontext altersgerechter Assistenzsysteme fragt vor diesem Hintergrund zuerst nach dem
subjektiv gewünschten Unterstützungsbedarf, um
zu prüfen, ob dieser mit Hilfe von altersgerechten
Assistenzsystemen abgedeckt werden kann. Der
objektive, aus medizinisch-pflegerischer Sicht benötigte Unterstützungsbedarf kann vom Beratenden allerdings auch anders eingeschätzt werden.
In einem solchen Fall können nach Absprache mit
dem älteren Mensch auch An- und Zugehörige
sowie Ärzte und pflegerisches Personal zur Beurteilung der Situation hinzugezogen werden. Sind
weitere Maßnahmen erforderlich, um den Einsatz
altersgerechter Assistenzsysteme zu ermöglichen
– z. B. die Beantragung einer Pflegestufe zwecks
Finanzierung eines Hausnotrufs – sollte der ältere
Mensch darüber informiert und ggf. bei der Kontaktaufnahme unterstützt werden (Vernetzung/
Partizipation).
Lebensweltorientierte Beratung
he Abschnitt 5.6). Die Kommunikation und Pflege sozialer Beziehungen kann durch den Einsatz
neuer Technologien ermöglicht oder zumindest
erleichtert werden. Lebensweltorientierte Beratung fragt zudem nach den Unterstützungsmöglichkeiten durch das soziale Beziehungsnetzwerk
älterer Menschen hinsichtlich des Einsatzes und
der Nutzung altersgerechter Assistenzsysteme.
Trainingsmöglichkeiten mit An- und Zugehörigen
sollten ermittelt und angeregt werden, nachbarschaftliche Hilfe könnte auf Wunsch vermittelt und
Unterstützung bei der Techniknutzung organisiert
werden (Regionalisierung/Vernetzung). Ebenso sollte ermittelt werden, inwiefern der Wunsch
nach Entlastung im sozialen Umfeld hinsichtlich
der Versorgung und Unterstützung des älteren
Menschen besteht. Gegebenenfalls können in solchen Fällen altersgerechte Assistenzsysteme sowohl für den älteren Menschen als auch für die
An- und Zugehörigen hilfreich eingesetzt werden.
Außerdem sollten Konflikte, die mit der Versorgung und Unterstützung älterer Menschen einhergehen können, in den Blick genommen werden.
Diese können sich z. B. durch den Wunsch der
Angehörigen nach Entlastung und dem damit verbundenen Bedürfnis altersgerechter Assistenzsysteme einzusetzen, verschärfen (siehe Abschnitte
2.4 und 2.9).
Wohnsituation
Die Wohnsituation vieler älterer Menschen ist oftmals keine günstige Voraussetzung für den Einsatz altersgerechter Assistenzsysteme (siehe Abschnitt 5.7). Lebensweltorientierte Beratung fragt
in diesem Zusammenhang nach Voraussetzungen
(z. B. Internetanschluss etc.) und Ausbaumöglichkeiten für den Einsatz altersgerechter Assistenzsysteme (Alltagsnähe). Ebenso kann je nach
gewünschtem Unterstützungsbedarf über wohnraumverbessernde Maßnahmen und barrierefreie
Gestaltung der Wohnung weitergehende Beratung
gegeben und/oder vermittelt werden. Hinsichtlich der Wohnsituation sind auch infrastrukturelle
Gegebenheiten in den Blick zu nehmen (Dezentralisierung/Regionalisierung). Ggf. können altersgerechte Assistenzsysteme dabei helfen, die
Lebenssituation zu verbessern. Bei schlechter
Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr können beispielsweise Kommunikationssysteme den
Kontakt zu Angehörigen oder Freunden ermöglichen oder die Integration im Quartier unterstützen. Sind die infrastrukturellen Bedingungen im
Quartier sehr eingeschränkt, sollte der Beratende
ggf. nach Möglichkeiten suchen, strukturelle Verbesserungen der Lebensbedingungen älterer Menschen anzuregen, z. B. im Rahmen seines Netzwerks oder in der Kommune (Einmischung). Dabei
sollten die älteren Menschen – sofern das möglich
ist – eingebunden sein bzw. sich direkt beteiligen
können (Partizipation).
Bildung
Der Bildungshintergrund älterer Menschen spielt
eine wichtige Rolle, wenn es darum geht moderne
Technologien und Systeme zu nutzen (siehe Abschnitt 5.3). Lebensweltorientierte Beratung erfragt aus diesem Grund das Bildungsniveau älterer Menschen, um einschätzen zu können welche
Fähigkeiten z. B. hinsichtlich des Verständnisses
und der Bedienung altersgerechter Assistenzsysteme bestehen und welche Unterstützung notwendig ist. Gemeinsam mit dem älteren Menschen können Trainingsmöglichkeiten überlegt
werden (z. B. mit An- und Zugehörigen), um eine
selbstbestimmte und sichere Nutzung zu ermöglichen bzw. zu gewährleisten (Prävention). Ebenso
kann die Vermittlung an Selbsthilfegruppen oder
intergenerationellen Angeboten (Integration) hilfreich sein, um den Umgang zu erlernen oder um
bereits vorhandene Fähigkeiten und Fertigkeiten
auszubauen (Regionalisierung/Vernetzung).
Wenn die Wohnung als emotionaler Raum verstanden wird (vgl. Hildebrandt 2012:196f), so ist
zu berücksichtigen, dass der sachlich notwendig
erscheinende Umbau einer Wohnung (Barrierereduktion) immer auch einen Eingriff in die nach
subjektiven Bedürfnissen gestaltete Lebenswelt
darstellt. Dabei sollte die subjektive Sicht aber
nicht das alleinige Kriterium zur Bestimmung des
Unterstützungsbedarfs bleiben. Wenn ältere Menschen den Wunsch formulieren, so lange wie möglich in den eigenen – zum Teil sehr beschränkten
– Wohnverhältnissen leben zu können, muss dies
auch vor dem Hintergrund der Problematik der
Unkenntnis von Alternativen gesehen werden. So
entscheiden sich ältere Menschen nicht selten für
die eigene Wohnung als Lebensmittelpunkt, weil
ihnen aufgrund eingeschränkter Ressourcen als
einzige Alternative nur der Umzug ins Heim bleibt
und ihnen alternative Wohnformen wie Mehrgenerationenhäuser, gemeinschaftliches Wohnen etc.
nicht bekannt oder zugänglich sind.
8.3.4 Beratung im Alltag
Lebensweltorientierte Beratung geht davon aus,
dass in jeder zwischenmenschlichen Kommunikation schon immer beratende Elemente enthalten
sind und Beratung insofern eine spezifische Form
hilfreicher Kommunikation ist. Beratung ist so ver-
Berücksichtigung sozialer Beziehungsnetzwerke
Soziale Beziehungsnetzwerke sind eine wichtige Ressource im Leben älterer Menschen (sie-
48
Lebensweltorientierte Beratung
standen alles, was im Rahmen eines Gesprächs
zur Klärung einer Situation oder eines Problems
beiträgt und findet zu jeder Zeit im Alltag statt.
Lebensweltorientierte Beratung bedeutet nicht,
dass man sich zu einer bestimmten Zeit verabredet, um eine halbe Stunde über ein bestimmtes
Thema zu sprechen und dann wieder auseinander
geht. Beratung muss sich demnach von festgefügten, institutionalisierten Strukturen lösen und
im Alltag der Menschen eingelassen sein bzw.
stattfinden (Alltagsnähe). Lebensweltorientierte
Beratung sollte insofern verschiedene Formen von
informellen bis hin zu formellen Beratungsangeboten ermöglichen.
8.3.5 Zielgruppenspezifische Verständigung
Ebenso wie sich die Lebenswelten der Menschen
unterscheiden, so unterscheidet sich auch die Art
und Weise, wie Menschen ihre Probleme artikulieren. Lebensweltorientierte Beratung fragt aus
diesem Grund nach den spezifischen Verständigungsmustern bzw. der unterschiedlichen lebenslage- und milieuspezifischen Sprache der älteren
Menschen, um zu wissen, wie man in angemessener Weise mit unterschiedlichen Zielgruppen kommuniziert. Es geht darum verschiedene (Sprach-)
Möglichkeiten und Formen zu finden, um die älteren Menschen in ihrer jeweiligen Lebenswelt
beraten zu können (Alltagsnähe). Die besondere
Schwierigkeit besteht darin, die komplexen Technologien in einfachen und verständlichen Worten
zu erklären, ohne in eine ‚patronisierende Redeweise’ zu verfallen (vgl. Peters 2011:136).
8.3.6 Beratung als Aushandlungsprozess
Bei der lebensweltorientierten Beratung geht es um
das Aushandeln von Lösungen und sie wird auch
als eine Form des miteinander Handelns gesehen
(vgl. Thiersch 2014:311). Das heißt, es wird nicht
von einer definitiven Diagnose ausgegangen, sondern vor dem Hintergrund einer ersten Bestandsaufnahme beginnt ein verständigungsorientierter
Aushandlungsprozess. Das ergebnisoffene Wesen
der Beratung und die sich daraus entwickelnde
Unterhaltung sollen dazu beitragen, dass „neue
Aspekte zu Tage treten“ und „Menschen in ihrem
Handeln erfahren, was sie eigentlich können oder
nicht können.“ (Thiersch 2014:319) Ziel ist es, ein
abgestimmtes Vorgehen mit allen für den Beratungsprozess wichtigen Personen zu planen, um
gemeinsame Lösungsstrategien zu ermöglichen.
Dazu sollte zunächst der ältere Mensch angeregt
werden, dringliche Probleme aus seiner Sicht zu
formulieren und die Reihenfolge der Bearbeitung
festzulegen. Sichtweisen und Bearbeitungspriori-
49
täten weiterer Beteiligter müssen ebenfalls aufgenommen werden (Integration). Im nächsten
Schritt geht es um die systematische Erfassung
und Analyse der Probleme. Voraussetzung dafür
ist, dass sich der ältere Mensch in seinen Problemen darstellen kann bzw. in die Lage versetzt
wird, diese mit professioneller Unterstützung zu
entdecken (Alltagsorientierung). Blockaden und
Hilflosigkeit bei der Bewältigung von Problemen
müssen ermittelt und individuelle Erfahrungen
und entlastende Routinen ernst genommen und
respektiert werden.
Dabei geht es auch darum, Menschen von persönlicher Zuschreibung durch die Aufdeckung
gesellschaftsstruktureller Problemlagen zu entlasten. Vor diesem Hintergrund, dem Nebeneinander von Ressourcen und Schwierigkeiten, geht es
vor allem darum, Ansatzpunkte zu finden, ältere
Menschen und ggf. weitere beteiligte Personen zu
befähigen, die eigene Situation zu klären sowie
eigene Lösungen und Handlungsmöglichkeiten zu
entwickeln (Prävention).
8.3.7 ‚Strukturierte Offenheit’ der Beratung
Lebensweltorientierte Beratung ist offen für unterschiedliche Beratungsmethoden und Zugänge, um
angemessen auf die unterschiedlichen Bedürfnisse, Ziele, Rahmenbedingungen etc. reagieren zu
können. Da die Aufgabenstellung und das Setting
einer lebensweltorientierten Beratung generell offen angelegt ist (siehe Abschnitt 8.3.4), braucht
es Instrumente der Strukturierung, damit sie sich
nicht in der Vielfältigkeit bzw. Beliebigkeit verliert.
Diese Instrumente müssen zugleich so angelegt
sein, dass sie an die jeweilige Situation, an ein
spezifisches Problem angepasst werden können.
Dabei kommt es darauf an, die unterschiedlichen
Techniken z. B. des Zuhörens, des Verstärkens,
des Provozierens und der Interpretation so in das
Konzept der Beratung einzubauen, dass sie nicht
als Selbstzweck genommen werden. So wie sich
die Erfahrungen der Menschen zu Routinen und
Ritualen entwickeln, die eine Entlastung bei der
Bewältigung des Alltags darstellen, entstehen in
der Beratungspraxis Routinen und pragmatische
Umgangsweisen, von den man sich „eine Garantie des Gelingens erwartet.“ (Thiersch 2007:705)
Instrumente und Methoden sollen aber nicht der
Abarbeitung eines Falls dienen, sondern sie sollen
als hilfreiches Element zur Erkundung und Präzisierung der Lebenswelt (Alltagsnähe) und zur
Unterstützung bei der Entwicklung von Problemlösungen im Beratungsprozess eingesetzt werden
(Prävention).
Lebensweltorientierte Beratung
8.3.8 Interdisziplinarität
Ausgewählte Literatur
Eine wesentliche Herausforderung in der Beratung
altersgerechter Assistenzsysteme liegt in der Interdisziplinarität der beteiligten Akteure. Sie kommen aus den verschiedensten Berufsfeldern mit
ihrem jeweils fachspezifischen Wissen (vgl. Großmaß 2014:164): Wohnberatung, Pflege, Soziale
Arbeit, Medizin, technische Berufe und Handwerk.
Je nachdem, wo Beratung angesiedelt ist und in
welchen Strukturen sie eingebettet ist, wird aus
verschiedenen Kontexten heraus agiert, d. h. aus
unterschiedlichen Perspektiven heraus beraten
– mit möglicherweise divergierenden Zielsetzungen. Für eine gelingende Beratung ist es jedoch
erforderlich, dass aufgrund der Komplexität der
Thematik die unterschiedlichen Fachdisziplinen
kooperieren und ein gemeinsames Ziel verfolgen.
So ist es möglich, allgemeine Beratungskompetenzen (Gesprächsführung etc.), die in der Regel
von den Beratenden der verschiedenen Fachdisziplinen beherrscht werden, mit dem jeweils fachspezifischen Wissen zu verknüpfen. Auf diese Weise entsteht ein multiprofessionelles, ganzheitlich
ausgerichtetes Beratungsangebot, das zum einen
auf die unterschiedlichen Bedürfnisse älterer Menschen eingehen und zum anderen individualisierte
und nachhaltige Lösungsmöglichkeiten entwickeln
und anbieten kann (Alltagsnähe). Solche Formen
der Zusammenarbeit entstehen nicht immer geplant, sondern entwickeln sich z. B. aufgrund
zufälliger Begegnungen oder des persönlichen
Engagements eines Beratenden (vgl. Großmaß
2014:175). Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass der Beratende nicht nur die erforderlichen Kontakte herstellt, sondern das gewachsene
Netzwerk pflegt und ausbaut (Regionalisierung/
Vernetzung).
Peters, M. (2011): Leben in begrenzter Zeit. Beratung älterer Menschen. Göttingen
Thiersch, H. (2004) Lebensweltorientierte Soziale Beratung. In: Nestmann/ Engel/ Sickendiek,
Das Handbuch der Beratung, Band 2. Tübingen,
S. 699-709.
Thiersch, H. (2014): Über Entwicklungen und aktuelle Bezüge des Konzepts einer lebensweltorientierten sozialpädagogischen Beratung. In: Bauer/
Weinhardt (Hg.), Perspektiven sozialpädagogischer Beratung. Weinheim, S. 310-330.
Thiersch, H./ Frommann, A./ Schramm, D.
(2015): Sozialpädagogische Beratung (1977). In:
Ders. (Hg.), Soziale Arbeit und Lebensweltorientierung: gesammelte Aufsätze (Band 2). Weinheim, S. 251-286.
50
50
Der
Beratungsprozess
Inhaltsverzeichnis
9
Der Beratungsprozess
Der Beratungsprozess
Inhalt
9.1. Einführung
52
9.2 Struktur des Beratungsprozesses
53
9.3 Auftragsklärung
54
9.4Erkundungsphase
55
9.5Informationsphase
56
9.6 Reflexionsphase
57
9.7Entscheidungsphase
58
9.8Evaluationsphase
59
Ausgewählte Literatur
59
5151
51
Einführung
Der Beratungsprozess
9.1 Einführung
Das Ziel des Beratungsprozesses besteht darin,
eine selbstbestimmte Entscheidung des älteren
Menschen in Hinblick auf die Nutzung altersgerechter Assistenzsysteme zu unterstützen. Dabei
sollen die ethischen, sozialen und rechtlichen Aspekte thematisiert und berücksichtigt werden –
unter der Perspektive der Lebensweltorientierung.
Die Thematisierung der verschiedenen Aspekte und die Erkundung der subjektiven Haltungen
und Bedürfnisse sollen in strukturierter Weise erfolgen. Um dies zu unterstützen, wurde ein Beratungsprozess konzipiert, in dem die verschiedenen Aufgaben des Beratenden jeweils einer Phase
zugeordnet werden. Dabei geht es im Wesentlichen um die Klärung folgender Fragestellungen:
1. W
as soll erreicht werden?
2. W
as muss inhaltlich bearbeitet werden?
3. Was muss geklärt werden bzw. was sind die
zentralen Fragestellungen?
4. W
as sind die spezifischen Herausforderungen?
5. Welche Kompetenzen benötigen die Beratenden?
6. Welches Instrument kann als Arbeitshilfe eingesetzt werden?
Bei der Beschreibung der Herausforderungen und
erforderlichen Kompetenzen wird auf die vorhergehenden Ausführungen in Kapitel 2 und Kapitel 8
Bezug genommen.
52
5252
Der
Beratungsprozess
Inhaltsverzeichnis
9.2 Struktur des Beratungsprozesses
Der Beratungsprozess einer lebensweltorientierten Beratung im Kontext altersgerechter Assistenzsysteme wird hier in eine modellhafte Chronologie gebracht. Der tatsächliche Ablauf kann
sich in der Beratungssituation durchaus anders
gestalten. Fragestellungen können in Abhängigkeit vom Gesprächsgeschehen in der Beratungssituation variieren. Dennoch empfiehlt es sich darauf zu achten, dass alle Aspekte der nachfolgend
geschilderten Phasen bearbeitet werden, um eine
selbstbestimmte Entscheidung des älteren Menschen zu ermöglichen.
Aus den oben skizzierten Anforderungen im Sinne
einer lebensweltorientierten Beratung (siehe Kapitel 8) ergeben sich sechs aufeinander folgende
Phasen:
1.
Auftragsabstimmung
6. Evaluationsphase
2. Erkundungsphase
5.
Entscheidungsphase
3. Informationsphase
4. Reflexionsphase
Abb. 4: Der Beratungsprozess
Der Beratungsprozess ist zirkulär angelegt und
kann bzw. sollte bei Bedarf wiederholt durchlaufen werden. Auf diese Weise können (neue) Anforderungen an die Beratung (z. B. sich verändernde
Bedürfnisse oder Befürchtungen der Beteiligten)
berücksichtigt bzw. angepasst werden.
5353
53
Im Folgenden werden die wesentlichen Aspekte jeder einzelnen Beratungsphase vorgestellt.
Strukturiert wird die Darstellung nach folgenden
Gesichtspunkten: 1. Ziele 2. Inhaltliche Bearbeitung 3. Zentrale Fragestellungen 4. Spezifische
Herausforderungen 5. Erforderliche Kompetenzen
des Beratenden 6. Hinweis auf Instrumente zur
Unterstützung.
Einführung
Der Beratungsprozess
9.3 Auftragsklärung
Ziele der Auftragsklärung sind die Rahmung des
Beratungsprozesses und die Klärung der Möglichkeiten und Grenzen der Beratung, z. B. hinsichtlich des zeitlichen Umfangs sowie die Offenlegung
der Erwartungen und Wünsche aller Beteiligten
inklusive die des Beratenden.
Inhaltlich geht es vor allem darum zu erfahren,
was der ältere Mensch will und was er vom Beratenden konkret erwartet. Es wird vereinbart, was
zu tun ist und woran gearbeitet werden soll. Es
sollte außerdem geklärt werden, ob weitere Personen zu beteiligen sind. Insbesondere dann, wenn
nicht der ältere Mensch selbst, sondern Angehörige die Beratungsstelle aufsuchen, ist es notwendig, die gegenseitigen bzw. unterschiedlichen Erwartungen aller Beteiligten zu erfassen. Zugleich
geht es um den Aufbau von Vertrauen und einer
stabilen Beziehung aller an der Beratung beteiligten Personen. Eine solche Auftragsklärung steht
in der Regel am Anfang einer Beratung. Es kann
jedoch sein, dass eine Klärung erst zu einem späteren Zeitpunkt möglich ist bzw. im Verlauf des
Beratungsprozesses angepasst werden muss.
Zentrale Fragen: 1. Wer will was? (Wer sind
meine Auftraggeber?) 2. Von wem? (Bin ich der
richtige Ansprechpartner?) 3. Ab wann? Bis wann?
(Zeitlicher Umfang) 4. Was leistet die Beratung?
(Inhalt und Qualität) 5. Wozu? (Was soll erreicht
werden? Wenn es sich um mehrere Auftraggeber
handelt, sind sie sich hinsichtlich des Auftrages
einig?).
Situationen und Menschen einzulassen. Für die
Herstellung einer vertrauensvollen Gesprächssituation ‚auf Augenhöhe’ ist es notwendig, dass
sich der Beratende in seiner Wortwahl auf die
‚Sprache’ älterer Menschen einstellt (Kommunikationsfähigkeit). Der Beratende sollte außerdem
in der Lage sein, den biografischen und lebensweltlichen Kontext älterer Menschen zu verstehen
und zu akzeptieren (Sozialkompetenz) sowie alle
relevanten Beteiligten einzubeziehen und Ressourcen zu ermitteln (Methodenkompetenz). Da
eine Beratung in diesem Kontext bereits zu Beginn auf unterschiedliche Erwartungen der Beteiligten treffen kann, ist es erforderlich, dass der
Beratende widersprüchliche Situationen aushalten kann (Konfliktfähigkeit) und sich seiner Rolle
(professionelle Interessenvertretung des älteren
Menschen) und seiner Kompetenzen bewusst ist
(Selbstkompetenz). Der Beratende sollte wichtige
Ziele der Beratung durchsetzen können, z. B. den
Angehörigen die Notwendigkeit der Beteiligung
des älteren Menschen am Beratungsprozess verdeutlichen, damit eine nachhaltige Entscheidung
getroffen werden kann (Durchsetzungsfähigkeit,
Ganzheitliches Denken).
Instrument: 1 Auftragsklärung
Die Herausforderungen bestehen vor allem im
Zugang zur Beratung. Professionelle Hilfe anzunehmen ist für viele ältere Menschen mit dem Eingeständnis verbunden, dass sie den Alltag nicht
mehr selbst bewältigen können (siehe Abschnitt
2.3). Die Nutzung altersgerechter Assistenzsysteme wird häufig von außen an sie herangetragen (siehe Abschnitt 2.4). Vor dem Hintergrund
dass moderne Technologien im Alltag vieler älterer Menschen nicht vorkommen (siehe Abschnitt
2.5) wird auch das Expertenwissen des Beratenden oftmals als ‚Bedrohung’ empfunden. (siehe
Abschnitt 2.8). Ebenso kann es sein, dass von den
Angehörigen ‚Druck’ auf den älteren Menschen
ausgeübt wird, das Unterstützungsangebot anzunehmen (siehe Abschnitt 2.9).
Erforderliche Kompetenzen des Beratenden: Da
es vor allem darum geht, eine tragfähige Beratungsbeziehung herzustellen, sollte beim Beratenden grundsätzlich Interesse, Offenheit und
Akzeptanz vorhanden sein, um sich auf neue
54
5454
Der
Beratungsprozess
Inhaltsverzeichnis
9.4 Erkundungsphase
Ziele der Erkundungsphase sind eine umfassende
Analyse der Lebenswelt und der Schwierigkeiten
bei der Alltagsbewältigung sowie die Ermittlung
der subjektiven Haltungen und Präferenzen des
älteren Menschen und weiterer Beteiligter.
Inhaltlich geht es vor allem darum, eine umfassende Erkundung der Lebenswelt des älteren Menschen durchzuführen. Dazu werden zum einen die
tatsächlichen Lebensbedingungen in den Blick genommen, um ‚objektive’ Anforderungen und Ressourcen zu ermitteln. Um individuelle Widersprüche
und Hindernisse bei der Alltagsbewältigung zu identifizieren, ist es zum anderen notwendig die Deutungs- und Handlungsmuster des älteren Menschen
zu entschlüsseln. Konkret bedeutet das, seine Perspektive einzunehmen und die subjektiven Haltungen, Wertvorstellungen, Präferenzen und Befürchtungen zu verstehen, um Lösungsmöglichkeiten für
einen gelingenderen Alltag zu entwickeln. Ebenso
gilt es die Bedürfnisse, Ängste und Befürchtungen
der An- und Zugehörigen ernst zu nehmen und bei
der Erkundung der Lebenswelt des älteren Menschen zu berücksichtigen.
Zentrale Fragen: 1. Wie stellt sich die objektive
Lebenslage dar? 2. Wie beschreibt und deutet der
ältere Mensch seine Lebenswelt? 3. Welche objektiven und subjektiven Ressourcen sind vorhanden?
4. Welche Schwierigkeiten hat der ältere Mensch
bei der Alltagsbewältigung? 5. Welchen Unterstützungsbedarf formuliert der ältere Mensch? 6.
Welchen Unterstützungsbedarf benennen An- und
Zugehörige für den älteren Menschen? 7. Welche
Sorgen haben die An- und Zugehörigen bezogen
auf den älteren Menschen? 8. Welche Bedürfnisse,
Haltungen, Wertvorstellungen und Präferenzen
werden geäußert? 9. Welche Lösungsmöglichkeiten gibt es, um einen gelingenderen Alltag zu ermöglichen?
Die Herausforderungen bestehen vor allem in
der Schwierigkeit, die oftmals ‚eigensinnig’ erscheinenden Deutungs- und Handlungsmuster
der Beteiligten, oder anders ausgedrückt, deren
eigenen Sinn in der Art und Weise den Alltag zu
bewältigen, zu entschlüsseln (siehe Abschnitt
2.8). Dies erfordert gegebenenfalls viel Zeit, die
im Rahmen strukturierter Beratungssettings möglicherweise nicht immer vorhanden ist. Eine weitere Schwierigkeit besteht aufgrund der oftmals
unterschiedlichen ‚Sprache’ älterer Menschen und
des Beratenden (siehe Abschnitt 2.7), wodurch
die Erkundung der Lebenswelt sowie der Haltungen und Präferenzen des älteren Menschen (und
ggf. dessen An- und Zugehörigen) erschwert wird.
5555
55
Erforderliche Kompetenzen des Beratenden:
Da es vor allem um die umfassende Erkundung
der Lebenswelt des älteren Menschen geht, sollte beim Beratenden grundsätzlich die Bereitschaft
vorhanden sein, unterschiedliche Lebensentwürfe
zu respektieren. Der Beratende sollte in der Lage
sein, den biografischen und lebensweltlichen Kontext älterer Menschen zu verstehen und zu akzeptieren (Sozialkompetenz) sowie alle relevanten Beteiligten einzubeziehen und Ressourcen zu
ermitteln (Methodenkompetenz). Um die Bereitschaft beim älteren Mensch herzustellen, sich mit
seinem Lebensverständnis und seinen Problemen
darzustellen, ist es notwendig, dass der Beratende
in der Lage ist, eine vertrauensvolle Gesprächssituation aufzubauen (Sozialkompetenz). Dazu gehört, dass sich der Beratende in seiner Wortwahl
insbesondere auf die ‚Sprache’ älterer Menschen
einlässt, zuhört, wertschätzend nachfragt und
sich auf diese Weise als kompetent und vertrauenswürdig erweist (Kommunikationsfähigkeit). Da
die Beratung in dieser Phase auf unterschiedliche
Bedürfnisse und Interessen der Beteiligten treffen kann, ist es notwendig, dass der Beratende
familiale Konflikte aushalten kann (Konfliktfähigkeit) und sich seiner Rolle (professionelle Interessenvertretung des älteren Menschen) und seiner Kompetenzen in dieser Situation bewusst ist
(Selbstkompetenz).
Instrumente: 2 Analyse sozialer Aspekte zur Erkundung des Unterstützungsbedarfs älterer Menschen, 3 Ermittlung ethischer Haltungen und
Spannungsfelder
Einführung
Der Beratungsprozess
9.5 Informationsphase
Ziel der Informationsphase ist die Aufklärung des
älteren Menschen hinsichtlich der Unterstützungsmöglichkeiten altersgerechter Assistenzsysteme
und gegebenenfalls alternativer Lösungen.
Inhaltlich geht es vor allem darum, technische
Unterstützungsszenarien
vorzustellen.
Dazu
gleicht der Beratende die Informationen über den
älteren Menschen und dessen Präferenzen mit
dem Angebot altersgerechter Assistenzsysteme
ab und trifft eine Vorauswahl, welche Produkte
im Prinzip in Frage kommen. Diese stellt er dem
älteren Menschen vor. Voraussetzung für die Präsentation geeigneter Lösungen ist, dass der Beratende umfassende Kenntnisse über die aktuelle Marktlage besitzt und ihm die Funktionsweise
der Technologien bekannt ist. Er sollte außerdem
im Vorfeld prüfen, welche personenbezogenen
Daten gesammelt und gespeichert werden, um
dem älteren Menschen die Konsequenzen für seine Privat- und Intimsphäre deutlich machen zu
können. Das Instrument 8 Analyse des Umgangs
mit personenbezogenen Daten bietet hierzu Unterstützung. Erst mit der Vorstellung geeigneter
Produkte können sich die Haltungen des älteren
Menschen zu datenschutzrechtlichen Fragen konkretisieren. Diese sollten festgehalten und bei der
Produktauswahl berücksichtigt werden.
Zentrale Fragen: 1. Welche altersgerechten Assistenzsysteme kommen in Frage? (Produktauswahl) 2. Wie funktionieren sie? 3. Welche Daten
werden wie erhoben? 4. Welche Daten werden wo
gespeichert? 5. Wer hat Zugriff auf die Daten? 6.
Wer wird im Notfall informiert und aktiv? 7. Wie
sind die Haltungen des älteren Menschen zu datenschutzrechtlichen Fragen?
Gefühl hat, dass die eigene Uninformiertheit dazu
führt, dass der Beratende die Problemlage für ihn
definiert und ihm sagt, wie es gelöst werden soll
(siehe Abschnitt 2.8).
Erforderliche Kompetenzen des Beratenden:
Da es vor allem darum geht, dem älteren Menschen die in Frage kommenden altersgerechten Assistenzsysteme leicht verständlich vorzustellen, sollte der Beratende die Funktionsweise
der Produkte genau kennen und wissen, welche
Daten während der Anwendung der Technologie
für wen einsichtig werden (Fachkompetenz). Um
altersgerechte Assistenzsysteme zielgruppengerecht vermitteln zu können, ist es erforderlich,
dass sich der Beratende in seiner Wortwahl auf
die ‚Sprache’ der älteren Menschen einstellt (Kommunikationsfähigkeit). Der Beratende sollte die
Ängste und Befürchtungen ernst nehmen (Sozialkompetenz) und zugleich in der Lage sein, neue
Sichtweisen aufzuzeigen und gemeinsam mit dem
älteren Menschen neue Handlungsstrategien zu
entwickeln (Methodenkompetenz). Es ist außerdem notwendig, dass der Beratende die eigene
Tätigkeit mit Blick auf institutionelle Bedingungen
und Vorgaben – z. B. Unabhängigkeit gegenüber
Herstellern und Dienstleistern – kritisch reflektiert
(Selbstkompetenz).
Instrument: 4 Ermittlung datenschutzrechtlicher
Haltungen, 8 Analyse des Umgangs mit personenbezogenen Daten (Anwendung ist dem Beratungsprozess vorgelagert)
Die Herausforderungen bestehen vor allem
darin, dass viele ältere Menschen wenige Berührungspunkte mit modernen Technologien im Alltag haben (siehe Abschnitt 2.5). Dazu kommt,
dass die komplexen Anwendungsmöglichkeiten
für viele ältere Menschen schwer nachvollziehbar
sind. Insbesondere die umfassende Sammlung
sensibler personenbezogener Daten und der damit verbundene Eingriff in die Privat- und Intimsphäre, löst bei vielen älteren Menschen Ängste
und Widerstände aus (siehe Abschnitt 2.6). Eine
weitere Schwierigkeit kann die unterschiedliche
‚Sprache’ von älteren Menschen und Beratenden
sein, wenn es darum geht, die Funktionsweise
und Anwendung der Produkte angemessen zu
erklären (siehe Abschnitt 2.7). Auch kann das
Expertenwissen des Beratenden als ‚Bedrohung’
empfunden werden, wenn der ältere Mensch das
56
5656
Der
Beratungsprozess
Inhaltsverzeichnis
9.6 Reflexionsphase
Ziel der Reflexionsphase ist der konstruktive Umgang mit ethischen, sozialen und datenschutzrechtlichen Ambivalenzen und Spannungsfeldern.
Inhaltlich steht eine konstruktive Auseinandersetzung mit sozialen, ethischen und datenschutzrechtlichen Ambivalenzen und Spannungsfeldern
im Mittelpunkt. Der Beratende reagiert z. B. auf
die thematisierten Ängste und Befürchtungen hinsichtlich der Funktionalität der Technik, des Datenschutzes etc. Gemeinsam mit den Beteiligten
werden Lösungsmöglichkeiten und Handlungsstrategien entwickelt. Dabei müssen mögliche Ambivalenzen und Spannungsfelder (z. B. Sicherheit
vs. Kontrolle) aufgezeigt und verdeutlicht werden,
um im Anschluss Priorisierungen zu ermöglichen.
Der Beratende gibt keine Lösungen vor, sondern
ist ergebnisoffen eingestellt und fördert die Lösungsentwicklung. Das Abwägen der Vor- und
Nachteile erfolgt aus Sicht des älteren Menschen
bzw. der Beteiligten.
Zentrale Fragen: 1. Was ist das zentrale soziale
Problem? 2. Welche ethischen Dimensionen sind
betroffen bzw. kollidieren miteinander? 3. Worin
liegt der zentrale ethische Konflikt? 4. Was sind
zentrale datenschutzrechtliche Sorgen? 5. Welche
Werte, Positionen und Haltungen stehen hinter
den Konflikten? 6. Wie sind die Lösungen aus ethischer, sozialer und rechtlicher Sicht zu bewerten?
7. Welche alternativen Handlungsoptionen gibt
es? 8. Welche Lösungsmöglichkeiten der Konfliktsituation gibt es?
Die Herausforderungen bestehen vor allem
aufgrund unterschiedlicher Verständigungsmuster älterer Menschen und der Beratenden (siehe
Abschnitt 2.7), wodurch die Reflexion von Ambivalenzen und Spannungsfeldern auf der sprachlichen Ebene erschwert wird. Ebenso kann sich
die Entwicklung von Lösungsstrategien aufgrund
der Haltungen (siehe Abschnitt 2.7) und unausgesprochener Ängste und Befürchtungen älterer
Menschen schwierig gestalten (siehe Abschnitt
2.8). Eine weitere Schwierigkeit sind familiale
Interessenskonflikte (siehe Abschnitt 2.9), wenn
es darum geht Lösungsmöglichkeiten und Handlungsstrategien für den Umgang mit gegenseitigen
Erwartungen zu entwickeln. Auch die Ablehnung
vieler älterer Menschen gegenüber Veränderungen, insbesondere des häuslichen Umfelds (siehe
Abschnitt 2.10), kann die Reflexion über den Einsatz altersgerechter Assistenzsysteme erschweren.
5757
57
Erforderliche Kompetenzen des Beratenden: Um
konstruktiv den Umgang mit Ambivalenzen und
Spannungsfeldern zu bearbeiten, sollte der Beratende vor allem in der Lage sein auf alle Beteiligten anerkennend und wertschätzend zuzugehen
und zugleich zwischen den Beteiligten (mit ihren
ggf. gegenseitigen Erwartungen, unterschiedlichen Haltungen etc.) vermitteln zu können (Sozialkompetenz). Er sollte die Fähigkeit besitzen,
unter Verwendung geeigneter Methoden Lösungsvarianten mit allen Beteiligten zu erarbeiten (Methodenkompetenz). Aufgrund unterschiedlicher
Erwartungen der Beteiligten, Ambivalenzen und
Spannungeldern, ist es erforderlich, dass der Beratende widersprüchliche und konfliktbehafte Situationen aushalten (Konfliktfähigkeit) und moderieren kann (Methodenkompetenz). Zugleich sollte
er in der Lage sein, Sichtweisen und Optionen zu
entwerfen, welche die Beteiligten dazu ermutigen
bzw. aktivieren neue Lösungsmöglichkeiten und
Handlungsstrategien für einen gelingenderen Alltag zu entwickeln (Ganzheitliches Denken, Durchsetzungsfähigkeit).
Instrument: 5 Ermittlung und Reflektion von Ambivalenzen (Die Bearbeitung erfolgt auf Grundlage
der Instrumente 2-4)
Der Beratungsprozess
9.7 Entscheidungsphase
rallel zu der Schaffung geeigneter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen stattfindet, sollte der
Beratende den jeweils aktuellen Stand der fachlichen und gesellschaftlichen Diskussion kennen, z.
B. hinsichtlich rechtlicher Regelungen (Fachkompetenz). Der Beratende sollte in der Lage sein,
alle für die Entscheidung relevanten Beteiligten
einzubeziehen (Methodenkompetenz) und auf angemessene Weise auf eine Entscheidungsfindung
hinzuwirken (Durchsetzungsfähigkeit). Wenn noch
ungeklärte oder bereits bekannte Ängste und Befürchtungen der Beteiligten auftreten oder erneut
zum Thema werden, ist es erforderlich, dass der
Beratende flexibel auf sich verändernde Situationen und Fragestellungen reagiert (Flexibilität)
und konfliktbehaftete Situationen aushalten kann
(Konfliktfähigkeit). Ist aufgrund der getroffenen
Entscheidung die Beteiligung weiterer Akteure
notwendig (z. B. für den Umbau der Wohnung),
dann sollte der Beratende andere Dienstleister,
Informations- und Kooperationsnetzwerke etc.
kennen (Fachkompetenz, Ganzheitliches Denken)
und vermitteln können (Teamfähigkeit).
Ziele der Entscheidungsphase sind, gemeinsam
mit dem älteren Menschen eine Entscheidung zu
treffen und gegebenenfalls Folgemaßnahmen zu
planen und einzuleiten (z. B. Unterstützung bei
der konkreten Produktauswahl, Vermittlung weiterer Dienstleister etc.).
Inhaltlich geht es vor allem darum, auf der Basis
umfassender Aufklärung und Informiertheit sowie der persönlichen Präferenzen, eine selbstbestimmte Entscheidung des älteren Menschen herbeizuführen. Des Weiteren werden die gemeinsam
erarbeiteten Lösungsmöglichkeiten und die endgültige Entscheidung des älteren Menschen und
dessen An- und Zugehörigen festgehalten bzw.
dokumentiert. Der Beratende unterstützt gegebenenfalls bei der Klärung des weiteren Vorgehens,
z. B. der Einbindung weiterer professioneller
Dienstleister.
Zentrale Fragen: 1. Für welche Lösung hat sich
der ältere Mensch entschieden? 2. Wie wurden
ethische, soziale und rechtliche Bedenken in der
Entscheidungsfindung berücksichtigt? 3. Wie wurden die Interessen weiterer Beteiligter berücksichtigt? 4. Welche Chancen und Risiken birgt die
Entscheidung? 5. Welche alternativen Lösungen
gibt es? 6. Welche Abwägungen waren ausschlaggebend für die Entscheidung? 7. Gibt es weiteren
Handlungsbedarf zur Umsetzung der Entscheidung?
Instrument: 6 Entscheidungsfindung
Die Herausforderungen bestehen vor allem
aufgrund ungeklärter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen. Dies betrifft vor allem datenschutzrechtliche und finanzielle Fragestellungen, da z. B.
noch nicht abschließend geklärt ist, ob, und wenn
ja, welche altersgerechten Assistenzsysteme in
Zukunft im Rahmen der Kranken- und Pflegeversicherung oder anderer Finanzierungsmodelle (z.
B. Versicherungen) finanziert werden. (siehe Abschnitt 2.2). Eine weitere Schwierigkeit können
ungeklärte bzw. ungelöste gegenseitige Erwartungen und unterschiedlichen Bedürfnisse der Beteiligten sein, wenn es darum geht, eine endgültige
und nachhaltige Entscheidung zu treffen (siehe
Abschnitt 2.9). Es kann auch sein, dass eine bereits getroffene Entscheidung von dem älteren
Menschen wieder in Frage gestellt wird, wenn ihm
konkrete individuelle Anpassungsleistungen abverlangt werden oder sich die Umgestaltung des
häuslichen Umfelds konkretisiert (siehe Abschnitt
2.10).
Erforderliche Kompetenzen des Beratenden: Da
der Einsatz altersgerechter Assistenzsysteme pa-
58
Der Beratungsprozess
9.8 Evaluationsphase
Ziele der Evaluationsphase sind die Überprüfung
und Bewertung des Beratungsergebnisses und
der Zufriedenheit der Beteiligten sowie des Beratungsprozesses insgesamt.
Inhaltlich geht es sowohl um eine Überprüfung
und Bewertung der konkret durchgeführten Beratung (z. B. Beratungsstruktur, -inhalte und -ergebnis) als auch um eine nachhaltige Verbesserung
des Beratungsprozesses überhaupt (formative
Evaluationsmethode). Um das methodische Handeln und dessen Wirkungen zu überprüfen, wird
der Beratungsprozess auf Basis der dokumentierten Inhalte (Instrumente 1-6) mittels zuvor festgelegter Kriterien reflektiert und ausgewertet. Im
Rahmen der Selbstevaluation findet vor allem eine
Auseinandersetzung mit der Rolle des Beratenden
statt (z. B. Eigenmotivation, Gesprächsführung,
wertschätzende Grundhaltung etc.) und dient der
Optimierung der praktischen Arbeit.
Entscheidende Fragen: 1. Sind die ursprünglich
formulierten Ziele erreicht worden? 2. Wie zufrieden ist der ältere Mensch mit der getroffenen
Entscheidung? 3. Wie zufrieden sind die weiteren
Beteiligten mit der Entscheidung? 4. Wie ist der
Beratungsprozess im Sinne einer lebensweltorientierten Beratung zu beurteilen? 5. Wie wird die
eigene Rolle im Beratungsprozess bewertet? 6.
Gibt es weiteren Beobachtungs- und Handlungsbedarf?
Die Herausforderungen bestehen vor allem darin, dass sich die Situation des älteren Menschen
und die Probleme bei der Alltagsbewältigung nur
bedingt von Außenstehenden verstehen und erklären lassen. Da die Sichtweisen der Beteiligten
grundsätzlich als gleichwertig betrachtet werden
sollten, ist der Prozess der Entscheidungsfindung
sehr komplex und anspruchsvoll. Dementsprechend schwierig gestaltet sich die Evaluation des
Beratungsprozesses im Sinne einer eindeutigen
Bewertung der getroffenen Entscheidung bzw. der
objektiven Einschätzung einer erfolgreichen Beratung. Eine weitere Schwierigkeit besteht darin,
dass bei altersgerechten Assistenzsystemen eine
Evaluation sinnvollerweise erst nach einem längerem Zeitraum der Nutzung durchgeführt werden
sollte. Dies erfordert eigentlich eine kontinuierliche Begleitung des älteren Menschen im alltäglichen Umgang mit den vermittelten Technologien
(siehe Abschnitt 2.10). Eine angemessene Bearbeitung solcher komplexen und zeitintensiven
Aufgabenstellungen erfordert gute strukturelle
Rahmenbedingungen und ausreichende zeitliche
Ressourcen, die dem Beratenden häufig nur im
59
begrenzten Maße oder auch gar nicht zur Verfügung stehen.
Erforderliche Kompetenzen des Beratenden: Um
das methodische Handeln und dessen Wirkungen
angemessen und kriteriengeleitet überprüfen und
auswerten zu können, sollte der Beratende vor allem in der Lage sein, den Beratungsprozess auf
Basis theoretischer Grundlagen (lebensweltorientiert) zu planen und zu strukturieren (Fachkompetenz, Ganzheitliches Denken). Er sollte analytische
Fähigkeiten mitbringen, um komplexe Probleme
zu identifizieren und zu dokumentieren (Methodenkompetenz). Er sollte Verfahren zur Evaluation und Zielüberprüfung kennen (Fachkompetenz)
und durchführen können (Methodenkompetenz).
Er sollte außerdem in der Lage sein, eigene Kompetenzen und Grenzen, das eigene Verhalten,
Emotionen und Grundhaltungen retrospektiv zu
reflektieren (Selbstkompetenz).
Instrument: 7 Evaluation des Beratungsprozesses
Ausgewählte Literatur
Bohrer, A./Kuckeland, H./Oetting-Roß, C./Scherpe, M./Schneider, K. (2008): Beratung gestalten.
Brake
Bürgi, A./Eberhardt, H. (2006): Beratung als
strukturierter und kreativer Prozess. Göttingen
Krämer, M. (Hg.) (2005): Professionelle Beratung
zur Alltagsbewältigung. Ein Lehrbuch. Göttingen
Einführung
Instrumentenkoffer
10
Instrumentenkoffer
60
6060
Instrumentenkoffer
Inhaltsverzeichnis
Instrumentenkoffer
Inhalt
Instrumente zur Unterstützung des Beratungsprozesses
0 Leitfaden zur Entscheidungsfindung
62
1 Auftragsklärung
65
2 Analyse sozialer Aspekte zur Erkundung des
technologischen Unterstützungsbedarfs älterer Menschen
67
3 Ermittlung ethischer Haltungen und Spannungsfelder:
a Zwischen älterem Menschen & An- und Zugehörigen (Älterer Mensch im Fokus)
69
b An- und Zugehörige
70
c Zusammenfassung
71
4 Ermittlung von Haltungen zu datenschutzrechtlichen Fragen
73
5 Umgang mit Ambivalenzen
75
6 Entscheidungsfindung
77
7 Evaluation des Beratungsprozesses
79
Instrument zur Analyse des Umgangs mit personenbezogenen Daten
8 Analyse des Umgangs mit personenbezogenen Daten:
a Sensorik
81
b Entscheidungskompetenz
82
c Aktorik
83
6161
61
Einführung
Instrumentenkoffer
Verwendete Literatur
0 Leitfaden zur Entscheidungsfindung
0 Leitfaden zur Entscheidungsfindung
Beratungsphasen
Instrument
Erledigt
(Datum)
Auftragsklärung
1. Was ist der Anlass? (Motivation/Problem)
2. Was soll erreicht werden? (Erwartungen und Ziele)
3. Was leistet die Beratung? (Möglichkeiten und Grenzen)
1
4. Welche Akteure sind beteiligt?
Erkundungsphase
5. Welche Bedürfnisse, Haltungen und Präferenzen werden
geäußert?
6. Welche Ressourcen sind vorhanden? (Objektive und subjektive
Faktoren)
2, 3
7. Welche Befürchtungen gibt es?
8. Welcher Unterstützungs- und Handlungsbedarf ergibt sich?
Informationsphase
9. Welche altersgerechten Assistenzsysteme kommen im
Prinzip in Frage?
10. Wie funktioniert die Technologie?
www.
wegweiseralterund
technik.de
11. Welche personenbezogenen Daten werden erhoben,
gespeichert und weitergegeben?
12. Welche Produkte entsprechen den datenschutzrechtlichen
4, 8
Haltungen des älteren Menschen?
Reflexionsphase
Soziale Reflexion
13. Welche sozialen Aspekte sind betroffen?
14. Was ist das zentrale soziale Problem? (Was sind weitere
Probleme?)
2
3 62
6262
Instrumentenkoffer
Inhaltsverzeichnis
Verwendete Literatur
Ethische Reflexion
15. Welche ethischen Dimensionen sind betroffen bzw.
kollidieren miteinander? (Individuell und zwischen den
Akteuren)
16. Worin liegt der zentrale ethische Konflikt? (Was sind
3
Nebenkonflikte?)
Rechtliche Reflexion
17. Was sind zentrale datenschutzrechtliche Sorgen?
4
Umgang mit Konflikten
18. Welche Werte, Positionen und Haltungen stehen dahinter?
19. Wie sind die Lösungen aus ethischer, sozialer und rechtlicher
Sicht zu bewerten?
2, 3, 4
20. Welche alternativen Handlungsoptionen gibt es?
21. Welche Lösungsmöglichkeiten gibt es?
5
Entscheidungsphase
22. Für welche Lösung hat sich der ältere Mensch entschieden?
23. Welche Abwägungen waren ausschlaggebend im
Entscheidungsprozess?
6
Evaluationsphase
24. Wie zufrieden ist der ältere Mensch mit der getroffenen
Entscheidung?
25. Welche Aspekte der Beratung müssen reflektiert werden?
7
(Beratungsprozess insgesamt, Rolle des Beratenden)
26. Sollte die zukünftige Nutzung beobachtet werden?
27. Sind alle Aspekte des Beratungsprozesses berücksichtigt
worden?
6363
63
0
Instrumentenkoffer
Einführung
Zum Instrument 0 Leitfaden zur Entscheidungsfindung
Der Leitfaden dient der Strukturierung des Beratungsprozesses. Dabei werden für die jeweiligen
Beratungsphasen (Erläuterungen dazu siehe Kapitel 9) die wesentlichen Fragestellungen aufgeführt. Falls es weitere Instrumente für die Bearbeitung der Beratungsphase gibt, werden diese
in der Spalte Instrument aufgeführt. Wenn die
Fragestellungen einer Beratungsphase bearbeitet
sind, wird dies in der Spalte Erledigt (Datum) notiert. Der Ablauf der Beratung wird mit Hilfe des
Instruments idealtypisch dargestellt. Der tatsächliche Ablauf des Beratungsprozesses kann sich
in der konkreten Situation durchaus anders gestalten. Auch wenn die Beratungssituation einen
anderen Ablauf erforderlich macht, empfiehlt es
sich, darauf zu achten, dass alle Aspekte in den
geschilderten Phasen bearbeitet werden, um eine
selbstbestimmte Entscheidung des älteren Menschen hinsichtlich des Einsatzes altersgerechter
Assistenzsysteme zu ermöglichen.
Dieses Instrument dient darüber hinaus der Dokumentation des Beratungsprozesses und kann
außerdem für die Evaluation genutzt werden.
64
6464
Instrumentenkoffer
Inhaltsverzeichnis
Verwendete Literatur
1 Auftragsklärung
1 Auftragsklärung
Grundfragen der Auftragsklärung
1. Wer will was?
(Wer sind meine Auftraggeber?)
2. Von wem?
(Bin ich der richtige Ansprechpartner?)
3. Ab wann? Bis wann?
(Zeitlicher Umfang)
4. Was leistet die Beratung?
(Inhalt und Qualität)
5. Wozu?
(Was soll erreicht werden? Wenn es sich
um mehrere Auftraggeber handelt, sind sie
sich hinsichtlich des Auftrages einig?)
6 6565
65
Einführung
Instrumentenkoffer
Zum Instrument 1 Auftragsklärung
Das Instrument dient der Rahmung des Beratungsprozesses und zur Klärung der Möglichkeiten
und Grenzen der Beratung, z. B. hinsichtlich des
zeitlichen Umfangs.
Zunächst können die persönlichen Daten (Name,
Anschrift etc.) des älteren Menschen und weiterer
beteiligter Personen (z. B. An- und Zugehörige)
in der ersten Zeile des Instruments erfasst werden (Wer will was?). Dann wird der zuständige
Ansprechpartner eingetragen (Von wem?). Sofern
es möglich bzw. notwendig ist, kann in der dritten Spalte der zeitliche Umfang festgelegt werden
(Ab wann? Bis wann?). Danach erfolgt eine Beschreibung der Inhalte der Beratung (Was leistet
die Beratung?). Abschließend werden Wünsche,
Erwartungen und Ziele dokumentiert. (Wozu?)
Falls an dieser Stelle bereits deutlich wird, dass
unterschiedliche oder gar widersprüchliche Erwartungen bestehen, sollten diese ebenfalls aufgenommen werden.
Dieses Instrument dient außerdem der Dokumentation des Beratungsprozesses und kann für die
Evaluation genutzt werden.
66
6666
6767
67
Schulabschluss, Beruf,
nachberufliche Bildung,
Technikerfahrung etc.
Bildung
Körperliche Verfassung,
kognitiver Zustand
Gesundheitszustand
Angehörige, Freunde, Nachbarn,
Verein etc.
Soziale Beziehungen
& Aktivitäten:
Wohnung, Sozialraum,
Infrastruktur etc.
Wohnsituation
Einkommen, Vermögen,
Wohneigentum etc.
Ökonomische Lage
Älterer Mensch
Sie/Er hat…
Sie/Er will…
Sorgen macht ihr/ihm…
(Name, Anschrift, Alter, Geschlecht…)
Persönliche Daten
Sie/Er will…
Sorgen macht ihr/ihm…
(bezogen auf älteren Menschen)
An- und Zugehörige
Situations- bzw. Problembeschreibung in
Hinblick auf Unterstützungsbedarf
Sicht des Beratenden
Konkretisierung von Lösungs- und
Handlungsstrategien
Unterstützungsbedarf
2 Analyse sozialer Aspekte zur Erkundung des technologischen Unterstützungsbedarfs
2 Analyse
sozialer
Aspekte zur Erkundung des technologischen Unterstützungsbedarfs älterer Menschen
älterer
Menschen
Verwendete Literatur
8 Instrumentenkoffer
Inhaltsverzeichnis
Einführung
Instrumentenkoffer
Zum Instrument 2 Analyse sozialer Aspekte
zur Erkundung des Unterstützungsbedarfs
älterer Menschen
Das Instrument dient der Erkundung und Analyse
der Lebenswelt des älteren Menschen in Hinblick
auf technologische Unterstützung.
Zunächst können die persönlichen Daten (Name,
Anschrift etc.) des älteren Menschen in der ersten
Zeile des Instruments erfasst werden (Persönliche
Daten). Sofern diese Daten bereits bei der Auftragsklärung aufgenommen wurden, kann an dieser Stelle auch darauf verzichtet werden.
Im Folgenden sollen Sichtweisen und Haltungen
hinsichtlich der Lebenslagedimensionen (ökonomische Lage, Wohnsituation, soziale Beziehungen
etc.) aus der Perspektive des älteren Menschen
vor dem Hintergrund folgender Fragestellungen
ermittelt werden:
•W
ie schätzt der ältere Mensch seine Ressourcen
und Handlungsmöglichkeiten in der jeweiligen
Lebenslagedimension ein?
• Welche Ziele hat er, was möchte er erreichen
bzw. welchen Unterstützungsbedarf formuliert
er?
• Welche Ängste und Befürchtungen bestehen
bzw. welche Probleme gibt es aus Sicht des älteren Menschen in den verschiedenen Lebensbereichen?
Die Ergebnisse werden in der Spalte Älterer
Mensch festgehalten.
Anschließend können Einschätzungen aus der Perspektive weiterer beteiligter Akteure (z. B. Angehörige) in der Spalte An- und Zugehörige erfasst
werden:
•W
as wünschen sich die Angehörigen für den älteren Menschen, welchen Bedarf sehen sie?
•W
elche Probleme sehen die Angehörigen bezogen auf den älteren Menschen bzw. was macht
ihnen Sorge?
Danach erfolgt eine Einschätzung aus der Perspektive des Beratenden, die in der Spalte Sicht
des Beratenden eingetragen wird. Die Grundlage
hierfür bilden die Aussagen des älteren Menschen
und der Angehörigen.
Abschließend werden vor diesem Hintergrund der
Unterstützungsbedarf sowie mögliche Handlungsund Lösungsstrategien formuliert und in der Spalte Unterstützungsbedarf dokumentiert.
68
6868
Hilfe und Unterstützung bei der Alltagsbewältigung
Versorgung durch altersgerechte Assistenzsysteme, z. B. für schambesetzte Pflegesituationen (Waschen,
Unterstützung beim Toilettengang etc.)
In technologisch unterstützten Lebensbereichen soll der ältere Mensch selbstbestimmt entscheiden und agieren
können, z. B. keine Normierung durch Technologien.
Der ältere Mensch soll prinzipiell die Möglichkeit haben, altersgerechte Assistenzsysteme selbstständig abzustellen.
Schnelle und unkomplizierte Hilfe in einer Notfallsituation, z. B. nach einem Sturz (bspw. durch Hausnotrufsystem)
Schutz vor Ausfällen altersgerechter Assistenzsysteme, insbesondere bei lebensrettender Technologie
‐
‐
6969
69
Zugang zum gesellschaftlichen Leben, z. B. durch Förderung der Mobilität
Unterstützung sozialer Kontakte, z .B. durch Videotelefonie, ohne andere (persönliche) Kommunikationsformen
einzuschränken
Technologie soll nicht stigmatisieren, z. B. ‚Senioren‘-Handy
Kritische Reflexion von (positiven und negativen) Altersbildern; Technologie soll Vielfalt des Alter(n)s abbilden
‐
‐
Gerechtigkeit:
‐ Wunsch nach gleichberechtigtem Zugang zu altersgerechten Assistenzsystemen
‐ Wunsch nach finanzieller Entlastung, z. B. aufgrund unzureichender (privater) Finanzierungsmöglichkeiten
‐
Positives Selbstbild:
‐
Teilhabe:
‐
Schutz persönlicher (sensibler) Daten, z. B. bei einem Aktivitätsmonitoring (Welche Daten werden erhoben? Wer
hat Zugriff auf die Daten?)
Schutz der Intimsphäre, z. B. keine Kameras im Bad
‐
Privatheit:
‐
Sicherheit:
‐
Selbstbestimmung:
‐
‐
Fürsorge:
Bedürfnis nach …
gering
mittel
hoch
Älterer Mensch
gering
mittel
10 hoch
An- und Zugehörige
3a Ermittlung ethischer Haltungen und Spannungsfelder zwischen älterem Menschen &
3a Ermittlung ethischer Haltungen und Spannungsfelder zwischen älterem Menschen & An- und Zugehörigen (Älterer Mensch im Fokus)
An- und Zugehörigen (Älterer Mensch im Fokus)
Verwendete Literatur
Instrumentenkoffer
Inhaltsverzeichnis
Wunsch nach Entlastung, um wieder mehr Zeit für sich zu haben
Ein selbstbestimmtes Leben führen können, das sich nicht (immer) nach dem Unterstützungsbedarf einer
hilfebedürftigen Person richten muss.
Wunsch nach Versorgung der hilfebedürftigen Person, auch um sich selbst ‚abzusichern‘
70
7070
Wunsch nach mehr Privatleben (keine ‚soziale Kontrolle‘ durch hilfebedürftige Person)
Wunsch nach Teilhabe am gesellschaftlichen Leben durch mehr Entlastung bei der Pflege und Versorgung einer
hilfebedürftigen Person
Verantwortung für die Pflege und Versorgung Angehöriger übernehmen
Eine ‚gute Tochter‘, ein ‚guter Sohn‘ sein, die/der sich um die Versorgung und Unterstützung pflegebedürftiger
Angehöriger kümmert
Gerechtigkeit:
‐ Wunsch nach gleichberechtigtem Zugang altersgerechter Assistenzsysteme
‐ Wunsch nach finanzieller Entlastung bei unzureichenden Finanzierungsmöglichkeiten
‐
‐
Positives Selbstbild:
‐
Teilhabe:
‐
Privatheit:
‐
Sicherheit:
‐
‐
Selbstbestimmung:
Bedürfnis nach …
3b Ermittlung ethischer Haltungen und Spannungsfelder: An- und Zugehörige
gering
mittel
3b Ermittlung ethischer Haltungen und Spannungsfelder: An- und Zugehörige
Verwendete Literatur
hoch
11 Instrumentenkoffer
Einführung
Älterer Menschen &
An- und Zugehörige
Beschreibung von Problemen aufgrund
unterschiedlicher Haltungen
(z. B. Fürsorge vs. Selbstbestimmung)
Älterer Mensch
Beschreibung von Problemen aufgrund
ambivalenter Bedürfnisse
(z. B. Sicherheit vs. Privatheit)
Spannungsfelder …
An- und Zugehörige
Beschreibung von Problemen aufgrund
ambivalenter Bedürfnisse
3c Ermittlung ethischer Haltungen und Spannungsfelder: Zusammenfassung
12 Konkretisierung von Handlungsstrategien
Handlungsbedarf
3c Ermittlung ethischer Haltungen und Spannungsfelder: Zusammenfassung
Verwendete Literatur
Instrumentenkoffer
Inhaltsverzeichnis
7171
71
Einführung
Instrumentenkoffer
Zum Instrument 3 Ermittlung ethischer Haltungen und Spannungsfelder
Das Instrument dient der Ermittlung ethischer
Haltungen und Spannungsfelder sowie der Entwicklung von Handlungs- und Lösungsstrategien.
Dies erfolgt in drei Schritten:
1. Hier werden die Haltungen und Spannungsfelder
des älteren Menschen und der An- und Zugehörigen (bezogen auf den älteren Menschen) mit
Hilfe des Rasters 3a ermittelt. Zuerst wird festgehalten, in welchem Maß (gering, mittel, hoch) ein
Bedürfnis nach Fürsorge, Selbstbestimmung, Sicherheit etc. beim älteren Menschen besteht. Danach wird dokumentiert, in welchem Maß (gering,
mittel, hoch) Angehörige, Freunde, Bekannte etc.
ein Bedürfnis nach Teilhabe, Privatheit, Gerechtigkeit etc. für den älteren Menschen haben. Die
Kategorien ethischer Dimensionen werden kurz
beispielhaft erläutert. Das Instrument kann auch
zur Veranschaulichung der Ergebnisse für den älteren Menschen und die An- und Zugehörigen im
Beratungsprozess genutzt werden.
Erste Spannungsfelder, ambivalente und konfligierende Haltungen werden hier möglicherweise
schon deutlich:
Spannungsfeld älterer Mensch: Der ältere
‒
Mensch wünscht schnelle Hilfe im Notfall (hohes
Bedürfnis nach Sicherheit), möchte aber keine
Überwachung durch Sensoren (evtl. Kamera) in
seiner Wohnung (hohes Bedürfnis nach Privatheit)
zulassen.
‒ Spanungsfeld zwischen An- und Zugehörigen
und dem älteren Menschen: Die An- und Zugehörigen wünschen sich eine gute Versorgung des älteren Menschen (hohes Bedürfnis nach Fürsorge),
der selbst keine Unterstützung wünscht (hohes
Bedürfnis nach Selbstbestimmung).
en ethischer Dimensionen werden kurz beispielhaft erläutert. Diese Matrix kann ebenfalls zur
Veranschaulichung der Ergebnisse im Beratungsprozess genutzt werden.
Spannungsfelder können sich je nach Lebenssituation und ethischen Haltungen auf unterschiedliche Weise äußern:
Angehörige haben den dringenden Wunsch nach
Entlastung (hohes Bedürfnis nach Selbstbestimmung evtl. auch Teilhabe), möchten aber nicht als
verantwortungslos gelten, eine ‚schlechte Tochter‘
oder ein ‚schlechter Sohn‘ sein, die oder der sich
nicht um den älteren Mensch kümmert (hohes Bedürfnis nach positivem Selbstbild).
3. Das Raster 3c dient der Zusammenfassung der
Ergebnisse des Rasters 3a und – sofern eingesetzt
– des Rasters 3b. Hier werden vor dem Hintergrund ermittelter Spannungsfelder (siehe Schritt
1) mögliche Handlungs- und Lösungsstrategien in
der Spalte Handlungsbedarf konkretisiert. Dieses
Instrument dokumentiert den Prozess der ethischen Analyse und kann auch im Rahmen der Evaluation genutzt werden. Falls noch keine Lösungsstrategien für die aufgetretenen Spannungsfelder
der beteiligten Akteure entwickelt werden konnten, kann das Instrument als Grundlage für eine
kollegiale Fallberatung genutzt werden.
Unter Umständen kann es sinnvoll sein, ermittelte
Konflikte für die weitere Bearbeitung zu gewichten
(zentrale, nachrangige und nicht zu behandelnde
Konflikte). Es kann auch sein, dass bestimmte
Problemlagen in einem anderen Beratungssetting
bearbeitet werden müssen, z. B. wenn es um die
Feststellung einer Pflegestufe geht.
Das Instrument 3c dient nur der persönlichen Auswertung/ Dokumentation. Das gilt
insbesondere in schwer auflösbaren krisenhaften Situationen.
2. Hier werden die Haltungen und Spannungsfelder der An- und Zugehörigen selbst mit Hilfe
des Raster 3b ermittelt. Die Verwendung des Rasters ist nur dann notwendig, wenn im Beratungsprozess deutlich werden sollte, dass ein Konflikt
zwischen älterem Menschen und An- und Zugehörigen besteht. In diesem Fall kann es hilfreich
sein, die Haltungen und Bedürfnisse der An- und
Zugehörigen selbst zu analysieren. Die Vorgehensweise ist wie beim Raster 3a. Es wird dokumentiert, in welchem Maß (gering, mittel, hoch)
Angehörige, Freunde, Bekannte etc. ein eigenes
Bedürfnis nach einem Positiven Selbstbild, Selbstbestimmung, Sicherheit etc. haben. Die Kategori-
72
7272
Instrumentenkoffer
Inhaltsverzeichnis
Verwendete Literatur
4 Ermittlung von Haltungen zu datenschutzrechtlichen
Fragenvon Haltungen zu datenschutzrechtlichen Fragen
4 Ermittlung
Altersgerechte Assistenzsysteme:
gering
mittel
hoch
Wie wichtig sind dem älteren Menschen Informationen
über den Umgang mit seinen persönlichen Daten?
Wie wichtig ist es ihm, in die Datenerhebung eingreifen zu
können? (Korrigieren, Abschalten)
Wie groß ist die Sorge vor zweckfremdem Gebrauch der
eigenen Daten, z. B. durch:
‐ Weitergabe an Sozialversicherungsträger,
Forschungseinrichtungen und private Unternehmen,
‐ Profilbildung,
‐ Nutzung für Werbezwecke?
Besteht weiterer Klärungsbedarf bezüglich eines Produkts?
Welche Produkte kommen in Frage? Warum?
Anmerkungen (z. B. alternative Lösungen)
15 7373
73
Instrumentenkoffer
Einführung
Zum Instrument 4 Ermittlung von Haltungen
zu datenschutzrechtlichen Fragen
Das Instrument dient der Ermittlung von Haltungen des älteren Menschen zu datenschutzrechtlichen Fragen, um geeignete Produkte auswählen
zu können. Diese Haltungen konkretisieren sich in
der Regel erst nachdem der Beratende eine Vorauswahl an Produkten vorgestellt hat, weil viele
ältere Menschen hier erstmals mit den Möglichkeiten der jeweiligen Datenerhebung konfrontiert werden. Zuerst wird festgehalten wie wichtig
(gering, mittel oder hoch) dem älteren Menschen
Informationen über den Umgang mit seinen persönlichen Daten sind. Des Weiteren soll ermittelt
werden, wie wichtig ihm Eingriffsmöglichkeiten in
die Datenerhebung sind, z. B. durch temporäres
Abschalten. Schließlich soll die Sorge vor einem
zweckfremden Gebrauch der eigenen Daten, z.
B. zu Werbezwecken, festgehalten werden. Auf
Grundlage dieser Haltungen werden die vorgestellten Produkte beurteilt. Dabei kann sich bei
einzelnen Produkten Klärungsbedarf in Hinblick
auf Funktionsweise und Datenerhebung ergeben.
Außerdem soll dokumentiert werden, welche Produkte aus welchen Gründen in Frage kommen.
Weitere relevante Informationen und Anmerkungen, z. B. zu alternativen Lösungen, können ebenfalls vorgenommen werden.
Es ist zu berücksichtigen, dass die ermittelten Haltungen (Fragen 1-3) sich unter Umständen nicht
auf Datenschutzfragen im engeren Sinn beziehen.
Wenn z. B. gesagt wird, dass die Angehörigen
bestimmte Informationen der privaten Lebensführung nicht erfahren sollen, kann ein sozialer
Konflikt mit den Angehörigen die Ursache sein.
Eine Sorge vor Überwachung kann auch einen
Ambivalenzkonflikt ‚Sicherheit vs. Überwachung‘
andeuten, auf den z. B. mit Hilfe des Instruments
5 Umgang mit Ambivalenzen eingegangen werden
sollte.
74
Verwendete
Literatur
Instrumentenkoffer
ang mit Ambivalenzen
5 Umgang mit Ambivalenzen
Vorteile Nutzung:
Nachteile Nutzung:
Vorteile Nichtnutzung:
Nachteile Nichtnutzung:
Verwendete Literatur
l: Umgang mit Ambivalenzen
ersgerechtes Assistenzsystem: Aktivitätsmonitoring und Notruf
Beispiel: Umgang mit Ambivalenzen bei Aktivitätsmonitoring mit Notruf
Vorteile Nutzung:
Nachteile Nutzung:
„Im Notfall bekomme ich schnell und
einfach Hilfe.“
„So kann ja jeder sehen, was ich den
ganzen Tag mache. Nein, da fühle ich
mich kontrolliert…“
Vorteile Nichtnutzung:
Nachteile Nichtnutzung:
„Es fallen dann natürlich keine
Kosten an…“
„Ich bin schon mal gestürzt und lag
17
die ganze Nacht auf dem Fußboden.
Das war schrecklich…“
75
18
Instrumentenkoffer
Zum Instrument 5 Umgang mit Ambivalenzen
Das Instrument dient dem Umgang mit Ambivalenzkonflikten indem subjektiv empfundene
Vor- und Nachteile beim Einsatz altersgerechter
Assistenzsysteme priorisiert werden. Dabei wird
die Annahme zu Grunde gelegt, dass Menschen
nicht grundlos widerständig sind, sondern sich
ambivalent bezüglich einer Sache oder einer Situation fühlen. Die Ambivalenz ist ein normaler
Teil des menschlichen Erlebens und Verhaltens. Es
ist entscheidend, dass die Ambivalenz erkundet
und reflektiert wird, sofern der ältere Mensch dies
wünscht. Ein typischer Konflikt ist beispielsweise,
dass der ältere Mensch schnelle Hilfe im Notfall
wünscht (hohes Bedürfnis nach Sicherheit), zugleich aber keine Überwachung durch Sensoren
(evtl. Kamera) in seiner Wohnung zulassen möchte (hohes Bedürfnis nach Privatheit). Ein und
derselbe Sachverhalt beinhaltet für den älteren
Menschen Vor- und Nachteile, die gleichermaßen
relevant sind. Ältere Menschen, die sich in einem
solchen Konflikt befinden, erkennen häufig die alternativen Handlungsoptionen nicht. Somit ist das
Verstehen der Ambivalenz ein zentrales Ziel.
Die Benutzung des Instruments sieht vor, dass der
ältere Mensch die Vor- und Nachteile eines Aktivitätsmonitorings, das im Notfall einen Alarm auslöst, angibt. Außerdem wird er gebeten, die Vorund Nachteile der Nichtnutzung zu benennen. Das
Ergebnis dient zum einen der Visualisierung der
sich widersprechenden Erwartungen und Bedürfnisse. Durch die schriftliche Fixierung der jeweiligen Argumente ist es dem älteren Menschen zum
anderen möglich, diese zu betrachten, sie abzuwägen und ggf. einen Umgang mit der Ambivalenz
durch Priorisierungen seiner Aussagen zu finden
(siehe Beispiel): „Ist es wichtiger, schnelle Hilfe
im Notfall zu erhalten oder überwiegt die Angst
vor Kontrolle?“, „Lohnt es sich vielleicht doch, für
eine solche Technologie Geld auszugeben, wenn
ich dafür nach einem Sturz nicht noch einmal die
ganze Nacht auf dem Fußboden liegen muss?“
Durch die Verdeutlichung der Vor- und Nachteile der jeweiligen Handlungsalternativen lässt sich
dieser Konflikt mit Hilfe der 4-Felder-Matrix ggf.
auflösen.
76
Instrumentenkoffer
Verwendete Literatur
6 Entscheidungsfindung
6 Entscheidungsfindung
Datum:
1. Für welche Lösung hat sich
der ältere Mensch
entschieden?
2. Wie wurden ethische, soziale
und rechtliche Bedenken in
der Entscheidungsfindung
berücksichtigt?
3. Wie wurden die Interessen
weiterer Beteiligter
berücksichtigt?
4. Welche Chancen und Risiken
birgt die Entscheidung?
5. Welche alternativen
Lösungen gibt es?
6. Welche Abwägungen waren
ausschlaggebend für die
Entscheidung?
7. Gibt es weiteren
Handlungsbedarf zur
Umsetzung der
Entscheidung?
20 77
Instrumentenkoffer
Zum Instrument 6 Entscheidungsfindung
Das Instrument dient der Unterstützung des Entscheidungsprozesses und der Umsetzung der Entscheidung.
In der ersten Zeile kann das Datum der Entscheidung eintragen werden. Als erstes wird festgehalten, für welche Lösung sich der ältere Mensch
entschieden hat. Dann wird dokumentiert, welche
ethischen, sozialen und rechtlichen Bedenken,
Ambivalenzen und Konflikte auf dem Weg zu dieser Entscheidung bearbeitet wurden. Gerade im
Fall von Ambivalenzen und Konflikten kann davon ausgegangen werden, dass es sich bei der
getroffenen Entscheidung um einen Kompromiss
handelt, der Chancen und Risiken birgt. Daher
sollte für eine zukünftige Evaluation festgehalten
werden, welche alternativen Lösungsmöglichkeiten es gibt, und welche Überlegung für die getroffene Entscheidung den Ausschlag gegeben
hat. Abschließend kann dokumentiert werden,
welche Maßnahmen zur Umsetzung der Entscheidung erforderlich sind, z. B. die Kontaktaufnahme
mit Dienstleistern, die den Einbau der Technologie
übernehmen.
Dieses Instrument dient außerdem der Dokumentation des Beratungsprozesses und kann für die
Evaluation genutzt werden.
78
Instrumentenkoffer
Verwendete Literatur
7 Evaluation des Beratungsprozesses
7 Evaluation des Beratungsprozesses
Datum:
1. Sind die ursprünglich
formulierten Ziele erreicht
worden?
2. Wie zufrieden ist der ältere
Mensch mit der getroffenen
Entscheidung?
3. Wie zufrieden sind die weiteren
Beteiligten mit der
Entscheidung?
4. Wie ist der Beratungsprozess im
Sinne einer
lebensweltorientierten Beratung
zu beurteilen?
5. Wie wird die eigene Rolle im
Beratungsprozess bewertet?
6. Gibt es weiteren Beobachtungsund Handlungsbedarf?
22 79
Instrumentenkoffer
Zum Instrument 7 Evaluation des Beratungsprozesses
Das Instrument dient der Zielüberprüfung (Zufriedenheit der Auftraggeber) und der Evaluation des
gesamten Beratungsprozesses.
Als erstes wird geprüft, ob das in der Auftragsklärung vereinbarte Beratungsziel erreicht wurde. Im
Anschluss soll festgehalten werden, wie zufrieden
der ältere Mensch und ggf. die weiteren Beteiligten mit der Lösung sind.
In der Frage 4 wird der Beratungsprozess in Hinblick auf die Umsetzung der Prinzipien lebensweltorientierter Beratung überprüft. Danach werden
die Rolle des Beratenden bzw. dessen berufliche
und persönlichkeitsbedingte Fähigkeiten und dessen Wirkungen im Rahmen des Beratungsprozesses reflektiert.
Abschließend kann mit der Beantwortung der Frage 6 weiterer Beobachtungs- und Handlungsbedarf festgehalten werden, z. B. eine zukünftige
Überprüfung der Entscheidung nach einer vereinbarten Testphase.
80
Klärung technischer Fragen mit dem Hersteller
Sonstige:
Vitaldaten (Blutdruck, Blutzucker, Temperatur, …)
Kabel
Verhaltensdaten (Bewegung, Türöffnung, Nutzung von Geräten, Schrittzähler …)
Übertragungsweg
(zur Entscheidungskompetenz oder Aktorik)
Funk
Sensorik
Umgebungsdaten (Temperatur, Licht, Lautstärke, …)
Welche Daten werden erhoben?
Altersgerechtes Assistenzsystem:
√
8a Analyse des Umgangs mit personenbezogenen Daten: Sensorik
8a Analyse des Umgangs mit personenbezogenen Daten: Sensorik
√
24 Instrumentenkoffer
81
82
(Pflege-)Dienstleister
Externer IT-Dienstleister (des
Herstellers oder Dienstleisters)
II Aggregierte Daten (summierte Rohdaten, Abrechnungsdaten, …)
II Neu generierte Informationen (Person ist gestürzt, Gefahrensituation,
...)
III Selbstdefiniertes Personenprofil
(Normwerte zu Verhalten und Umgebung)
Klärung technischer Fragen mit dem Hersteller
Hersteller
I Vitaldaten (Blutdruck, Blutzucker, Temperatur, …)
Forschungseinrichtung
Sozialversicherungsträger
An-/Zugehörige
Der ältere Mensch selbst
Wer hat Zugriff auf die
Daten/Informationen?
I Verhaltensdaten (Bewegung, Türöffnung, Nutzung von Geräten, …)
√
Auf auswärtigem
Server
Was wird gespeichert?
I Umgebungsdaten (Temperatur, Licht, Lautstärke, …)
√
In der Wohnung
Wo befindet sich
die
Entscheidungsko
mpetenz?
Entscheidungskompetenz
8b Analyse des Umgangs mit personenbezogenen Daten: Entscheidungskompetenz
√
8b Analyse des Umgangs mit personenbezogenen Daten: Entscheidungskompetenz
Verwendete Literatur
25 Instrumentenkoffer
83
I Vitaldaten (Blutdruck, Blutzucker, Temperatur, …)
II Alarmsignal, interpretierte Informationen
(z.B. Betroffener ist gestürzt)
(Pflege-)Dienstleister
Externer IT-Dienstleister
(des Herstellers oder
Dienstleisters)
Klärung technischer Fragen mit dem Hersteller
I Verhaltensdaten (Bewegung, Türöffnung, Schrittzähler, …)
Hersteller
Welche Daten/Informationen werden übermittelt? (unter
Umständen ausschließlich von einer festgelegten Norm abweichende)
I Umgebungsdaten (Temperatur, Licht, Lautstärke, …)
√
An-/Zugehörige
Wer wird informiert?
Aktorik / Alarmauslösung
√
Wer wird aktiv?
(Pflege-)Dienstleister
Hersteller
An-/Zugehörige
Der ältere Mensch selbst
8c Analyse des Umgangs mit personenbezogenen Daten: Aktorik
8c Analyse des Umgangs mit personenbezogenen Daten: Aktorik
√
26 Instrumentenkoffer
Instrumentenkoffer
Zum Instrument 8 Analyse des Umgangs mit
personenbezogenen Daten
Das Instrument findet außerhalb des Beratungsprozesses Anwendung. Es soll dem Beratenden
helfen, alle wichtigen Momente im Umgang der jeweiligen Technologie mit personenbezogenen Daten herauszufinden, die dem älteren Menschen im
Beratungsprozess vermittelt werden sollten. Es ist
daher zu empfehlen, dass der Beratende das Instrument anwendet, sobald er ein Produkt in seinen
Beratungskatalog aufnehmen möchte. Das dabei
gewonnene Wissen über die Technologie kann im
Fall einer Beratung dem älteren Menschen in der
Informationsphase vermittelt werden. Sorgen und
Bedenken bezüglich des Umgangs mit personenbezogenen Daten sollen mit Hilfe des Instruments
4 Ermittlung datenschutzrechtlicher Haltungen
bearbeitet werden.
Eine ausführliche Erläuterung des Aufbaus sowie
der Fragen und Antwortmöglichkeiten des Instruments bietet der Abschnitt 7.3. Der Abschnitt
7.4 zeigt eine beispielhafte Anwendung des Instruments.
84
Verwendete
Literatur
Inhaltsverzeichnis
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[VDE DKE] Verband der Elektrotechnik/ Deutsche
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Bauer/ Weinhardt (Hg.), Perspektiven sozialpädagogischer Beratung. Weinheim, S. 47-63.
Impressum
Impressum
Der Beratungsleitfaden entstand im Rahmen
des – vom Bundesministerium für Bildung und
Forschung (BMBF) geförderten – Verbundprojekts MHH-QuAALi (Förderlinie „Entwicklung von
beruflichen und hochschulischen Weiterbildungsangeboten und Zusatzqualifikationen im Bereich
Altersgerechter Assistenzsysteme – QuAALi“).
Autoren
Sigrun Goll
Michel Nitschke
Mathias Witte
Unter Mitarbeit von
Prof. Dr. theol. habil. Arne Manzeschke
Prof Dr. Matthias Schnath
Prof. Dr. Annette Schröder
Gestaltung
Pries – Print- und Onlinewerbung
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Stand
November 2015
Der Beratungsleitfaden wird von der Hochschule
Hannover unentgeltlich zur Verfügung gestellt. Er
ist nicht zum gewerblichen Vertrieb bestimmt.
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