Beratungsleitfaden zu ELSI-Themen in der Beratung zu altersgerechten Assistenzsystemen gefördert vom Inhaltsverzeichnis 1Einleitung 3 Theoretische Grundlagen der Beratung 2 Herausforderungen der Beratung im Kontext altersgerechter Assistenzsysteme 4 3Das Konzept der Lebensweltorientierung 10 4Ethische Aspekte 15 5 24 Soziale Aspekte 6Datenschutzrechtliche Aspekte 29 7Technologie und Datenschutz 36 Praxis der Beratung 8 Lebensweltorientierte Beratung im Kontext altersgerechter Assistenzsysteme 44 9Der Beratungsprozess 51 10Instrumentenkoffer 60 11Verwendete Literatur 85 2 Einleitung 1 Einleitung Altersgerechte Assistenzsysteme können den Alltag älterer Menschen erleichtern und einen wichtigen Beitrag zur selbstbestimmten Lebensführung und zu gesellschaftlicher Teilhabe leisten. Die Gründe, warum viele solcher Technologien jedoch nicht in dem gewünschten Maße zur Anwendung kommen, sind vielfältig. Ein wesentlicher Grund wird zunehmend darin gesehen, dass Akzeptanz und Nutzung nicht nur eine Frage von Funktionalität und Bedienbarkeit ist. Vielmehr ist eine soziale Einbettung notwendig (vgl. Otto 2010:494), d. h. die Technologien müssen sich konsequenter an der jeweiligen Lebenswelt älterer Menschen ausrichten. Für die Beratungspraxis wird damit eine Reihe von Fragen aufgeworfen: „In welcher Lage befinden sich ältere Menschen, wenn altersgerechte Assistenzsysteme zur Unterstützung eingesetzt werden?“ „Warum ist eine bislang problemlose Bewältigung des Alltags problematisch geworden?“ „Wie stellt sich das Bedürfnis nach technologischer Unterstützung dar?“ „Wie kann der ältere Mensch in einer für ihn schwierigen Situation hinsichtlich altersgerechter Assistenzsysteme beraten werden?“ Um solche Fragen beantworten zu können und Beratende in der Praxis angemessen zu unterstützen, bedarf es eines wissenschaftlich fundierten Beratungsansatzes, der die Perspektive des älteren Menschen in den Fokus nimmt und zugleich fordert, dass auch gesellschaftliche Rahmenbedingungen kritisch analysiert und gestaltet werden müssen. Die verschiedenen Berufsgruppen, die in der Beratung tätig sind, können sich – je nach Wissensstand und Erfahrung – in dem ersten, wissenschaftlichen Teil über das Konzept der Lebensweltorientierung wie auch über ethische, soziale und datenschutzrechtliche Aspekte altersgerechter Assistenzsysteme kundig machen. Der praxisorientierte Teil des Beratungsleitfadens soll Anleitung bieten, einen Beratungsprozess im Sinne einer lebensweltorientierten Beratung zu konzipieren und strukturieren. Im Fokus steht dabei folgende handlungsleitende Fragestellung: „Welche altersgerechten Assistenzsysteme sind angesichts der Haltungen des älteren Menschen und der sich hieraus möglicherweise ergebenden Spannungsfelder für den Unterstützungsbedarf geeignet?“ Insgesamt sollen beide Teile des Beratungsleitfadens ein Rahmenkonzept bieten, mit dem die Lebenswelt des älteren Menschen erkundet werden kann, um mit ihm gemeinsam zu einer Entscheidung zu kommen, die zu einer verbesserten Lebensqualität führt. Zum Umgang mit dem Beratungsleitfaden Der vorliegende ELSI-Beratungsleitfaden soll Beratenden – nicht nur – in kommunalen Beratungsstellen nützliche Informationen bieten, wenn sie ältere Menschen bei einer Entscheidung über die Nutzung altersgerechter Assistenzsysteme unterstützen wollen. Um auf die individuellen Bedürfnisse und unterschiedlichen Lebensentwürfe in der Beratung angemessen reagieren zu können, ist eine generelle Offenheit und Kreativität erforderlich. Neue Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen und entwickeln zu können, erfordert seitens der Beratenden jedoch nicht nur Einfallsreichtum und die Bereitschaft, sich auf Unvorhergesehenes und Neues einzulassen. Eine lebensweltorientierte und zielgerichtete Beratungspraxis benötigt zugleich ein systematisches Vorgehen, damit individuelle Lösungsmöglichkeiten geplant und entwickelt werden können. Ausgegangen wird von den typischen Herausforderungen in der Beratung im Kontext altersgerechter Assistenzsysteme, die auf Grundlage der Analyse aktueller Fachliteratur und Befragungen der kommunalen Beratungsstellen „Besser leben im Alter durch Technik“ und der Senioren-Technik Botschafter ermittelt und herausgearbeitet wurden. Um diesen Herausforderungen begegnen zu können, wurde das Konzept der Lebensweltorientierung auf den Bereich altersgerechte Assistenzsysteme angewendet und eine praxisorientierte Anleitung entwickelt. Im Sinne dieser ‚strukturierten Offenheit‘ lebensweltorientierter Beratung wurde der Beratungsleitfaden als individuell nutzbare Handreichung für die alltäglichen Praxis konzipiert. Der Verlauf des Beratungsprozesses kann und sollte an die jeweiligen Bedingungen (zeitlich, räumlich etc.) vor Ort angepasst werden. Der Instrumentenkoffer sollte zur Unterstützung der konkreten Beratungssituation angesehen werden, der je nach individuellen Bedürfnissen und beruflichen Erfahrungen verwendet, überarbeitet oder als Anregung zur Entwicklung eigener Instrumente genutzt werden kann. 3 Herausforderungen der Beratung 2 Herausforderungen der Beratung im Kontext altersgerechter Assistenzsysteme Inhalt 2.1Einführung 5 2.2 Ungeklärte gesellschaftliche Rahmenbedingungen 6 2.3 Zunehmender Unterstützungsbedarf im Alter 6 2.4 Familiale Einflussnahme beim Beratungszugang 6 2.5 Unterstützungsangebot jenseits der Lebenswelt älterer Menschen 6 2.6 Komplexität und normierende Wirkung altersgerechter Assistenzsysteme 7 2.7 Haltungen und Verständigungsmuster älterer Menschen 7 2.8 Unausgesprochene Ängste und Befürchtungen älterer Menschen 7 2.9 Familiale Interessenskonflikte 8 2.10 Integration altersgerechter Assistenzsysteme in die Lebenswelt älterer Menschen 8 Ausgewählte Literatur 9 4 Herausforderungen der Beratung 2.1 Einführung Für die selbstständige Bewältigung des Alltags werden älteren Menschen zunehmend altersgerechte Assistenzsysteme (an)empfohlen. Wie gut sie damit zurechtkommen, hängt einerseits von objektiven Bedingungen und anderseits von den psychosozialen Voraussetzungen (Alter, Geschlechtszugehörigkeit, gesundheitlicher und kognitiver Verfassung, Bildungs- und Einkommenshintergrund sowie Werte- und Interessensmustern) ab. Hinsichtlich der Ressourcen, sich neue Technologien anzueignen und mit deren Hilfe den Alltag zu bewältigen, bestehen demzufolge große Unterschiede. So verfügen ältere Menschen z. B. häufig nicht über die finanziellen Mittel, um altersgerechte Assistenzsysteme und Dienstleistungen bezahlen zu können. Vor allem ältere Menschen, die aufgrund ihres biografischen Hintergrundes nur wenige Berührungspunkte mit modernen Technologien im Beruf oder im Alltag hatten, kann die Nutzung altersgerechter Assistenzsysteme schnell überfordern. Um altersgerechte Assistenzsysteme nutzen und bedienen zu können, benötigen sie technische Fertigkeiten und körperliche Fähigkeiten (Sehfähigkeit, Hörfähigkeit etc.), die nicht immer vorhanden sind. Des Weiteren bestehen im Kontext von Gesundheitsversorgung und Pflege Abhängigkeitsverhältnisse gegenüber Angehörigen, Ärzten etc., wodurch die Freiwilligkeit der Einwilligung hinsichtlich des Einsatzes altersgerechter Assistenzsysteme in der Praxis häufig nicht gewährleistet ist. Zudem kommen moderne Technologien in der Lebenswelt älterer Menschen kaum vor, wodurch die Integration in den Alltag erschwert wird. Mit solchen und weiteren Schwierigkeiten werden Beratende in ihrer beruflichen Praxis konfrontiert. Im Folgenden werden die wesentlichen Herausforderungen, die in allen Alterskohorten auftreten können, vorgestellt. 5 Herausforderungen der Beratung 2.2 U ngeklärte gesellschaftliche Rahmenbedingungen Wie auch in anderen innovativen Feldern findet bei altersgerechten Assistenzsystemen der Einsatz der Technologien parallel zu der Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen statt und eine qualifizierte Beratung steht damit vor besonderen Herausforderungen. Denn viele dieser gesellschaftlichen Rahmenbedingungen werden von den Experten zwar in umfassender Weise diskutiert, jedoch wird konstatiert, dass die Fragen sowohl auf der individuellen als auch auf der gesellschaftlichen Ebene bislang nicht ausreichend beantwortet wurden. Dies betrifft vor allem ethische, soziale, (datenschutz-)rechtliche und finanzielle Aspekte (vgl. BMBF 2013:2). Ungeklärte Fragestellungen in diesen Bereichen können bei älteren Menschen Befürchtungen und Widerstände auslösen und deren Akzeptanz gegenüber altersgerechten Assistenzsystemen und Dienstleistungen hemmen. Eine zentrale Hürde sind geringe Kenntnisse über Zuständigkeiten und Möglichkeiten hinsichtlich der Finanzierung altersgerechter Assistenzsysteme. Das gilt sowohl für ältere Menschen als auch für Angehörige und unterstützende Professionen (vgl. Karbach/ Driller 2011:67). Das liegt zum einen daran, dass bislang nur wenige altersgerechte Assistenzsysteme Marktreife erlangt haben und für die meisten älteren Menschen zu teuer sind (vgl. BMG 2013:119). Zum anderen bestehen auch Unsicherheiten bei den Beratenden, ob, und wenn ja wie und welche altersgerechten Assistenzsysteme in Zukunft im Rahmen der Kranken- und Pflegeversicherung oder anderer Finanzierungsmodelle (z. B. KfW-Kredit) finanziert werden. Sich über altersgerechte Assistenzsysteme eigenständig zu informieren und Beratungsangebote zu nutzen, ist vor dem Hintergrund solcher und weiterer noch ungeklärter Fragestellungen häufig nicht das Anliegen älterer Menschen. 2.3 Z unehmender Unterstützungsbedarf im Alter Eine weitere Herausforderung für die Beratung ist der zunehmend schlechtere Gesundheitszustand (siehe Abschnitt 5.5) und die damit einhergehenden Schwierigkeiten älterer Menschen, ihren Alltag zu bewältigen. Vor diesem Hintergrund Hilfe in Form von professioneller Beratung anzunehmen, bedeutet für viele ältere Menschen sich einzugestehen, dass sie den Alltag nicht mehr selbst- ständig bewältigen können. Damit eng verbunden ist die Vorstellung, auf die Hilfe Angehöriger und Dritter (Ärzte, Pflegekräfte etc.) angewiesen zu sein und das Leben nicht mehr selbstbestimmt und nach eigenen Gesichtspunkten gestalten zu können. Tatsächlich kann durch den zunehmend schlechteren Gesundheitszustand eine Abhängigkeit von individueller Zuwendung und/oder gesellschaftlicher Unterstützungsleistung entstehen. Wenn individuelle Fähigkeiten zur Bewältigung des Alltags aufgrund körperlicher und/oder geistiger Einschränkungen fehlen, sind diese Personen auf die Zuwendung und Fürsorge Dritter (Pflegekräfte, Ärzte, pflegende Angehörige etc.) angewiesen. Diese Abhängigkeit von der Hilfe anderer ist der Ausgangspunkt für eine asymmetrische Machtbeziehung zwischen Menschen mit Hilfebedarf und helfenden Personen (vgl. Kümpers/ Zander 2012:33), da die helfenden Personen entscheiden, ob, in welchem Umfang und unter welchen Bedingungen die notwendige Hilfe gegeben wird. Eine solche Abhängigkeitssituation kann dadurch verschärft werden, dass in weiteren Lebenslagedimensionen Schwierigkeiten bestehen, z. B. hinsichtlich der finanziellen Lage älterer Menschen (siehe Abschnitt 5.2). 2.4 F amiliale Einflussnahme beim Beratungszugang Eine wesentliche Hürde hinsichtlich des Zugangs zur Beratung kann darin bestehen, dass die Nutzung altersgerechter Assistenzsysteme nicht dem Wunsch älterer Menschen selbst entspricht, sondern von außen an sie herangetragen wird. Beratungsstellen werden in den meisten Fällen zuerst von Angehörigen – oftmals von den erwachsenen Kindern – aufgesucht, die die Annahme von Unterstützungsangeboten als Wunsch oder gar als Forderung an die älteren Menschen herantragen (vgl. Zwicker-Pelzer 2014:47).1 Die älteren Menschen selbst reagieren hierauf nicht selten mit Skepsis oder sogar mit Widerstand (vgl. ZwickerPelzer 2014:60). 2.5 U nterstützungsangebot jenseits der Lebenswelt älterer Menschen Altersgerechte Assistenzsysteme kommen in der Lebenswelt älterer Menschen und ihrem sozialem Umfeld kaum vor. Insbesondere dann, wenn ältere Menschen aufgrund ihres biografischen Hintergrundes nur wenige Berührungspunkte mit modernen Technologien im Beruf oder im Alltag 6 Herausforderungen der Beratung 2.7 H altungen und Verständigungsmuster älterer Menschen hatten, erschließt sich ihnen der Sinn und Nutzen altersgerechter Assistenzsysteme nicht. Dass altersgerechte Assistenzsysteme von älteren Menschen oftmals zurückgewiesen werden, liegt häufig auch daran, dass ihnen diese Form der Hilfe vor dem Hintergrund ihrer Lebenswelt weitgehend unbekannt ist und sie nicht selten diffuse, angstauslösende Vorstellungen davon haben (vgl. Mollenkopf/ Hampel 1994:91). Spezifische Haltungen und Verständigungsmuster älterer Menschen können die Beratung erschweren. Viele ältere Menschen haben im Laufe ihres Lebens gelernt, bescheiden zu sein und mit wenig Mitteln den Alltag zu bewältigen. Daraus folgt nicht selten das Selbstverständnis „möglichst anspruchslos zu sein.“ (Zwicker-Pelzer 2014:47) Aus diesem Grund werden auch altersgerechte Assistenzsysteme abgelehnt: „Selbstverständnis der älteren Menschen ist häufig: Technik hab ich die letzten 50 Jahre nicht gebraucht.“2 2.6 K omplexität und normierende Wirkung altersgerechter Assistenzsysteme Eine zentrale Herausforderung für die Beratung besteht in der Beschaffenheit altersgerechter Assistenzsysteme selbst: Oft einseitig technikgetrieben (vgl. Otto 2010:492) werden die teils sehr komplexen altersgerechten Assistenzsysteme von älteren Menschen häufig nicht verstanden. Wenn sie ein Leben lang keine Erfahrung mit modernen Technologien gesammelt haben, fehlen ihnen auch die entsprechenden technischen Kompetenzen, die für einen souveränen und selbstbestimmten Umgang mit altersgerechten Assistenzsystemen notwendig sind. Die ‚wachsende Wissenskluft’ (vgl. Trkulja 2010:63) hat zur Folge, dass die Funktionsweise altersgerechter Assistenzsysteme und deren Auswirkungen von älteren Menschen nicht mehr verstanden werden (vgl. Manzeschke et al. 2013:9) und die Technologien nicht bedient werden können. Eine zukünftig – möglicherweise einseitig markt-getriebene (vgl. Otto 2010:492) –, rasante Weiterentwicklung und ein infolgedessen unerprobter Einsatz der Technologien, könnten diesen Effekt noch verstärken. Die Vorwegnahme von Unterstützungsmöglichkeiten im Rahmen einer Beratung bedeutet für viele ältere Menschen sich mit der eigenen Hilflosigkeit auseinanderzusetzen (vgl. Böhnisch 2012:270). Somit ruft die Auseinandersetzung mit Zukunftsszenarien nicht selten Widerstände hervor (vgl. Zwicker-Pelzer 2014:60). Oftmals sind ältere Menschen aus diesem Grund auch nicht bereit, sich auf Veränderungen in ihrem Alltag einzulassen (vgl. Zwicker-Pelzer 2014:61). Eine weitere Schwierigkeit können unterschiedliche Lebenswelten und Verständigungsmuster von älteren Menschen und oftmals jüngeren Beratenden sein (vgl. Müller 2014:42). So haben ältere Menschen möglicherweise ihre eigene lebenslage- und milieuspezifische Sprache, um über ihre Probleme zu reden (vgl. Thiersch 2014:312). Insbesondere technikferne ältere Menschen haben zudem Schwierigkeiten, ihre Bedürfnisse hinsichtlich technologischer Unterstützung zu artikulieren (vgl. Müller 2014:39). Daher ist es nicht immer einfach, eine gemeinsame, alltagsnahe und verständliche Sprache zu finden. Außerdem betrachten ältere Menschen das Beratungsangebot gegebenenfalls auch als eine gute Gelegenheit für ein Gespräch (vgl. Zwicker-Pelzer 2014:61), wodurch wiederum eine strukturierte und zielführende Beratung erschwert wird. Das kann zu einer weiteren Abhängigkeit von den Technologien, den Angehörigen und/oder den Dienstleistern und Experten führen (siehe Abschnitt 5.8). Zudem beruhen altersgerechte Assistenzsysteme auf der Idee möglichst unsichtbar Dienstleistungen zu erbringen (vgl. Manzeschke et al. 2013:17). Dabei sammeln und verarbeiten sie nicht selten sensible personenbezogene Daten und dringen damit in die Privat- und Intimsphäre älterer Menschen ein. Der ursprünglich gut gemeinte Einsatz altersgerechter Assistenzsysteme kann normierende Wirkung entfalten und in Kontrolle der Lebensweise umschlagen (siehe Abschnitt 5.8). Solche Szenarien können oftmals Widerstände älterer Menschen auslösen. 2.8 U nausgesprochene Ängste und Befürchtungen älterer Menschen Mollenkopf und Hampel konstatieren, dass altersgerechte Assistenzsysteme „oft mit vorgeschobenen Argumenten“ (Mollenkopf/ Hampel 2 Quelle: Datensatz Herausforderungen der Beratung im Kontext altersgerechter Assistenzsysteme, Hochschule Hannover. 7 Herausforderungen der Beratung 1994:91) zurückgewiesen werden. Doch hinter den manchmal eigenwillig erscheinenden Entscheidungen älterer Menschen, sich auf Veränderungen in ihrem Alltag nicht einzulassen (vgl. Zwicker-Pelzer 2014:61), stecken nicht selten konkrete Ängste und Sorgen. Das folgende anschauliche Beispiel verdeutlicht diese Problematik: „Klientin bekam Tablet zur Kommunikation mit Kindern. Klientin wollte es nicht und ist auch nicht damit zurechtgekommen. Immer wieder kam es zu ‚technischen Defekten’ am Tablet. Erst nach Thematisierung der Situation kam heraus, dass sie Angst vor Isolation (Kinder kommen dann überhaupt nicht mehr) hatte. Nach Aussprache und Absprache von Besuchen kam das Tablet zum Einsatz, zur Freude aller (...)“.3 Bekannt ist beispielweise auch die Ablehnung notwendiger Unterstützungsangebote, wie Gehhilfen, Treppenlifter etc. aufgrund der Angst vor Stigmatisierung bzw. der Gefährdung des positiven Selbstbilds älterer Menschen (vgl. Mollenkopf/ Hampel 1994:94f). Des Weiteren scheuen ältere Menschen die ‚strukturell innewohnende Asymmetrie’ einer professionellen Beratung. Das heißt, es wird von einer Hierarchie der unterschiedlichen Kompetenzen ausgegangen. Der Beratende hat aufgrund seines Expertenwissens höherwertige Fähigkeiten und Kenntnisse über altersgerechte Assistenzsysteme als der auf Informationen angewiesene, ratsuchende ältere Mensch. Insofern besteht die Befürchtung, dass die eigene Hilfebedürftigkeit dazu führt, dass der Beratende die Problemlage für den älteren Menschen definiert und ihm sagt, wie sie gelöst werden soll. 2.9 Familiale Interessenskonflikte Einflüsse aus dem persönlichen Beziehungsnetzwerk können erhebliche Auswirkungen auf den gesamten Beratungsprozess haben (vgl. Weinhold et al. 2014:287). Soziale Einflüsse wirken häufig förderlich und unterstützend auf die Beratung, sie können den Beratungsprozess aber auch erschweren und behindern. Oftmals versprechen sich die Angehörigen vom Einsatz altersgerechter Assistenzsysteme eine Entlastung von überfordernden Pflege- und Versorgungstätigkeiten und erhoffen sich mehr Sicherheit für ihre pflege- und hilfebedürftigen Eltern und Großeltern. Ältere Menschen lehnen diese Art der Unterstützung jedoch aus verschiedenen Gründen häufig ab. Bleibt die erwünschte Reaktion der älteren Menschen aus, können negative Reaktionen der Angehörigen die Folge sein (vgl. Weinhold et al. 2014:288). Wenn altersgerechte Assistenzsysteme nur von Angehörigen als ‚gute’ Lösung angesehen werden, geraten die älteren Menschen unter einen gewissen ‚Legitimationsdruck’: Sie müssen sich und ihre ablehnende Haltung erklären, werden in ihren Begründungen ggf. nicht ernst genommen oder vielleicht sogar für starrsinnig gehalten. Dies ruft bei älteren Menschen oftmals Ängste vor Abhängigkeit, Kontrolle und Entmündigung durch Angehörige hervor. 2.10 I ntegration altersgerechter Assistenzsysteme in die Lebenswelt älterer Menschen Damit altersgerechte Assistenzsysteme von älteren Menschen positiv aufgenommen werden, müssen sie nicht nur einfach zu bedienen sein, sondern vor allem auch einen konkreten Nutzen hinsichtlich der Bewältigung des Alltags aus Sicht des älteren Menschen leisten (vgl. Meyer 2011:122). Daher reicht es nicht aus, altersgerechte Assistenzsysteme lediglich zur Verfügung zu stellen. Gerade ältere Menschen, die in ihrem Leben wenige Berührungspunkte mit neuen Technologien gehabt haben, benötigen eine längere Eingewöhnungszeit, um den Umgang zu erlernen (vgl. Mollenkopf/ Hampel 1994:93). Dies erfordert nicht nur fachmännische Anleitung, sondern auch unterstützendes Training und Nachbetreuung. Diese Aufgaben werden häufig von Angehörigen oder anderen Bezugspersonen übernommen (vgl. Otto 2010:494). Eine Schwierigkeit könnte dabei sein, dass Angehörige und unterstützende Dienstleister den Umgang mit altersgerechten Assistenzsystemen zunächst einmal selbst erlernen müssen (vgl. Karbach/ Driller 2011:63). Die erhoffte Entlastung könnte dadurch in eine Überforderung für Angehörige und Dienstleister umschlagen und die Versorgungssituation belasten. Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass ältere Menschen sich wohler fühlen, wenn keine Veränderungen in ihrem häuslichen Umfeld vorgenommen werden (vgl. Meyer 2011:111). Ein häufig bemühtes Beispiel ist das Entfernen von Teppichläufern in der Wohnung von sturzgefährdeten Personen (vgl. Müller 2014:21). Lebenslang gewohnte Bewältigungsstrategien werden nicht so schnell aufgegeben. Auf eine Umstellung bewährter Handlungsmuster hinzuwirken erfordert Einfüh- 3 Quelle: Datensatz Herausforderungen der Beratung im Kontext altersgerechter Assistenzsysteme, Hochschule Hannover. 8 Herausforderungen der Beratung lungsvermögen, Behutsamkeit und gegebenenfalls viel Zeit, die im Rahmen strukturierter Beratungsprozesse nicht immer vorhanden ist (vgl. ZwickerPelzer 2014:47). Ausgewählte Literatur Mollenkopf, H. (2011): Technische Unterstützungssysteme für alte Menschen: Empowerment oder Isolation? In: Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit, 42. Jg. (3). Berlin, S. 29-39. Müller, C. (2014): Praxisbasiertes Technologiedesign für die alternde Gesellschaft. Zwischen gesellschaftlichen Leitbildern und ihrer Operationalisierung im Design. Lohmar Otto, U. (2010): Altern und lebensweltorientierte Soziale Arbeit – aktuelle Herausforderungen. In: Knapp/Spitzer (Hg.), Altern, Gesellschaft und Soziale Arbeit. Klagenfurt 9 Konzept Lebensweltorientierung Einführung 3 Das Konzept der Lebensweltorientierung Das Konzept der Lebensweltorientierung Inhalt 3.1.Einführung 11 3.2 Lebenswelt 12 3.3 Lebenslagen 12 3.4 Krisen des Alltags 12 3.5 Auflösen von Krisen: Lebenswelt berücksichtigen, Eigensinn anerkennen und Problemlösungen aushandeln 13 3.6 Expertenherrschaft: Hilfe als Eingriff in die Lebenswelt 13 Ausgewählte Literatur 14 10 10 Inhaltsverzeichnis Konzept Lebensweltorientierung 3.1 Einführung Lebensweltorientierung ist im Bereich der Sozialarbeitswissenschaft ein etablierter Ansatz, dessen Ziel es ist, einen ‚gelingenderen Alltag’ zu ermöglichen (vgl. Grunwald/ Thiersch 2014:4). Dabei geht Lebensweltorientierung davon aus, dass der hilfebedürftigen Person bei der Bewältigung ihres Alltags einerseits immer wieder Anstrengungen abverlangt werden, sie aber andererseits auch über individuelle, erworbene Deutungs- und Handlungsmuster verfügt, die es ihr ermöglicht, die Bewältigungsaufgabe zu lösen. Wenn ein gelingenderer Alltag erreicht werden soll, ist es für den Professionellen (hier: Beratenden) wichtig, die Perspektive der hilfebedürftigen Person einzunehmen und deren Umgang mit den alltäglichen Anforderungen zu verstehen. Dieser Perspektivwechsel, die ‚Hinwendung zum Adressaten’ ist ein wesentliches Merkmal der Lebensweltorientierung, weil es die entscheidende Voraussetzung für das Erreichen des angestrebten Ziels darstellt. der Umgang mit den älteren Menschen gestalten?“, „Wie soll den verschiedenen Herausforderungen begegnet werden?“, „Welche Methoden sollen eingesetzt werden?“ und „Wie soll mit Konflikten umgegangen werden?“ Wissenschaftlich fundierte Konzepte wie die Lebensweltorientierung bieten Unterstützung bei der Beantwortung dieser Fragen, weil sie (übergeordnete) Ziele formulieren, Erklärungs- und Verstehensansätze bieten, Orientierung hinsichtlich methodischer Vorgehensweisen geben sowie Handlungsmaximen und Lösungsansätze formulieren. Im Folgenden werden wesentliche Grundlagen der Lebensweltorientierung vorgestellt und zentrale Begriffe erläutert. Auf Basis des Verstehens können Widersprüche und Hindernisse bei der Alltagsbewältigung identifiziert werden, die einem gelingenderen Alltag im Wege stehen. Gemeinsam mit der hilfebedürftigen Person können dann neue Handlungs- bzw. Lösungsmöglichkeiten entwickelt werden. Dabei nimmt die Lebensweltorientierung gleichzeitig die ‚objektive’ Seite in den Blick, weil mit den tatsächlichen Lebensbedingungen auch die Anforderungen des Alltags definiert werden. Diese Lebensbedingungen können gekennzeichnet sein durch soziale Ungerechtigkeit, mangelnde Selbstbestimmung oder durch Einschränkungen bei der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Das theoretische Konzept der Lebensweltorientierung hat insofern sowohl einen ‚normativen’ als auch einen ‚deskriptiven’ Charakter (vgl. Dörr/ Füssenhäuser 2015:9). Normativ, weil es die Anerkennung der prinzipiellen Gleichheit der Menschen und eine sozial gerechte Gestaltung der Lebensverhältnisse fordert. Deskriptiv, weil es Verstehensansätze für die subjektiven Umgangsweisen bietet und die Unterschiedlichkeit der Menschen bei der Bewältigung des Alltags respektiert (vgl. Grunwald/ Thiersch 2014:9). Bei einer Beratung, die anerkennt, dass mit altersgerechten Assistenzsystemen Probleme im Alltagsleben älterer Menschen angegangen werden sollen, stehen folgende Fragestellungen im Vordergrund: „Was ist das Ziel?“, „Wie soll sich 11 11 Konzept Lebensweltorientierung Einführung 3.2 Lebenswelt 3.3 Lebenslagen Die ‚Lebenswelt’ ist jener Teil der (subjektiven) Wirklichkeit, in der jeder Mensch lebt, in der er sich ganz selbstverständlich und tagtäglich bewegt, denkt, handelt und mit anderen Menschen kommuniziert. Auf der Grundlage von Erfahrungen mit alltäglichen Anforderungen bilden sich Deutungs- und Handlungsmuster aus, die einen pragmatischen Umgang mit wiederkehrenden Alltagssituationen ermöglichen. Diese Deutungsund Handlungsmuster sind einerseits von einer generellen Offenheit geprägt. Das heißt, sie sind prinzipiell anpassungsfähig, da in ihnen die Möglichkeiten zur Interpretation, Reflexion und Übertragung auf neue Handlungsprobleme angelegt sind. Im Normalfall verfügt der Mensch damit über einen ausreichenden Wissensvorrat an Sichtweisen und Handlungsoptionen, mit denen sich verändernde Anforderungen des Alltags bewältigen lassen. Deutungs- und Handlungsmuster können sich andererseits im Alltag zu Routinen und Ritualen verfestigen, die nicht mehr reflektiert werden. Diese wiederum erlauben es, die vielfältigen Anforderungen des Alltags „ohne immer neue Überlegungen und Klärungen zu bewältigen“ (Thiersch 2006:24). Gleichzeitig nimmt Lebensweltorientierung immer auch die objektiven Lebensbedingungen in den Blick. Kraus spricht in diesem Kontext nicht von Lebensbedingungen sondern von Lebenslagen eines Menschen, zu der „sowohl materielle, als auch immaterielle Gegebenheiten“ (Kraus 2006:7) gehören. Konkret sind dies Einkommens- und Vermögensverhältnisse, der Gesundheitszustand, die Wohnverhältnisse, die sozialen Beziehungen bzw. Netzwerke und der Bildungshintergrund (vgl. Kleiner 2012:26ff und Stiehr et al. 2010). Dabei ist die jeweilige Lebenslage eines Menschen von gesellschaftlichen Bedingungen und Ressourcen geprägt. Insofern sind Routinen und Rituale eine Entlastung bei der Bewältigung des Alltags, die angesichts zunehmender Unübersichtlichkeiten moderner Gesellschaften (vgl. Thiersch 2014:311) auch immer dringender benötigt werden. Verfestigte, unreflektierte Routinen und Rituale erweisen sich zugleich aber als unflexibel gegenüber Veränderungen und es besteht die Gefahr, dass neue Anforderungen des Alltags nicht bewältigt werden können. Deutungs- und Handlungsmuster wie auch Routinen und Rituale im Umgang mit alltäglichen Anforderungen sind immer abhängig vom persönlichen Erfahrungshorizont sowie der individuellen körperlichen wie geistigen Ausstattung eines Menschen (vgl. Kraus 2006:6). Sie sind zugleich sozial bedingt, d. h. sie beruhen neben den subjektiven Faktoren auch auf gesellschaftlichen Traditionen, Kultur, Werten und Normen. Da sich die Lebenswelt vor dem Hintergrund subjektiv-biografischer Erfahrungen und individueller physischer und psychischer Ausstattung bildet, kann davon ausgegangen werden, dass keine Lebenswelt in ihrer konkreten Ausformung der anderen gleicht, selbst wenn sie vor dem Hintergrund gleicher Lebensbedingungen entstehen. Die Orientierung an der Lebenswelt beinhaltet demnach auch immer die Erkundung und Berücksichtigung der subjektiven Wahrnehmung der Lebensbedingungen. Sowohl in der Fachdiskussion als auch in der Praxis werden die Begriffe Lebenswelt und Lebenslage nicht selten synonym verwendet bzw. falsch aufgefasst (vgl. Kraus 2006:9). Das hat zur Folge, dass die subjektive Perspektive der Lebenswelt vernachlässigt wird und stattdessen ausschließlich objektive Rahmenbedingungen in den Blick genommen werden (vgl. Bestmann 2013:28). Tatsächlich unterscheiden sich Lebenswelt und Lebenslage voneinander und wirken zugleich wechselseitig aufeinander ein (vgl. Bestmann 2013:28). Der Mensch handelt innerhalb seiner Lebenswelt, wirkt damit auf seine unmittelbare Umwelt – auf die Gesellschaft – ein und modifiziert diese. Zugleich begrenzen gesellschaftliche Rahmenbedingungen die Handlungsmöglichkeiten eines Menschen und prägen seine Lebenswelt. Die Lebenswelt kann somit kurz zusammengefasst auch als „Schnittstelle des Objektiven der Verhältnisse zum Subjektiven der konkreten Bewältigungsmuster“ (Thiersch 2014:315) oder als „Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft“ (Oelschlägel 2001:40) verstanden werden. 3.4 Krisen des Alltags Eine Krise entsteht, wenn neue Alltagsanforderungen aufgrund fehlender Ressourcen nicht mehr bewältigt werden können. Die prinzipielle Übertragung bewährter Deutungs- und Handlungsmuster auf neue Handlungsprobleme funktioniert in diesem Fall nicht (mehr). Entweder weil individuelle Kompetenzen und Ressourcen fehlen, z. B. wenn geistige und körperliche Fähigkeiten eingeschränkt oder nicht vorhanden sind, wenn soziale Beziehungen bzw. Netzwerke sich auflösen oder bestimmte Erfahrungen aufgrund des spezifischen Lebenslaufs nicht gemacht und notwendige Kom- 12 12 Inhaltsverzeichnis Konzept Lebensweltorientierung petenzen nicht erlernt wurden. Oder weil gesellschaftliche, rechtliche und politische Strukturen das Individuum überfordern, z. B. in Situationen der Armut, der Wohnungslosigkeit, der Arbeitslosigkeit, des Alleinerziehens oder aufgrund des Migrations- und Flüchtlingsstatus etc. (vgl. Grunwald/ Thiersch 2014:13). In all diesen belastenden Konstellationen wird das routinierte und pragmatische Handeln, das ursprünglich zur Entlastung führt, nun zum Hindernis, neue Lebensaufgaben zu lösen. Durch das Verharren in Routinen und Ritualen können neue Handlungsmöglichkeiten nicht entwickelt und somit neue Alltagsprobleme nicht bewältigt werden. Anders ausgedrückt: Routinen und Rituale blockieren die bewusste Reflexion und Interpretation neuer Schwierigkeiten im Alltag und die notwendige Anpassung der bewährten Deutungsund Handlungsmuster bleibt aus bzw. misslingt: Sinnzusammenhänge und Sicherheiten brechen zusammen, die Fähigkeit zum bewältigungsorientierten Handeln geht verloren und damit die Möglichkeit, das eigene Leben im Sinne eines besseren und gelingenderen Alltags zu gestalten. 3.5 A uflösen von Krisen: Lebenswelt berücksichtigen, Eigensinn anerkennen und Problemlösungen aushandeln Lebensweltorientierung hat die Intention, Menschen bei der Bewältigung von Krisen im Alltag professionell und mit spezifischem Wissen zu unterstützen. Dazu werden die alltäglichen Schwierigkeiten und individuellen Problemlagen aus Sicht der betroffenen Menschen in den Blick genommen, da sie die eigentlichen Expertinnen und Experten für die Wahrnehmung und Gestaltung ihrer Lebenswelt sind. Lebensweltorientierung bewegt sich damit in einem Spannungsfeld aus Respekt und Anerkennung vor der gegebenen Lebenswelt auf der einen Seite und „Provokationen (Destruktionen) zu einem gelingenderen Alltag auf der anderen Seite.“ (Grunwald/ Thiersch 2011:858) Die Lebenswelt zu respektieren bedeutet, den Eigensinn und die Eigenwilligkeit eines Menschen zu verstehen und anzuerkennen. Den Menschen in seiner Eigensinnigkeit ernst zu nehmen, heißt vor allem, die Schwierigkeiten eines Menschen „als Anstrengung um Bewältigung zu sehen“ (Thiersch 2014:315), auch wenn diese vorerst zu einem unbefriedigenden Ergebnis führt. Das Festhalten an Lösungsstrategien, mit denen neue Herausforderungen nicht bewältigt werden, ist nicht unbegründet, sondern entsteht vor dem Hintergrund langjähriger Erfahrungen und hat einen für den Menschen eigenen Sinn. Dieser Eigensinn muss erkannt und verstanden werden, um daran anknüpfend neue Lösungen, z. B. bei der Krankheitsbewältigung entwickeln zu können (vgl. Hellige/ Hüper 2012:63f). Es bedeutet anzuerkennen, was der Mensch bereits in seinem Leben geschafft hat. In solchen Fällen geht es vor allem um die Herstellung einer aktuellen Handlungsfähigkeit und nicht um die Auflösung aller äußerlich wahrnehmbaren Schwierigkeiten (vgl. Thiersch 2014:322). Dazu gehört eine Haltung des Ernstnehmens, des Einlassens, des Rekonstruierens und des Aushaltens individueller Bewältigungsstrategien. Lebensweltorientierung wirkt zugleich ‚provozierend’, um „Borniertheiten und Verengungen“ (Grunwald/ Thiersch 2014:12) des Alltags zu überwinden. Das heißt, neben der grundsätzlichen Anerkennung der Lebensmuster, der Bewältigungsstrategien und der Eigensinnigkeit eines Menschen besteht zugleich der Anspruch, selbstverständliche Bewältigungsstrategien in Frage zu stellen, um neue Sichtweisen zu aktivieren und den Erfahrungshorizont eines Menschen zu erweitern. Ziel dabei ist es, in einem grundsätzlich von Offenheit geprägten Aushandlungsprozess, gemeinsam neue Handlungsoptionen zur Bewältigung des Alltags zu entwickeln. Es geht darum die Menschen zu ermutigen, sich selbst und ihre Möglichkeiten neu zu entdecken, um auf diese Weise einen gelingenderen Alltag nach eigenen Vorstellungen und Wünschen zu gestalten und sich damit als Subjekt ihres Lebens erfahren können. Lebensweltorientierung „ist insofern subjektorientiert und parteilich“ (Füssenhäuser 2006:133). 3.6 E xpertenherrschaft: Hilfe als Eingriff in die Lebenswelt Alle Formen von Hilfe müssen immer auch als Eingriff in die Lebenswelt verstanden und kritisch reflektiert werden. Für eine lebensweltorientierte Praxis bedeutet das zum einen, dass Unterstützungsangebote gelöst werden müssen von starren Formen und festgefügten Arrangements der Kommunikation (vgl. Thiersch 2014:313). Es gilt das Prinzip der ‚strukturierten Offenheit’: Es braucht auf der einen Seite einen strukturierenden Rahmen für die Unterstützung unter Verwendung unterschiedlicher Methoden, die institutionalisierte Hilfe muss aber auf der anderen Seite in den Alltag eingelassen sein und die verschiedenen Methoden müssen in den spezifischen Situationen konkretisiert werden (vgl. Thiersch 2014:317f). 13 13 Konzept Lebensweltorientierung Einführung Für die konkrete Praxis bedeutet es zum anderen, dass Probleme des Alltags in einem generell offenen Prozess, nur gemeinsam mit dem Hilfebedürftigen gelöst werden können. Es geht darum, nicht Probleme für jemanden zu lösen, sondern Problemlösungen miteinander zu entwickeln. Nach einer ersten Bestandsaufnahme müssen Lösungen vor dem Hintergrund der Lebenswelt erkannt und kommuniziert werden. Sie werden im gemeinsamen, offenen Prozess miteinander verglichen und gegeneinander abgewogen. In dieser Offenheit wird ermittelt, was die Menschen können und was sie nicht können, sie werden ermutigt und motiviert, neue Handlungsmöglichkeiten auszuprobieren und erfolgreiche Problemlösungen für sich selbst zu entwickeln. In diesem Sinne entwirft Lebensweltorientierung gemeinsam mit den Menschen und ‚auf Augenhöhe’ neue Perspektiven zur Realisierung eines besseren und gelingenderen Alltags. Ausgewählte Literatur Füssenhäuser, C. (2006): Lebensweltorientierung in der Sozialen Arbeit. In: Dollinger/ Raithel (Hg.), Aktivierende Sozialpädagogik. Wiesbaden, S. 127-144. Grunwald, K./ Thiersch, H. (2014): Lebensweltorientierung. In: Enzyklopädie Erziehungswissenschaft Online. Weinheim Kraus, B. (2006): Lebenswelt und Lebensweltorientierung – eine begriffliche Revision als Angebot an eine systemisch-konstruktivistische Sozialarbeitswissenschaft. URL: http://www.sozialarbeit.ch/dokumente/lebensweltorientierung. pdf (02.03.2015) Aus diesen theoretischen Grundlagen der Lebensweltorientierung ergeben sich spezifische Struktur- und Handlungsmaximen, die in den jeweiligen Arbeitsfeldern konkretisiert werden müssen (vgl. Füssenhäuser 2006:135). Die für die Lebensweltorientierung und die soziale Altenarbeit charakteristischen Handlungsmaximen (vgl. Grunwald/ Thiersch 2014:20ff; Füssenhäuser 2006:133ff; Hildebrandt 2012:255f) lauten: • • • • • Prävention, Alltagsnähe und Alltagorientierung, Integration, Partizipation, D ezentralisierung/ Regionalisierung/ Vernetzung und • Einmischung. Eine Konkretisierung der Handlungsmaximen für die Beratung im Kontext altersgerechter Assistenzsysteme erfolgt im Abschnitt Prinzipien Lebensweltorientierter Beratung (siehe Abschnitt 8.3). 14 14 Inhaltsverzeichnis Ethische Aspekte 4 Ethische Aspekte Ethische Aspekte Inhalt 4.1.Einführung 16 4.2 Gutes Leben 17 4.3 Diskursethik 17 4.4 Prinzipien zur Reflexion moralischer Urteile 17 4.5 Ethische Fragestellungen im Kontext altersgerechter Assistenzsysteme 17 4.6 Leitlinien im Kontext altersgerechter Assistenzsysteme 18 4.7 MEESTAR – Ermittlung und Analyse ethischer Problemfelder 21 4.8 Kipppunkte 22 Ausgewählte Literatur 23 15 15 Ethische Aspekte Einführung 4.1 Einführung Der zu erwartende Wandel in der Altersstruktur der Bevölkerung wird als relevantes gesellschaftliches Problem betrachtet. Für dessen Bewältigung wird der Einsatz altersgerechter Assistenzsysteme seit geraumer Zeit diskutiert und die Entwicklung von Technologien von politischer Seite gefördert. Zweifellos haben altersgerechte Assistenzsysteme das Potenzial, älteren Menschen eine Unterstützung im Alltag zu bieten und ihre Selbstbestimmung zu fördern. Doch zugleich bringt der technische Wandel Herausforderungen auf individueller und gesellschaftlicher Ebene hervor: „Mensch und Technik stehen in einem spannungsvollen Wechselverhältnis, bei dem der Mensch die Technik hervorbringt und mit ihr die Welt und auch sich selbst gestaltet. Zugleich formt Technik aber auch den Menschen in seiner Selbst- und Weltwahrnehmung, in seinem Urteilen und Handeln.“ (Manzeschke et al. 2013:5) Technik kann daher nicht prinzipiell als ‚gut’ oder ‚schlecht’ bewertet werden. Auch ‚gute’ technische Entwicklungen können sich im Nachhinein als problematisch herausstellen (vgl. Manzeschke 2014:2). Die Entwicklung und der Einsatz neuer Technologien müssen demnach untersucht, bewertet und gestaltet werden, um mögliche Folgen berücksichtigen und unerwünschte Wirkungen vermeiden zu können (vgl. Manzeschke et al. 2013:6). Da also der Einsatz altersgerechter Assistenzsysteme gleichermaßen Herausforderungen sowohl für ältere Menschen wie auch für die Gesellschaft mit sich bringt, bedarf es einer ethischen Reflexion, die danach fragt, ob und in welcher Form altersgerechte Assistenzsysteme einen Beitrag zu einem ‚guten Leben’ leisten können. Zur Unterstützung dieser Reflexion liegen mit der Studie „Ethische Fragen im Bereich Altersgerechter Assistenzsysteme“ (vgl. Manzeschke et al. 2013) bereits Leitlinien, das Evaluationsinstrument MEESTAR und Konkretisierungen von Problemstellungen durch Spannungsfelder vor. Im Folgenden werden wesentliche Ergebnisse der Studie sowie Grundlagen und zentrale Begriffe der Diskursethik zusammenfassend dargestellt. Abschließend wird die besondere Herausforderung einer ethischen Reflexion im Kontext altersgerechter Assistenzsysteme anhand von Beispielen sogenannter Kipppunkte verdeutlicht. Solche Herausforderungen zu untersuchen ist die Aufgabe von Wissenschaft und Forschung. Die jeweiligen Fachdisziplinen nähern sich dieser Aufgabe aus unterschiedlicher Perspektive, je nachdem ob sie aus naturwissenschaftlichen, ingenieurs-, geistes- oder gesellschaftswissenschaftlichen Bereichen kommen. Nachdem in der Vergangenheit nur wenige altersgerechte Assistenzsysteme Marktreife erlangt haben (vgl. BMG 2013:119) und zum Teil auf wenig Akzeptanz bei älteren Menschen gestoßen sind (vgl. BMG 2013:15), ist in den letzten Jahren deutlich geworden, dass die Berücksichtigung ethischer, sozialer und rechtlicher Aspekte (ELSA) eine wichtige Rolle bei deren Entwicklung und Einsatz spielen. So wie sich im Bereich der Biound Medizinethik die Berücksichtigung der ethical, legal and social implications (ELSI) zu einer eigenständigen Forschungsrichtung entwickelt hat (vgl. Rehmann-Sutter 2011), gewinnt die ELSIBegleitforschung zunehmend auch an Bedeutung im Bereich altersgerechter Assistenzsysteme (vgl. BMBF 2011:2). 16 16 Inhaltsverzeichnis Ethische Aspekte 4.2 ‚Gutes’ Leben Die Kernfrage der Ethik lautet: „Was ist ‚gutes’ Leben?“ Dabei geht die ethische Reflexion über individuelle Vorstellungen, wie ‚wir’ ein ‚gutes’ Leben führen können, notwendigerweise hinaus. Aus ethischer Perspektive geht es immer auch um das ‚gute’ Zusammenleben der Menschen in der Gesellschaft. Die Ethik fragt demnach, wie wir als Menschen in einer Gesellschaft leben wollen. Dabei will Ethik selbst nicht vorgeben, was ‚gutes’ Leben ist, sondern es geht darum, bestehende Vorstellungen vom ‚guten’ und ‚richtigen’ Leben im gesellschaftlichen Diskurs zu reflektieren. 4.3 Diskursethik Ein gesellschaftlicher Diskurs darüber, was ‚gutes’ Leben ausmacht, ist erforderlich, weil Menschen unterschiedliche Vorstellungen vom ‚Guten’ oder ‚Richtigen’ bzw. unterschiedliche moralische Urteile haben, die in einer Gesellschaft in Konflikt geraten können. Moralische Urteile sind in der Regel handlungsleitendende Prinzipien ‚richtigen’ und ‚falschen’ Handelns, z. B. darüber, was der Einzelne tun oder besser lassen sollte, welche ‚Verpflichtungen’ Menschen gegenüber ihren Mitmenschen haben und wie das Zusammenleben in einer Gesellschaft aussehen sollte. Moralische Urteile können unterschiedlich begründet werden. Historisch sind Moralvorstellungen religiös geprägt, z. B. auf der Grundlage christlicher Werte. Daneben bestehen nicht-religiöse moralische Prinzipien, z. B. auf Grundlage einer humanistischen Weltanschauung. Weitere ‚absolute’ Prinzipien, auf die verwiesen wird, sind z. B. Gerechtigkeit, die Natur des Menschen, der subjektive Nutzen oder die Vernunft (vgl. Manzeschke 2014:20). Die Aufgabe der Ethik ist es, konfligierende Wertvorstellungen zu ermitteln und kritisch zu reflektieren. Schwierige Situationen sollen bewertet und geklärt werden, um neue Entscheidungsmöglichkeiten und Handlungsspielräume auf individueller und gesellschaftlicher Ebene zu eröffnen. Aus diesem Grund kann die kritische Reflexion und Beurteilung moralischer Urteile nur im gesellschaftlichen Diskurs erfolgen. Individuelle Handlungen werden so in Beziehung zum Allgemeinen gesetzt, um das ‚gute’ Leben aller Menschen in einer Gesellschaft zu ermöglichen. 4.4 Prinzipien zur Reflexion moralischer Urteile Um moralische Urteile rekonstruieren und reflektieren zu können, müssen sie in Beziehung zu all- gemein gültigen Prinzipien gestellt werden, z. B. Gott, Natur etc. Diese ‚absoluten’ Prinzipien haben jedoch nur noch eingeschränkte bzw. begrenzte Gültigkeit (z. B. dient der Verweis auf Gott nur gläubigen Menschen als Beurteilungsmaßstab moralischen Handelns). In der medizinethischen Debatte werden deshalb Prinzipien ‚mittlerer Reichweite’ herangezogen (vgl. Manzeschke 2014:21). Sie dienen als Kriterien für die ethische Reflexion bzw. zur Orientierung bei der Urteilsbildung. Sie lauten: Autonomie: Entscheidungen anderer respektieren und Selbstbestimmung fördern, Wohlwollen: Physisches und psychisches Wohlergehen unterstützen und Risiken für das Wohlergehen berücksichtigen, icht-Schaden-Wollen: Bei anderen keinen N Schaden anrichten bzw. Schaden abwenden, erechtigkeit: Ungerechte Entscheidungen verG meiden und gerechte Entscheidungen fördern. Aber auch Prinzipien ‚mittlerer Reichweite’ sind nicht unproblematisch. Zwar verschaffen sie einerseits Klarheit bzw. geben konkrete Anhaltspunkte zur Bewertung moralischer Urteile und Konflikte, andererseits werden auch solche Prinzipien nicht immer der konkreten Situation gerecht (vgl. Manzeschke 2014:21). Aus diesem Grund müssen Kriterien zur Beurteilung ethischer Fragestellungen im jeweiligen Kontext konkretisiert bzw. entwickelt werden. Beauchamp und Childress haben diese Prinzipien insbesondere vor dem Hintergrund klinischer Arbeit und in diesem Kontext auftretender Konflikte entwickelt (vgl. Beauchamp/ Childress 2013). Entsprechend müssen diese Überlegungen für den Bereich altersgerechter Assistenzsysteme relativiert und anpasst werden. 4.5 E thische Fragestellungen im Kontext altersgerechter Assistenzsysteme Aus Sicht der Ethik wirft der Einsatz altersgerechter Assistenzsysteme „ernste moralische Fragen auf“ (Böhme 1997:17). Wenn z. B. zur Erkennung von Notsituationen die Wohnung älterer Menschen mit Sensoren ausgestattet wird und im großen Umfang Daten der privaten Lebensführung erhoben werden, darf die Beurteilung der technischen Unterstützung nicht allein unter Gesichtspunkten der Nützlichkeit und Handhabbarkeit oder des technisch Machbaren entschieden werden. Solche Unterstützungssze- 17 17 Ethische Aspekte Einführung narien machen deutlich, dass zugleich grundlegende Wertvorstellungen des menschlichen Zusammenlebens betroffen sein können, in diesem Fall z. B. hinsichtlich der Fürsorge, der Privatheit und der selbstbestimmten Lebensführung. Somit kann die Unterstützung älterer Menschen durch altersgerechte Assistenzsysteme weitreichende „Auswirkungen auf den Einzelnen wie die Gesellschaft“ (Manzeschke et al. 2013:9) haben. Wenn altersgerechte Assistenzsysteme eingesetzt werden sollen, um „Lebensqualität und gesellschaftliche Teilhabe älterer Menschen zu verbessern“ (BMBF 2013:2), muss aus ethischer Perspektive auch gefragt werden: • Was macht gutes Leben im Alter aus? • Wie wird man älteren Menschen in ihrer Bedürftigkeit gerecht und unterstützt sie darin, ihr ‚eigenes’ Leben zu führen? •W ie gestaltet sich die Versorgung älterer Menschen und welche Rolle kann und soll Technik dabei spielen? •W elche politischen, moralischen und ökonomischen Ressourcen stellt eine Gesellschaft zur Unterstützung älterer Menschen zur Verfügung? •W ie verändert die Technik das Zusammenleben der Menschen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt? (Vgl. Ammicht Quinn et al. 2013:7; Manzeschke 2013:5) Ethische Fragen, so wie hier formuliert, sind der ‚angewandten Ethik’ zuzurechnen. Dabei geht es vor allem darum, wie „in einer bestimmten historischen Situation mit der Technik die Umwelt des Menschen neu gestaltet wird, und wie sich in der Interaktion von Mensch und Technik das Selbstund Weltverhältnis verändert.“ (Manzeschke 2014:31) 4.6 L eitlinien im Kontext altersgerechter Assistenzsysteme Die folgenden Leitlinien sollen allen Beteiligten im Bereich altersgerechter Assistenzsysteme Orientierung zum ethischen Urteilen, Entscheiden und Handeln bieten (vgl. Manzeschke 2013:22). In der Form eines Kernsatzes und einer kurzen Erläuterung bieten sie nicht nur Orientierung, sondern spiegeln auch den aktuellen Stand der Diskussion bezüglich ethischer Leitlinien und Handlungsanforderungen in diesem Bereich wieder. Sie sollen daher an dieser Stelle im Wortlaut wiedergegeben werden: „1. Selbstbestimmung: Altersgerechte Assistenzsysteme sollen den Nutzern helfen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Altersgerechte Assistenzsysteme sollen so gestaltet werden, dass ihre Nutzer innerhalb der technisch unterstützten Lebensbereiche weiterhin selbstbestimmt entscheiden und agieren können. Von altersgerechten Assistenzsystemen sollen keine Entscheidungen ausgehen, wenn dieser Systemschritt nicht vorab mit Einverständnis des Nutzers festgelegt wurde. Der Einsatz von vollautomatisch agierenden, selbstentscheidenden Systemen soll daher einer besonderen Prüfung unterliegen. Zudem soll es dem Nutzer prinzipiell möglich sein, die Systeme (vorübergehend oder dauerhaft) selbständig abzustellen. Anbieter wie Nutzer sollen über diese möglichen Abschaltungsmechanismen informiert werden. Im Falle einer selbstgewählten Abschaltung durch die Nutzer müssen die Zuständigkeiten, Verantwortlichkeiten und Haftungsfragen geregelt und allgemeinverständlich kommuniziert werden. 2. Eingeschränkte Selbstbestimmung/ Autonomie: Der Einsatz von altersgerechten Assistenzsystemen bei kognitiv beeinträchtigten Personen soll nur nach gesonderter Prüfung und unter Berücksichtigung des mutmaßlichen Willens der Personen erfolgen. Nutzer, die an kognitiven Einbußen leiden, wie z. B. an Demenz erkrankte Personen, sollten mit ihren Angehörigen oder Bevollmächtigten bzw. durch anderweitige Regelungen (z. B. Patientenverfügungen) frühzeitig ihren eigenen Willen und ihre Haltung zum Einsatz von altersgerechten Assistenzsystemen festlegen (bzw. eine Betreuungsperson benennen). Bei Personen, die nicht mehr entscheidungsfähig sind, sollen technische Assistenz-Anwendungen erst nach ausdrücklicher Rücksprache mit den Angehörigen bzw. den Betreuungspersonen und unter Wahrung gesetzlicher Vorschriften zum Einsatz kommen. 3. Teilhabe: Altersgerechte Assistenzsysteme sollen die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und die Integration in gesellschaftliche und soziale Verbindungen unterstützen. Mithilfe von altersgerechten Assistenzsystemen soll ein (vereinfachter) Zugang zum gesellschaftlichen Leben ermöglicht werden (z. B. Unterstützung der Kommunikation und Mobilität). Hierbei haben individuelle Vorstellungen zur Teilhabe Vorrang, d. h. es soll keine systemseitige Lenkung stattfinden, wie Teilhabe gestaltet 18 18 Inhaltsverzeichnis Ethische Aspekte wird. Es geht dabei sowohl um die Teilhabe der Nutzer, aber auch um die Teilhabe derer, die Betreuungs- und Hilfsangebote offerieren. Assistenzsysteme sollen außerdem nicht andere Formen der Teilhabeermöglichung (z. B. durch persönliche Freundschaften) verdrängen oder behindern. 4. Gerechtigkeit: Der Zugang zu altersgerechten Assistenzsystemen soll diskriminierungsfrei gestaltet werden. Ein vom Einkommen, sozialem Status, Alter, Geschlecht, Bildungsniveau, Technikaffinität unabhängiger, gleichberechtigter und barrierefreier Zugang zu altersgerechten Systemen ist anzustreben. 5. Sicherheit: Der Umgang mit altersgerechten Assistenzsystemen muss für alle Nutzergruppen sicher sein, sowohl bei der normalen Anwendung als auch bei potenziellen Fehlern und Ausfällen der gesamten Technik oder einzelner Prozessketten. Altersgerechte Assistenzsysteme sollen nicht die Sicherheit i. S. v. körperlicher oder geistiger Integrität der Nutzer und Anbieter beeinträchtigen. Auch Fehler, Funktionsausfälle, prozessuale Unterbrechungen, Netzwerkprobleme oder anderweitige technische Defekte oder menschliche Irrtümer dürfen die Gesundheit der Beteiligten nicht beeinträchtigen oder gar gefährden. Altersgerechte technische Assistenzsysteme dürfen nicht zu zusätzlichen physischen oder psychischen Belastungen wie etwa Stress, Überforderung, Diskriminierung oder Stigmatisierung führen. 6. Privatheit: Altersgerechte Assistenzsysteme sollen die persönliche Lebensgestaltung nicht negativ beeinträchtigen. Die Erhebung und Weiterverarbeitung von Daten, die aus dem privaten Umfeld der Nutzer von altersgerechten Assistenzsystemen an Dritte geleitet werden, müssen so aufbereitet werden, dass keine weiterführenden Informationen (z. B. Verknüpfung der Daten) abgeleitet werden können. Warnsignale oder -nachrichten sollten pseudonymisiert und – wo immer möglich – anonymisiert werden. Die Erhebung und Weiterleitung von Daten aus dem Kernbereich der Privatsphäre der Nutzer durch altersgerechte Assistenzsysteme ist wie bei allen datenverarbeitenden Systemen durch besondere Schutzmaßnahmen abzusichern. Der Schutz dieser Daten, auch durch die Vermeidung der Zusammenführung der Daten mehrerer Nutzer, ist hierbei besonders wichtig. 7. Datenschutz: Personenbezogene und sonstige vertraulich zu behandelnde Daten, die im Kontext von altersgerechten Assistenzsystemen erhoben, dokumentiert, ausgewertet oder gespeichert werden, sollen vor dem Zugriff unbefugter Dritter sowie vor Missbrauch bestmöglich geschützt werden. Dritte dürfen nicht unbefugt auf persönliche Daten von Nutzern zugreifen oder diese verarbeiten. Dies schließt auch den Zugriff auf Daten des ärztlichen oder pflegerischen Personals ein (Mitarbeiterdatenschutz). Datenschutzerklärungen sollen einfach und klar verständlich verfasst sein. Im Zweifel ist immer zugunsten der Person zu entscheiden, von der die Daten originär stammen. Die für die Einhaltung des Datenschutzes und des Rechtes auf informationelle Selbstbestimmung notwendigen Vorsichtsmaßnahmen und Handlungsanleitungen für einen richtigen Umgang mit solchen sensiblen Daten sind in verständlicher Form zu kommunizieren und transparent zu machen. 8. Aufklärung & Informationelle Selbstbestimmung: Nutzer von altersgerechten, technischen Assistenzsystemen sollen vollständig über die Funktion und Erhebung der sie betreffenden Daten und die Funktion des Systems informiert werden und erst auf dieser Basis eine informierte Einwilligung geben. Über Umfang, Rahmen, Eingriffstiefe, Funktionalität und Datennutzung der jeweiligen altersgerechten Assistenzsysteme sollen Nutzer ausführlich, vollständig, verständlich und angemessen informiert werden. Erst auf Basis dieser Aufklärung und Information sollen Nutzer über den Einsatz von Assistenztechniken entscheiden. 9. Haftung: Verantwortungsübernahme und Haftung im Fall einer fehlerhaften Funktion von altersgerechten Assistenzsystemen müssen transparent und verbindlich geregelt werden. Die Verantwortlichkeiten und Haftungsrisiken bei hochkomplexen systemischen Lösungen sind genau zu definieren. Ein Verantwortungsvakuum sollte vermieden werden. Zu jedem altersgerechten Assistenzsystem und seinen Funktionen sollen Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten klar definiert werden (siehe auch ULD 2010) 10. Altersbilder: Altersgerechte Assistenzsysteme sollen möglichst vielfältige Bilder vom Alter zulassen. Ein einseitiges, etwa defizitär gezeichnetes Bild 19 19 Ethische Aspekte Einführung vom alten Menschen soll genauso vermieden werden wie ein einseitig positiv gezeichnetes Bild vom alten Menschen als vitaler, leistungsfähiger, disziplinierter Mensch. Vereinseitigungen werden dem vielschichtigen Phänomen des Alter(n)s nicht gerecht. Vielmehr ist es notwendig, alle Facetten des Alters im gesellschaftlichen Diskurs zu berücksichtigen, ohne dabei vorab selektive und/oder diskriminierende Positionen und/oder Normen aufzustellen. Der Einsatz von altersgerechten Assistenzsystemen kann daher als inspirierende Anregung verstanden werden, um gesamtgesellschaftliche, offene Diskurse über das ‚gute Alter(n)’ zu initiieren. 11. Vermeiden von Diskriminierung und Normierung: Stigmatisierungen oder Diskriminierungen im Kontext der Nutzung von altersgerechten Assistenzsystemen sind unerwünscht. Genauso unerwünscht ist es, wenn von den Systemen (direkte oder indirekte) Normierungen ausgehen. Es ist eine individuelle Lebensentscheidung, ob sich eine Person für ein altersgerechtes Assistenzsystem entscheidet oder nicht. Hier soll als Maßstab der Gleichheitsgrundsatz gelten zur Vermeidung von Diskriminierungen. Der Einsatz von Technik kann (versteckt) normierend wirken, z.B. indem sich Menschen an technische Rhythmen und Routinen anpassen und/oder sich in ihrem Alltag an Messwerten orientieren und ihre Handlungen daran ausrichten. Solche (subtilen) Wirkungen sind offen zu legen. Wenn sie als unerwünschte Eingriffe in die individuelle Lebensführung empfunden werden, sind solche unterschwelligen oder offenen Normierungen zu vermeiden. 12. Anwendungsfreundlichkeit: Altersgerechte Assistenzsysteme sollen so gestaltet sein, dass der Umgang für die Anwender einfach, intuitiv und gut nachvollziehbar ist. Entscheidend für die Gebrauchstauglichkeit und -freundlichkeit (engl. ‚Usability’) altersgerechter Assistenzsysteme ist eine einfache und eingängige Bedienung, bei der auch die entlastende und/oder unterstützende Eigenschaft des Systems zu erkennen ist. Dies muss vor allem vor dem Hintergrund der potenziell älteren Nutzer Berücksichtigung finden, die z. B. durch verschlechterte Sensomotorik, eingeschränkte Mobilität oder reduzierte kognitive Fähigkeiten (etwa Gedächtnisleistung) andere Nutzungsanforderungen an technische Systeme stellen. Anforderungen und Nutzerinteressen sind bei der Planung, Konzeption, Testung, Vermarktung, Anwendung sowie Weiterentwicklung und Wartung von altersgerechten Assistenzsyste- men einzubeziehen (siehe auch Friesdorf et al. 2011). 13. Vertragsabstimmungen: Nutzer von altersgerechten Assistenzsystemen soll die Möglichkeit gegeben sein, aus dem Vertragsverhältnis auszutreten. Bei der Nutzung von altersgerechten Assistenzsystemen soll die Möglichkeit bestehen, aus dem Vertragsverhältnis aussteigen zu können, sollte ein Nutzer sich verunsichert, unwohl, beobachtet, in seiner Privatsphäre beeinträchtigt fühlen oder anderweitige Bedenken haben. Dabei sind die allgemein geltenden vertragsrechtlichen Grundlagen einzuhalten, damit auch die Anbieter von altersgerechten Assistenzsystemen Planungssicherheit haben. Nutzer von Assistenzsystemen sollen zunächst in einem Testlauf die technische Anwendung ausgiebig testen können, bevor sie sich für den langfristigen Einsatz bzw. die langfristige Nutzung entscheiden. Modular aufgebaute Assistenzsysteme können helfen, hier eine größtmögliche Flexibilität zu erzielen. 14. Qualifizierung und Weiterbildung: Alle Akteure im Bereich altersgerechter Assistenzsysteme sollen an regelmäßigen Fortund Weiterbildungsmaßnahmen teilnehmen. Anbieter von altersgerechten Assistenzsystemen sollten sich zur ständigen Weiterbildung und Weiterqualifizierung im Bereich der altersgerechten Assistenztechniken verpflichtet fühlen. Das impliziert auch die Berücksichtigung von Nutzer-Akzeptanzstudien und Nutzer-Wünschen sowie Grundkenntnisse in juristischen, ökonomischen, ethischen und sozialen Fragen. 15. Verantwortung & bestmögliche Unterstützung durch Technik: Anbieter altersgerechter Assistenzsysteme sollen verantwortlich agieren; assistive Technologien sollten stets zum Nutzen und Wohl der Nutzer eingesetzt werden. Das vorrangige Ziel von altersgerechten Assistenzsystemen ist, menschliche Hilfe, Pflege und Betreuung bei älteren Menschen sinnvoll zu ergänzen und dabei einen eindeutigen Mehrwert für die Beteiligten zu bieten. Die Technik dient dem Menschen und sollte sich seinen Bedürfnissen, Wünschen und Lebensprozessen anpassen – nicht umgekehrt (siehe auch ‚11. Vermeiden von Diskriminierung und Normierung’). Technik soll nicht Lebensvollzüge in unerwünschter Weise einengen oder von den Nutzern eine zu starke Anpassung verlangen. Daher ist es besonders wichtig, dass Nutzen und Mehrwert von technischen Assistenzsystemen für alle Beteiligten klar 20 20 Inhaltsverzeichnis Ethische Aspekte ersichtlich und nachvollziehbar sind. Der Mehrwert kann sich für unterschiedliche Nutzergruppen (Hilfs- und Pflegebedürftige, ‚professionell/ semi-professionell’ Pflegende, Dienstleister, Kostenträger, etc.) in unterschiedlicher Weise manifestieren und ist transparent darzustellen. Dienste und/oder technische Optionen sollen stets nur mit Zustimmung der jeweils betroffenen Nutzer verwendet werden. Konflikte zwischen den verschiedenen Nutzergruppen sollen offen und proaktiv kommuniziert werden um eine Lösung herbeizuführen.“ (Manzeschke 2013:22ff) Diese Leitlinien bilden die Grundlage für eine ethische Reflexion im Bereich altersgerechter Assistenzsysteme. Zur Untersuchung und Bewertung ethischer Probleme im Anwendungsfall wurde in der Studie „Ethische Fragen im Bereich Altersgerechter Assistenzsysteme“ ein Modell zur ethischen Evaluation sozio-technischer Arrangements (MEESTAR) entwickelt, das die Reflexion über den Technikeinsatz anleitet (vgl. Manzeschke 2015a, 2015b). 4.7 M EESTAR – Ermittlung und Analyse ethischer Problemfelder Im Rahmen der Studie „Ethische Fragen im Bereich Altersgerechter Assistenzsysteme“ wurde ein Analyseinstrument zur Ermittlung ethischer Problemfelder entwickelt. Es wurden sieben Bewertungsdimensionen festgelegt, die für soziotechnische Arrangements relevant sind. Damit werden Ebenen beschrieben, auf denen ethische Probleme angesiedelt sein können. Diese werden im Folgenden anhand von Beispielen aus der Perspektive älterer Menschen charakterisiert. Fürsorge Hilfe und Unterstützung bei der Alltagsbewältigung; Versorgung durch altersgerechte Assistenzsysteme, z. B. für schambesetzte Pflegesituationen (Waschen, Unterstützung beim Toilettengang etc.). besondere bei lebensrettender Technologie. Privatheit Schutz persönlicher (sensibler) Daten, z. B. bei einem Aktivitätsmonitoring (Welche Daten werden erhoben? Wer hat Zugriff auf die Daten?); Schutz der Intimsphäre, z. B. keine Kameras im Bad. Gerechtigkeit Wunsch nach gleichberechtigtem Zugang zu altersgerechten Assistenzsystemen; Wunsch nach finanzieller Entlastung, z. B. aufgrund unzureichender (privater) Finanzierungsmöglichkeiten. Teilhabe Zugang zum gesellschaftlichen Leben, z. B. durch Förderung der Mobilität; Unterstützung sozialer Kontakte, z. B. durch Videotelefonie, ohne andere persönliche Kommunikationsformen einzuschränken. Selbstverständnis Technologie soll nicht stigmatisieren, wie z. B. ein ‚Senioren’-Handy; kritische Reflexion von (positiven und negativen) Altersbildern; Technologie soll Vielfalt des Alter(n)s abbilden. MEESTAR umfasst neben den genannten Dimensionen Bewertungsstufen zur Einschätzung dessen, ob ethische Probleme bei einem sozio-technischen Arrangement vorliegen: „Stufe I: Anwendung ist aus ethischer Sicht völlig unbedenklich Stufe II: Die Anwendung weist ethische Sensibilität auf, was aber in der Praxis entsprechend berücksichtigt werden kann Stufe III: Anwendung ethisch äußerst sensibel und bedarf entweder permanenter Aufmerksamkeit oder Abstand von ihrer Einführung Stufe IV: Anwendung ist aus ethischer Sicht abzulehnen“ (Manzeschke et al. 2013:14). Selbstbestimmung/Autonomie In technologisch unterstützten Lebensbereichen soll der ältere Mensch selbstbestimmt entscheiden und agieren können, z. B. keine Normierung durch Technologien; der ältere Mensch soll prinzipiell die Möglichkeit haben, altersgerechte Assistenzsysteme selbstständig abzustellen. Die Analyse normativen Handelns sollte sich nicht nur auf die individuelle Ebene beschränken, sondern muss auch organisationale und gesellschaftliche Ebenen in den Blick nehmen. Auch korporative Akteure wie Unternehmen, Institutionen etc. müssen ihre Handlungen verantworten und auf gesellschaftlicher Ebene ist zu fragen, wie man in dieser Gesellschaft leben will und welche Rechte und Pflichten sich daraus ergeben (vgl. Manzeschke et al. 2013:21). Sicherheit Schnelle und unkomplizierte Hilfe in einer Notfallsituation, z. B. nach einem Sturz; Schutz vor Ausfällen altersgerechter Assistenzsysteme, ins- Mit der dritten Achse werden die unterschiedlichen Perspektiven, Probleme und Verantwortlichkeiten auf individueller, organisationaler und gesellschaftlicher Ebene in den Blick genommen. 21 21 Ethische Aspekte Einführung Mit Hilfe der drei Ebenen des Analyseinstruments sollen Spannungsfelder zuerst einmal identifiziert werden. Je nach Lebenssituation und ethischen Haltungen können sich Spannungsfelder auf unterschiedliche Weise äußern. Sie können zu ambivalenten Haltungen eines älteren Menschen bei der Beurteilung altersgerechter Assistenzsysteme führen (Beispiel 1) oder sie können zu unterschiedlichen und ggf. konfligierenden Haltungen der jeweils Beteiligten führen (Beispiel 2). Beispiel 3 verdeutlicht ein Spannungsfeld, das zu einer ambivalenten Haltung eines Angehörigen führt: 1. Der ältere Mensch wünscht schnelle Hilfe im Notfall (hohes Bedürfnis nach Sicherheit), möchte aber keine Überwachung durch Sensoren (evtl. Kamera) in seiner Wohnung (hohes Bedürfnis nach Privatheit) zulassen. 2. Die An- und Zugehörigen wünschen sich eine gute Versorgung des älteren Menschen (hohes Bedürfnis nach Fürsorge), der selbst keine Unterstützung wünscht (hohes Bedürfnis nach Selbstbestimmung). 3. Angehörige haben den dringenden Wunsch nach Entlastung (hohes Bedürfnis nach Selbstbestimmung ggf. Teilhabe), möchten aber nicht als verantwortungslos gelten, eine ‚schlechte Tochter’ oder ein ‚schlechter Sohn’ sein, die oder der sich nicht um den älteren Mensch kümmert (hohes Bedürfnis nach positivem Selbstbild). 4.8 Kipppunkte Die ebenfalls im Rahmen der genannten Studie herausgearbeiteten ‚Kipppunkte’ dienen dazu, Übergänge zu beschreiben, „an denen die technisch positiven Effekte und moralisch vorzugswürdigen Momente altersgerechter Assistenzsysteme in ihr Gegenteil umschlagen. Dabei geht es weniger um eine prinzipielle Ambivalenz, die der Technik als solcher innewohnt, sondern vielmehr um eine Veränderung des sozio-technischen Arrangements über die Zeit hinweg, in deren Verlauf es von einer hilfreichen Unterstützung in eine kontraproduktive Belastung umschlägt.“ (Manzeschke 2013: 27) Folgende Beispiele sollen typische Kipppunkte verdeutlichen. Teilhabe als Überforderung und Anspruch Altersgerechte Assistenzsysteme können die gesellschaftliche Teilhabe fördern, indem sie z. B. die Kommunikation fördern (Kommunikationsgeräte) oder die Mobilität erhöhen (Navigatoren, intelligente Mobilitätsberater). Unter dem Aspekt der Kipppunkte ist zu fragen, wo diese technischen Assistenzen einer effektiven Förderung dienen und wo sie einen Menschen überfordern (z. B. durch ihre Bedienung) oder ihm Kommunikations- bzw. Mobilitätsmuster ‚andienen’, welche dieser Person nicht entsprechen, denen sie sich aber auch nicht einfach zu entziehen weiß. Über den zeitlichen Verlauf ist zudem zu bedenken, dass ältere Menschen ihren Aktions- und Kommunikationsradius zunehmend reduzieren, was von den technischen Systemen nicht pathologisiert und diskriminiert werden sollte. Aufklärung als Überforderung Aus der genetischen Beratung weiß man a) um die Kommunikationsprobleme, die zwischen medizinischem Personal und Beratenen bestehen, b) um das kategoriale Problem, zwischen statistischen Werten und einer persönlichen Lebensentscheidung zu vermitteln. Analoges gilt auch für die Beratung zu altersgerechten Assistenzsystemen, so gilt es einerseits, im Rahmen der Beratung eine Aufklärung anzubieten, die den Menschen einen Überblick über die Situation und mögliche Handlungsoptionen bietet. Zugleich und andererseits müssen diese Aufklärungsgespräche an das Fassungsvermögen der älteren Menschen angepasst werden, was unter Umständen bedeutet, in mehreren aufeinander folgenden Gesprächen die verschiedenen Aspekte und ihre Interdependenz aufzuzeigen und Möglichkeiten einer individuellen Wahl zu erwägen. Ein Gespräch über altersgerechte Assistenzsysteme, welches die Person überfordern mag, bedeutet nicht zwingend, dass auch das zu verhandelnde System überfordert. Hier gilt es genau die Differenz zwischen intellektueller Kapazität und Handlungsfähigkeit im Alltag auszuloten und was das für den konkreten Unterstützungsfall bedeutet. Selbstbestimmung als Abgabe von Verantwortung Ziel der altersgerechten Assistenzsysteme ist es, die Selbstbestimmung von Menschen zu erhalten, wenn nicht sogar zu verbessern. In dieser Perspektive erscheint Selbstbestimmung als eine individuelle Ressource, die bewahrt oder sogar angereichert werden kann. Es besteht jedoch die Gefahr, dass mit der technischen Unterstützung den Menschen die formale Kompetenz zur Selbstbestimmung zuerkannt wird und die soziale Dimension vernachlässigt wird. Das kann im Effekt dazu führen, dass Menschen zwar technisch wunderbar unterstützt werden, aber sie sozial keine Ansprache mehr erwarten können, weil es nun an ihnen liegt (qua Selbstbestimmung) auf andere zuzugehen. Damit würden sich jedoch Einzelne wie auch die Gesellschaft ihrer Verantwortung zumindest teilweise entziehen. 22 22 Ethische Aspekte Technik als Disziplinierung Entsprechend der o. g. Leitlinien sind Systeme, von denen im Kontext der Nutzung altersgerechter Assistenzsysteme (direkte oder indirekte) Normierungen ausgehen, unerwünscht. Werden jedoch Durchschnittswerte bei der Beobachtung häuslicher Aktivitäten festgelegt (Toilettengang, Schlafenszeiten etc.), kann das normierenden Charakter haben, indem der ältere Mensch seinen Alltag an diesen Werten ausrichtet, damit nicht ständig ein Alarm ausgelöst wird. Technische Systeme beruhen auf Regelkreisen, in denen Normwerte Auslöser für bestimmte technische Aktionen sind. Diese in Technik implementierten Normen dürften in der Regel ihren Anhalt an praktischen Erfahrungen oder wissenschaftlichen Erkenntnissen haben und somit eine gewisse Plausibilität aufweisen. Soziale Kontexte und die hierin für Handlungen notwendigen Aspekte sind in der Regel jedoch vielfältiger als sie sich in ein, zwei, drei …n technischen Normen niederschlagen. Entscheidungen in sozialen Kontexten basieren in der Regel auf hermeneutisch evaluierten analogen Daten; Entscheidungen in technischen Systemen haben diese analoge Bandbreite nicht, sondern sind ‚härter’ in ihrem Charakter. Dies gilt es für die technischen Systeme zu berücksichtigen und jeweils zu fragen, in welchem Bereich sich diese technische Härte und Eindeutigkeit als vorteilhaft, sinnvoll, oder auch problematisch erweist und wie im letzteren Fall damit umgegangen werden soll. Entlastung als Verlust von Fähigkeiten Entsprechend der Leitlinien sollen entlastende Technologien so gestaltet sein, dass sie älteren Menschen eine selbstständige(re) Lebensführung in den eigenen vier Wänden ermöglichen. Aus zahllosen Studien ist jedoch der Effekt bekannt, dass Fähigkeiten, die nicht länger trainiert werden, verloren gehen können. Menschen im höheren Alter sind in der Regel altersbedingt mit dem Verlust sensorischer, motorischer, kognitiver oder sensomotorischer Fähigkeiten konfrontiert. Deshalb zielen viele Assistenzsysteme darauf ab, diese Fähigkeiten zu trainieren, um so den Altersprozess zu entschleunigen und Alltagskompetenz so lange wie möglich zu erhalten. Es ist nun genauer zu eruieren, unter welchen Bedingungen altersgerechte Assistenzsysteme eine Fähigkeit nicht mehr trainieren, sondern sie ersetzen. „In welchen dieser Fälle könnte das zu einem Verlust von Alltagskompetenzen der unterstützten Person führen?“ „Will man, kann man diesen Verlust um eines anderen Gewinns willen rechtfertigen?“ Auch hier ist das Verhalten und die Kompetenz der zu unterstützenden Person über die Zeit zu beachten: Ein System, das in der Zeit t1–t2 gute Unterstützung leistet, kann ab Zeitpunkt t3 prob- 23 lematisch werden, weil eine Person in diesem Feld nicht mehr gefordert wird und so wichtige Fähigkeiten verlieren könnte. Ausgewählte Literatur Ammicht Quinn, R./ Spindler, M./ Beimborn, M./ Kadi, S./Köberer, N./ Tulatz, K. (2013): Technik als Partnerin älterer Menschen. (Wie) Kann das gelingen? Bericht über den transdisziplinären, explorativen Workshop des BMBF-Projekts MATERIA. Manzeschke, A./ Weber, K./ Rother, E./ Fangerau, H. (2013): Ergebnisse der Studie „Ethische Fragen im Bereich Altersgerechter Assistenzsysteme“. Berlin Manzeschke, A. (2014): Ethik im Bereich Ambient Assisted Living. Studienmaterialien der Weiterbildung im Bereich Ambient Assisted Living (BAAL), Universität Rostock, Zentrum für Qualitätssicherung in Studium und Weiterbildung (Hg.). Rostock Soziale Aspekte 5 Soziale Aspekte Soziale Aspekte Inhalt 5.1Einführung 25 5.2 Ökonomische Lage 26 5.3 Bildung 26 5.4 ‚Entberuflichung’ und nachberufliche Tätigkeiten 26 5.5 Gesundheitszustand 26 5.6 Soziale Beziehungen und Netzwerke 27 5.7 Wohnsituation und sozialräumliche Strukturen 27 5.8 Technisierung des Alltags 28 5.9 Subjektives Wohlbefinden 28 Ausgewählte Literatur 28 24 Soziale Aspekte 5.1 Einführung Technische Geräte und moderne Technologien tragen in vielerlei Hinsicht zu einer Entlastung im Alltag bei. Gerade für ältere Menschen, deren Handlungsmöglichkeiten aufgrund zunehmender gesundheitlicher Einschränkungen beeinträchtigt sind, kann der Einsatz altersgerechter Assistenzsysteme einen Beitrag zu einer selbstbestimmten Lebensführung leisten und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben fördern. Doch nicht selten sind ältere Menschen altersgerechten Assistenzsystemen gegenüber eher kritisch eingestellt und begegnen diesen mit Desinteresse oder sogar Ablehnung (vgl. Müller 2014:24). Ein Grund dafür ist, dass bei der Entwicklung altersgerechter Assistenzsysteme die äußerst heterogenen Lebensbedingungen und der tatsächliche Unterstützungsbedarf älterer Menschen nicht ausreichend berücksichtigt werden, wodurch eine sinnvolle Integration in den Alltag älterer Menschen nicht immer gegeben ist (vgl. Elsbernd et al. 2014:16ff). Damit altersgerechte Assistenzsysteme einen Beitrag zu einem gelingenderen Alltag leisten können, ist es wichtig, die speziellen Lebenslagen der Gruppe älterer Menschen genauer zu kennen. So können im Rahmen der Beratung die objektiven und subjektiven Faktoren, die bei der Bewältigung des Alltags von Bedeutung sind, identifiziert werden, um eine sinnvolle Entscheidung hinsichtlich des Einsatzes altersgerechter Assistenzsysteme treffen zu können. Im Folgenden werden die sozialen Aspekte (Lebenslagedimensionen) dargestellt, die eine wesentliche Rolle spielen, wenn die Nutzung altersgerechter Assistenzsysteme in Erwägung gezogen wird. Die dominierenden objektiven Faktoren bei der Bewältigung des Alltags sind die ökonomischen Verhältnisse, der Bildungshintergrund, der Gesundheitszustand, die sozialen Beziehungen und die Wohnsituation. Dabei ist das allgemeine Wohlbefinden älterer Menschen auch von der subjektiven Bewertung der tatsächlichen Lebenssituation abhängig. 25 Soziale Aspekte 5.2 Ökonomische Lage Hinsichtlich der finanziellen Ausstattung älterer Menschen sind die aktuellen Lebensbedingungen in der Regel das Resultat ihrer jeweiligen Lebens- und Erwerbsbiografie. Insofern ist von einer großen Heterogenität innerhalb der Einkommensverhältnisse auszugehen. Haushalte älterer Menschen verfügen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung über unterdurchschnittliche Einkommen. Voraussichtlich werden die Alterseinkünfte aufgrund sozialpolitischer Reformen zukünftig sogar noch deutlich geringer ausfallen. Aufgrund armutsfördernder Tendenzen, wie z. B. dem steigenden Pflegebedarf älterer Menschen, ist mit einer zunehmenden Spreizung armer und reicher älterer Menschen zu rechnen (vgl. Engels 2010:300). Soziale Benachteiligung und Altersarmut sind die Folge, wovon insbesondere (alleinstehende) Frauen und ältere Menschen in den neuen Bundesländern betroffen sind. Armut im Alter wirkt sich auf alle anderen Lebenslagedimensionen älterer Menschen aus. 5.3 Bildung Generell gilt Bildung als wichtige Ressource mit Bedeutung für alle weiteren Lebenslagedimensionen. Das Bildungsniveau älterer Menschen stellt sich sehr heterogen dar. So verfügen ‚jüngere Alte’ (50-64 Jahre) in der Regel über höhere Bildungs- und Ausbildungsabschlüsse als Menschen älterer Generationenkohorten. Außerdem sind ‚ältere Alte’ in der Regel weniger in Weiterbildungsprogrammen integriert. Das gilt aufgrund der geschlechtsbezogenen Arbeitsteilung in der Gesellschaft insbesondere für Frauen. Ebenso verhält es sich mit nachberuflichen Bildungsaktivitäten und -interessen. Diese nehmen außerdem mit zunehmendem Alter ab. Insbesondere ältere Menschen in ländlichen Regionen mit gesundheitlichen Einschränkungen und geringem Einkommen weisen geringere Bildungsaktivitäten auf. Vor diesem Hintergrund fehlen vor allem Angebote mit spezifischen Bildungsinhalten und -methoden für ältere Menschen. 5.4 ‚Entberuflichung’ und nachberufliche Tätigkeiten Das Ende der regulären Berufstätigkeit geht für viele ältere Menschen häufig mit neuen Problemen bei der Alltagsbewältigung einher. Aufgrund des Wandels der Arbeitsgesellschaft und dem damit einhergehenden Frühverrentungstrend verlieren ältere Menschen mit dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben den Bezugspunkt gesellschaftlicher Integration. Hiervon sind vor allem Menschen mit beruflich niedrigem Status und mit geringer fachlicher Qualifikation betroffen. Dieses Problem der sogenannten ‚Entberuflichung’ ist in der Regel mit finanziellen Einbußen verbunden und gerade diese Gruppe älterer Menschen hat oft keine Möglichkeit, ihre materielle Situation aus eigener Kraft zu verbessern. Damit fehlen auch häufig grundlegende Rahmenbedingungen, um soziale Beziehungen zu pflegen und soziale Netzwerke gehen verloren. Bei dieser Gruppe – insbesondere bei Frauen – steigt das Risiko der Isolation und Vereinsamung. Der Übergang vom Berufsleben zur Ruhestandsphase stellt insofern oftmals eine Belastung dar und ist mit vielfältigen Bewältigungsproblemen verbunden. In der Folge gehen manche ältere Menschen über die offizielle Renteneintrittsgrenze hinaus weiterhin einer Arbeit nach, um die finanziellen Einbußen zu kompensieren. Andere müssen, trotz der mit dem Alter einsetzenden gesundheitlichen Einschränkungen, als Selbstständige weiterarbeiten. Dieser ‚Zwang’ zur Weiterarbeit verhindert insofern die in dieser Lebensphase vorgesehene Möglichkeit zur Entschleunigung und Passivität im Alter (vgl. Manzeschke et al. 2013:28). 5.5 Gesundheitszustand Das Alter(n) ist durch die „deutliche Zunahme von gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Behinderungen“ (Depner et al. 2010:23) gekennzeichnet. In höherem Alter leiden die Menschen auch zunehmend an mehreren körperlichen Krankheiten gleichzeitig (Multimorbidität). Hierbei dominieren insbesondere Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Erkrankungen des Bewegungsapparates. Ebenso steigt mit zunehmendem Alter das Sturzrisiko, die sensomotorischen Fähigkeiten verschlechtern sich und demenzielle Erkrankungen nehmen zu. Neben den somatischen Erkrankungen leiden ältere Menschen auch vermehrt an psychischen Krankheiten (z. B. Depressionen), teilweise bedingt durch und in Wechselwirkung mit somatischen Erkrankungen. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass sozial benachteiligte bzw. von Armut betroffene Menschen statistisch betrachtet früher unter Mehrfacherkrankungen leiden und stärker gesundheitlich eingeschränkt sind (vgl. RichterKornweitz 2012:136). Fehlende finanzielle Mittel zur Kompensation gesundheitlicher Einschränkungen verschärfen zugleich die Abhängigkeit von individueller Zu- 26 Soziale Aspekte wendung und/oder gesellschaftlicher Unterstützungsleistung (siehe Abschnitt 2.3). Somit ist der zunehmend schlechtere Gesundheitszustand im Alter mit abnehmenden Handlungsmöglichkeiten und Abhängigkeiten verbunden, was insbesondere bei sozial benachteiligten älteren Menschen die Selbstbestimmung und die Möglichkeiten zur Bewältigung des Alltags einschränkt. 5.6 Soziale Beziehungen und Netzwerke Soziale Beziehungen und Netzwerke haben insbesondere im Alter „eine soziale Sicherungsfunktion“ (Künemund/ Kohli 2010:309). Die Anzahl der sozialen Beziehungen geht in der Regel mit zunehmendem Alter zurück, und es erfolgt eine Konzentration auf emotional bedeutsame Beziehungen. Entscheidend für die Zufriedenheit mit den sozialen Kontakten sind nicht deren Anzahl, sondern vielmehr die Qualität der Kontakte (vgl. Jopp et al. 2013:44f) und die subjektiven Erwartungen an soziale Beziehungen. Gründe für den Wandel der Sozialkontakte sind vor allem der Tod des Lebenspartners, wovon insbesondere Frauen betroffen sind, das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben und der Auszug der Kinder. Dafür werden andere Sozialkontakte intensiviert, z. B. zu Freunden, Nachbarn und Bekannten. Außerfamiliale Beziehungen (z. B. in Vereinen) oder zu professionellen Helfern sind vor allem bei kinderlosen älteren Menschen von Bedeutung. Notwendige Unterstützungs- und Versorgungsleistungen werden überwiegend in familialen Beziehungen erbracht, auch wenn die Kinder zukünftig nicht mehr mit im Haushalt der Eltern leben. Gelingende Kommunikation, Wertschätzung und Verständnis zwischen Eltern und Kindern sind allerdings Idealvorstellungen, die in der Realität kaum anzutreffen sind (vgl. Backes/ Clemens 2013:236). Die familialen Beziehungen sind deshalb häufig konfliktbehaftet. 90% der älteren Menschen lehnen es z. B. ab, auf die Unterstützung von erwachsenen Kindern angewiesen zu sein (vgl. Voges/ Zinke 2010:301). Denn insbesondere in kleinen Netzwerken kann es dann zu Abhängigkeiten kommen, in denen Kontrolle gegenüber älteren, vor allem auf Unterstützung angewiesenen Menschen ausgeübt wird, z. B. wenn Angehörige notwendige Pflegeleistungen verwehren, den Willen der hilfebedürftigen Person missachten (Geldverwendung etc.), oder dem älteren Menschen mit Heimübersiedlung drohen. Aber auch für die pflegenden Angehörigen, überwiegend die Töchter und Schwiegertöchter, stellt die Pflegesituation häufig eine Überforderung oder Überlastung dar. Die Folgen können Lebenskrisen bei der 27 Pflegeperson sein (z. B. Burnout, Konflikte in der Ehe etc.), aber auch Auseinandersetzungen in der Pflegebeziehung, z. B. verbale Aggressionen bis hin zu Gewalt gegenüber älteren Menschen (Fixierung, körperliche Misshandlung, sexuelle Belästigung etc.). 5.7 W ohnsituation und sozialräumliche Strukturen Mit zunehmendem Alter wird die eigene Wohnung und das nähere Wohnumfeld immer mehr zum Lebensmittelpunkt älterer Menschen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang vor allem, dass die eigene Häuslichkeit mehr ist als ein ‚Dach über dem Kopf’ (vgl. Mollenkopf 2011:31). Die Wohnung ist ein Lebensraum, den man nach eigenen Vorstellungen gestaltet und genutzt hat, in dem man sich zurechtfindet und der mit vielen wichtigen Lebenserfahrungen und Erinnerungen verbunden ist. Infolgedessen hat der Verbleib und die selbstbestimmte Gestaltung der eigenen Wohnung eine starke Wirkung auf das subjektive Wohlbefinden und auf das soziale Verhalten älterer Menschen. Ein Großteil der älteren Menschen lebt in einer nicht altersgerecht umgestalteten Wohnung. Die objektiven Ausstattungsmängel einer Wohnung werden von älteren Menschen allerdings häufig nicht als Beeinträchtigung der Wohnqualität wahrgenommen. Dabei kann es sich bei sozial benachteiligten älteren Menschen um die Relativierung von Wünschen aufgrund der Unkenntnis von Alternativen (vgl. Hagen 2009:89), fehlender Kompetenzen und/oder materieller Ressourcen handeln. Dies gilt insbesondere dann, wenn aufgrund biografischer Erfahrungen (z. B. bei niedrigem Bildungsstand) spezifische Kompetenzen zur Formulierung von Lebenszielen und zur Durchsetzung individueller Präferenzen nicht erworben werden konnten. Zum Aspekt des Wohnens und der damit verbundenen Zufriedenheit oder Unzufriedenheit und den Möglichkeiten der Alltagsbewältigung gehört auch eine gut ausgebaute und altersgerechte Gestaltung der Infrastruktur. Einkaufsmöglichkeiten, Arztpraxen, Treffpunkte, Unterstützungsangebote, Dienstleister usw. in der Nähe der eigenen Wohnung und eine sichere Verkehrsgestaltung sowie eine gute Anbindungen an den öffentlichen Nahverkehr sind entscheidende Faktoren für die Lebensqualität und die soziale Integration älterer Menschen. Insbesondere im ländlichen Raum und in dünner besiedelten Regionen bestehen erhebliche Infrastrukturprobleme. Soziale Aspekte Eine finanziell schlechtere Lage ist ebenfalls häufig mit unzureichenden Wohnbedingungen verbunden. Mangelhaft ausgestattete Wohnungen in Verbindung mit ungenügender Infrastruktur führen dann zu einer weiteren Einschränkung der Mobilität und somit zu weiteren Beschränkungen gesellschaftlicher Teilhabe und einer erhöhten Abhängigkeit von fremder Hilfe. 5.8 Technisierung des Alltags Aufgrund der fortschreitenden Technisierung sowohl im Berufsleben als auch im zunehmenden Maße des Alltags werden ältere Menschen immer häufiger mit neuen Technologien konfrontiert. Wie gut sie damit zurechtkommen, hängt einerseits von objektiven Bedingungen und anderseits von den psychosozialen Voraussetzungen (Alter, Geschlechtszugehörigkeit, gesundheitlicher und kognitiver Verfassung, Bildungs- und Einkommenshintergrund sowie Werte- und Interessensmustern) ab. Demzufolge bereitet die fortschreitende Technisierung vielen älteren Menschen auch Probleme. Für den oft alternativlosen Einsatz von Automaten statt persönlicher Dienstleistungen im öffentlichen Raum (z. B. Bankautomaten, Fahrkartenautomaten etc.) benötigen ältere Menschen technische Fertigkeiten und körperliche Fähigkeiten (Sehfähigkeit, Hörfähigkeit etc.), die nicht immer vorhanden sind. Notwendige Informationen für die alltägliche Lebensbewältigung werden teilweise nur noch elektronisch zur Verfügung gestellt (Auskunfts- und Beratungsdienste etc.), was den Zugang erschwert, weil ältere Menschen die technischen Hilfsmittel (PC, Smartphone etc.) nicht besitzen oder aufgrund geringer Technikaffinität nicht bedienen können. Unübersichtliche Gestaltung und Bedienungsführung technischer Geräte erschweren gerade älteren Menschen die Nutzung zusätzlich. 5.9 Subjektives Wohlbefinden bensziele und entwickeln eigene Maßstäbe, um das Erreichen dieser Ziele zu beurteilen.“ (Backes/ Clemens 2013:219) So können z. B. gemeinsame Zeit mit Enkeln zu verbringen oder generell als sinnhaft und selbstbestimmt erlebte Aktivitäten (Essenszubereitung, Gartenpflege, Haustiere etc.) höher bewertet werden als gesundheitliche Einschränkungen. Die Fähigkeit zur Anpassung sowie das Festlegen eigener Lebensziele und die daraus resultierende Lebenszufriedenheit oder Unzufriedenheit hängt wiederum von den persönlichen Ressourcen, z. B. dem Bildungsgrad, den psychischen Eigenschaften und ganz allgemein von den jeweiligen biografisch erworbenen Kompetenzen eines Menschen ab. Demnach wäre es falsch zu glauben, dass sich das Wohlbefinden älterer Menschen allein an den oben beschriebenen objektiven Lebensumständen festmachen lässt (vgl. Jopp et al. 2013:45). Zugleich sind Beschränkungen des Konsums materieller, aber auch kultureller und bildungsrelevanter Art, die Angewiesenheit auf fremde Hilfe und die Einschränkung sozialer Bedürfnisse objektive Belastungsfaktoren für die Bewältigung des Alltags, die subjektiv für viele ältere Menschen nur schwer zu ertragen sind. Ausgewählte Literatur Backes, G. M./ Clemens, W. (2013): Lebensphase Alter. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Alternsforschung (4. Auflage). Weinheim Bäcker, G./ Kistler, E./ Rehfeld, U. (2014): Aspekte der Lebenslagen Älterer – im Durchschnitt geht es ihnen gut. In: Bundeszentrale für politische Bildung, Dossier Rentenpolitik, URL: http:// www.bpb.de/politik/innenpolitik/rentenpolitik/179026 /altersbilder-und-lebenslagen-aelterer (29.10.2015) Elsbernd, A./ Lehmeyer, S./ Schilling, U. (2014): So leben ältere und pflegebedürftige Menschen in Deutschland. Lebenslagen und Technikentwicklung. Lage Häufig sind ältere Menschen zufrieden mit ihrem Leben, obwohl die objektiven Rahmenbedingungen (z. B. die finanzielle Situation) und persönlichen Ressourcen (z. B. der Gesundheitszustand) ungünstig erscheinen. Das hängt zum einen damit zusammen, dass ältere Menschen ihre Erwartungen und Bedürfnisse an die objektiven Lebensumstände anpassen (z. B. das Anerkennen des reduzierten Aktivitätsradius aufgrund körperlicher Einschränkungen). Zum anderen setzen sich (nicht nur) ältere Menschen „ihre eigenen Le- 28 Datenschutzrechtliche Aspekte 6 Datenschutzrechtliche Aspekte Datenschutzrechtliche Aspekte Inhalt 6.1 Einführung 30 6.2 Herausforderungen 31 6.3 Gründsätze des Datenschutzrechts 32 6.3.1 Das Bundesdatenschutzgesetz 32 6.3.2 Exkurs zu Schutzzielen 34 Ausgewählte Literatur 35 29 Datenschutzrechtliche Aspekte 6.1 Einführung Der Einsatz altersgerechter Assistenzsysteme stellt in vielen Fällen eine Herausforderung für den Schutz der Privatsphäre älterer Menschen dar. Dies liegt an den besonderen technischen Möglichkeiten der Datenerhebung in Bezug auf die Art und Menge der erhobenen Daten und auch ihrer ‚intelligenten’ Zusammenführung und Auswertung. Um mit dem älteren Menschen eine selbstbestimmte Entscheidungsgrundlage für oder gegen die jeweilige Technologie erarbeiten zu können, muss der Beratende die rechtliche Grundlage der Datenerhebung erläutern können. Dafür werden im Folgenden die wichtigsten Bestimmungen des Bundesdatenschutzgesetzes (BDSG) und ihre Bedeutung für den Beratungsprozess dargestellt. Die im BDSG festgelegten Rechte und Bedingungen der Datenerhebung können eventuelle Sorgen vor unkontrollierter Überwachung relativieren und dem älteren Menschen ein ausgewogeneres Bild bezüglich des Eingriffs in seine Privatsphäre liefern. Außerdem werden die sogenannten Schutzziele der Datensicherheit und des Datenschutzes vorgestellt. Aufgrund ihres praxisnahen Charakters können sie dem Beratenden eine Hilfe sein, die Verwirklichung von Datenschutzgrundsätzen in neuen Technologien zu beurteilen. 30 Datenschutzrechtliche Aspekte 6.2 Herausforderungen Altersgerechte Assistenzsysteme kommen im privaten Lebensbereich älterer Menschen zum Einsatz. Je nach eingesetzter Technologie werden dabei sensible Daten wie Gesundheitsdaten oder Daten der privaten Lebensführung erhoben. In einer freien Gesellschaft soll jeder Mensch selbst über die Preisgabe solcher Informationen entscheiden können. Ältere Menschen, die sich mit altersgerechten Assistenzsystemen auseinandersetzen, befinden sich häufig in einer Lebenssituation, die ihre Entscheidungsmöglichkeiten stark beeinflussen. Nicht selten sind sie zur Bewältigung des Alltags bereits auf Hilfe angewiesen, und die Entscheidung für ein Assistenzsystem geschieht auf Drängen der Angehörigen. Bei der Datenerhebung, die mit der Technologie einhergeht, handelt es sich gegebenenfalls sowohl um ein neues quantitatives Ausmaß der Erhebung in Form verschiedenster Daten, die rund um die Uhr ermittelt werden, als auch um neue Möglichkeiten der intelligenten Zusammenfassung und Auswertung dieser Daten. Darüber erleichtert die Technologie auch Datenmissbrauch durch nicht autorisierte Weitergabe und Verknüpfung der Daten. Altersgerechte Assistenzsysteme ermöglichen das Zusammenführen von Verhaltens-, Vital- und Umgebungsdaten zu umfassenden Persönlichkeitsprofilen, was gemäß der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) und des Bundesgerichtshofes (BGH) sowohl im staatlichen als auch im privatrechtlichen Verhältnis verboten ist (vgl. ULD 2010:71). Die Gefahren dieser Formen von Datenmissbrauch sollten nicht verharmlost werden, weil in die Anwendung eines Assistenzsystems eine ganze Reihe von Akteuren eingebunden sein können, die Zugriff zu den entsprechenden Daten haben, und für die diese Daten offensichtlich als Geschäftsmittel oder Gegenstand von Forschungs- und Verwaltungsinteressen in Betracht kommen. Die genannten Risiken machen es notwendig, den Umgang mit personenbezogenen Daten im Zuge des jeweiligen Technologieeinsatzes in der Beratung zu thematisieren. Nur mit dem Wissen, welche seiner Daten in welcher Situation und zu welchem Zweck an wen gehen, ist der ältere Mensch in der Lage, dies bezügliche Bedenken zu äußern, und als Resultat des Beratungsprozesses eine selbstbestimmte Entscheidung für oder gegen den jeweiligen Technologieeinsatz zu fällen. Im Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) wird dieses Wissen des Betroffenen5 unter dem Grundsatz der Transparenz gefasst (§ 4 BDSG)6. An altersgerechten Assistenzsystemen besteht häufig auch seitens des älteren Menschen der Anspruch, dass sie ihre Dienste möglichst unbemerkt im Hintergrund erfüllen. Ihr Wirken, und damit auch die erforderliche Datenerhebung, sollen dem Betroffenen in seinem Alltag gerade nicht omnipräsent sein. Von den Technologieanbietern wird die Preisgabe privater Informationen seitens des älteren Menschen in der Regel lediglich wegen der gesetzlichen Informationspflicht thematisiert. Insofern ist Transparenz keine Selbstverständlichkeit bei der Datenerhebung, sondern sollte bereits in der Beratung durch eine verständliche Darlegung thematisiert werden. Um den älteren Menschen in die Situation zu versetzen, eine ausreichend informierte Entscheidung für oder gegen die Technologie zu treffen, ist es notwendig, dass der Beratende auch in Hinblick auf den Umgang mit personenbezogenen Daten fundierte Kenntnisse über die Funktionsweise der Technologie hat. Das Instrument Analyse des Umgangs mit personenbezogenen Daten soll die Ermittlung dieser für den Beratungsprozess relevanten Datenströme unterstützen (siehe Abschnitt 7.3). Die Vermittlung dieses vorab gewonnenen Wissens über die Technologie an den älteren Menschen ist Teil des Beratungsprozesses (siehe Abschnitt 9.5). Eine besondere Herausforderung ist es, die Abläufe der teils sehr komplexen Technologieanwendung auf einfache, zielgruppengerechte Weise zu erläutern, so dass der Betroffene alle wichtigen Informationen erhält, ohne durch unbekannte Begriffe verunsichert zu werden. Auf Seiten des älteren Menschen kann die Preisgabe von Informationen der Privat- und Intimsphäre, die mit dem jeweiligen Technologieeinsatz einhergeht, Angst vor Überwachung oder vor Missbrauch auslösen. Die Furcht vor Überwachung muss in der Beratung präzisiert werden (siehe Abschnitt 9.6). Es kann darin der Wunsch zum Ausdruck kommen, dass bestimmte Informationen z. B. nur Angehörige erhalten sollen. Eine allgemein geäußerte Angst vor Überwachung kann sich – ohne dass dies präzisiert wird – auf jeweils sehr spezifische Informationen beziehen, die der ältere Mensch auf keinen Fall preisgeben will. Der Beratende sollte in der Lage sein, die verschiedenen Anwendungsoptionen der Technologie sowie technologische und nicht-technologische Alternativen zu erörtern, um diesen Sorgen Rechnung zu tra- 5 Das BDSG bezeichnet die Person, deren persönliche Daten erhoben werden als ‚Betroffenen’ der Datenerhebung. 6 Als Textgrundlage des BDSG dient – sofern nicht anders gekennzeichnet – Simitis 2003. 31 Datenschutzrechtliche Aspekte gen. An diesen Fragen zeigt sich die Komplexität des Beratungsprozesses, da sich die genannten Sorgen unter Umständen nicht auf Datenschutzfragen im engeren Sinn beziehen, sondern einen sozialen Konflikt mit Angehörigen offenbaren oder einen grundsätzlichen Ambivalenzkonflikt andeuten, auf den z. B. mit Hilfe des Instruments Umgang mit Ambivalenzen eingegangen werden sollte. Eng am Datenschutz und den Rechten des Betroffenen ist die mögliche Angst vor Datenmissbrauch zu behandeln, welche nicht verharmlost werden sollte. Die Aufklärung darüber, welche der eigenen Daten für die Technologieanwendung weitergegeben werden müssen, beinhaltet immer auch die Aufklärung über das Risiko, dass diese Daten ohne Wissen des Betroffenen anderen Zwecken und Institutionen zugänglich werden. Um deutlich machen zu können, dass es sich dabei um einen staatlich sanktionierten Missbrauch der Daten handelt, sollte der Beratende essentielle Bestimmungen des BDSG kennen, die im folgenden Abschnitt Grundsätze des Datenschutzrechts erläutert werden. Diese Ausführungen sollen dem Beratenden ermöglichen, dem älteren Menschen die Pflichten des datenerhebenden Technologieanbieters zu erläutern, welche vor einem Datenmissbrauch schützen. Außerdem können dem älteren Menschen seine Rechte auf Auskunft, Widerruf und Schadensersatz erklärt werden, die zum Tragen kommen, falls es Zweifel an einer bereits stattfindenden Datennutzung gibt. Zu diesen Ausführungen ist der Beratende allerdings rechtlich nicht verpflichtet. Die Umsetzung der datenschutzrechtlichen Bestimmung, die im Folgenden erläutert werden, ist eindeutig die Pflicht der datenerhebenden Stelle. Der Beratende benötigt die Kenntnisse des Datenschutzrechts jedoch, um dem älteren Menschen im Fall von Zweifeln und Sorgen eine ausgewogene Entscheidungsgrundlage vermitteln zu können. 6.3 Grundsätze des Datenschutzrechts Das BDSG ist die einfachgesetzliche Umsetzung der europäischen Datenschutzrichtlinie (Richtlinie 95/46/EG) und des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung, welches das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im sogenannten Volkszählungsurteil (BVerfGE 65, 1) als Unterfall des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts definiert hat. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung sichert dem Einzelnen das Recht zu, grundsätzlich selbst darüber zu entscheiden, welche persönli- chen Sachverhalte er wem zugänglich macht, und welche nicht (BVerfGE 65, 1). Es handelt sich hierbei um eine wesentliche Bedingung einer freien Gesellschaft, da die Unsicherheit darüber, wer was über die eigene Person weiß, die freie Entfaltung der Persönlichkeit hemmen würde. In Zusammenhang mit dem Eingriff in private Lebensbereiche durch altersgerechte Assistenzsysteme können auch noch andere Grundrechte betroffen sein. Das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme (häufig ‚Computergrundrecht’ genannt) definiert eigengenutzte IT-Systeme als digitale persönliche Privatsphäre und unterwirft diese einem besonderen Schutz vergleichbar mit dem räumlichen Schutz der Wohnung (Art. 13 GG) (vgl. Petri 2008:444). In dem entsprechenden Urteil verweist das BVerfG sowohl auf den gesteigerten Umfang gespeicherter persönlicher Daten in IT-Systemen, als auch auf die potenzielle Verletzlichkeit dieser Systeme (vgl. ULD 2010: 37). Das Fernmeldegeheimnis gemäß Artikel 10 Grundgesetz schützt die Vertraulichkeit der individuellen Kommunikation, und damit die Privatsphäre, auf Distanz. Die Datenerhebung im Zuge des Einsatzes altersgerechter Assistenzsysteme wird in einem privatrechtlichen Verhältnis zwischen Anbieter und Käufer geregelt, dessen datenschutzrechtliche Bedeutung im BDSG behandelt wird. Die aufgeführten Grundrechte sollen verdeutlichen, dass der Schutz von Persönlichkeit und Privatsphäre, wie ihn das BDSG vorsieht, als Verwirklichung von Grundrechten von nachhaltiger Bedeutung ist.7 6.3.1 Das Bundesdatenschutzgesetz Das BDSG schützt das Persönlichkeitsrecht des Bürgers, indem es die Erhebung und den Gebrauch seiner Daten durch staatliche oder private Akteure unter Bedingungen stellt und somit vor Missbrauch schützt. Die erste Bedingung beim Einsatz altersgerechter Assistenzsysteme ist, dass der ältere Mensch dem vorgesehenen Gebrauch seiner Daten für einen festgeschriebenen Zweck zustimmt. Seine Einwilligung ist die rechtliche Grundlage für die Datenerhebung und unmittelbare Verwirklichung seines Rechts auf Selbstbestimmung. Neben der Einwilligung erlaubt das BDSG in § 4 die Erhebung, Verarbeitung und Nutzung von personenbezogenen Daten auch aufgrund von 7 Aus diesem Grund ist davon auszugehen, dass die folgenden Prinzipien des Datenschutzrechts auch nach der möglichen Ablösung des BDSG durch eine neue europaweit geltende EU-Datenschutzverordnung dem Inhalt nach gültig bleiben werden. 32 Datenschutzrechtliche Aspekte anderen Rechtsvorschriften, wie z. B. das Sozialgesetzbuch den Umgang mit personenbezogenen Daten für die Sozialversicherung regelt. Für das privatrechtliche Verhältnis zwischen Anbieter und Käufer altersgerechter Assistenzsysteme kommt jedoch nur die Einwilligung als Rechtsgrundlage in Frage. Damit die Einwilligung Gültigkeit besitzt, muss eine Reihe von Bedingungen erfüllt sein. Sie muss freiwillig erfolgen und der Betroffene muss zuvor ausreichend informiert worden sein. Außerdem muss die Einwilligung schriftlich erfolgen und sich deutlich von anderen Vertragsinhalten abheben. (BDSG § 4a) Ausreichend informiert bedeutet, dass der Betroffene - bevor er einwilligt - erfahren muss, wann welche seiner Daten durch wen und zu welchem Zweck erhoben werden. Allgemein gehaltene Informationen, die lediglich darlegen, dass Daten erhoben werden, reichen nicht aus. Außerdem müssen diese Informationen klar und verständlich formuliert sein, um als Grundlage für eine Einwilligung dienen zu können. Gemäß § 3 BDSG gehören Gesundheitsdaten zu besonders schützenswerten Daten. Sollten sie beim Einsatz altersgerechter Assistenzsysteme erhoben werden, so muss sich die Einwilligung explizit auf diese Daten beziehen. Das BDSG verpflichtet die datenerhebende Stelle zu Prinzipien, welche die Datenerhebung auf Grundlage der Einwilligung unter Bedingungen stellt. Die Einwilligung in die Datenerhebung, Verarbeitung und Nutzung reicht immer nur so weit, wie der vereinbarte Zweck, zu dem sie erhoben werden. Das Prinzip der Zweckbindung besagt, dass die Erhebung personenbezogener Daten stets einer solchen Festlegung bedarf und die Daten nur zur Erfüllung des vereinbarten Vertragszwecks verwendet werden dürfen. Die Weitergabe oder Nutzung der Daten für Markt- oder Meinungsforschung kann nur erfolgen, sofern der Betroffene über sein Widerspruchsrecht informiert wird, oder eine gesonderte Einwilligung mit dem neuen Verwendungszweck eingeholt wird. (vgl. BDSG § 28 nach Bizer 2007:352) Des Weiteren gilt für datenerhebende Stellen das Prinzip der Erforderlichkeit. Dies besagt, dass ausschließlich Daten erhoben werden dürfen, die für den vereinbarten Zweck erforderlich sind. Außerdem sind die Hersteller von Produkten dazu verpflichtet, die Datenverarbeitungssysteme so zu gestalten, dass möglichst wenige Daten erhoben werden, und soweit möglich – Anonymisierung und Pseudonymisierung zum Einsatz kommen. (BDSG § 3a) Daten, die nicht mehr zur Erfüllung des Vertragszwecks benötigt werden sind zu löschen, sofern dem keine anderen gesetzlichen Aufbewahrungsfristen im Weg stehen. (vgl. BDSG § 35 nach Bizer 2007:353) 33 Zur Gewährleistung der Prinzipien des Datenschutzes sind datenerhebende Stellen gemäß § 9 des BDSG zu technischen und organisatorischen Maßnahmen der Sicherheit ihres Datenverarbeitungssystems verpflichtet. Die Datensicherheit bei der datenerhebenden Stelle ist Bedingung für den erfolgreichen Schutz der persönlichen Daten des Betroffenen. Für die Beratungssituation, in der Skepsis gegenüber der Sicherheit der Technologie aufkommen kann, ist es wichtig zu wissen, dass das jeweilige Unternehmen zur Umsetzung der erforderlichen Maßnahmen verpflichtet ist, welche personenbezogene Daten vor unberechtigtem Zugriff schützen. Für die Ergreifung der erforderlichen Maßnahmen wie z. B. Verschlüsselungen, Passwortschutz und sichere Speicherverfahren bildet die Anlage des § 9 BDSG nicht immer den aktuellsten Stand der Technologie ab, weshalb sich datenerhebenden Stellen häufig an den vorgeschlagenen Schutzmaßnahmen des Bundesamtes für die Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) und den sogenannten Schutzzielen der Datensicherheit orientieren (siehe Abschnitt 7.3). Altersgerechte Assistenzsysteme können in ihrer Funktionsweise komplex und schwer verständlich sein. Dementsprechend sollte trotz einer guten Beratung eine gewisse Überforderung des Betroffenen bezüglich des Inhalts seiner Zustimmung nicht ausgeschlossen werden. Es ist möglich, dass der Betroffene einzelne Aspekte der Datenerhebung nicht verstanden hat oder weiterhin Skepsis gegenüber der Preisgabe privater Informationen hegt, das Interesse am Produkt jedoch trotzdem zur Einwilligung führt. Sollte der Betroffene aus diesen oder anderen Gründen Zweifel an seiner Entscheidung haben, sieht das BDSG Wege vor, wie er auch nach gegebener Einwilligung die Kontrolle über seine persönlichen Daten wiedergewinnen kann. Zunächst sieht § 34 BDSG ein andauerndes Auskunftsrecht vor. Sollte also der Betroffene unsicher bezüglich Art oder Rechtmäßigkeit der Datenerhebung sein, kann er Auskunft über Art, Umfang und Zweck der über ihn gespeicherten Daten verlangen. Sollten dabei fehlerhafte Daten auftauchen, so hat er das Recht auf Berichtigung, sowie das Recht auf Löschung von unrechtmäßig erhobenen Daten. (§ 35 BDSG) Für den Fall, dass der Betroffene mit der gesamten Datenerhebung nicht mehr einverstanden ist, hat er jederzeit das Recht auf Widerruf seiner Einwilligung. Damit ist eine Erhebung, Verarbeitung und Nutzung seiner Daten ab dem Zeitpunkt des Widerrufs nicht mehr zulässig. Sieht der Betroffene seine Rechte in irgendeiner Weise verletzt, so kann er sich an die zuständige Datenschutzbehörde wenden. Dabei handelt es sich um den jeweiligen Landesbeauftragten für Datenschutz oder Datenschutzrechtliche Aspekte eine vergleichbare meist dem Innenministerium angegliederte Behörde (vgl. Bizer 2007:356). Diese Stelle hat umfassende Prüfungs- und Sanktionsrechte und kann sowohl von Betroffenen, als auch von den Datenschutzbeauftragten entsprechender Betriebe kontaktiert werden, um eventuelle Verstöße zu melden oder Beratung zu erbitten. Sollte dem Betroffenen durch eine unrechtmäßige Datennutzung ein Schaden entstehen, so hat er gemäß § 7 BDSG das Recht auf Schadensersatz durch die verursachende Institution und kann den entsprechenden Rechtsweg bestreiten. 6.3.2 Exkurs zu Schutzzielen Bei den Schutzzielen der Datensicherheit handelt es sich um eine von Datenschützern und datenerhebenden Stellen entwickelte Zusammenfassung der essentiellen Anforderungen nationaler Datenschutzgesetze und europäischer Datenschutzrichtlinien an die Datensicherheit bei Institutionen, die Daten erheben, verarbeiten und nutzen. Sie beinhalten außerdem konkrete Maßnahmen zur Umsetzung dieser Anforderungen. Dieses Kombinat aus Zusammenfassung der gesetzlichen Anforderungen in Form von Prinzipien und praxisnahen Maßnahmen (z. B. Leitlinien für Passwortsicherheit, Maßnahmen zur Serversicherheit in unerwarteten Notsituationen oder Mitarbeiterschulungen zur Datensicherheit) gibt den Herstellern datenverarbeitender Systeme bei der Konstruktion ihrer Produkte Orientierung zur Wahrung der Datensicherheit (vgl. Rost 2011:2). Die Schutzziele der Datensicherheit lauten Verfügbarkeit, Integrität und Vertraulichkeit. Sie sollen sicherstellen, dass ein datenverarbeitendes System seine Funktion verlässlich ausführt (Verfügbarkeit), unerwünschte Nebenwirkungen berücksichtigt und – soweit möglich – vermeidet (Integrität), und diese Funktion nur für die betroffene Person erfüllt (Vertraulichkeit). Im Bereich altersgerechter Assistenzsysteme kann je nach Funktionsweise der eingesetzten Technologie ihre Verfügbarkeit von herausragender Bedeutung sein, da sie gegebenenfalls lebensrettende Maßnahmen initiieren soll. Wie bereits zum § 9 BDSG ausgeführt ist die Gewährleistung der Datensicherheit eine Bedingung für gelingenden Datenschutz, jedoch nicht damit gleichzusetzen. Gerade vor dem Hintergrund moderner Verfahren der Datenerhebung, -speiche- rung und -auswertung haben Datenschützer daher neben den Schutzzielen der Datensicherheit Schutzziele des Datenschutzes – Transparenz, Nichtverkettbarkeit und Intervenierbarkeit – entwickelt. Diese Schutzziele nehmen die Perspektive des Betroffenen ein, dessen Daten erhoben werden, und unterstützen sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung (vgl. Rost 2011:2). Da sie auch auf Seiten der Hersteller als Orientierungshilfe bei der Produktentwicklung anerkannt sind (vgl. VDE DKE 2014:55), und eindeutig parteilich für die Schutzrechte des Betroffenen ausgerichtet sind, können sie für den Beratenden eine hilfreiche Perspektive sein, um ein Produkt zu beurteilen. Auf dieser Grundlage können technische Unklarheiten mit dem Hersteller geklärt werden bzw. kann auf Mängel hingewiesen werden, und schließlich können dem Betroffenen selbst die Vorund Nachteile des jeweiligen Produkts im praktischen Umgang mit persönlichen Daten aufgezeigt werden. Der Inhalt des Schutzziels Transparenz wurde in den Ausführungen zum BDSG in weiten Teilen benannt. In Ergänzung zur umfassenden Aufklärung – vor der Einwilligung des Betroffenen – sollte dieses Ziel auch mit einer entsprechend transparenten Produktgestaltung und Funktionsweise bekräftigt werden. Beispielsweise wäre es bei einem Sensorsystem wünschenswert, dass die Aktivität der Sensoren und stattfindende Datenspeicherung einfach und übersichtlich in einem Display dargestellt werden. Transparenz wäre so kein singulärer Akt einer Einverständniserklärung, sondern würde in der Anwendung laufend hergestellt werden und könnte dazu beitragen dem Betroffenen mögliche Ängste zu nehmen. Das Schutzziel Nichtverkettbarkeit tritt den gewachsenen technischen Möglichkeiten eines zweckfremden Gebrauchs erhobener Daten im Allgemeinen, und dem Zusammenführen (Verketten) verschiedener Datensätze zu Profilen im Besonderen, entgegen.8 Auf die Möglichkeiten unrechtmäßiger Bildung von Persönlichkeitsprofilen wurde bereits einleitend hingewiesen. Für den Betroffenen ist es schwer zu überblicken, ob Informationen, die ausschließlich für Angehörige oder für den Hausarzt bestimmt sind, nicht doch eine Zusammenführung erfahren, womöglich über die Kombination mit dem eigenen Profil in sozialen Netzwerken oder bei einem Online-Händler. Nichtverkettbarkeit verlangt, dass Daten technisch und organisatorisch in einer Form erhoben und gespeichert werden, die sicherstellt, dass sie nicht mit anderen Daten verknüpft und damit an- 8 Eine grundlegende Analyse zur möglichen Verkettung digitaler Datensätze und technischen Maßnahmen, diese zu kontrollieren, bietet die Studie Verkettung digitaler Identitäten des unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz Schleswig Holstein (vgl. ULD/ TU 2007). 34 Datenschutzrechtliche Aspekte deren Zwecken zugeführt werden können. (vgl. Rost 2011:2) Der Beratende kann darauf achten, ob der Hersteller besondere Maßnahmen zur Umsetzung dieses Prinzips kenntlich macht, oder ob das Produkt selbst eine Profilbildung nahelegt. Das Schutzziel Intervenierbarkeit will dem Betroffenen insbesondere bei dauerhafter Datenerhebung – so wie dies im Bereich altersgerechter Assistenzsysteme häufig der Fall ist – möglichst viel Kontrolle über die Erhebung der eigenen Daten sichern. Ein wirksamer Weg der Kontrolle wäre die Möglichkeit, die Datenerhebung zumindest vorübergehend abzuschalten, oder gespeicherte Daten auf einfache Weise selbst löschen zu können. Der Datenerhebung nach eigenem Ermessen Grenzen setzen zu können, ist ein wichtiges Mittel für den Betroffenen, um unter den Bedingungen dauerhafter und umfassender Datenerhebung Selbstbestimmung und Privatsphäre zu bewahren. Logischerweise entfällt bei Abschaltung des Systems die an sich gewünschte Funktion. Sollte das Wiedereinschalten vergessen werden, können Gefahrensituationen lange Zeit unbemerkt bleiben, weil alle Beteiligten von einem funktionierenden Warnsystem ausgehen. Insofern sind bei altersgerechten Assistenzsystemen Wege der Intervenierbarkeit auch stets eine Abwägungsfrage gegenüber der sicheren und ununterbrochenen Funktionsweise einer womöglich lebensrettenden Technologie. Neben den Maßnahmen der Transparenz sind Maßnahmen zur Umsetzung von Intervenierbarkeit9 ein wichtiger Aspekt zur Reduzierung von Angst vor unkontrollierter Überwachung, und könnten so zu einer erhöhten Akzeptanz auf Seiten des älteren Menschen beitragen. um mögliche Anpassungen des deutschen und europäischen Datenschutzrechtes. So findet sich das Prinzip der Intervenierbarkeit im derzeitigen BDSG nicht, seine Aufnahme wäre jedoch eine mögliche Anpassung des Rechts an eine ‚Rundum-die-Uhr-Datenerhebung’ wie sie im Kontext altersgerechter Assistenzsysteme vorkommt. Ausgewählte Literatur Bizer, J. (2007): Sieben goldene Regeln des Datenschutzes. In: Datenschutz und Datensicherheit 31 (5). Wiesbaden, S. 350–356. Rost, M. (2011): Datenschutz bei Ambient Assist Living (AAL) durch Anwendung der Neuen Schutzziele. URL: http://www.maroki.de/pub/privacy/ DS_in_AALSystemen. pdf (06.07.2015) [ULD] Unabhängiges Landeszentrum für Datenschutz Schleswig-Holstein (2010): Juristische Fragen im Bereich altersgerechter Assistenzsysteme. URL: https://www.daten schutzzentrum.de/ aal/2011-ULD-JuristischeFragenAltersgerechteAssistenzsysteme.pdf (06.07.2015) In der Beratungssituation können die Schutzziele die Kenntnisse der elementaren Bestimmungen des BDSG nicht ersetzen. Schließlich bildet das BDSG die rechtliche Grundlage, auf die die Hersteller und Dienstleister verpflichtet sind, und auf die sich der Betroffene berufen kann. Die Schutzziele selbst wirken auf zwei verschiedenen Ebenen. Erstens wie erwähnt als Orientierungshilfe für Hersteller bei der Umsetzung der technischen und organisatorischen Maßnahmen von Datenschutz und Datensicherheit. Auf dieser Ebene kann die Kenntnis der Schutzziele auch für den Beratenden von Nutzen sein. Sie können zur Beurteilung neuer Produkte herangezogen werden, und eine gemeinsame Grundlage für Rückfragen bei Herstellern sein. Zweitens sind die Schutzziele Ausdruck einer rechtspolitischen Debatte 9 Einen Weg wie mit Hilfe einer elektronischen Gesundheitsakte und einem dazugehörigen Monitoring Control System (MCS) dem älteren Menschen ein hohes Maß an Intervenierbarkeit in mögliche Datenerhebung und Kontrolle über die eigenen Gesundheitsdaten gegeben werden kann, zeigt der Forschungsverbund GAL (vgl. Helmer et. al. 2012). 35 Technologie und Datenschutz 7 Technologie und Datenschutz Technologie und Datenschutz Inhalt 7.1 Einführung 37 7.2 Funktion des Instruments 38 7.3 Analyse des Umgangs mit personenbezogenen Daten 38 7.4 Beispiel: Ein sensorbasiertes Smart-Home-System 41 7.5 Leistung und Grenzen des Instruments 42 7.6 Weitere Informationsmöglichkeiten 43 Ausgewähle Literatur 43 36 Technologie und Datenschutz 7.1 Einführung Im vorherigen Kapitel wurden die rechtlichen Bedingungen erläutert, unter denen Datenerhebung und -nutzung stattfinden. Eine besondere Herausforderung im Kontext altersgerechter Assistenzsysteme ist in diesem Zusammenhang die Komplexität der Datenerhebung und -nutzung selbst. Welche Daten erhoben werden, wie sie weiterverarbeitet werden, ob sie gespeichert werden und zu welchen Informationen letztlich wer Zugang hat, ist schwer zu überblicken. Diese Informationen dem älteren Menschen zu vermitteln ist jedoch sowohl essentiell für eine selbstbestimmte Entscheidung für oder gegen die Technologie, als auch für eine rechtsgültige Einwilligung in die jeweilige Datenerhebung. Im Folgenden wird ein Instrument vorgestellt, mit dessen Hilfe Beratende neue Technologien bezüglich ihres Umgangs mit personenbezogenen Daten untersuchen können, um das dabei gewonnene Wissen in der Beratung weitergeben zu können. 37 Technologie und Datenschutz 7.2 Funktion des Instruments In der Beratung ist der Umgang einer Technologie mit persönlichen Informationen zunächst keine juristische Frage. Die Aufklärung darüber, welche Teile der privaten Lebensführung für Andere einsichtig werden, ist in erster Linie Aufklärung über die Funktionsweise der jeweiligen Technologie. Auf Grundlage dieser Aufklärung können Präferenzen und Sorgen des Betroffenen erörtert und mit Hilfe der Ergänzung rechtlicher Bestimmungen eine differenzierte Entscheidungsgrundlage erarbeitet werden. Um diese Grundlage geben zu können, muss sich der Beratende selbst das Wissen erarbeiten, welche Konsequenzen der Einsatz der jeweiligen Technologie in ihren teils variablen Settings für die Privat- und Intimsphäre des Betroffenen hat. Um den Beratenden bei dieser Aufgabe zu unterstützen, wurde das Instrument Analyse des Umgangs mit personenbezogenen Daten entwickelt. Es bietet eine Hilfestellung, altersgerechte Assistenzsysteme daraufhin zu untersuchen, welche personenbezogenen Daten während der Anwendung der Technologie für wen einsichtig werden. Dafür braucht der Beratende ein allgemeines Verständnis der verschiedenen technischen Ebenen eines altersgerechten Assistenzsystems zwischen denen Informationen übertragen werden. Indem der technische Ablauf der Anwendung nachvollzogen wird, lässt sich bestimmen, welche Informationen unter welchen Bedingungen letztlich für Dritte zugänglich werden. Es ist zu erwarten, dass dafür auch Rücksprache mit dem jeweiligen Hersteller nötig ist, da gängige Produktinformationen in dieser Frage möglicherweise nicht aussagekräftig genug sind, und sich diese Informationen auch nicht auf einfache Weise in der Erprobung des Produkts ermitteln lassen. Der Einsatz des Instruments findet nicht im Beratungsprozess statt, sondern die Ergebnisse des Instruments sollen dem Beratenden das Wissen liefern, das er dem älteren Menschen im Gespräch vermitteln will. Weil dem Beratenden diese Informationen nicht zur Verfügung stehen, muss er mit der Anwendung des Instruments ein Stück Pionierarbeit leisten, die eigentlich nicht in seine Zuständigkeit fällt. Grundsätzlich sollte es Aufgabe der Hersteller sein, diese Informationen von vornherein transparent machen. Der ältere Mensch erwartet von einem altersgerechten Assistenzsystem eine Förderung seines Komforts, seiner Sicherheit, Mobilität oder Gesundheit. Als Preis für eine solche Leistung muss er mehr oder weniger umfassend private Informationen offenlegen. Die Beurteilung der jeweils erforderlichen Datenerhebung im Verhältnis zur Leistung, die von ihr erwartet wird, fällt individuell verschieden aus. Was für die einen die nötige Konsequenz der gewünschten Leistung ist, wird von anderen als nicht akzeptabler Eingriff in die Privatsphäre betrachtet, aufgrund dessen der Einsatz des Assistenzsystems abgelehnt wird. Unabhängig davon wie eindeutig oder ambivalent die Beurteilung ausfällt, erst die Aufklärung über den Gebrauch personenbezogener Daten versetzt den älteren Menschen in die Lage, eine eigenständige Beurteilung vorzunehmen. Sollte die erläuterte Technologie zum Einsatz kommen, so sind die Erläuterungen unmittelbar praktizierter Datenschutz, weil sichergestellt wird, dass die Datenerhebung nur mit dem Wissen des Betroffenen stattfindet, das datenschutzrechtliche Prinzip der Transparenz also verwirklicht wird. 7.3 A nalyse des Umgangs mit personenbezogenen Daten Das Instrument soll den technischen Ablauf eines altersgerechten Assistenzsystems daraufhin untersuchen, welche personenbezogenen Daten letztlich für andere Personen und Institutionen einsichtig werden. Welche technischen Ebenen dafür eine Rolle spielen, soll auf Grundlage der folgenden Definition altersgerechter Assistenzsysteme entwickelt werden (BMBF/ VDE 2011:12ff): „Definition 1 (AAL-System im engeren Sinn) AAL-Systeme im engeren Sinn sind informationstechnische Systeme, die einen älteren Menschen im Alltag dadurch unterstützen, dass sie für ihn auf Basis von Daten über die aktuelle Situation Entscheidungen übernehmen oder Handlungsvorschläge unterbreiten und damit ein selbstständiges und selbstbestimmtes Leben im eigenen Heim ermöglichen. (…) D efinition 2 (AAL-System im weiteren Sinn) Ein AAL-System im weiteren Sinn (auch Monitoring-System genannt) ermöglicht, durch Bereitstellung von Informationen über die aktuelle Situation des Betroffenen, das [sic!] andere Menschen Entscheidungen für ihn übernehmen oder Handlungsvorschläge unterbreiten. (…) Definition 3 (Assistives Gerät) Ein assistives System verstärkt die physischen und sensorischen Fähigkeiten des Betroffenen. (…) Die Abgrenzung zwischen AAL- und assistiven Systemen besteht darin, das [sic!] ein Teil der 38 Technologie und Datenschutz Intelligenz des AAL-Systems vor Ort ist, während in normalen Systemen die Daten unbearbeitet weitergegeben werden. Über eine gewisse Intelligenz hinaus sollten AAL-Geräte folgende Eigenschaften besitzen: Kooperation: das Gerät sollte mit anderen Geräten kooperieren können. Die geforderte Kooperationsbereitschaft sorgt für eine weitere Abgrenzung zu nichtvernetzungsfähigen, autonomen Assistenzsystemen. Unaufdringlichkeit: das System sollte soweit möglich mit seiner Umgebung verschmelzen. Wenn eine vollständige Integration nicht möglich ist, sollte das AAL-System den Nutzer möglichst wenig behindern oder ablenken. Situationsangemessenheit: das Gerät sollte auf die Bedürfnisse des Nutzers, der Umgebung und der Situation angemessen reagieren. S icherheit und Robustheit: Gerade für den Gebrauch durch ältere Menschen müssen die Geräte besonders sicher und robust sein. Dieser Punkt ist maßgeblich verantwortlich für die Akzeptanz der Geräte und für deren Marketing“ (…) Jedes AAL-Gerät bietet verschiedene Interaktionsmöglichkeiten für den Nutzer. Dies sind direkte ‚Interaktionselemente’, die ‚Sensorik’ und die ‚Aktorik’ des Systems. Weiterhin besteht ein AAL-System aus Komponenten welche die Entscheidungskompetenz des Systems enthalten. Diese lassen sich aufteilen in Situationsbewertung und die Aktionsplanung. (…) Sensoren Um die aktuelle Situation des Nutzers zu bestimmen, stehen unterschiedlichste Sensoren zur Verfügung. Diese lassen sich in folgende Gruppen unterteilen: Sensoren zur (a) Lokalisierung von Nutzern und Gegenständen, (b) Bestimmung medizinischer Parameter und (c) Messung von Umgebungsparametern. (…) Entscheidungskompetenz Die Intelligenz des Systems entsteht in der Entscheidungskomponente. Diese besteht aus den folgenden zwei Untersystemen: ‒ Situationsanalyse Aufbauend auf den Sensordaten und den Interaktionen mit dem Benutzer, muss die aktuelle Situation erkannt werden. ‒ Aktionsplanung Nachdem die aktuelle Situation erkannt wurde, müssen mögliche Aktionen zur Unterstützung des Nutzers geplant werden. Aktoren Die geplanten Aktionen werden mittels 39 der Aktoren umgesetzt. Diese können den Zustand der Welt verändern.“ Zur Bestimmung der in der Anwendung eines altersgerechten Assistenzsystems stattfindenden Erhebung, Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten sind drei der in der Definition genannten technischen Ebenen besonders zu beachten: Die Ebene der Sensorik, auf der Daten erfasst werden, z. B. ein Sensor, der die Betätigung der Haus/Wohnungstür erfasst. Die Ebene der Entscheidungskompetenz, auf der diese Daten interpretiert werden, z. B. aus den Sensordaten wird geschlossen, dass der Bewohner nicht zu Hause ist. Die Ebene der Aktorik, wo auf Grundlage der interpretierten Daten Aktionen veranlasst werden, z. B. elektronische Geräte werden automatisch ausgeschaltet. Die Unterscheidung in AAL-Systeme im engeren und im weiteren Sinn macht deutlich, dass die jeweiligen Aufgaben von Sensorik, Entscheidungskompetenz und Aktorik mit einem unterschiedlichen Automatisierungsgrad vollzogen werden können. Werden sie manuell vollzogen, so ist entscheidend, ob dies durch den Betroffenen selbst geschieht oder durch Dritte, also in der Regel ausgewählte Vertrauenspersonen oder professionelle Dienstleister. Handelt es sich nicht um den älteren Menschen selbst, so muss klar werden, wer im Prozess Einsicht in welche Daten erhält. Das Instrument verfügt über drei Tabellen, jeweils eine für die genannten Ebenen. Mit Hilfe der Untersuchung dieser drei Ebenen soll die Datenerhebung, -speicherung und -verarbeitung des jeweiligen altersgerechten Assistenzsystems nachvollzogen werden. Im Folgenden sollen die dafür erforderlichen Fragen und Antwortmöglichkeiten erläutert werden. Auf der Ebene der Sensorik ist zunächst zu fragen, welche Daten erhoben werden. Der Sensor erhebt sogenannte Rohdaten, die zur Weiterverarbeitung oder Zusammenfassung an die Entscheidungskompetenz übermittelt werden. Zu diesen Rohdaten gehören: mgebungsdaten – Daten der Umgebung des BeU troffenen, z. B. Temperatur, Licht oder Lautstärke. Verhaltens- und Nutzungsdaten – Daten, die Auskunft über die Aktivität des Betroffenen geben, z. B. Bewegung, die durch Raumsensoren registriert werden oder die Nutzung von Elektrogeräten. Technologie und Datenschutz Vitaldaten – Daten, die Aufschluss über den körperlichen Zustand des Betroffenen geben, z. B. Blutdruck, Körpertemperatur oder Puls. Außerdem sollte für die Ebene der Sensorik festgehalten werden auf welchem Übertragungsweg die Daten an die Entscheidungskompetenz übermittelt werden. Eine Funkverbindung muss unter Umständen besondere Anforderungen an die Datensicherheit erfüllen. Für altersgerechte Assistenzsysteme im engeren Sinn ist charakteristisch, dass die Interpretation der Sensordaten und das Auslösen einer entsprechenden Aktion vom System selbst vorgenommen werden. Deshalb ist die Funktionsweise der automatisierten Entscheidungskompetenz entscheidend für den Umgang mit personenbezogenen Daten im jeweiligen System. Hier wird entschieden, welche der vom Sensor erfassten Daten gespeichert werden, welche Informationen daraus generiert werden und wer Zugang zu welcher Art von Information erhält. Bei der Frage, welche Informationen in der Entscheidungskompetenz gespeichert werden, ist also zu präzisieren, ob es sich um die vom Sensor übermittelten Rohdaten handelt, oder um daraus ermittelte Informationen. Daher sind in dieser Tabelle neben den Rohdaten weitere Typen von Informationen zur Auswahl vorgegeben: Aggregierte Daten – Zusammengeführte Daten, in der Regel Abrechnungsdaten und summierte Nutzungsdaten aus dem Bereich Strom und Kommunikation. Neu generierte Informationen – Das Ergebnis einer auf der Ebene der Entscheidungskompetenz geleisteten Verknüpfung von Umgebungs-, Verhaltens und Vitaldaten, aus der eine neue Information über den Zustand des Betroffenen geschlossen wird. Dabei ist zu unterscheiden, ob diese Information in ihrer Gesamtheit an Dritte übermittelt wird, oder bei Auffälligkeiten ein Alarmsignal ohne Daten ausgesandt wird, die dem Alarm zugrunde liegen. Selbstdefiniertes Personenprofil – Einem Alarm liegt häufig die ermittelte Differenz zwischen erhobenen Daten und im System hinterlegten Normwerten zugrunde. Zu diesem Zweck muss ein Nutzer- oder Personenprofil mit entsprechenden Normwerten dauerhaft gespeichert sein, die Vital-, Verhaltens- und Umgebungsparameter umfassen können. Ein wichtiges Merkmal ist der Standort der Entscheidungskompetenz. Befindet sie sich in der Wohnung des Betroffenen, so kann dem älte- ren Menschen mehr Eingriffsmöglichkeiten in die Speicherung und Übermittlung von Daten gegeben werden. Des Weiteren sind Settings möglich, in denen keine erhobenen Daten die Wohnung verlassen, sondern lediglich Alarmsignale, die sich aus der Interpretation der Daten ergeben. Auch beim Verbleib der Daten in der Wohnung sollte Klarheit darüber bestehen, wer darauf Zugriff hat, z. B. Angehörige oder ein eingebundener Pflegedienst. Befindet sich die Entscheidungskompetenz auf einem auswärtigen Server, so verlassen sämtliche auszuwertenden Sensordaten die Wohnung und sind mindestens dem Dienstleister des altersgerechten Assistenzsystems zugänglich. Die Ebene der Aktorik bezeichnet die Aktionen, die auf Grundlage der von der Entscheidungskompetenz ermittelten Informationen ausgelöst werden. Grundsätzlich fallen unter den Begriff der Aktorik auch einfache Komforthilfen, die unmittelbar vom Sensor ausgelöst werden wie im Bereich der Temperatur- oder Lichtregulation. Für die Datenschutzfrage „Wer erfährt wann was über mich?“, sind diese Aktionen jedoch nicht relevant. Es wird daher der Fokus auf Aktionen gelegt, bei denen ein Alarm ausgelöst wird oder die regelmäßige Weitergabe von Informationen an Angehörige, den Arzt oder andere Dienstleister vorgesehen ist. Die Beteiligten, die im Fall eines Alarms informiert werden, können von denjenigen abweichen, die tatsächlich aktiv werden. So können z. B. eine Servicezentrale des Herstellers und Angehörige über eine mögliche Gefahrensituation informiert werden, während für die Überprüfung der Situation vor Ort ein weiterer Pflegedienstleister vorgesehen ist. Außerdem ist es wichtig festzuhalten, ob der ältere Mensch selbst Eingriffsmöglichkeiten in den Alarm hat, also z. B. eine bestimmte Zeit zur Verfügung hat, einen Voralarm auszuschalten, bevor Dritte aktiv oder überhaupt informiert werden. Die Typisierung der Antwortmöglichkeiten im Instrument soll helfen, einen strukturierten Überblick über das jeweilige System zu gewinnen. Für alle drei Tabellen des Instruments und ihre Antwortmöglichkeiten gilt, dass sie dem Beratenden eine Anregung sein sollen, über welche technischen Aspekte er sich Klarheit verschaffen sollte, um dem Betroffenen erläutern zu können, wer unter welchen Umständen was über ihn erfährt. Insofern sollen die Kategorien gerade in Bezug auf die jeweiligen Daten/Informationen nur den Auftakt liefern, die jeweilige Technologie im jeweiligen Setting präziser zu bestimmen, wichtige Kategorien und Informationen zu ergänzen und ggf. mit dem Hersteller Rückfragen zu klären. Im Folgenden soll anhand eines Beispiels die Anwendung des Instruments verdeutlicht werden. 40 Technologie und Datenschutz 7.4 B eispiel: Ein sensorbasiertes SmartHome-System Bei dem Produkt, das mit Hilfe des Instruments 8 Umgang mit personenbezogenen Daten untersucht wird, handelt es sich um ein umfassendes Smart-Home System, dessen Einzelkomponenten den Bedürfnissen des älteren Mensch entsprechend zusammengestellt werden können. Die Daten verschiedener Sensoren werden in einem zentralen Bedienelement in der Wohnung gesammelt und von dort verschlüsselt an ein Rechenzentrum übermittelt. Das Rechenzentrum gleicht die eingehenden Daten mit den im Nutzerprofil hinterlegten Normwerten ab. Sollte das System auf eine ungewöhnliche Situation in der Wohnung schließen, wird im zentralen Bedienelement der Wohnung ein Voralarm ausgelöst bzw. auf eine mögliche Gefahrensituation hingewiesen. Der ältere Mensch hat dann die Möglichkeit mittels einfachem Druck auf das Bedienelement den Alarm auszuschalten und damit zu signalisieren, dass keine Gefahr vorliegt bzw. das Problem selbstständig behoben wird. Geschieht dies nicht, wird ein zuvor benannter An-/ Zugehöriger oder eine Pflegeperson benachrichtigt. Der ausgewählten Person ist es möglich, über das zentrale Bedienelement mit der Wohnung zu kommunizieren, also auch Vorgänge in der Wohnung zu hören. Folgende Sensoren können in das System integriert werden: ‒ Wassersensor: Erkennt und meldet Wasser auf dem Fußboden, auf dem er angebracht wird, z. B. aufgrund einer überlaufenden Badewanne HOCHSCHULE HANNOVER Fakultät V – Abteilung Soziale Arbeit ‒ Herdsensor: Registriert die Hitzeentwicklung am Kochfeld sowie vorhandene/ausbleibende Be- wegung am Herd und kann so versehentlich noch eingeschaltete Kochfelder melden ‒ Bewegungsmelder: Erkennt Bewegungen im jeweiligen Raum ‒ Tür- und Fenstersensor: Erkennt geöffnete Fenster bzw. Türen ‒ Rauchmelder: Löst zur frühzeitigen Branderkennung Alarm aus, sobald Rauch registriert wird ‒ Sensormatte als Bettunterlage: Registriert, ob eine Person im Bett liegt ‒ Wasserflusssensor: Reagiert auf ungewöhnlich lange fließendes Wasser ‒ WC-Wandtaster: Löst die Toilettenspülung aus und registriert eine ungewöhnlich lange Nichtbenutzung ‒ Hilferuf-Knopf: Als Arm- oder Halsband getragen kann per einfachem Knopfdruck eine Hilferuf ausgelöst werden ‒ CO2-Melder: Warnt vor gefährlichem CO-Gas, das beim Betreiben von Heizkesseln und Kaminöfen entstehen kann Die gewünschten Komponenten werden in einem passwortgeschützten Service-Portal installiert und mit Normwerten versehen, welche den Gewohnheiten des älteren Menschen entsprechen. Diese Einstellungen können jederzeit angepasst werden oder Besonderheiten wie eine Urlaubsschaltung eingestellt werden. Außerdem wird im ServicePortal die Alarmabfolge definiert, also welche Personen in einer Notsituation auf welchem Weg benachrichtigt werden. GEFÖRDERT VOM Änderungen müssen stets per Telefon, SMS oder Blumhardtstraße 2, 30625 Hannover E-Mail bestätigt werden, was ein hohes Maß an Sicherheit vor unbefugtem Zugriff bietet. 8 Analyse des Umgangs mit personenbezogenen Daten: Sensorik Altersgerechtes Assistenzsystem: Smart-Home-System Sensorik √ Welche Daten werden erhoben? Umgebungsdaten (Temperatur, Licht, Lautstärke, …) Verhaltensdaten (Bewegung, Türöffnung, Nutzung von Geräten, Schrittzähler …) Vitaldaten (Blutdruck, Blutzucker, Temperatur, …) Sonstige: Klärung technischer Fragen mit dem Hersteller Abb. 1: Instrument 8a (Sensorik) 41 √ √ √ Übertragungsweg (zur Entscheidungskompetenz oder Aktorik) Funk Kabel √ √ Technologie und Datenschutz HOCHSCHULE HANNOVER Fakultät V – Abteilung Soziale Arbeit GEFÖRDERT VOM Blumhardtstraße 2, 30625 Hannover 8b Analyse des Umgangs mit personenbezogenen Daten: Entscheidungskompetenz Entscheidungskompetenz Wo befindet sich die Entscheidungskompetenz? √ In der Wohnung Auf auswärtigem Server √ Wer hat Zugriff auf die Daten/Informationen? √ Was wird gespeichert? I Umgebungsdaten (Temperatur, Licht, Lautstärke, …) √ Der Betroffene selbst I Verhaltensdaten (Bewegung, Türöffnung, Nutzung von Geräten, …) √ An-/Zugehörige √ (Pflege-)Dienstleister √ Sozialversicherungsträger I Vitaldaten (Blutdruck, Blutzucker, Temperatur, …) II Aggregierte Daten (summierte Rohdaten, Abrechnungsdaten, …) Hersteller II Neu generierte Informationen (Person ist gestürzt, Gefahrensituation, ...) III Selbstdefiniertes Personenprofil (Normwerte zu Verhalten und Umgebung) √ ? √ Externer IT-Dienstleister (des Herstellers oder Dienstleisters) Forschungseinrichtung Klärung technischer Fragen mit dem Hersteller Werden die Daten nach dem Abgleich mit den hinterlegten Normwerten gespeichert? Wenn ja, zu welchem Zweck? Hat der Betroffene HOCHSCHULE HANNOVER GEFÖRDERT VOM über das Service Einsichtsmöglichkeit in die gespeicherten Fakultät VPortal – Abteilung Soziale Arbeit Blumhardtstraße 2, 30625Daten? Hannover 8c Analyse des Umgangs mit personenbezogenen Daten: Aktorik Abb. 2: Instrument 8b (Entscheidungskompetenz) Aktorik / Alarmauslösung MHH-QuAALi / Teilvorhaben „Entwicklung eines wissenschaftlich fundierten ELSI-Beratungsleitfadens“ Wer wird informiert? An-/Zugehörige √ √ Hersteller (Pflege-)Dienstleister √ Externer IT-Dienstleister (des Herstellers oder Dienstleisters) Individuell einstellbar Welche Daten/Informationen werden übermittelt? (unter Umständen ausschließlich von einer festgelegten Norm abweichende) √ Wer wird aktiv? √ I Umgebungsdaten (Temperatur, Licht, Lautstärke, …) Der Betroffene selbst √ I Verhaltensdaten (Bewegung, Türöffnung, Schrittzähler, …) An-/Zugehörige √ I Vitaldaten (Blutdruck, Blutzucker, Temperatur, …) Hersteller II Alarmsignal, interpretierte Informationen (z.B. Betroffener ist gestürzt) √ √ (Pflege-)Dienstleister √ Individuell einstellbar √ Klärung technischer Fragen mit dem Hersteller Es ist unklar, wie mit dem zentralen Bedienelement in der Wohnung kommuniziert wird. Benötigt die im Alarmfall informierte Person dafür eine Handy App oder eine Art Gegensprechanlage? Kann diese Kommunikation – also auch das Hören in die Wohnung – jederzeit durchgeführt werden oder nur im Alarmfall? Kann die Servicezentrale auch in die Wohnung hören? … Abb. 3: Instrument 8c (Aktorik) 7.5 Leistung und Grenzen des Instruments wie im Falle des Produkteinsatzes die Frage „Wer erfährt wann was?“ zu beantworten ist. In diesem Beispiel sind sowohl auf Ebene der erhobenen Daten als auch bei der Frage nach zu alarmierenden Personen individuelle Auswahlmöglichkeiten gegeben. Dementsprechend können viele Aspekte erst gemeinsam mit dem älteren Menschen vor Ort erarbeitet werden. Eine Kombination aus Wassersensor, Rauch- und CO2-Melder und einem Hilferufknopf würde keine außergewöhnlichen datenschutzrechtlichen Fragen aufwerfen. Andere Systemelemente wie die Bettsensormatte, der MHH-QuAALi / Teilvorhaben „Entwicklung eines wissenschaftlich fundierten ELSI-Beratungsleitfadens“ Das Ausfüllen des Instruments zeigt, dass sich viele Fragen nicht über das Setzen eines Häkchens beantworten lassen, sondern ergänzende Bestimmungen notwendig machen, oder sich Fragen ergeben, die häufig nur in Rücksprache mit dem Hersteller geklärt werden können. Das Instrument soll dem Beratenden als Anstoß dienen, diese Ergänzungen zu machen und den Fragen nachzugehen, um sich bereits vor dem Beratungsprozess möglichst viel Klarheit darüber zu verschaffen, 42 Technologie und Datenschutz Haustürsensor oder der WC-Wandtaster würden Daten der Privat- und Intimsphäre regelmäßig an das auswärtige Rechenzentrum weitergeben, und einen anderen problematisierenden Umgang in der Beratung erforderlich machen. Dass offene Fragen bezüglich des Umgangs mit persönlichen Daten entstehen, z. B. nicht klar wird, wie die Nutzung der Hörfunktion der Hauszentrale von statten geht, ist regelmäßig bei der Anwendung des Instruments zu erwarten. Denn die Frage des Instruments „Wer erfährt wann was?“ wird häufig nicht ausreichend von Produktbroschüren und allgemeinen Herstellerinformationen beantwortet. Das Instrument will daher dazu anregen, offene Fragen zu identifizieren und nach Antworten zu suchen. Das Beispiel verdeutlicht außerdem, dass mit den abhakbaren Typisierungen und Bestimmungen des Instruments keine abschließende Beurteilung der Technologie vorgegeben ist. Das individuelle Setting, in das ihr Einsatz eingebettet ist, sowie die Präferenzen und Sorgen des älteren Menschen sind auf Grundlage der technischen Analyse zu behandeln. 7.6 Weitere Informationsmöglichkeiten Die Beschäftigung mit der Datenerhebung eines altersgerechten Assistenzsystems wirft Fragen auf, deren Beantwortung in der Beratung mögliche Sorgen von Betroffenen und Angehörigen beruhigen können. Welche Maßnahmen zur Datensicherheit ergreift das Unternehmen? Mit welchen Maßnahmen stellt es sicher, dass die Daten nicht anderen Zwecken zugeführt werden? An welchen Maßnahmen wird deutlich, dass Datenschutz unternehmerische Praxis ist, und nicht nur ein Bekenntnis in den AGB? Die Beantwortung dieser Fragen kann jedoch nicht zu den Kernaufgaben des Beratenden gezählt werden. Sie setzen häufig juristisches und informationstechnologisches Expertenwissen voraus. Außerdem basieren sie auf der rechtlichen Verpflichtung datenerhebender Stellen und liegen damit in deren Verantwortungsbereich. Verlässliche Anhaltspunkte für den sicheren und rechtskonformen Umgang mit persönlichen Daten stellen die Zertifikate des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (www.bsi. bund.de) und des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz Schleswig-Holstein (www. datenschutzzentrum.de) dar. Insbesondere bei Produkten, die sensible Daten erheben, sollte eine entsprechende Zertifizierung als Standard gefor- 43 dert werden. Sowohl das BSI als auch das Datenschutzzentrum bieten außerdem online eine Reihe von Tipps auch für den Endverbraucher z. B. bezüglich Browsersicherheit, Passwortsicherheit oder den Umgang mit sozialen Netzwerken. Sie können dem Beratenden deshalb als nützliche Quelle für entsprechende Hilfen dienen. Ausgewählte Literatur [BMBF/ VDE] Bundesministerium für Bildung und Forschung/ Verband der Elektrotechnik Innovationspartnerschaft AAL (Hg.) (2011): Ambient Assisted Living (AAL): Komponenten, Projekte, Services. Eine Bestandsaufnahme. Berlin Helmer, A./ Steen, E.-E./ Rölker-Denker, L./ Eichelberg, M./ Hein, A. (2012): Umsetzung eines Konzepts zum Schutz von personenbezogenen Gesundheitsdaten für eine AAL-Plattform. URL: http://subs.emis.de/LNI/Proceedings/Proceedings208/1390.pdf (24.09.2015). Lebensweltorientierte Beratung 8 Lebensweltorientierte Beratung im Kontext altersgerechter Assistenzsysteme Lebensweltorientierte Beratung im Kontext altersgerechter Assistenzsysteme Inhalt 8.1 Einführung 45 8.2 Kompetenzen des Beratenden 46 8.3 Prinzipien Lebensweltorientierter Beratung im Kontext altersgerechter Assistenzsysteme 46 8.3.1 Selbstverständnis des Beratenden 46 8.3.2 Zugang zur Beratung 47 8.3.3 Erkundung der Lebenswelt 47 8.3.4 Beratung im Alltag 48 8.3.5 Zielgruppenspezifische Verständigung 49 8.3.6 Beratung als Aushandlungsprozess 49 8.3.7 ‚Strukturierte Offenheit’ der Beratung 49 8.3.8 Interdisziplinarität 50 Ausgewählte Literatur 50 44 Lebensweltorientierte Beratung 8.1 Einführung Im Kontext altersgerechter Assistenzsysteme ist es die Aufgabe einer lebensweltorientierten Beratung ältere Menschen darüber zu informieren, welche technischen Möglichkeiten es zur Unterstützung von Selbstständigkeit und gesellschaftlicher Teilhabe gibt. Lebensweltorientierte Beratung geht davon aus, dass geeignete bzw. erfolgreiche und nachhaltige Lösungsstrategien nur in einem gemeinsamen Aushandlungsprozess entwickelt werden können. Dazu ist es notwendig, die individuellen Deutungs- und Handlungsmuster bezüglich altersgerechter Assistenzsysteme zu entschlüsseln, um geeignete Problemlösungsvorschläge anbieten zu können. Dies geschieht immer „im unbedingten Respekt vor der Eigensinnigkeit und den eigenen Möglichkeiten“ (Thiersch 2014:311) eines Menschen. Das kann auch bedeuten, Entscheidungen älterer Menschen zu respektieren, wenn sie den Einsatz altersgerechter Assistenzsysteme ablehnen. Lebensweltorientierte Beratung bemüht sich dabei zugleich, den Erfahrungshorizont älterer Menschen zu erweitern: Ältere Menschen sollen unterstützt und ermutigt werden, neue Sichtweisen und Handlungsmöglichkeiten zu entdecken, zu entwickeln oder neu zu lernen. Im Folgenden werden die erforderlichen Kompetenzen des Beratenden und die Prinzipien lebensweltorientierter Beratung für den Bereich altersgerechter Assistenzsysteme vorgestellt und erläutert. 45 Lebensweltorientierte Beratung 8.2 Kompetenzen des Beratenden Gestaltung einer professionellen Beratungsbeziehung. Wird von Kompetenzen gesprochen, so ist damit die Art und Weise gemeint, die eigenen Ressourcen (Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten, Erfahrungen, Motivation und Haltungen) in unterschiedlichen Handlungssituationen zielführend zur Anwendung zu bringen. Methodenkompetenz umfasst analytische Fähigkeiten, d. h. komplexe Probleme unter Berücksichtigung der individuellen Situation des Ratsuchenden differenzieren und strukturieren zu können, Wahrnehmungs- und Beobachtungsfähigkeit, d. h. den Beratungsbedarf wahrzunehmen und alle für das Gespräch erforderlichen Informationen zu erfassen, Problemlösungsfähigkeit, d. h. Lösungsvarianten gemeinsam mit dem Ratsuchenden zu entwickeln sowie Steuerung des Beratungsgesprächs durch die Verwendung geeigneter Methoden. Beratende benötigen zum einen allgemeine Schlüsselkompetenzen, die in vielen Berufsfeldern als grundlegend gelten: „Neugier, Eigeninitiative und Interesse am Lerngegenstand, an neuen Situationen und anderen Lebensweisen (...); Kommunikationsfähigkeit als Fähigkeit, in unterschiedlichen Rollen auf andere Menschen zuzugehen (z. B. als Kollegin, Freund, Ratsuchende oder Ratgebender); Teamfähigkeit als Fähigkeit, unterschiedliche Wissensbestände und Persönlichkeitsstile in den Gruppenprozess zu integrieren und sich im Sinne von Kooperations- und Koordinationsfähigkeit auf Arbeitsschritte und sinnvolle Arbeitsteilung zu einigen; Konfliktfähigkeit als Fähigkeit zur Empathie und Sensibilität, zum Erkennen und konstruktiven Bearbeiten von Konflikten sowie die Fähigkeit zum Verhandeln bzw. Aushandeln; Flexibilität als Anpassungsfähigkeit an sich verändernde Situationen, Menschen und Aufgaben sowie Rollenflexibilität; Durchsetzungsfähigkeit als Fähigkeit, mithilfe verschiedener Einflussnahmen eigene Ziele zu realisieren; ganzheitliches Denken als Fähigkeit, Teilschritte einem Ganzen bzw. einem Ziel zuzuordnen.“ (Spiegel 2013:73) Selbstkompetenz beinhaltet die Fähigkeit zur Autonomie, Moralität, Ich-Stärke, Selbständigkeit und Verantwortlichkeit, Reflexionsfähigkeit, d. h. eigene Schwächen und Stärken zu erkennen. In den folgenden Abschnitten sollen die Schlüsselund Beratungskompetenzen unter Berücksichtigung der wesentlichen Prinzipien lebensweltorientierter Beratung und den Handlungsmaximen der Lebensweltorientierung (siehe Abschnitt 3.6) für den Bereich altersgerechter Assistenzsysteme konkretisiert werden.10 8.3 P rinzipien Lebensweltorientierter Beratung im Kontext altersgerechter Assistenzsysteme 8.3.1 Selbstverständnis des Beratenden Die in der Beratung strukturell gegebene Asymmetrie kann nicht prinzipiell aufgehoben werden(vgl. Thiersch et al. 2015:282). Eine belehrende und asymmetrische Beratung kann jedoch durch eine kooperative Kommunikationsbeziehung weitestgehend vermieden werden. Für den Beratenden bedeutet dies zuallererst, sich der gegebenen strukturellen Asymmetrie bewusst zu sein und die Unterschiede zwischen dem Beratenden und dem älteren Menschen transparent zu halten (Alltagsnähe). Es bedeutet auch dem älteren Menschen Kompetenzen zuzuschreiben. Der Beratende aktiviert Ressourcen und Möglichkeiten des älteren Menschen, so dass er generell in der Lage ist, sein Problem selbst lösen zu können (Prävention). Die Kompetenzen des Beratenden und des älteren Menschen werden als gleichwertig angesehen. Auf diese Weise entsteht eine kooperative Kommunikationsbeziehung, der ältere Mensch wird durch Zum anderen sind allgemeine Beratungskompetenzen erforderlich (vgl. Leopold et al. 2013:177 und Hummel-Gaatz/ Doll 2007:50ff): Fachkompetenz beinhaltet praktische Erfahrungen bezüglich Beratungssituationen, ein umfangreiches Wissen über das Beratungsthema und Anwendungswissen über Kommunikationsmodelle und -techniken. Sozialkompetenz erfordert Kommunikationsfähigkeit, d. h. Frage- und Gesprächstechniken situationsgebunden anwenden zu können, Kooperationsfähigkeit durch Einbeziehung des Ratsuchenden sowie Nähe und Distanzfähigkeit zur 10 A n die zugrunde liegenden Struktur- und Handlungsmaximen wird dabei in Klammern erinnert. Auf die Schlüssel- und Beratungskompetenzen wird in Kapitel 9 Der Beratungsprozess verwiesen. 46 Lebensweltorientierte Beratung die methodische Unterstützung des Beratenden zu einem aktiv Handelnden (vgl. Mutzeck 2007:696). 8.3.2 Zugang zur Beratung Das Unverständnis gegenüber altersgerechten Assistenzsystemen und eine Kränkung älterer Menschen aufgrund der gescheiterten Alltagsbewältigung sowie das Misstrauen aufgrund strukturell bedingter Abhängigkeitsverhältnisse gegenüber Helfern und Unterstützungsangeboten (siehe Abschnitte 2.3, 2.5 und 2.8), muss der Beratende ernst nehmen und mit angemessener Sensibilität darauf reagieren. Dies erfordert Geduld und Aufmerksamkeit – und vor allem in offenen Beratungssettings oft (sehr) viel Zeit, um die für die Beratung notwendige Vertrauensbasis zwischen Beratenden und dem älteren Menschen herzustellen. Eine weitere Herausforderung kann in dem Zusammenhang die unterschiedliche Alltagskommunikation des älteren Menschen und des (jüngeren) Beratenden sein (vgl. Peters 2011:135f). Dies erfordert zum einen, dass der Beratende sich der Problematik des – generationsbedingten – unterschiedlichen Kommunikationsverhaltens bewusst ist. Zum anderen sollte der Beratende ausreichend geschult sein, um angemessen mit älteren Menschen kommunizieren zu können. Da Angebote mit einer ‚Komm-Struktur’ ältere Menschen häufig nicht erreichen (vgl. Al Akel 2006:75), sollte eine lebensweltorientierte Beratung insbesondere im Kontext altersgerechter Assistenzsysteme auch als aufsuchendes Beratungsangebot konzipiert sein (Alltagsnähe). Der Zugang zur Beratung könnte z. B. dadurch erleichtert werden, dass Informationsveranstaltungen in Pflegeheimen, Freizeiteinrichtungen etc. durchgeführt werden. Um auch die älteren Menschen zu erreichen, die solche Einrichtungen nicht aufsuchen, wäre eine enge Zusammenarbeit insbesondere mit Hausärzten, ambulanten Pflegediensten etc. wünschenswert (Dezentralisierung/Regionalisierung/ Vernetzung). Die Beratungsstelle selbst sollte für ältere Menschen gut erkennbar und leicht erreichbar sein (barrierefrei bzw. barrierearm). 8.3.3 Erkundung der Lebenswelt Im Fokus lebensweltorientierter Beratung steht der Mensch mit seinen alltäglichen Problemen in seinen spezifischen Lebensverhältnissen (Alltagsnähe). Dies bedeutet, den älteren Menschen „inmitten seines biografischen und aktuellen Alltagslebensfeldes“ (Thiersch et al. 2015:282) zu sehen. Insofern ist es notwendig, dass die Menschen ausreichend Gelegenheit haben, sich und 47 ihre Lebenswelt darzustellen. Die folgenden Aspekte (Lebenslagedimensionen) sollten beachtet bzw. erkundet werden: Ökonomische Lage Die finanzielle Situation spielt eine zentrale Rolle hinsichtlich des Erwerbs altersgerechter Assistenzsysteme. Somit ist im Rahmen der Beratung zu erkunden, ob sich die älteren Menschen die in Frage kommenden Unterstützungssysteme finanziell leisten können. Ist dies nicht der Fall, sollte geklärt werden, ob andere Möglichkeiten der Finanzierung bestehen, z. B. über Leistungen im Rahmen wohnraumverbessernder Maßnahmen, als Hilfs- oder Pflegemittel im Rahmen der Kranken- oder Pflegeversicherung oder als KfW-Kredit etc. Vor diesem Hintergrund kann auch geprüft werden, ob bereits eine Pflegestufe vorliegt oder beantragt wurde. Ist dies nicht der Fall, könnte die Empfehlung ausgesprochen werden, eine Pflegeberatung (gemäß § 7a SGB XI) in Anspruch zu nehmen. Falls es keine Möglichkeiten trotz eines Versorgungs- oder Unterstützungsbedarfs gibt, sollte prinzipiell über alternative Hilfsangebote nachgedacht werden, wie Nachbarschaftshilfe oder (kostenfreie) kommunale Unterstützungsangebote (Regionalisierung/ Vernetzung). Gegebenenfalls kann der Beratende auf Finanzierungslücken und -bedarfe z. B. auf kommunaler Ebene hinweisen und Veränderungen gemeinsam mit dem älteren Menschen anregen (Partizipation/ Einmischung). Gesundheitszustand Mit zunehmendem Alter verschlechtert sich in der Regel der Gesundheitszustand älterer Menschen (siehe Abschnitt 5.5). Lebensweltorientierte Beratung im Kontext altersgerechter Assistenzsysteme fragt vor diesem Hintergrund zuerst nach dem subjektiv gewünschten Unterstützungsbedarf, um zu prüfen, ob dieser mit Hilfe von altersgerechten Assistenzsystemen abgedeckt werden kann. Der objektive, aus medizinisch-pflegerischer Sicht benötigte Unterstützungsbedarf kann vom Beratenden allerdings auch anders eingeschätzt werden. In einem solchen Fall können nach Absprache mit dem älteren Mensch auch An- und Zugehörige sowie Ärzte und pflegerisches Personal zur Beurteilung der Situation hinzugezogen werden. Sind weitere Maßnahmen erforderlich, um den Einsatz altersgerechter Assistenzsysteme zu ermöglichen – z. B. die Beantragung einer Pflegestufe zwecks Finanzierung eines Hausnotrufs – sollte der ältere Mensch darüber informiert und ggf. bei der Kontaktaufnahme unterstützt werden (Vernetzung/ Partizipation). Lebensweltorientierte Beratung he Abschnitt 5.6). Die Kommunikation und Pflege sozialer Beziehungen kann durch den Einsatz neuer Technologien ermöglicht oder zumindest erleichtert werden. Lebensweltorientierte Beratung fragt zudem nach den Unterstützungsmöglichkeiten durch das soziale Beziehungsnetzwerk älterer Menschen hinsichtlich des Einsatzes und der Nutzung altersgerechter Assistenzsysteme. Trainingsmöglichkeiten mit An- und Zugehörigen sollten ermittelt und angeregt werden, nachbarschaftliche Hilfe könnte auf Wunsch vermittelt und Unterstützung bei der Techniknutzung organisiert werden (Regionalisierung/Vernetzung). Ebenso sollte ermittelt werden, inwiefern der Wunsch nach Entlastung im sozialen Umfeld hinsichtlich der Versorgung und Unterstützung des älteren Menschen besteht. Gegebenenfalls können in solchen Fällen altersgerechte Assistenzsysteme sowohl für den älteren Menschen als auch für die An- und Zugehörigen hilfreich eingesetzt werden. Außerdem sollten Konflikte, die mit der Versorgung und Unterstützung älterer Menschen einhergehen können, in den Blick genommen werden. Diese können sich z. B. durch den Wunsch der Angehörigen nach Entlastung und dem damit verbundenen Bedürfnis altersgerechter Assistenzsysteme einzusetzen, verschärfen (siehe Abschnitte 2.4 und 2.9). Wohnsituation Die Wohnsituation vieler älterer Menschen ist oftmals keine günstige Voraussetzung für den Einsatz altersgerechter Assistenzsysteme (siehe Abschnitt 5.7). Lebensweltorientierte Beratung fragt in diesem Zusammenhang nach Voraussetzungen (z. B. Internetanschluss etc.) und Ausbaumöglichkeiten für den Einsatz altersgerechter Assistenzsysteme (Alltagsnähe). Ebenso kann je nach gewünschtem Unterstützungsbedarf über wohnraumverbessernde Maßnahmen und barrierefreie Gestaltung der Wohnung weitergehende Beratung gegeben und/oder vermittelt werden. Hinsichtlich der Wohnsituation sind auch infrastrukturelle Gegebenheiten in den Blick zu nehmen (Dezentralisierung/Regionalisierung). Ggf. können altersgerechte Assistenzsysteme dabei helfen, die Lebenssituation zu verbessern. Bei schlechter Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr können beispielsweise Kommunikationssysteme den Kontakt zu Angehörigen oder Freunden ermöglichen oder die Integration im Quartier unterstützen. Sind die infrastrukturellen Bedingungen im Quartier sehr eingeschränkt, sollte der Beratende ggf. nach Möglichkeiten suchen, strukturelle Verbesserungen der Lebensbedingungen älterer Menschen anzuregen, z. B. im Rahmen seines Netzwerks oder in der Kommune (Einmischung). Dabei sollten die älteren Menschen – sofern das möglich ist – eingebunden sein bzw. sich direkt beteiligen können (Partizipation). Bildung Der Bildungshintergrund älterer Menschen spielt eine wichtige Rolle, wenn es darum geht moderne Technologien und Systeme zu nutzen (siehe Abschnitt 5.3). Lebensweltorientierte Beratung erfragt aus diesem Grund das Bildungsniveau älterer Menschen, um einschätzen zu können welche Fähigkeiten z. B. hinsichtlich des Verständnisses und der Bedienung altersgerechter Assistenzsysteme bestehen und welche Unterstützung notwendig ist. Gemeinsam mit dem älteren Menschen können Trainingsmöglichkeiten überlegt werden (z. B. mit An- und Zugehörigen), um eine selbstbestimmte und sichere Nutzung zu ermöglichen bzw. zu gewährleisten (Prävention). Ebenso kann die Vermittlung an Selbsthilfegruppen oder intergenerationellen Angeboten (Integration) hilfreich sein, um den Umgang zu erlernen oder um bereits vorhandene Fähigkeiten und Fertigkeiten auszubauen (Regionalisierung/Vernetzung). Wenn die Wohnung als emotionaler Raum verstanden wird (vgl. Hildebrandt 2012:196f), so ist zu berücksichtigen, dass der sachlich notwendig erscheinende Umbau einer Wohnung (Barrierereduktion) immer auch einen Eingriff in die nach subjektiven Bedürfnissen gestaltete Lebenswelt darstellt. Dabei sollte die subjektive Sicht aber nicht das alleinige Kriterium zur Bestimmung des Unterstützungsbedarfs bleiben. Wenn ältere Menschen den Wunsch formulieren, so lange wie möglich in den eigenen – zum Teil sehr beschränkten – Wohnverhältnissen leben zu können, muss dies auch vor dem Hintergrund der Problematik der Unkenntnis von Alternativen gesehen werden. So entscheiden sich ältere Menschen nicht selten für die eigene Wohnung als Lebensmittelpunkt, weil ihnen aufgrund eingeschränkter Ressourcen als einzige Alternative nur der Umzug ins Heim bleibt und ihnen alternative Wohnformen wie Mehrgenerationenhäuser, gemeinschaftliches Wohnen etc. nicht bekannt oder zugänglich sind. 8.3.4 Beratung im Alltag Lebensweltorientierte Beratung geht davon aus, dass in jeder zwischenmenschlichen Kommunikation schon immer beratende Elemente enthalten sind und Beratung insofern eine spezifische Form hilfreicher Kommunikation ist. Beratung ist so ver- Berücksichtigung sozialer Beziehungsnetzwerke Soziale Beziehungsnetzwerke sind eine wichtige Ressource im Leben älterer Menschen (sie- 48 Lebensweltorientierte Beratung standen alles, was im Rahmen eines Gesprächs zur Klärung einer Situation oder eines Problems beiträgt und findet zu jeder Zeit im Alltag statt. Lebensweltorientierte Beratung bedeutet nicht, dass man sich zu einer bestimmten Zeit verabredet, um eine halbe Stunde über ein bestimmtes Thema zu sprechen und dann wieder auseinander geht. Beratung muss sich demnach von festgefügten, institutionalisierten Strukturen lösen und im Alltag der Menschen eingelassen sein bzw. stattfinden (Alltagsnähe). Lebensweltorientierte Beratung sollte insofern verschiedene Formen von informellen bis hin zu formellen Beratungsangeboten ermöglichen. 8.3.5 Zielgruppenspezifische Verständigung Ebenso wie sich die Lebenswelten der Menschen unterscheiden, so unterscheidet sich auch die Art und Weise, wie Menschen ihre Probleme artikulieren. Lebensweltorientierte Beratung fragt aus diesem Grund nach den spezifischen Verständigungsmustern bzw. der unterschiedlichen lebenslage- und milieuspezifischen Sprache der älteren Menschen, um zu wissen, wie man in angemessener Weise mit unterschiedlichen Zielgruppen kommuniziert. Es geht darum verschiedene (Sprach-) Möglichkeiten und Formen zu finden, um die älteren Menschen in ihrer jeweiligen Lebenswelt beraten zu können (Alltagsnähe). Die besondere Schwierigkeit besteht darin, die komplexen Technologien in einfachen und verständlichen Worten zu erklären, ohne in eine ‚patronisierende Redeweise’ zu verfallen (vgl. Peters 2011:136). 8.3.6 Beratung als Aushandlungsprozess Bei der lebensweltorientierten Beratung geht es um das Aushandeln von Lösungen und sie wird auch als eine Form des miteinander Handelns gesehen (vgl. Thiersch 2014:311). Das heißt, es wird nicht von einer definitiven Diagnose ausgegangen, sondern vor dem Hintergrund einer ersten Bestandsaufnahme beginnt ein verständigungsorientierter Aushandlungsprozess. Das ergebnisoffene Wesen der Beratung und die sich daraus entwickelnde Unterhaltung sollen dazu beitragen, dass „neue Aspekte zu Tage treten“ und „Menschen in ihrem Handeln erfahren, was sie eigentlich können oder nicht können.“ (Thiersch 2014:319) Ziel ist es, ein abgestimmtes Vorgehen mit allen für den Beratungsprozess wichtigen Personen zu planen, um gemeinsame Lösungsstrategien zu ermöglichen. Dazu sollte zunächst der ältere Mensch angeregt werden, dringliche Probleme aus seiner Sicht zu formulieren und die Reihenfolge der Bearbeitung festzulegen. Sichtweisen und Bearbeitungspriori- 49 täten weiterer Beteiligter müssen ebenfalls aufgenommen werden (Integration). Im nächsten Schritt geht es um die systematische Erfassung und Analyse der Probleme. Voraussetzung dafür ist, dass sich der ältere Mensch in seinen Problemen darstellen kann bzw. in die Lage versetzt wird, diese mit professioneller Unterstützung zu entdecken (Alltagsorientierung). Blockaden und Hilflosigkeit bei der Bewältigung von Problemen müssen ermittelt und individuelle Erfahrungen und entlastende Routinen ernst genommen und respektiert werden. Dabei geht es auch darum, Menschen von persönlicher Zuschreibung durch die Aufdeckung gesellschaftsstruktureller Problemlagen zu entlasten. Vor diesem Hintergrund, dem Nebeneinander von Ressourcen und Schwierigkeiten, geht es vor allem darum, Ansatzpunkte zu finden, ältere Menschen und ggf. weitere beteiligte Personen zu befähigen, die eigene Situation zu klären sowie eigene Lösungen und Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln (Prävention). 8.3.7 ‚Strukturierte Offenheit’ der Beratung Lebensweltorientierte Beratung ist offen für unterschiedliche Beratungsmethoden und Zugänge, um angemessen auf die unterschiedlichen Bedürfnisse, Ziele, Rahmenbedingungen etc. reagieren zu können. Da die Aufgabenstellung und das Setting einer lebensweltorientierten Beratung generell offen angelegt ist (siehe Abschnitt 8.3.4), braucht es Instrumente der Strukturierung, damit sie sich nicht in der Vielfältigkeit bzw. Beliebigkeit verliert. Diese Instrumente müssen zugleich so angelegt sein, dass sie an die jeweilige Situation, an ein spezifisches Problem angepasst werden können. Dabei kommt es darauf an, die unterschiedlichen Techniken z. B. des Zuhörens, des Verstärkens, des Provozierens und der Interpretation so in das Konzept der Beratung einzubauen, dass sie nicht als Selbstzweck genommen werden. So wie sich die Erfahrungen der Menschen zu Routinen und Ritualen entwickeln, die eine Entlastung bei der Bewältigung des Alltags darstellen, entstehen in der Beratungspraxis Routinen und pragmatische Umgangsweisen, von den man sich „eine Garantie des Gelingens erwartet.“ (Thiersch 2007:705) Instrumente und Methoden sollen aber nicht der Abarbeitung eines Falls dienen, sondern sie sollen als hilfreiches Element zur Erkundung und Präzisierung der Lebenswelt (Alltagsnähe) und zur Unterstützung bei der Entwicklung von Problemlösungen im Beratungsprozess eingesetzt werden (Prävention). Lebensweltorientierte Beratung 8.3.8 Interdisziplinarität Ausgewählte Literatur Eine wesentliche Herausforderung in der Beratung altersgerechter Assistenzsysteme liegt in der Interdisziplinarität der beteiligten Akteure. Sie kommen aus den verschiedensten Berufsfeldern mit ihrem jeweils fachspezifischen Wissen (vgl. Großmaß 2014:164): Wohnberatung, Pflege, Soziale Arbeit, Medizin, technische Berufe und Handwerk. Je nachdem, wo Beratung angesiedelt ist und in welchen Strukturen sie eingebettet ist, wird aus verschiedenen Kontexten heraus agiert, d. h. aus unterschiedlichen Perspektiven heraus beraten – mit möglicherweise divergierenden Zielsetzungen. Für eine gelingende Beratung ist es jedoch erforderlich, dass aufgrund der Komplexität der Thematik die unterschiedlichen Fachdisziplinen kooperieren und ein gemeinsames Ziel verfolgen. So ist es möglich, allgemeine Beratungskompetenzen (Gesprächsführung etc.), die in der Regel von den Beratenden der verschiedenen Fachdisziplinen beherrscht werden, mit dem jeweils fachspezifischen Wissen zu verknüpfen. Auf diese Weise entsteht ein multiprofessionelles, ganzheitlich ausgerichtetes Beratungsangebot, das zum einen auf die unterschiedlichen Bedürfnisse älterer Menschen eingehen und zum anderen individualisierte und nachhaltige Lösungsmöglichkeiten entwickeln und anbieten kann (Alltagsnähe). Solche Formen der Zusammenarbeit entstehen nicht immer geplant, sondern entwickeln sich z. B. aufgrund zufälliger Begegnungen oder des persönlichen Engagements eines Beratenden (vgl. Großmaß 2014:175). Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass der Beratende nicht nur die erforderlichen Kontakte herstellt, sondern das gewachsene Netzwerk pflegt und ausbaut (Regionalisierung/ Vernetzung). Peters, M. (2011): Leben in begrenzter Zeit. Beratung älterer Menschen. Göttingen Thiersch, H. (2004) Lebensweltorientierte Soziale Beratung. In: Nestmann/ Engel/ Sickendiek, Das Handbuch der Beratung, Band 2. Tübingen, S. 699-709. Thiersch, H. (2014): Über Entwicklungen und aktuelle Bezüge des Konzepts einer lebensweltorientierten sozialpädagogischen Beratung. In: Bauer/ Weinhardt (Hg.), Perspektiven sozialpädagogischer Beratung. Weinheim, S. 310-330. Thiersch, H./ Frommann, A./ Schramm, D. (2015): Sozialpädagogische Beratung (1977). In: Ders. (Hg.), Soziale Arbeit und Lebensweltorientierung: gesammelte Aufsätze (Band 2). Weinheim, S. 251-286. 50 50 Der Beratungsprozess Inhaltsverzeichnis 9 Der Beratungsprozess Der Beratungsprozess Inhalt 9.1. Einführung 52 9.2 Struktur des Beratungsprozesses 53 9.3 Auftragsklärung 54 9.4Erkundungsphase 55 9.5Informationsphase 56 9.6 Reflexionsphase 57 9.7Entscheidungsphase 58 9.8Evaluationsphase 59 Ausgewählte Literatur 59 5151 51 Einführung Der Beratungsprozess 9.1 Einführung Das Ziel des Beratungsprozesses besteht darin, eine selbstbestimmte Entscheidung des älteren Menschen in Hinblick auf die Nutzung altersgerechter Assistenzsysteme zu unterstützen. Dabei sollen die ethischen, sozialen und rechtlichen Aspekte thematisiert und berücksichtigt werden – unter der Perspektive der Lebensweltorientierung. Die Thematisierung der verschiedenen Aspekte und die Erkundung der subjektiven Haltungen und Bedürfnisse sollen in strukturierter Weise erfolgen. Um dies zu unterstützen, wurde ein Beratungsprozess konzipiert, in dem die verschiedenen Aufgaben des Beratenden jeweils einer Phase zugeordnet werden. Dabei geht es im Wesentlichen um die Klärung folgender Fragestellungen: 1. W as soll erreicht werden? 2. W as muss inhaltlich bearbeitet werden? 3. Was muss geklärt werden bzw. was sind die zentralen Fragestellungen? 4. W as sind die spezifischen Herausforderungen? 5. Welche Kompetenzen benötigen die Beratenden? 6. Welches Instrument kann als Arbeitshilfe eingesetzt werden? Bei der Beschreibung der Herausforderungen und erforderlichen Kompetenzen wird auf die vorhergehenden Ausführungen in Kapitel 2 und Kapitel 8 Bezug genommen. 52 5252 Der Beratungsprozess Inhaltsverzeichnis 9.2 Struktur des Beratungsprozesses Der Beratungsprozess einer lebensweltorientierten Beratung im Kontext altersgerechter Assistenzsysteme wird hier in eine modellhafte Chronologie gebracht. Der tatsächliche Ablauf kann sich in der Beratungssituation durchaus anders gestalten. Fragestellungen können in Abhängigkeit vom Gesprächsgeschehen in der Beratungssituation variieren. Dennoch empfiehlt es sich darauf zu achten, dass alle Aspekte der nachfolgend geschilderten Phasen bearbeitet werden, um eine selbstbestimmte Entscheidung des älteren Menschen zu ermöglichen. Aus den oben skizzierten Anforderungen im Sinne einer lebensweltorientierten Beratung (siehe Kapitel 8) ergeben sich sechs aufeinander folgende Phasen: 1. Auftragsabstimmung 6. Evaluationsphase 2. Erkundungsphase 5. Entscheidungsphase 3. Informationsphase 4. Reflexionsphase Abb. 4: Der Beratungsprozess Der Beratungsprozess ist zirkulär angelegt und kann bzw. sollte bei Bedarf wiederholt durchlaufen werden. Auf diese Weise können (neue) Anforderungen an die Beratung (z. B. sich verändernde Bedürfnisse oder Befürchtungen der Beteiligten) berücksichtigt bzw. angepasst werden. 5353 53 Im Folgenden werden die wesentlichen Aspekte jeder einzelnen Beratungsphase vorgestellt. Strukturiert wird die Darstellung nach folgenden Gesichtspunkten: 1. Ziele 2. Inhaltliche Bearbeitung 3. Zentrale Fragestellungen 4. Spezifische Herausforderungen 5. Erforderliche Kompetenzen des Beratenden 6. Hinweis auf Instrumente zur Unterstützung. Einführung Der Beratungsprozess 9.3 Auftragsklärung Ziele der Auftragsklärung sind die Rahmung des Beratungsprozesses und die Klärung der Möglichkeiten und Grenzen der Beratung, z. B. hinsichtlich des zeitlichen Umfangs sowie die Offenlegung der Erwartungen und Wünsche aller Beteiligten inklusive die des Beratenden. Inhaltlich geht es vor allem darum zu erfahren, was der ältere Mensch will und was er vom Beratenden konkret erwartet. Es wird vereinbart, was zu tun ist und woran gearbeitet werden soll. Es sollte außerdem geklärt werden, ob weitere Personen zu beteiligen sind. Insbesondere dann, wenn nicht der ältere Mensch selbst, sondern Angehörige die Beratungsstelle aufsuchen, ist es notwendig, die gegenseitigen bzw. unterschiedlichen Erwartungen aller Beteiligten zu erfassen. Zugleich geht es um den Aufbau von Vertrauen und einer stabilen Beziehung aller an der Beratung beteiligten Personen. Eine solche Auftragsklärung steht in der Regel am Anfang einer Beratung. Es kann jedoch sein, dass eine Klärung erst zu einem späteren Zeitpunkt möglich ist bzw. im Verlauf des Beratungsprozesses angepasst werden muss. Zentrale Fragen: 1. Wer will was? (Wer sind meine Auftraggeber?) 2. Von wem? (Bin ich der richtige Ansprechpartner?) 3. Ab wann? Bis wann? (Zeitlicher Umfang) 4. Was leistet die Beratung? (Inhalt und Qualität) 5. Wozu? (Was soll erreicht werden? Wenn es sich um mehrere Auftraggeber handelt, sind sie sich hinsichtlich des Auftrages einig?). Situationen und Menschen einzulassen. Für die Herstellung einer vertrauensvollen Gesprächssituation ‚auf Augenhöhe’ ist es notwendig, dass sich der Beratende in seiner Wortwahl auf die ‚Sprache’ älterer Menschen einstellt (Kommunikationsfähigkeit). Der Beratende sollte außerdem in der Lage sein, den biografischen und lebensweltlichen Kontext älterer Menschen zu verstehen und zu akzeptieren (Sozialkompetenz) sowie alle relevanten Beteiligten einzubeziehen und Ressourcen zu ermitteln (Methodenkompetenz). Da eine Beratung in diesem Kontext bereits zu Beginn auf unterschiedliche Erwartungen der Beteiligten treffen kann, ist es erforderlich, dass der Beratende widersprüchliche Situationen aushalten kann (Konfliktfähigkeit) und sich seiner Rolle (professionelle Interessenvertretung des älteren Menschen) und seiner Kompetenzen bewusst ist (Selbstkompetenz). Der Beratende sollte wichtige Ziele der Beratung durchsetzen können, z. B. den Angehörigen die Notwendigkeit der Beteiligung des älteren Menschen am Beratungsprozess verdeutlichen, damit eine nachhaltige Entscheidung getroffen werden kann (Durchsetzungsfähigkeit, Ganzheitliches Denken). Instrument: 1 Auftragsklärung Die Herausforderungen bestehen vor allem im Zugang zur Beratung. Professionelle Hilfe anzunehmen ist für viele ältere Menschen mit dem Eingeständnis verbunden, dass sie den Alltag nicht mehr selbst bewältigen können (siehe Abschnitt 2.3). Die Nutzung altersgerechter Assistenzsysteme wird häufig von außen an sie herangetragen (siehe Abschnitt 2.4). Vor dem Hintergrund dass moderne Technologien im Alltag vieler älterer Menschen nicht vorkommen (siehe Abschnitt 2.5) wird auch das Expertenwissen des Beratenden oftmals als ‚Bedrohung’ empfunden. (siehe Abschnitt 2.8). Ebenso kann es sein, dass von den Angehörigen ‚Druck’ auf den älteren Menschen ausgeübt wird, das Unterstützungsangebot anzunehmen (siehe Abschnitt 2.9). Erforderliche Kompetenzen des Beratenden: Da es vor allem darum geht, eine tragfähige Beratungsbeziehung herzustellen, sollte beim Beratenden grundsätzlich Interesse, Offenheit und Akzeptanz vorhanden sein, um sich auf neue 54 5454 Der Beratungsprozess Inhaltsverzeichnis 9.4 Erkundungsphase Ziele der Erkundungsphase sind eine umfassende Analyse der Lebenswelt und der Schwierigkeiten bei der Alltagsbewältigung sowie die Ermittlung der subjektiven Haltungen und Präferenzen des älteren Menschen und weiterer Beteiligter. Inhaltlich geht es vor allem darum, eine umfassende Erkundung der Lebenswelt des älteren Menschen durchzuführen. Dazu werden zum einen die tatsächlichen Lebensbedingungen in den Blick genommen, um ‚objektive’ Anforderungen und Ressourcen zu ermitteln. Um individuelle Widersprüche und Hindernisse bei der Alltagsbewältigung zu identifizieren, ist es zum anderen notwendig die Deutungs- und Handlungsmuster des älteren Menschen zu entschlüsseln. Konkret bedeutet das, seine Perspektive einzunehmen und die subjektiven Haltungen, Wertvorstellungen, Präferenzen und Befürchtungen zu verstehen, um Lösungsmöglichkeiten für einen gelingenderen Alltag zu entwickeln. Ebenso gilt es die Bedürfnisse, Ängste und Befürchtungen der An- und Zugehörigen ernst zu nehmen und bei der Erkundung der Lebenswelt des älteren Menschen zu berücksichtigen. Zentrale Fragen: 1. Wie stellt sich die objektive Lebenslage dar? 2. Wie beschreibt und deutet der ältere Mensch seine Lebenswelt? 3. Welche objektiven und subjektiven Ressourcen sind vorhanden? 4. Welche Schwierigkeiten hat der ältere Mensch bei der Alltagsbewältigung? 5. Welchen Unterstützungsbedarf formuliert der ältere Mensch? 6. Welchen Unterstützungsbedarf benennen An- und Zugehörige für den älteren Menschen? 7. Welche Sorgen haben die An- und Zugehörigen bezogen auf den älteren Menschen? 8. Welche Bedürfnisse, Haltungen, Wertvorstellungen und Präferenzen werden geäußert? 9. Welche Lösungsmöglichkeiten gibt es, um einen gelingenderen Alltag zu ermöglichen? Die Herausforderungen bestehen vor allem in der Schwierigkeit, die oftmals ‚eigensinnig’ erscheinenden Deutungs- und Handlungsmuster der Beteiligten, oder anders ausgedrückt, deren eigenen Sinn in der Art und Weise den Alltag zu bewältigen, zu entschlüsseln (siehe Abschnitt 2.8). Dies erfordert gegebenenfalls viel Zeit, die im Rahmen strukturierter Beratungssettings möglicherweise nicht immer vorhanden ist. Eine weitere Schwierigkeit besteht aufgrund der oftmals unterschiedlichen ‚Sprache’ älterer Menschen und des Beratenden (siehe Abschnitt 2.7), wodurch die Erkundung der Lebenswelt sowie der Haltungen und Präferenzen des älteren Menschen (und ggf. dessen An- und Zugehörigen) erschwert wird. 5555 55 Erforderliche Kompetenzen des Beratenden: Da es vor allem um die umfassende Erkundung der Lebenswelt des älteren Menschen geht, sollte beim Beratenden grundsätzlich die Bereitschaft vorhanden sein, unterschiedliche Lebensentwürfe zu respektieren. Der Beratende sollte in der Lage sein, den biografischen und lebensweltlichen Kontext älterer Menschen zu verstehen und zu akzeptieren (Sozialkompetenz) sowie alle relevanten Beteiligten einzubeziehen und Ressourcen zu ermitteln (Methodenkompetenz). Um die Bereitschaft beim älteren Mensch herzustellen, sich mit seinem Lebensverständnis und seinen Problemen darzustellen, ist es notwendig, dass der Beratende in der Lage ist, eine vertrauensvolle Gesprächssituation aufzubauen (Sozialkompetenz). Dazu gehört, dass sich der Beratende in seiner Wortwahl insbesondere auf die ‚Sprache’ älterer Menschen einlässt, zuhört, wertschätzend nachfragt und sich auf diese Weise als kompetent und vertrauenswürdig erweist (Kommunikationsfähigkeit). Da die Beratung in dieser Phase auf unterschiedliche Bedürfnisse und Interessen der Beteiligten treffen kann, ist es notwendig, dass der Beratende familiale Konflikte aushalten kann (Konfliktfähigkeit) und sich seiner Rolle (professionelle Interessenvertretung des älteren Menschen) und seiner Kompetenzen in dieser Situation bewusst ist (Selbstkompetenz). Instrumente: 2 Analyse sozialer Aspekte zur Erkundung des Unterstützungsbedarfs älterer Menschen, 3 Ermittlung ethischer Haltungen und Spannungsfelder Einführung Der Beratungsprozess 9.5 Informationsphase Ziel der Informationsphase ist die Aufklärung des älteren Menschen hinsichtlich der Unterstützungsmöglichkeiten altersgerechter Assistenzsysteme und gegebenenfalls alternativer Lösungen. Inhaltlich geht es vor allem darum, technische Unterstützungsszenarien vorzustellen. Dazu gleicht der Beratende die Informationen über den älteren Menschen und dessen Präferenzen mit dem Angebot altersgerechter Assistenzsysteme ab und trifft eine Vorauswahl, welche Produkte im Prinzip in Frage kommen. Diese stellt er dem älteren Menschen vor. Voraussetzung für die Präsentation geeigneter Lösungen ist, dass der Beratende umfassende Kenntnisse über die aktuelle Marktlage besitzt und ihm die Funktionsweise der Technologien bekannt ist. Er sollte außerdem im Vorfeld prüfen, welche personenbezogenen Daten gesammelt und gespeichert werden, um dem älteren Menschen die Konsequenzen für seine Privat- und Intimsphäre deutlich machen zu können. Das Instrument 8 Analyse des Umgangs mit personenbezogenen Daten bietet hierzu Unterstützung. Erst mit der Vorstellung geeigneter Produkte können sich die Haltungen des älteren Menschen zu datenschutzrechtlichen Fragen konkretisieren. Diese sollten festgehalten und bei der Produktauswahl berücksichtigt werden. Zentrale Fragen: 1. Welche altersgerechten Assistenzsysteme kommen in Frage? (Produktauswahl) 2. Wie funktionieren sie? 3. Welche Daten werden wie erhoben? 4. Welche Daten werden wo gespeichert? 5. Wer hat Zugriff auf die Daten? 6. Wer wird im Notfall informiert und aktiv? 7. Wie sind die Haltungen des älteren Menschen zu datenschutzrechtlichen Fragen? Gefühl hat, dass die eigene Uninformiertheit dazu führt, dass der Beratende die Problemlage für ihn definiert und ihm sagt, wie es gelöst werden soll (siehe Abschnitt 2.8). Erforderliche Kompetenzen des Beratenden: Da es vor allem darum geht, dem älteren Menschen die in Frage kommenden altersgerechten Assistenzsysteme leicht verständlich vorzustellen, sollte der Beratende die Funktionsweise der Produkte genau kennen und wissen, welche Daten während der Anwendung der Technologie für wen einsichtig werden (Fachkompetenz). Um altersgerechte Assistenzsysteme zielgruppengerecht vermitteln zu können, ist es erforderlich, dass sich der Beratende in seiner Wortwahl auf die ‚Sprache’ der älteren Menschen einstellt (Kommunikationsfähigkeit). Der Beratende sollte die Ängste und Befürchtungen ernst nehmen (Sozialkompetenz) und zugleich in der Lage sein, neue Sichtweisen aufzuzeigen und gemeinsam mit dem älteren Menschen neue Handlungsstrategien zu entwickeln (Methodenkompetenz). Es ist außerdem notwendig, dass der Beratende die eigene Tätigkeit mit Blick auf institutionelle Bedingungen und Vorgaben – z. B. Unabhängigkeit gegenüber Herstellern und Dienstleistern – kritisch reflektiert (Selbstkompetenz). Instrument: 4 Ermittlung datenschutzrechtlicher Haltungen, 8 Analyse des Umgangs mit personenbezogenen Daten (Anwendung ist dem Beratungsprozess vorgelagert) Die Herausforderungen bestehen vor allem darin, dass viele ältere Menschen wenige Berührungspunkte mit modernen Technologien im Alltag haben (siehe Abschnitt 2.5). Dazu kommt, dass die komplexen Anwendungsmöglichkeiten für viele ältere Menschen schwer nachvollziehbar sind. Insbesondere die umfassende Sammlung sensibler personenbezogener Daten und der damit verbundene Eingriff in die Privat- und Intimsphäre, löst bei vielen älteren Menschen Ängste und Widerstände aus (siehe Abschnitt 2.6). Eine weitere Schwierigkeit kann die unterschiedliche ‚Sprache’ von älteren Menschen und Beratenden sein, wenn es darum geht, die Funktionsweise und Anwendung der Produkte angemessen zu erklären (siehe Abschnitt 2.7). Auch kann das Expertenwissen des Beratenden als ‚Bedrohung’ empfunden werden, wenn der ältere Mensch das 56 5656 Der Beratungsprozess Inhaltsverzeichnis 9.6 Reflexionsphase Ziel der Reflexionsphase ist der konstruktive Umgang mit ethischen, sozialen und datenschutzrechtlichen Ambivalenzen und Spannungsfeldern. Inhaltlich steht eine konstruktive Auseinandersetzung mit sozialen, ethischen und datenschutzrechtlichen Ambivalenzen und Spannungsfeldern im Mittelpunkt. Der Beratende reagiert z. B. auf die thematisierten Ängste und Befürchtungen hinsichtlich der Funktionalität der Technik, des Datenschutzes etc. Gemeinsam mit den Beteiligten werden Lösungsmöglichkeiten und Handlungsstrategien entwickelt. Dabei müssen mögliche Ambivalenzen und Spannungsfelder (z. B. Sicherheit vs. Kontrolle) aufgezeigt und verdeutlicht werden, um im Anschluss Priorisierungen zu ermöglichen. Der Beratende gibt keine Lösungen vor, sondern ist ergebnisoffen eingestellt und fördert die Lösungsentwicklung. Das Abwägen der Vor- und Nachteile erfolgt aus Sicht des älteren Menschen bzw. der Beteiligten. Zentrale Fragen: 1. Was ist das zentrale soziale Problem? 2. Welche ethischen Dimensionen sind betroffen bzw. kollidieren miteinander? 3. Worin liegt der zentrale ethische Konflikt? 4. Was sind zentrale datenschutzrechtliche Sorgen? 5. Welche Werte, Positionen und Haltungen stehen hinter den Konflikten? 6. Wie sind die Lösungen aus ethischer, sozialer und rechtlicher Sicht zu bewerten? 7. Welche alternativen Handlungsoptionen gibt es? 8. Welche Lösungsmöglichkeiten der Konfliktsituation gibt es? Die Herausforderungen bestehen vor allem aufgrund unterschiedlicher Verständigungsmuster älterer Menschen und der Beratenden (siehe Abschnitt 2.7), wodurch die Reflexion von Ambivalenzen und Spannungsfeldern auf der sprachlichen Ebene erschwert wird. Ebenso kann sich die Entwicklung von Lösungsstrategien aufgrund der Haltungen (siehe Abschnitt 2.7) und unausgesprochener Ängste und Befürchtungen älterer Menschen schwierig gestalten (siehe Abschnitt 2.8). Eine weitere Schwierigkeit sind familiale Interessenskonflikte (siehe Abschnitt 2.9), wenn es darum geht Lösungsmöglichkeiten und Handlungsstrategien für den Umgang mit gegenseitigen Erwartungen zu entwickeln. Auch die Ablehnung vieler älterer Menschen gegenüber Veränderungen, insbesondere des häuslichen Umfelds (siehe Abschnitt 2.10), kann die Reflexion über den Einsatz altersgerechter Assistenzsysteme erschweren. 5757 57 Erforderliche Kompetenzen des Beratenden: Um konstruktiv den Umgang mit Ambivalenzen und Spannungsfeldern zu bearbeiten, sollte der Beratende vor allem in der Lage sein auf alle Beteiligten anerkennend und wertschätzend zuzugehen und zugleich zwischen den Beteiligten (mit ihren ggf. gegenseitigen Erwartungen, unterschiedlichen Haltungen etc.) vermitteln zu können (Sozialkompetenz). Er sollte die Fähigkeit besitzen, unter Verwendung geeigneter Methoden Lösungsvarianten mit allen Beteiligten zu erarbeiten (Methodenkompetenz). Aufgrund unterschiedlicher Erwartungen der Beteiligten, Ambivalenzen und Spannungeldern, ist es erforderlich, dass der Beratende widersprüchliche und konfliktbehafte Situationen aushalten (Konfliktfähigkeit) und moderieren kann (Methodenkompetenz). Zugleich sollte er in der Lage sein, Sichtweisen und Optionen zu entwerfen, welche die Beteiligten dazu ermutigen bzw. aktivieren neue Lösungsmöglichkeiten und Handlungsstrategien für einen gelingenderen Alltag zu entwickeln (Ganzheitliches Denken, Durchsetzungsfähigkeit). Instrument: 5 Ermittlung und Reflektion von Ambivalenzen (Die Bearbeitung erfolgt auf Grundlage der Instrumente 2-4) Der Beratungsprozess 9.7 Entscheidungsphase rallel zu der Schaffung geeigneter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen stattfindet, sollte der Beratende den jeweils aktuellen Stand der fachlichen und gesellschaftlichen Diskussion kennen, z. B. hinsichtlich rechtlicher Regelungen (Fachkompetenz). Der Beratende sollte in der Lage sein, alle für die Entscheidung relevanten Beteiligten einzubeziehen (Methodenkompetenz) und auf angemessene Weise auf eine Entscheidungsfindung hinzuwirken (Durchsetzungsfähigkeit). Wenn noch ungeklärte oder bereits bekannte Ängste und Befürchtungen der Beteiligten auftreten oder erneut zum Thema werden, ist es erforderlich, dass der Beratende flexibel auf sich verändernde Situationen und Fragestellungen reagiert (Flexibilität) und konfliktbehaftete Situationen aushalten kann (Konfliktfähigkeit). Ist aufgrund der getroffenen Entscheidung die Beteiligung weiterer Akteure notwendig (z. B. für den Umbau der Wohnung), dann sollte der Beratende andere Dienstleister, Informations- und Kooperationsnetzwerke etc. kennen (Fachkompetenz, Ganzheitliches Denken) und vermitteln können (Teamfähigkeit). Ziele der Entscheidungsphase sind, gemeinsam mit dem älteren Menschen eine Entscheidung zu treffen und gegebenenfalls Folgemaßnahmen zu planen und einzuleiten (z. B. Unterstützung bei der konkreten Produktauswahl, Vermittlung weiterer Dienstleister etc.). Inhaltlich geht es vor allem darum, auf der Basis umfassender Aufklärung und Informiertheit sowie der persönlichen Präferenzen, eine selbstbestimmte Entscheidung des älteren Menschen herbeizuführen. Des Weiteren werden die gemeinsam erarbeiteten Lösungsmöglichkeiten und die endgültige Entscheidung des älteren Menschen und dessen An- und Zugehörigen festgehalten bzw. dokumentiert. Der Beratende unterstützt gegebenenfalls bei der Klärung des weiteren Vorgehens, z. B. der Einbindung weiterer professioneller Dienstleister. Zentrale Fragen: 1. Für welche Lösung hat sich der ältere Mensch entschieden? 2. Wie wurden ethische, soziale und rechtliche Bedenken in der Entscheidungsfindung berücksichtigt? 3. Wie wurden die Interessen weiterer Beteiligter berücksichtigt? 4. Welche Chancen und Risiken birgt die Entscheidung? 5. Welche alternativen Lösungen gibt es? 6. Welche Abwägungen waren ausschlaggebend für die Entscheidung? 7. Gibt es weiteren Handlungsbedarf zur Umsetzung der Entscheidung? Instrument: 6 Entscheidungsfindung Die Herausforderungen bestehen vor allem aufgrund ungeklärter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen. Dies betrifft vor allem datenschutzrechtliche und finanzielle Fragestellungen, da z. B. noch nicht abschließend geklärt ist, ob, und wenn ja, welche altersgerechten Assistenzsysteme in Zukunft im Rahmen der Kranken- und Pflegeversicherung oder anderer Finanzierungsmodelle (z. B. Versicherungen) finanziert werden. (siehe Abschnitt 2.2). Eine weitere Schwierigkeit können ungeklärte bzw. ungelöste gegenseitige Erwartungen und unterschiedlichen Bedürfnisse der Beteiligten sein, wenn es darum geht, eine endgültige und nachhaltige Entscheidung zu treffen (siehe Abschnitt 2.9). Es kann auch sein, dass eine bereits getroffene Entscheidung von dem älteren Menschen wieder in Frage gestellt wird, wenn ihm konkrete individuelle Anpassungsleistungen abverlangt werden oder sich die Umgestaltung des häuslichen Umfelds konkretisiert (siehe Abschnitt 2.10). Erforderliche Kompetenzen des Beratenden: Da der Einsatz altersgerechter Assistenzsysteme pa- 58 Der Beratungsprozess 9.8 Evaluationsphase Ziele der Evaluationsphase sind die Überprüfung und Bewertung des Beratungsergebnisses und der Zufriedenheit der Beteiligten sowie des Beratungsprozesses insgesamt. Inhaltlich geht es sowohl um eine Überprüfung und Bewertung der konkret durchgeführten Beratung (z. B. Beratungsstruktur, -inhalte und -ergebnis) als auch um eine nachhaltige Verbesserung des Beratungsprozesses überhaupt (formative Evaluationsmethode). Um das methodische Handeln und dessen Wirkungen zu überprüfen, wird der Beratungsprozess auf Basis der dokumentierten Inhalte (Instrumente 1-6) mittels zuvor festgelegter Kriterien reflektiert und ausgewertet. Im Rahmen der Selbstevaluation findet vor allem eine Auseinandersetzung mit der Rolle des Beratenden statt (z. B. Eigenmotivation, Gesprächsführung, wertschätzende Grundhaltung etc.) und dient der Optimierung der praktischen Arbeit. Entscheidende Fragen: 1. Sind die ursprünglich formulierten Ziele erreicht worden? 2. Wie zufrieden ist der ältere Mensch mit der getroffenen Entscheidung? 3. Wie zufrieden sind die weiteren Beteiligten mit der Entscheidung? 4. Wie ist der Beratungsprozess im Sinne einer lebensweltorientierten Beratung zu beurteilen? 5. Wie wird die eigene Rolle im Beratungsprozess bewertet? 6. Gibt es weiteren Beobachtungs- und Handlungsbedarf? Die Herausforderungen bestehen vor allem darin, dass sich die Situation des älteren Menschen und die Probleme bei der Alltagsbewältigung nur bedingt von Außenstehenden verstehen und erklären lassen. Da die Sichtweisen der Beteiligten grundsätzlich als gleichwertig betrachtet werden sollten, ist der Prozess der Entscheidungsfindung sehr komplex und anspruchsvoll. Dementsprechend schwierig gestaltet sich die Evaluation des Beratungsprozesses im Sinne einer eindeutigen Bewertung der getroffenen Entscheidung bzw. der objektiven Einschätzung einer erfolgreichen Beratung. Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass bei altersgerechten Assistenzsystemen eine Evaluation sinnvollerweise erst nach einem längerem Zeitraum der Nutzung durchgeführt werden sollte. Dies erfordert eigentlich eine kontinuierliche Begleitung des älteren Menschen im alltäglichen Umgang mit den vermittelten Technologien (siehe Abschnitt 2.10). Eine angemessene Bearbeitung solcher komplexen und zeitintensiven Aufgabenstellungen erfordert gute strukturelle Rahmenbedingungen und ausreichende zeitliche Ressourcen, die dem Beratenden häufig nur im 59 begrenzten Maße oder auch gar nicht zur Verfügung stehen. Erforderliche Kompetenzen des Beratenden: Um das methodische Handeln und dessen Wirkungen angemessen und kriteriengeleitet überprüfen und auswerten zu können, sollte der Beratende vor allem in der Lage sein, den Beratungsprozess auf Basis theoretischer Grundlagen (lebensweltorientiert) zu planen und zu strukturieren (Fachkompetenz, Ganzheitliches Denken). Er sollte analytische Fähigkeiten mitbringen, um komplexe Probleme zu identifizieren und zu dokumentieren (Methodenkompetenz). Er sollte Verfahren zur Evaluation und Zielüberprüfung kennen (Fachkompetenz) und durchführen können (Methodenkompetenz). Er sollte außerdem in der Lage sein, eigene Kompetenzen und Grenzen, das eigene Verhalten, Emotionen und Grundhaltungen retrospektiv zu reflektieren (Selbstkompetenz). Instrument: 7 Evaluation des Beratungsprozesses Ausgewählte Literatur Bohrer, A./Kuckeland, H./Oetting-Roß, C./Scherpe, M./Schneider, K. (2008): Beratung gestalten. Brake Bürgi, A./Eberhardt, H. (2006): Beratung als strukturierter und kreativer Prozess. Göttingen Krämer, M. (Hg.) (2005): Professionelle Beratung zur Alltagsbewältigung. Ein Lehrbuch. Göttingen Einführung Instrumentenkoffer 10 Instrumentenkoffer 60 6060 Instrumentenkoffer Inhaltsverzeichnis Instrumentenkoffer Inhalt Instrumente zur Unterstützung des Beratungsprozesses 0 Leitfaden zur Entscheidungsfindung 62 1 Auftragsklärung 65 2 Analyse sozialer Aspekte zur Erkundung des technologischen Unterstützungsbedarfs älterer Menschen 67 3 Ermittlung ethischer Haltungen und Spannungsfelder: a Zwischen älterem Menschen & An- und Zugehörigen (Älterer Mensch im Fokus) 69 b An- und Zugehörige 70 c Zusammenfassung 71 4 Ermittlung von Haltungen zu datenschutzrechtlichen Fragen 73 5 Umgang mit Ambivalenzen 75 6 Entscheidungsfindung 77 7 Evaluation des Beratungsprozesses 79 Instrument zur Analyse des Umgangs mit personenbezogenen Daten 8 Analyse des Umgangs mit personenbezogenen Daten: a Sensorik 81 b Entscheidungskompetenz 82 c Aktorik 83 6161 61 Einführung Instrumentenkoffer Verwendete Literatur 0 Leitfaden zur Entscheidungsfindung 0 Leitfaden zur Entscheidungsfindung Beratungsphasen Instrument Erledigt (Datum) Auftragsklärung 1. Was ist der Anlass? (Motivation/Problem) 2. Was soll erreicht werden? (Erwartungen und Ziele) 3. Was leistet die Beratung? (Möglichkeiten und Grenzen) 1 4. Welche Akteure sind beteiligt? Erkundungsphase 5. Welche Bedürfnisse, Haltungen und Präferenzen werden geäußert? 6. Welche Ressourcen sind vorhanden? (Objektive und subjektive Faktoren) 2, 3 7. Welche Befürchtungen gibt es? 8. Welcher Unterstützungs- und Handlungsbedarf ergibt sich? Informationsphase 9. Welche altersgerechten Assistenzsysteme kommen im Prinzip in Frage? 10. Wie funktioniert die Technologie? www. wegweiseralterund technik.de 11. Welche personenbezogenen Daten werden erhoben, gespeichert und weitergegeben? 12. Welche Produkte entsprechen den datenschutzrechtlichen 4, 8 Haltungen des älteren Menschen? Reflexionsphase Soziale Reflexion 13. Welche sozialen Aspekte sind betroffen? 14. Was ist das zentrale soziale Problem? (Was sind weitere Probleme?) 2 3 62 6262 Instrumentenkoffer Inhaltsverzeichnis Verwendete Literatur Ethische Reflexion 15. Welche ethischen Dimensionen sind betroffen bzw. kollidieren miteinander? (Individuell und zwischen den Akteuren) 16. Worin liegt der zentrale ethische Konflikt? (Was sind 3 Nebenkonflikte?) Rechtliche Reflexion 17. Was sind zentrale datenschutzrechtliche Sorgen? 4 Umgang mit Konflikten 18. Welche Werte, Positionen und Haltungen stehen dahinter? 19. Wie sind die Lösungen aus ethischer, sozialer und rechtlicher Sicht zu bewerten? 2, 3, 4 20. Welche alternativen Handlungsoptionen gibt es? 21. Welche Lösungsmöglichkeiten gibt es? 5 Entscheidungsphase 22. Für welche Lösung hat sich der ältere Mensch entschieden? 23. Welche Abwägungen waren ausschlaggebend im Entscheidungsprozess? 6 Evaluationsphase 24. Wie zufrieden ist der ältere Mensch mit der getroffenen Entscheidung? 25. Welche Aspekte der Beratung müssen reflektiert werden? 7 (Beratungsprozess insgesamt, Rolle des Beratenden) 26. Sollte die zukünftige Nutzung beobachtet werden? 27. Sind alle Aspekte des Beratungsprozesses berücksichtigt worden? 6363 63 0 Instrumentenkoffer Einführung Zum Instrument 0 Leitfaden zur Entscheidungsfindung Der Leitfaden dient der Strukturierung des Beratungsprozesses. Dabei werden für die jeweiligen Beratungsphasen (Erläuterungen dazu siehe Kapitel 9) die wesentlichen Fragestellungen aufgeführt. Falls es weitere Instrumente für die Bearbeitung der Beratungsphase gibt, werden diese in der Spalte Instrument aufgeführt. Wenn die Fragestellungen einer Beratungsphase bearbeitet sind, wird dies in der Spalte Erledigt (Datum) notiert. Der Ablauf der Beratung wird mit Hilfe des Instruments idealtypisch dargestellt. Der tatsächliche Ablauf des Beratungsprozesses kann sich in der konkreten Situation durchaus anders gestalten. Auch wenn die Beratungssituation einen anderen Ablauf erforderlich macht, empfiehlt es sich, darauf zu achten, dass alle Aspekte in den geschilderten Phasen bearbeitet werden, um eine selbstbestimmte Entscheidung des älteren Menschen hinsichtlich des Einsatzes altersgerechter Assistenzsysteme zu ermöglichen. Dieses Instrument dient darüber hinaus der Dokumentation des Beratungsprozesses und kann außerdem für die Evaluation genutzt werden. 64 6464 Instrumentenkoffer Inhaltsverzeichnis Verwendete Literatur 1 Auftragsklärung 1 Auftragsklärung Grundfragen der Auftragsklärung 1. Wer will was? (Wer sind meine Auftraggeber?) 2. Von wem? (Bin ich der richtige Ansprechpartner?) 3. Ab wann? Bis wann? (Zeitlicher Umfang) 4. Was leistet die Beratung? (Inhalt und Qualität) 5. Wozu? (Was soll erreicht werden? Wenn es sich um mehrere Auftraggeber handelt, sind sie sich hinsichtlich des Auftrages einig?) 6 6565 65 Einführung Instrumentenkoffer Zum Instrument 1 Auftragsklärung Das Instrument dient der Rahmung des Beratungsprozesses und zur Klärung der Möglichkeiten und Grenzen der Beratung, z. B. hinsichtlich des zeitlichen Umfangs. Zunächst können die persönlichen Daten (Name, Anschrift etc.) des älteren Menschen und weiterer beteiligter Personen (z. B. An- und Zugehörige) in der ersten Zeile des Instruments erfasst werden (Wer will was?). Dann wird der zuständige Ansprechpartner eingetragen (Von wem?). Sofern es möglich bzw. notwendig ist, kann in der dritten Spalte der zeitliche Umfang festgelegt werden (Ab wann? Bis wann?). Danach erfolgt eine Beschreibung der Inhalte der Beratung (Was leistet die Beratung?). Abschließend werden Wünsche, Erwartungen und Ziele dokumentiert. (Wozu?) Falls an dieser Stelle bereits deutlich wird, dass unterschiedliche oder gar widersprüchliche Erwartungen bestehen, sollten diese ebenfalls aufgenommen werden. Dieses Instrument dient außerdem der Dokumentation des Beratungsprozesses und kann für die Evaluation genutzt werden. 66 6666 6767 67 Schulabschluss, Beruf, nachberufliche Bildung, Technikerfahrung etc. Bildung Körperliche Verfassung, kognitiver Zustand Gesundheitszustand Angehörige, Freunde, Nachbarn, Verein etc. Soziale Beziehungen & Aktivitäten: Wohnung, Sozialraum, Infrastruktur etc. Wohnsituation Einkommen, Vermögen, Wohneigentum etc. Ökonomische Lage Älterer Mensch Sie/Er hat… Sie/Er will… Sorgen macht ihr/ihm… (Name, Anschrift, Alter, Geschlecht…) Persönliche Daten Sie/Er will… Sorgen macht ihr/ihm… (bezogen auf älteren Menschen) An- und Zugehörige Situations- bzw. Problembeschreibung in Hinblick auf Unterstützungsbedarf Sicht des Beratenden Konkretisierung von Lösungs- und Handlungsstrategien Unterstützungsbedarf 2 Analyse sozialer Aspekte zur Erkundung des technologischen Unterstützungsbedarfs 2 Analyse sozialer Aspekte zur Erkundung des technologischen Unterstützungsbedarfs älterer Menschen älterer Menschen Verwendete Literatur 8 Instrumentenkoffer Inhaltsverzeichnis Einführung Instrumentenkoffer Zum Instrument 2 Analyse sozialer Aspekte zur Erkundung des Unterstützungsbedarfs älterer Menschen Das Instrument dient der Erkundung und Analyse der Lebenswelt des älteren Menschen in Hinblick auf technologische Unterstützung. Zunächst können die persönlichen Daten (Name, Anschrift etc.) des älteren Menschen in der ersten Zeile des Instruments erfasst werden (Persönliche Daten). Sofern diese Daten bereits bei der Auftragsklärung aufgenommen wurden, kann an dieser Stelle auch darauf verzichtet werden. Im Folgenden sollen Sichtweisen und Haltungen hinsichtlich der Lebenslagedimensionen (ökonomische Lage, Wohnsituation, soziale Beziehungen etc.) aus der Perspektive des älteren Menschen vor dem Hintergrund folgender Fragestellungen ermittelt werden: •W ie schätzt der ältere Mensch seine Ressourcen und Handlungsmöglichkeiten in der jeweiligen Lebenslagedimension ein? • Welche Ziele hat er, was möchte er erreichen bzw. welchen Unterstützungsbedarf formuliert er? • Welche Ängste und Befürchtungen bestehen bzw. welche Probleme gibt es aus Sicht des älteren Menschen in den verschiedenen Lebensbereichen? Die Ergebnisse werden in der Spalte Älterer Mensch festgehalten. Anschließend können Einschätzungen aus der Perspektive weiterer beteiligter Akteure (z. B. Angehörige) in der Spalte An- und Zugehörige erfasst werden: •W as wünschen sich die Angehörigen für den älteren Menschen, welchen Bedarf sehen sie? •W elche Probleme sehen die Angehörigen bezogen auf den älteren Menschen bzw. was macht ihnen Sorge? Danach erfolgt eine Einschätzung aus der Perspektive des Beratenden, die in der Spalte Sicht des Beratenden eingetragen wird. Die Grundlage hierfür bilden die Aussagen des älteren Menschen und der Angehörigen. Abschließend werden vor diesem Hintergrund der Unterstützungsbedarf sowie mögliche Handlungsund Lösungsstrategien formuliert und in der Spalte Unterstützungsbedarf dokumentiert. 68 6868 Hilfe und Unterstützung bei der Alltagsbewältigung Versorgung durch altersgerechte Assistenzsysteme, z. B. für schambesetzte Pflegesituationen (Waschen, Unterstützung beim Toilettengang etc.) In technologisch unterstützten Lebensbereichen soll der ältere Mensch selbstbestimmt entscheiden und agieren können, z. B. keine Normierung durch Technologien. Der ältere Mensch soll prinzipiell die Möglichkeit haben, altersgerechte Assistenzsysteme selbstständig abzustellen. Schnelle und unkomplizierte Hilfe in einer Notfallsituation, z. B. nach einem Sturz (bspw. durch Hausnotrufsystem) Schutz vor Ausfällen altersgerechter Assistenzsysteme, insbesondere bei lebensrettender Technologie ‐ ‐ 6969 69 Zugang zum gesellschaftlichen Leben, z. B. durch Förderung der Mobilität Unterstützung sozialer Kontakte, z .B. durch Videotelefonie, ohne andere (persönliche) Kommunikationsformen einzuschränken Technologie soll nicht stigmatisieren, z. B. ‚Senioren‘-Handy Kritische Reflexion von (positiven und negativen) Altersbildern; Technologie soll Vielfalt des Alter(n)s abbilden ‐ ‐ Gerechtigkeit: ‐ Wunsch nach gleichberechtigtem Zugang zu altersgerechten Assistenzsystemen ‐ Wunsch nach finanzieller Entlastung, z. B. aufgrund unzureichender (privater) Finanzierungsmöglichkeiten ‐ Positives Selbstbild: ‐ Teilhabe: ‐ Schutz persönlicher (sensibler) Daten, z. B. bei einem Aktivitätsmonitoring (Welche Daten werden erhoben? Wer hat Zugriff auf die Daten?) Schutz der Intimsphäre, z. B. keine Kameras im Bad ‐ Privatheit: ‐ Sicherheit: ‐ Selbstbestimmung: ‐ ‐ Fürsorge: Bedürfnis nach … gering mittel hoch Älterer Mensch gering mittel 10 hoch An- und Zugehörige 3a Ermittlung ethischer Haltungen und Spannungsfelder zwischen älterem Menschen & 3a Ermittlung ethischer Haltungen und Spannungsfelder zwischen älterem Menschen & An- und Zugehörigen (Älterer Mensch im Fokus) An- und Zugehörigen (Älterer Mensch im Fokus) Verwendete Literatur Instrumentenkoffer Inhaltsverzeichnis Wunsch nach Entlastung, um wieder mehr Zeit für sich zu haben Ein selbstbestimmtes Leben führen können, das sich nicht (immer) nach dem Unterstützungsbedarf einer hilfebedürftigen Person richten muss. Wunsch nach Versorgung der hilfebedürftigen Person, auch um sich selbst ‚abzusichern‘ 70 7070 Wunsch nach mehr Privatleben (keine ‚soziale Kontrolle‘ durch hilfebedürftige Person) Wunsch nach Teilhabe am gesellschaftlichen Leben durch mehr Entlastung bei der Pflege und Versorgung einer hilfebedürftigen Person Verantwortung für die Pflege und Versorgung Angehöriger übernehmen Eine ‚gute Tochter‘, ein ‚guter Sohn‘ sein, die/der sich um die Versorgung und Unterstützung pflegebedürftiger Angehöriger kümmert Gerechtigkeit: ‐ Wunsch nach gleichberechtigtem Zugang altersgerechter Assistenzsysteme ‐ Wunsch nach finanzieller Entlastung bei unzureichenden Finanzierungsmöglichkeiten ‐ ‐ Positives Selbstbild: ‐ Teilhabe: ‐ Privatheit: ‐ Sicherheit: ‐ ‐ Selbstbestimmung: Bedürfnis nach … 3b Ermittlung ethischer Haltungen und Spannungsfelder: An- und Zugehörige gering mittel 3b Ermittlung ethischer Haltungen und Spannungsfelder: An- und Zugehörige Verwendete Literatur hoch 11 Instrumentenkoffer Einführung Älterer Menschen & An- und Zugehörige Beschreibung von Problemen aufgrund unterschiedlicher Haltungen (z. B. Fürsorge vs. Selbstbestimmung) Älterer Mensch Beschreibung von Problemen aufgrund ambivalenter Bedürfnisse (z. B. Sicherheit vs. Privatheit) Spannungsfelder … An- und Zugehörige Beschreibung von Problemen aufgrund ambivalenter Bedürfnisse 3c Ermittlung ethischer Haltungen und Spannungsfelder: Zusammenfassung 12 Konkretisierung von Handlungsstrategien Handlungsbedarf 3c Ermittlung ethischer Haltungen und Spannungsfelder: Zusammenfassung Verwendete Literatur Instrumentenkoffer Inhaltsverzeichnis 7171 71 Einführung Instrumentenkoffer Zum Instrument 3 Ermittlung ethischer Haltungen und Spannungsfelder Das Instrument dient der Ermittlung ethischer Haltungen und Spannungsfelder sowie der Entwicklung von Handlungs- und Lösungsstrategien. Dies erfolgt in drei Schritten: 1. Hier werden die Haltungen und Spannungsfelder des älteren Menschen und der An- und Zugehörigen (bezogen auf den älteren Menschen) mit Hilfe des Rasters 3a ermittelt. Zuerst wird festgehalten, in welchem Maß (gering, mittel, hoch) ein Bedürfnis nach Fürsorge, Selbstbestimmung, Sicherheit etc. beim älteren Menschen besteht. Danach wird dokumentiert, in welchem Maß (gering, mittel, hoch) Angehörige, Freunde, Bekannte etc. ein Bedürfnis nach Teilhabe, Privatheit, Gerechtigkeit etc. für den älteren Menschen haben. Die Kategorien ethischer Dimensionen werden kurz beispielhaft erläutert. Das Instrument kann auch zur Veranschaulichung der Ergebnisse für den älteren Menschen und die An- und Zugehörigen im Beratungsprozess genutzt werden. Erste Spannungsfelder, ambivalente und konfligierende Haltungen werden hier möglicherweise schon deutlich: Spannungsfeld älterer Mensch: Der ältere ‒ Mensch wünscht schnelle Hilfe im Notfall (hohes Bedürfnis nach Sicherheit), möchte aber keine Überwachung durch Sensoren (evtl. Kamera) in seiner Wohnung (hohes Bedürfnis nach Privatheit) zulassen. ‒ Spanungsfeld zwischen An- und Zugehörigen und dem älteren Menschen: Die An- und Zugehörigen wünschen sich eine gute Versorgung des älteren Menschen (hohes Bedürfnis nach Fürsorge), der selbst keine Unterstützung wünscht (hohes Bedürfnis nach Selbstbestimmung). en ethischer Dimensionen werden kurz beispielhaft erläutert. Diese Matrix kann ebenfalls zur Veranschaulichung der Ergebnisse im Beratungsprozess genutzt werden. Spannungsfelder können sich je nach Lebenssituation und ethischen Haltungen auf unterschiedliche Weise äußern: Angehörige haben den dringenden Wunsch nach Entlastung (hohes Bedürfnis nach Selbstbestimmung evtl. auch Teilhabe), möchten aber nicht als verantwortungslos gelten, eine ‚schlechte Tochter‘ oder ein ‚schlechter Sohn‘ sein, die oder der sich nicht um den älteren Mensch kümmert (hohes Bedürfnis nach positivem Selbstbild). 3. Das Raster 3c dient der Zusammenfassung der Ergebnisse des Rasters 3a und – sofern eingesetzt – des Rasters 3b. Hier werden vor dem Hintergrund ermittelter Spannungsfelder (siehe Schritt 1) mögliche Handlungs- und Lösungsstrategien in der Spalte Handlungsbedarf konkretisiert. Dieses Instrument dokumentiert den Prozess der ethischen Analyse und kann auch im Rahmen der Evaluation genutzt werden. Falls noch keine Lösungsstrategien für die aufgetretenen Spannungsfelder der beteiligten Akteure entwickelt werden konnten, kann das Instrument als Grundlage für eine kollegiale Fallberatung genutzt werden. Unter Umständen kann es sinnvoll sein, ermittelte Konflikte für die weitere Bearbeitung zu gewichten (zentrale, nachrangige und nicht zu behandelnde Konflikte). Es kann auch sein, dass bestimmte Problemlagen in einem anderen Beratungssetting bearbeitet werden müssen, z. B. wenn es um die Feststellung einer Pflegestufe geht. Das Instrument 3c dient nur der persönlichen Auswertung/ Dokumentation. Das gilt insbesondere in schwer auflösbaren krisenhaften Situationen. 2. Hier werden die Haltungen und Spannungsfelder der An- und Zugehörigen selbst mit Hilfe des Raster 3b ermittelt. Die Verwendung des Rasters ist nur dann notwendig, wenn im Beratungsprozess deutlich werden sollte, dass ein Konflikt zwischen älterem Menschen und An- und Zugehörigen besteht. In diesem Fall kann es hilfreich sein, die Haltungen und Bedürfnisse der An- und Zugehörigen selbst zu analysieren. Die Vorgehensweise ist wie beim Raster 3a. Es wird dokumentiert, in welchem Maß (gering, mittel, hoch) Angehörige, Freunde, Bekannte etc. ein eigenes Bedürfnis nach einem Positiven Selbstbild, Selbstbestimmung, Sicherheit etc. haben. Die Kategori- 72 7272 Instrumentenkoffer Inhaltsverzeichnis Verwendete Literatur 4 Ermittlung von Haltungen zu datenschutzrechtlichen Fragenvon Haltungen zu datenschutzrechtlichen Fragen 4 Ermittlung Altersgerechte Assistenzsysteme: gering mittel hoch Wie wichtig sind dem älteren Menschen Informationen über den Umgang mit seinen persönlichen Daten? Wie wichtig ist es ihm, in die Datenerhebung eingreifen zu können? (Korrigieren, Abschalten) Wie groß ist die Sorge vor zweckfremdem Gebrauch der eigenen Daten, z. B. durch: ‐ Weitergabe an Sozialversicherungsträger, Forschungseinrichtungen und private Unternehmen, ‐ Profilbildung, ‐ Nutzung für Werbezwecke? Besteht weiterer Klärungsbedarf bezüglich eines Produkts? Welche Produkte kommen in Frage? Warum? Anmerkungen (z. B. alternative Lösungen) 15 7373 73 Instrumentenkoffer Einführung Zum Instrument 4 Ermittlung von Haltungen zu datenschutzrechtlichen Fragen Das Instrument dient der Ermittlung von Haltungen des älteren Menschen zu datenschutzrechtlichen Fragen, um geeignete Produkte auswählen zu können. Diese Haltungen konkretisieren sich in der Regel erst nachdem der Beratende eine Vorauswahl an Produkten vorgestellt hat, weil viele ältere Menschen hier erstmals mit den Möglichkeiten der jeweiligen Datenerhebung konfrontiert werden. Zuerst wird festgehalten wie wichtig (gering, mittel oder hoch) dem älteren Menschen Informationen über den Umgang mit seinen persönlichen Daten sind. Des Weiteren soll ermittelt werden, wie wichtig ihm Eingriffsmöglichkeiten in die Datenerhebung sind, z. B. durch temporäres Abschalten. Schließlich soll die Sorge vor einem zweckfremden Gebrauch der eigenen Daten, z. B. zu Werbezwecken, festgehalten werden. Auf Grundlage dieser Haltungen werden die vorgestellten Produkte beurteilt. Dabei kann sich bei einzelnen Produkten Klärungsbedarf in Hinblick auf Funktionsweise und Datenerhebung ergeben. Außerdem soll dokumentiert werden, welche Produkte aus welchen Gründen in Frage kommen. Weitere relevante Informationen und Anmerkungen, z. B. zu alternativen Lösungen, können ebenfalls vorgenommen werden. Es ist zu berücksichtigen, dass die ermittelten Haltungen (Fragen 1-3) sich unter Umständen nicht auf Datenschutzfragen im engeren Sinn beziehen. Wenn z. B. gesagt wird, dass die Angehörigen bestimmte Informationen der privaten Lebensführung nicht erfahren sollen, kann ein sozialer Konflikt mit den Angehörigen die Ursache sein. Eine Sorge vor Überwachung kann auch einen Ambivalenzkonflikt ‚Sicherheit vs. Überwachung‘ andeuten, auf den z. B. mit Hilfe des Instruments 5 Umgang mit Ambivalenzen eingegangen werden sollte. 74 Verwendete Literatur Instrumentenkoffer ang mit Ambivalenzen 5 Umgang mit Ambivalenzen Vorteile Nutzung: Nachteile Nutzung: Vorteile Nichtnutzung: Nachteile Nichtnutzung: Verwendete Literatur l: Umgang mit Ambivalenzen ersgerechtes Assistenzsystem: Aktivitätsmonitoring und Notruf Beispiel: Umgang mit Ambivalenzen bei Aktivitätsmonitoring mit Notruf Vorteile Nutzung: Nachteile Nutzung: „Im Notfall bekomme ich schnell und einfach Hilfe.“ „So kann ja jeder sehen, was ich den ganzen Tag mache. Nein, da fühle ich mich kontrolliert…“ Vorteile Nichtnutzung: Nachteile Nichtnutzung: „Es fallen dann natürlich keine Kosten an…“ „Ich bin schon mal gestürzt und lag 17 die ganze Nacht auf dem Fußboden. Das war schrecklich…“ 75 18 Instrumentenkoffer Zum Instrument 5 Umgang mit Ambivalenzen Das Instrument dient dem Umgang mit Ambivalenzkonflikten indem subjektiv empfundene Vor- und Nachteile beim Einsatz altersgerechter Assistenzsysteme priorisiert werden. Dabei wird die Annahme zu Grunde gelegt, dass Menschen nicht grundlos widerständig sind, sondern sich ambivalent bezüglich einer Sache oder einer Situation fühlen. Die Ambivalenz ist ein normaler Teil des menschlichen Erlebens und Verhaltens. Es ist entscheidend, dass die Ambivalenz erkundet und reflektiert wird, sofern der ältere Mensch dies wünscht. Ein typischer Konflikt ist beispielsweise, dass der ältere Mensch schnelle Hilfe im Notfall wünscht (hohes Bedürfnis nach Sicherheit), zugleich aber keine Überwachung durch Sensoren (evtl. Kamera) in seiner Wohnung zulassen möchte (hohes Bedürfnis nach Privatheit). Ein und derselbe Sachverhalt beinhaltet für den älteren Menschen Vor- und Nachteile, die gleichermaßen relevant sind. Ältere Menschen, die sich in einem solchen Konflikt befinden, erkennen häufig die alternativen Handlungsoptionen nicht. Somit ist das Verstehen der Ambivalenz ein zentrales Ziel. Die Benutzung des Instruments sieht vor, dass der ältere Mensch die Vor- und Nachteile eines Aktivitätsmonitorings, das im Notfall einen Alarm auslöst, angibt. Außerdem wird er gebeten, die Vorund Nachteile der Nichtnutzung zu benennen. Das Ergebnis dient zum einen der Visualisierung der sich widersprechenden Erwartungen und Bedürfnisse. Durch die schriftliche Fixierung der jeweiligen Argumente ist es dem älteren Menschen zum anderen möglich, diese zu betrachten, sie abzuwägen und ggf. einen Umgang mit der Ambivalenz durch Priorisierungen seiner Aussagen zu finden (siehe Beispiel): „Ist es wichtiger, schnelle Hilfe im Notfall zu erhalten oder überwiegt die Angst vor Kontrolle?“, „Lohnt es sich vielleicht doch, für eine solche Technologie Geld auszugeben, wenn ich dafür nach einem Sturz nicht noch einmal die ganze Nacht auf dem Fußboden liegen muss?“ Durch die Verdeutlichung der Vor- und Nachteile der jeweiligen Handlungsalternativen lässt sich dieser Konflikt mit Hilfe der 4-Felder-Matrix ggf. auflösen. 76 Instrumentenkoffer Verwendete Literatur 6 Entscheidungsfindung 6 Entscheidungsfindung Datum: 1. Für welche Lösung hat sich der ältere Mensch entschieden? 2. Wie wurden ethische, soziale und rechtliche Bedenken in der Entscheidungsfindung berücksichtigt? 3. Wie wurden die Interessen weiterer Beteiligter berücksichtigt? 4. Welche Chancen und Risiken birgt die Entscheidung? 5. Welche alternativen Lösungen gibt es? 6. Welche Abwägungen waren ausschlaggebend für die Entscheidung? 7. Gibt es weiteren Handlungsbedarf zur Umsetzung der Entscheidung? 20 77 Instrumentenkoffer Zum Instrument 6 Entscheidungsfindung Das Instrument dient der Unterstützung des Entscheidungsprozesses und der Umsetzung der Entscheidung. In der ersten Zeile kann das Datum der Entscheidung eintragen werden. Als erstes wird festgehalten, für welche Lösung sich der ältere Mensch entschieden hat. Dann wird dokumentiert, welche ethischen, sozialen und rechtlichen Bedenken, Ambivalenzen und Konflikte auf dem Weg zu dieser Entscheidung bearbeitet wurden. Gerade im Fall von Ambivalenzen und Konflikten kann davon ausgegangen werden, dass es sich bei der getroffenen Entscheidung um einen Kompromiss handelt, der Chancen und Risiken birgt. Daher sollte für eine zukünftige Evaluation festgehalten werden, welche alternativen Lösungsmöglichkeiten es gibt, und welche Überlegung für die getroffene Entscheidung den Ausschlag gegeben hat. Abschließend kann dokumentiert werden, welche Maßnahmen zur Umsetzung der Entscheidung erforderlich sind, z. B. die Kontaktaufnahme mit Dienstleistern, die den Einbau der Technologie übernehmen. Dieses Instrument dient außerdem der Dokumentation des Beratungsprozesses und kann für die Evaluation genutzt werden. 78 Instrumentenkoffer Verwendete Literatur 7 Evaluation des Beratungsprozesses 7 Evaluation des Beratungsprozesses Datum: 1. Sind die ursprünglich formulierten Ziele erreicht worden? 2. Wie zufrieden ist der ältere Mensch mit der getroffenen Entscheidung? 3. Wie zufrieden sind die weiteren Beteiligten mit der Entscheidung? 4. Wie ist der Beratungsprozess im Sinne einer lebensweltorientierten Beratung zu beurteilen? 5. Wie wird die eigene Rolle im Beratungsprozess bewertet? 6. Gibt es weiteren Beobachtungsund Handlungsbedarf? 22 79 Instrumentenkoffer Zum Instrument 7 Evaluation des Beratungsprozesses Das Instrument dient der Zielüberprüfung (Zufriedenheit der Auftraggeber) und der Evaluation des gesamten Beratungsprozesses. Als erstes wird geprüft, ob das in der Auftragsklärung vereinbarte Beratungsziel erreicht wurde. Im Anschluss soll festgehalten werden, wie zufrieden der ältere Mensch und ggf. die weiteren Beteiligten mit der Lösung sind. In der Frage 4 wird der Beratungsprozess in Hinblick auf die Umsetzung der Prinzipien lebensweltorientierter Beratung überprüft. Danach werden die Rolle des Beratenden bzw. dessen berufliche und persönlichkeitsbedingte Fähigkeiten und dessen Wirkungen im Rahmen des Beratungsprozesses reflektiert. Abschließend kann mit der Beantwortung der Frage 6 weiterer Beobachtungs- und Handlungsbedarf festgehalten werden, z. B. eine zukünftige Überprüfung der Entscheidung nach einer vereinbarten Testphase. 80 Klärung technischer Fragen mit dem Hersteller Sonstige: Vitaldaten (Blutdruck, Blutzucker, Temperatur, …) Kabel Verhaltensdaten (Bewegung, Türöffnung, Nutzung von Geräten, Schrittzähler …) Übertragungsweg (zur Entscheidungskompetenz oder Aktorik) Funk Sensorik Umgebungsdaten (Temperatur, Licht, Lautstärke, …) Welche Daten werden erhoben? Altersgerechtes Assistenzsystem: √ 8a Analyse des Umgangs mit personenbezogenen Daten: Sensorik 8a Analyse des Umgangs mit personenbezogenen Daten: Sensorik √ 24 Instrumentenkoffer 81 82 (Pflege-)Dienstleister Externer IT-Dienstleister (des Herstellers oder Dienstleisters) II Aggregierte Daten (summierte Rohdaten, Abrechnungsdaten, …) II Neu generierte Informationen (Person ist gestürzt, Gefahrensituation, ...) III Selbstdefiniertes Personenprofil (Normwerte zu Verhalten und Umgebung) Klärung technischer Fragen mit dem Hersteller Hersteller I Vitaldaten (Blutdruck, Blutzucker, Temperatur, …) Forschungseinrichtung Sozialversicherungsträger An-/Zugehörige Der ältere Mensch selbst Wer hat Zugriff auf die Daten/Informationen? I Verhaltensdaten (Bewegung, Türöffnung, Nutzung von Geräten, …) √ Auf auswärtigem Server Was wird gespeichert? I Umgebungsdaten (Temperatur, Licht, Lautstärke, …) √ In der Wohnung Wo befindet sich die Entscheidungsko mpetenz? Entscheidungskompetenz 8b Analyse des Umgangs mit personenbezogenen Daten: Entscheidungskompetenz √ 8b Analyse des Umgangs mit personenbezogenen Daten: Entscheidungskompetenz Verwendete Literatur 25 Instrumentenkoffer 83 I Vitaldaten (Blutdruck, Blutzucker, Temperatur, …) II Alarmsignal, interpretierte Informationen (z.B. Betroffener ist gestürzt) (Pflege-)Dienstleister Externer IT-Dienstleister (des Herstellers oder Dienstleisters) Klärung technischer Fragen mit dem Hersteller I Verhaltensdaten (Bewegung, Türöffnung, Schrittzähler, …) Hersteller Welche Daten/Informationen werden übermittelt? (unter Umständen ausschließlich von einer festgelegten Norm abweichende) I Umgebungsdaten (Temperatur, Licht, Lautstärke, …) √ An-/Zugehörige Wer wird informiert? Aktorik / Alarmauslösung √ Wer wird aktiv? (Pflege-)Dienstleister Hersteller An-/Zugehörige Der ältere Mensch selbst 8c Analyse des Umgangs mit personenbezogenen Daten: Aktorik 8c Analyse des Umgangs mit personenbezogenen Daten: Aktorik √ 26 Instrumentenkoffer Instrumentenkoffer Zum Instrument 8 Analyse des Umgangs mit personenbezogenen Daten Das Instrument findet außerhalb des Beratungsprozesses Anwendung. Es soll dem Beratenden helfen, alle wichtigen Momente im Umgang der jeweiligen Technologie mit personenbezogenen Daten herauszufinden, die dem älteren Menschen im Beratungsprozess vermittelt werden sollten. Es ist daher zu empfehlen, dass der Beratende das Instrument anwendet, sobald er ein Produkt in seinen Beratungskatalog aufnehmen möchte. Das dabei gewonnene Wissen über die Technologie kann im Fall einer Beratung dem älteren Menschen in der Informationsphase vermittelt werden. Sorgen und Bedenken bezüglich des Umgangs mit personenbezogenen Daten sollen mit Hilfe des Instruments 4 Ermittlung datenschutzrechtlicher Haltungen bearbeitet werden. Eine ausführliche Erläuterung des Aufbaus sowie der Fragen und Antwortmöglichkeiten des Instruments bietet der Abschnitt 7.3. Der Abschnitt 7.4 zeigt eine beispielhafte Anwendung des Instruments. 84 Verwendete Literatur Inhaltsverzeichnis 11 Verwendete Literatur Al Akel, S. (2006): Beratung im Alter. In: Brückner/ Al Akel/ Klein (Hg.), Verstehende Beratung alter Menschen. Orientierungshilfen für den Umgang mit Lebenskonflikten, Krisen und Notfällen. Regensburg, S.73-89. Ammicht Quinn, R./ Spindler, M./ Beimborn, M./ Kadi, S./Köberer, N./ Tulatz, K. (2013): Technik als Partnerin älterer Menschen. (Wie) Kann das gelingen? Bericht über den transdisziplinären, explorativen Workshop des BMBF-Projekts MATERIA. URL: http://www.uni-tuebingen.de/index. php?eID=tx_nawsecuredl&u=0&g=0&t=14434 46387&hash=7a0f31aa106df3e5ecf86479dfa43e b7eba55d81&file=fileadmin/Uni_Tuebingen/Einrichtungen/IZEW/Documente/pdf/Ethik_und_Kultur/MATERIA/Bericht_Forschungswerkstatt_Alter_und_Technik_Okt_2013_T%C3%BCbingen. pdf (27.08.2015) Beauchamp, T. L./ Childress, J. F. (2013): Principles of biomedical ethics. 7th edition. Oxford Bestmann, S. (2013): Finden ohne zu suchen. Einzelfallunspezifische Arbeit in der sozialräumlichen Kinder- und Jugendhilfe. Wiesbaden Blonski, H. 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Arne Manzeschke Prof Dr. Matthias Schnath Prof. Dr. Annette Schröder Gestaltung Pries – Print- und Onlinewerbung Bildnachweis Verwendung mit Lizenz von fotolia.com und shutterstock.com. Seite Seite Seite Seite Seite Seite Seite Seite Seite Seite 1: Barabas Attila/fotolia.com 4: PathDoc/shutterstock.com 10: ChameleonsEye/shutterstock.com 15: Privat 24: Privat 29: Zerbor/fotolia.com 36: Seraphim Vector/fotolia.com 44: alphaspirit/fotolia.com 51: fotografiche.eu/fotolia.com 60: viperagp/fotolia.com Stand November 2015 Der Beratungsleitfaden wird von der Hochschule Hannover unentgeltlich zur Verfügung gestellt. Er ist nicht zum gewerblichen Vertrieb bestimmt. 88
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