Vergewaltigungsmythen: Sozialpsychologische

Vergewaltigungsmythen:
Sozialpsychologische Untersuchungen über
täterentlastende und opferfeindliche Überzeugungen
im Bereich sexueller Gewalt
Habilitationsschrift
eingereicht bei der Fakultät für Sozialwissenschaften
der Universität Mannheim
von
Gerd Bohner
Juni 1996
Dieser
Text
erschien1996
später als / This text was later published as
© Gerd
Bohner,
^
Die Veröffentlichung
einer überarbeiteten
Fassung dieserUntersuchungen
Arbeit ist geplant.
Bohner,
G. (1998). Vergewaltigungsmythen:
Sozialpsychologische
über Daher bitte
täterentlastende
und opferfeindliche
Überzeugungen
im Bereich
Gewalt [Rape
myths:
keine
wörtlichen Zitate
aus der vorliegenden
Version
ohne sexueller
Genehmigung
des Autors.
Social psychological studies on attitudes that exonerate the assailant and blame the victim of
sexual violence]. Landau, Germany: Verlag Empirische Pädagogik.
^
Die Seitenzahlen dieser Version entsprechen nicht denen des publizierten Buches.
The page numbers in this version do not correspond to those of the published book.
Danksagung
Zahlreiche Personen und Institutionen haben auf unterschiedlichste Weise zum Zustandekommen
dieser Arbeit beigetragen. An erster Stelle möchte ich Shelly Chaiken und Norbert Schwarz
danken, auf deren freundschaftliche Förderung, vorbildliche Anleitung, Diskussionsbereitschaft
und konstruktive Kritik ich immer zählen konnte. Ebenso wichtig war und ist für mich die
langjährige Freundschaft und Zusammenarbeit mit Herbert Bless; auch ihm sei für Rat und Hilfe
herzlich gedankt. Martin Irle gebührt Dank dafür, daß er mir am Mannheimer Lehrstuhl für
Sozialpsychologie großen Freiraum zu eigenständiger Forschungstätigkeit zugestand.
Während der Entstehung dieser Arbeit fand ich zu verschiedenen Zeiten Anregungen in
Diskussionen mit Dorothee Dickenberger, Michael Diehl, Sabine Einwiller, Birte Englich, HansPeter Erb, Klaus Fiedler, Guido Hertel, Susanne Rank, Joachim Schahn, Bernd Simon, Dagmar
Stahlberg, Sabine Sturm und Michaela Wänke, die die Konzeption einzelner Untersuchungen,
das Manuskript dieser Arbeit oder Teile davon kritisch und konstruktiv kommentierten.
Die dargestellten Untersuchungen wären ohne die Mitarbeit zahlreicher KollegInnen, Hilfskräfte
und Studierenden nicht zustandegekommen. Dank für ihre kompetente Unterstützung gilt den
Mitarbeiterinnen des Projekts "Indirekte Viktimisierung": Bilgin Ayata, Dagmar Effler, Katja
Kaffanke, Miriam Litters und Stefanie Rutz, ganz besonders aber Sabine Sturm. An einzelnen
Experimenten beteiligt waren darüber hinaus Alexandra Barzvi, Frank Herberg, Alexandra
Hübner, Petra Karrer, Bernd Kerschbaum, Sven Klingemann, Peter Metz, Alexander Potgeter,
Paula Raymond, Marc-André Reinhard, Michaela Wänke und Christina Weisbrod. Ihnen sei
ebenso gedankt wie allen Personen, die bereit waren, an den berichteten Untersuchungen
teilzunehmen. Fürs Korrekturlesen und technische Unterstützung bei der Erstellung des
Manuskripts danke ich Sabine Einwiller, Lars Heinisch und Markus Ruder.
Schließlich danke ich Johanna Dinger für die liebevolle und geduldige Unterstützung, die sie mir
während der Arbeit an dieser Schrift zuteil werden ließ.
Die Finanzierung eines Großteils der berichteten Forschung wurde ermöglicht durch eine
Sachbeihilfe aus dem Förderprogramm "Frauenforschung an Universitäten" des Landes BadenWürttemberg sowie durch ein Feodor-Lynen-Stipendium der Alexander-von-Humboldt-Stiftung,
das ich zu einem einjährigen Aufenthalt als "visiting scholar" an der New York University nutzen
konnte.
Einleitung
i
Inhaltsübersicht
1
2
3
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.1 Gegenstand der Arbeit und Einordnung in den Kontext der Forschung
zu sexueller Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.2 Sozialpsychologische Untersuchungen zum Thema Vergewaltigung . . . . . . . . .
1.3 Vergewaltigung und Geschlechterungleichheit: Korrelative Befunde . . . . . . . .
1.4 Ethische Aspekte der Forschung über die Auswirkungen sexueller Gewalt . . .
Vergewaltigungsmythen: Definition, Funktion, Messung und Verbreitung . . . . . .
2.1 Definition von Vergewaltigungsmythen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2 Inhalt von Vergewaltigungsmythen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.1
Ein Klassifikationsvorschlag von Burt (1991) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.2
Weitere inhaltliche Kategorisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.3 Zur Funktion von Vergewaltigungsmythen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.3.1
Vergewaltigungsmythen als Ausdruck des Glaubens an eine
gerechte Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.3.2
Geschlechtsspezifische Funktionen von Vergewaltigungsmythen . .
2.3.3
Vergewaltigungsmythen als neutralisierende Kognitionen . . . . . . . .
2.3.4
Kognitive Repräsentation von Vergewaltigungsmythen . . . . . . . . . .
2.4 Die Messung von Vergewaltigungsmythen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.4.1
Die "Rape Myth Acceptance Scale" von Burt (1980) . . . . . . . . . . . .
2.4.2
Die "Attitudes Toward Rape Scale" von Feild (1978) . . . . . . . . . . . .
2.4.3
Weitere Skalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.5 Zur Verbreitung von Vergewaltigungsmythen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.5.1
Daten aus allgemeinen Bevölkerungsstichproben . . . . . . . . . . . . . . .
2.5.2
Vergewaltigungsmythen in Viktimologie, Strafverfolgung und
Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Entwicklung und Validierung einer deutschsprachigen Skala zur Erfassung der
Vergewaltigungsmythenakzeptanz (VMA-Skala, VMAS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1 Die Items der deutschen VMA-Skala . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2 Skalenkennwerte und Geschlechtsunterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.1
Skalenanalysen der VMA-Skala . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.2
Überprüfung einer 10-Item-Kurzskala . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.3
Unterschiede zwischen Frauen und Männern . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.3 Validierungsstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.3.1
Korrelative Befunde zur Konstruktvalidität: VMA und allgemeine
Einstellungen, Persönlichkeitsmerkmale, Verhaltensabsichten . . . .
1
3
6
7
9
11
11
13
13
16
16
17
19
21
24
27
27
29
29
30
30
32
34
34
37
37
47
49
51
52
ii
Kapitel 1
3.3.2
Experimentelle Validierung: VMA und
Verantwortungszuschreibung in konkreten Fällen . . . . . . . . . . . . . . 63
3.4 Zusammenfassung der Befunde zur Reliabilität und Validität der deutschen
VMA-Skala . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
4
Exkurs: VMA und verschleiernde Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.1 Das grammatikalische Passiv als "täterabgewandte Perspektive" und
andere sprachliche Strategien indirekter Verantwortungszuschreibung . . . .
4.2 VMA und Schreiben über eine Vergewaltigung: Ein Experiment zur
Verwendung des Passivs und anderer "distanzierender" Formen und
Wendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.2.1
Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.2.2
Auswertung der Texte und Überschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.2.3
Ergebnisse und Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.2.4
Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.3 VMA und Textrezeption: Ein Experiment zu den Einflüssen von Texten
im grammatikalischen Aktiv versus Passiv auf die
Verantwortungszuschreibung und die Textwiedergabe . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.3.1
Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.3.2
Auswertung und Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.3.3
Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
74
74
77
78
79
80
83
83
84
86
93
94
5
VMA und die Bereitschaft zu vergewaltigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96
5.1 Quasiexperimentelle und korrelative Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96
5.2 Ein Experiment zur neutralisierenden Wirkung von VMA . . . . . . . . . . . . . . . 97
5.2.1
Stichprobe, Vorgehensweise und Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
5.2.2
Variation der Reihenfolge und Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
5.2.3
Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
5.2.4
Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
6
Salienz der Bedrohung durch Vergewaltigung: Einflüsse auf den Selbstwert
von Frauen und Männern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.1 Eine erste experimentelle Überprüfung (Schwarz & Brand, 1983) . . . . . . . . . . .
6.2 Offene Fragen: Moderatorwirkung der VMA und Spezifität der Effekte . . . . . . .
6.3 Wie spezifisch ist der Einfluß der Salienz von Vergewaltigung?
(Salienz-Experiment 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.3.1
Stichprobe und Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.3.2
Materialien und abhängige Variablen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.3.3
Bildung von Gruppen hoher versus niedriger VMA . . . . . . . . . . . . . . .
6.3.4
Vorgehen bei der Überprüfung der Hypothesen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
103
105
107
109
109
110
112
113
7
8
Einleitung
iii
6.3.5
Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.3.6
Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.4 Eine Replikation ausschließlich mit Frauen ohne eigene Gewalterfahrung
(Salienz-Experiment 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.4.1
Stichprobe und Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.4.2
Materialien und abhängige Variablen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.4.3
Bildung von Gruppen hoher versus niedriger VMA . . . . . . . . . . . . . . .
6.4.4
Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.4.5
Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.4.6
Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.5 Gesamtdiskussion und weiterführende Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
114
116
Vergewaltigungsmythen und Selbstkategorisierung: Ein Prozeßmodell . . . . . . .
7.1 Assimilation und Kontrast im Urteil als Funktion von mentaler Inklusion
versus Exklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7.2 VMA und Assimilation versus Kontrast in selbstbezogenen Urteilen . . . . . . . . .
7.3 Interindividuelle Unterschiede in der Selbstkategorisierung und VMA . . . . . . . .
7.4 Zusammenfassung des Modells und daraus ableitbare Hypothesen . . . . . . . . . . .
127
117
118
118
119
120
120
123
124
127
129
131
134
Prüfung aus dem Modell abgeleiteter Hypothesen zu Kategorisierungsprozessen
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
8.1 VMA und Kategorisierung: Wahrgenommene Ähnlichkeit zwischen
"potentiellen Opfern" und "Frauen im allgemeinen" sowie "potentiellen Tätern"
und "Männern im allgemeinen" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
8.1.1
Evidenz für VMA-abhängige Kategorisierungsprozesse:
Drei Experimente zu Ähnlichkeitsurteilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
8.1.2
Offene Beschreibung der Kategorien "potentielle Opfer" und "Frauen
im allgemeinen" in Ähnlichkeits-Experiment 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146
8.1.3
Diskussion der Befunde zu Ähnlichkeitsurteilen . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
8.2 VMA und Selbstkategorisierung auf der Grundlage des Geschlechts . . . . . . . . . 156
8.2.1
Kollektiver Selbstwert: Eine Skala zur Erfassung evaluativer Aspekte
der sozialen Identität als Frau bzw. Mann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
8.2.2
Zusammenhänge zwischen der VMA und dem kollektiven Selbstwert
als Frau bzw. Mann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160
8.3 VMA bei Frauen und die spontane Nutzung der Kategorie "Geschlecht"
in der Urteilsbildung über Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
8.3.1
Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
8.3.2 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166
8.3.3
Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
8.4 Zusammenfassung der Befunde zu Kategorisierungsprozessen . . . . . . . . . . . . . . 168
iv
Kapitel 1
9
Schlußfolgerungen und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9.1 Zusammenfassung und Diskussion der berichteten Befunde . . . . . . . . . . . . . . . .
9.2 Ausblick auf zukünftige Studien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9.2.1
Variation der Kategorisierung des Opfers, Variation der
Vergleichsrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9.2.2
Selbstkategorisierungs-Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9.2.3
Empathie-Instruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9.3 Schlußbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
170
170
176
177
180
182
183
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194
Einleitung
1
1
Einleitung
Es gibt weltweit kein einziges Land, in dem Frauen in rechtlicher, ökonomischer und
politischer Hinsicht Männern gleichgestellt oder Männern gegenüber bessergestellt wären
(United Nations, 1991). Diese Einschätzung der Lage der Frauen war auch in Presseberichten zur
Weltfrauenkonferenz 1995 in Peking immer wieder zu lesen und wurde im Prinzip von
niemandem bestritten. Weniger Einigkeit bestand auf der Konferenz über die Frage, ob und
inwieweit sich an diesem Zustand etwas ändern sollte. Insbesondere die Forderung nach dem
Recht der Frauen, ihre Sexualität selbst zu bestimmen, war heftig umstritten. "Die Vorstellung,
Frauen könnten eigene sexuelle Rechte haben, erscheint vielen Staaten derart fern, daß dieser
Begriff im Abschlußdokument der Konferenz ... nicht auftauchen, sondern nur umschrieben
werden darf" (Reinhardt, 1995). Auch in der Bundesrepublik Deutschland, die 1985 (wie
inzwischen 138 weitere Staaten) das "Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von
Diskriminierung der Frau" ratifiziert hat (s. Abel, 1986), ist die sexuelle Selbstbestimmung der
Frauen weder juristisch noch praktisch hinreichend gesichert. So verstieß zum Beispiel die
ausdrückliche Beschränkung des Straftatbestandes "Vergewaltigung" (§ 177 Strafgesetzbuch)
auf "außerehelichen Beischlaf", die erst in jüngster Zeit aufgehoben wurde, gegen die
Bestimmungen dieser UN-Konvention, die die Gleichstellung und Selbstbestimmung der Frau
ungeachtet ihres Familienstandes fordert (s. Abel, 1986, S. 397).1
Verstöße von Männern gegen die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen werden insgesamt
nur selten geahndet. Jährlich werden in der Bundesrepublik Deutschland etwa 6000 Fälle von
Vergewaltigung und etwa 4000 Fälle sexueller Nötigung amtlich erfaßt. Die Aufklärungsquote
beider Delikte, d.h. der Anteil bekanntgewordener Fälle, bei denen ein Tatverdächtiger ermittelt
wurde, liegt bei etwa 70%. Doch nur in einem guten Drittel der aufgeklärten Fälle wird Anklage
erhoben. Diese Zahlen sind seit Mitte der siebziger Jahre etwa gleichbleibend (z.B. Abel, 1986;
Fehrmann, Jakobs, Junker, Luka & Warnke, 1982; Statistisches Bundesamt, 1994). Der Anteil
der Falschanzeigen liegt nach Analysen von Gerichtsakten bei ca. 1 bis 8% (Baurmann, 1983,
S. 295 ff.; Brownmiller, 1976, S. 435; Kröhn, 1984; zum Überblick s. Abel, 1986, S. 377 ff.).2
Die meisten Delikte gelangen jedoch überhaupt nicht in die offizielle Verbrechensstatistik. Nach
Untersuchungen zum "Dunkelfeld" liegt die tatsächliche Anzahl der Delikte mindestens um den
Faktor 2 (Amelang, 1986, mit Bezug auf Umfragedaten von Weis, 1982) höher als die der
bekanntgewordenen, manchen AutorInnen zufolge bis zum Faktor 20 (s. z.B. Baurmann, 1986;
Weis 1982; zum Überblick s. Abel, 1986; Amelang, 1986). Demnach würden jährlich etwa
20.000 bis 200.000 sexuelle Gewaltdelikte an Frauen über 14 Jahren begangen. Kirchhoff und
Kirchhoff (1979) führten in den Jahren 1974 bis 1977 eine Befragung von 113 deutschen
1
Auch die kürzlich vom Deutschen Bundestag verabschiedete Neufassung des § 177 enthält — neben
einigen Verbesserungen — mit dem Verbot der Verfolgung eines vergewaltigenden Ehemannes für den Fall,
daß die Ehefrau widerspricht (§ 177 StGB, Abs. 5), eine Sonderklausel, die in der Praxis weiterhin eine
Schlechterstellung von Ehefrauen gegenüber anderen Vergewaltigungsopfern darstellen dürfte (zur Diskussion
s. "Vergewaltigung in der Ehe", 1995; Reinhardt, 1996).
2
Vgl. aber Kanin (1994), der anhand der in einem Polizeirevier über neun Jahre registrierten Anzeigen den
Wert von 41% Falschanzeigen ermittelte.
2
Kapitel 1
Studentinnen im ersten Semester durch (Durchschnittsalter 21 Jahre). Von diesen gaben 14 (ca.
12%) an, nach ihrem 15. Lebensjahr mindestens einmal Opfer einer Vergewaltigung oder
sexuellen Nötigung geworden zu sein.
Neuere Untersuchungen, die ich gemeinsam mit KollegInnen Anfang der neunziger Jahre
durchführte (zu Einzelheiten s. Kapitel 3), ergaben noch höhere Werte.3 So berichteten gut 33%
der von uns befragten Berufsschülerinnen (Durchschnittsalter etwa 19 Jahre), daß schon einmal
ein Mann sie zu sexuellen Handlungen gezwungen oder dies versucht habe (27% gaben an, daß
die Tat vollendet wurde, bei 6% blieb es nach eigenen Angaben beim Versuch). Bei zwei
Stichproben von Studentinnen (Durchschnittsalter 24.3 bzw. 22.7 Jahre) betrug der Prozentsatz
von Frauen mit sexuellen Gewalterfahrungen 32% bzw. 29%. In einer Stichprobe von
Benutzerinnen einer öffentlichen Bibliothek (Durchschnittsalter 29.6 Jahre; 40 % Studentinnen,
34 % Berufstätige, 12 % in Ausbildung, 14 % ohne Angabe) berichteten 33 % von derartigen
Erfahrungen. Ähnlich hohe Zahlen ermittelten wir bei Studentinnen des ersten Studienjahres an
der New York University: 19% gaben an, Opfer einer vollendeten Vergewaltigung oder sexuellen
Nötigung geworden zu sein, weitere 22.6% waren nach eigenen Angaben Opfer entsprechender
Versuche (Bohner, Weisbrod, Raymond, Barzvi & Schwarz, 1993, Exp. 2). Das letztere Resultat
stimmt gut überein mit Daten aus einer größeren Umfrage mit U.S.-amerikanischen Studentinnen
(N = 3187; mittleres Alter 21.4 Jahre), in der 39.3% der Frauen angaben, daß sie seit ihrem 14.
Lebensjahr Opfer einer versuchten oder vollendeten sexuellen Nötigung oder Vergewaltigung
geworden waren (Koss, 1988). Vergewaltigung und "sexuelle Gewalt"4 gegen Frauen sind also
weit verbreitet, und das Risiko für eine Frau, irgendwann in ihrem Leben selbst Opfer sexueller
Gewalt zu werden, ist entsprechend hoch.
Die Bedrohung durch diese Gewalt beeinflußt in fundamentaler Weise die
Lebensbedingungen und den Alltag aller Frauen. Zur Illustration dieser These empfiehlt Henley
(1977) Männern die folgende Übung:
Geh eine Straße in der Großstadt entlang. Achte peinlich genau auf deine Kleidung;
vergewissere dich, daß dein Hosenlatz nicht offensteht, das Hemd in der Hose steckt
3
Die Daten sind allerdings insofern nicht direkt vergleichbar, als wir keine zeitliche Einschränkung wie
etwa "seit dem 15. Lebensjahr" vorgaben. In vielen Arbeiten werden derartige zeitliche Vorgaben gemacht,
um zwischen sexueller Gewalt gegen erwachsene Frauen und sexuellem "Mißbrauch" von Kindern und
Jugendlichen zu differenzieren.
4
Der Begriff "sexuelle" Gewalt wird hier und im folgenden der Kürze halber zwar verwendet, ist aber
insofern irreführend, als verschiedene klinische Studien als primäres Motiv für Vergewaltigung und
vergleichbare Delikte nicht sexuelle Bedürfnisse, sondern ein Streben nach Macht und Dominanz
herausstellen, zu dessen Befriedigung die Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung des Opfers benutzt
wird. Groth (1979) beispielsweise spricht von einer "pseudosexuellen Handlung": "It is sexual behavior in the
primary service of non-sexual needs" (S. 13). Anhand der Daten einer repräsentativen Befragung
amerikanischer Studenten identifizierten Malamuth, Sockloskie, Koss und Tanaka (1991) als wichtigen
Prädiktor sexueller Aggression eine nichtsexuelle Variable, die sie "feindselige Maskulinität" nannten; diese
wirkte sich insbesondere im Zusammenspiel mit Promiskuität auf die Ausübung sexueller Gewalt aus (vgl.
aber Hamilton und Yee, 1990, für die Position, daß sexuelle Bedürfnisse einen eigenständigen Beitrag zur
Vorhersage sexueller Gewalt leisten).
Einleitung
3
und alle Knöpfe geschlossen sind. Schau stur geradeaus. Jedesmal, wenn ein Mann an
dir vorbeikommt, wende den Blick ab und setze ein ausdrucksloses Gesicht auf. Die
meisten Frauen unterziehen sich diesem Schauspiel jedesmal, wenn sie das Haus
verlassen. Es dient dazu, wenigstens einige der ständigen Begegnungen mit Männern
zu vermeiden, die aus irgendeinem Grund annehmen, die Frau signalisiere, daß sie zu
haben sei. (Henley, 1977, S. 144, eigene Übersetzung)
Die in diesem Zitat veranschaulichten Auswirkungen der gesellschaftlichen Realität
sexueller Übergriffe auf das alltägliche Verhalten werden uns häufig nicht bewußt n Männern
z.T. deshalb nicht, weil sie derartige Erfahrungen in Wirklichkeit eben nicht teilen müssen, aber
häufig auch Frauen nicht, weil sie Verhaltensrestriktionen wie die oben beschriebenen oft so
stark verinnerlicht haben, daß deren Ursache aus dem Blick gerät. Unter Männern wie Frauen
sind bestimmte Erklärungsmuster für sexuelle Gewalt und insbesondere Vergewaltigung
verbreitet, die sowohl den Aspekt, daß alle Frauen von sexuellen Übergriffen bedroht sind, als
auch die Tatsache, daß es Männer sind, die vergewaltigen und für ihre Taten verantwortlich
sind,5 verzerren und relativieren (Beneke, 1982; Brownmiller, 1975; Burt, 1980). Diese Arbeit
befaßt sich mit der Frage, wie derartige Überzeugungen die Interpretation von Information über
Vergewaltigung beeinflussen und dadurch die Selbsteinschätzung und das Verhalten von Frauen
und Männern verändern können.
1.1 Gegenstand der Arbeit und Einordnung in den Kontext der Forschung zu sexueller
Gewalt
Bis Mitte der siebziger Jahre fand das Thema Vergewaltigung kaum öffentliches oder
wissenschaftliches Interesse. Der Großteil der bis dahin geleisteten Forschung kam aus der
Kriminologie und widmete sich vor allem der Ursachenanalyse sexueller Gewalt auf
individueller Ebene. Dabei wurde Vergewaltigung fast ausschließlich als individuelles Problem
verstanden, das durch Persönlichkeitsmerkmale, Lebensumstände oder Kindheitserfahrungen des
Täters und des Opfers bzw. durch spezifische Interaktionsmuster zwischen Täter und Opfer
erklärbar sei. Einige "klassische" Werke der Viktimologie (Amir, 1971; Schneider, 1975)
nehmen dabei eindeutig eine frauen- und opferfeindliche Perspektive ein; der Aspekt der
"Opfer(mit)verursachung" ("victim precipitation") wird darin so stark in den Vordergrund
gerückt, daß die Täter als Opfer und die Opfer als eigentliche Täterinnen erscheinen (zur Kritik
dieser Vorstellungen s. Weis, 1982; Weis & Borges, 1976). Doch auch weniger einseitigen
früheren Ansätzen ist gemeinsam, daß sie Ursachen und Konsequenzen von Vergewaltigung als
auf die Beteiligten und deren direktes soziales Umfeld beschränkt ansahen (zum Überblick s.
Sturm, 1994; Weisbrod, 1991).
In den vergangenen 25 Jahren wurde vor allem im Rahmen feministisch orientierter
5
Frauen machen an der Zahl der Tatverdächtigen nur einen verschwindend geringen Anteil aus. Abel
(1986, S. 358) nennt, gestützt auf Statistiken des BKA 0.4% weibliche Tatverdächtige bei Vergewaltigung und
1.7% weibliche Tatverdächtige bei sexueller Nötigung. Zu Vergewaltigungen männlicher Opfer in
Gefängnissen s. Brownmiller (1976, S. 285 ff.).
4
Kapitel 1
Forschung zu sexueller Gewalt die gesellschaftliche Dimension in die Analyse einbezogen,
insbesondere die geschlechtsgebundene Verteilung von Macht, die Frauen in ökonomischer,
sozialer und politischer Hinsicht benachteiligt (z.B. Brownmiller, 1975; Griffin, 1971, 1979;
Rose, 1977; Russell, 1975).6 Sexuelle Gewalt wird in diesem Forschungskontext als
gesellschaftliches Problem verstanden, das sowohl Ausdruck der bestehenden Machtverhältnisse
ist (ungleich verteilte Ressourcen, geschlechtsspezifische Werte und Verhaltensnormen) als auch
zu deren Aufrechterhaltung beiträgt. Dabei greifen strukturelle und personale (Gewalt-)
Mechanismen ineinander. Besonders pointiert wurde diese Position von feministischen
Autorinnen vertreten, die die fortdauernde Diskussion um sexuelle Gewalt mit der Hypothese
in Gang brachten, daß Vergewaltigung die Funktion habe, Frauen eine untergeordnete Position
in der Gesellschaft zuzuweisen und den gesellschaftlichen status quo männlicher Dominanz
aufrechtzuerhalten (z.B. Brownmiller, 1975; Griffin, 1979). Susan Brownmiller faßt diese
Position folgendermaßen zusammen:
[Rape] is nothing more or less than a conscious process of intimidation by which all
men keep all women in a state of fear (Brownmiller, 1975, S. 15, Hervorhebungen im
Original).
Die unterstellte "consciousness" (gemeint ist wohl Absicht und Zielgerichtetheit), die einem
solchen Prozeß der Einschüchterung zugrundeliegen soll, wird von Brownmiller nicht
überzeugend belegt und dürfte auch kaum schlüssig empirisch nachzuweisen sein. Ähnliches gilt
für die Behauptung, daß alle Männer diesen Prozeß herbeiführten. Die generelle Hypothese
jedoch, daß das "Vorkommen" von Vergewaltigung und die damit verbundene Bedrohung Frauen
im allgemeinen n und nicht nur die Frauen, die selbst Opfer einer Vergewaltigung waren n
einschüchtert, erscheint plausibel und der empirischen Überprüfung leichter zugänglich.
Verschiedene Forschungsarbeiten haben sich in den letzten Jahren mit der Hypothese befaßt,
daß das Ausmaß der Bedrohung durch sexuelle Gewalt mit einer Beeinträchtigung des
psychischen Befindens und der sozialen Stellung von Frauen einhergeht. In soziologischen und
kulturvergleichenden Studien wurde beobachtet, daß Gesellschaften mit höherer Prävalenz von
Vergewaltigung durch größere Ungleichheit der Geschlechter gekennzeichnet sind (L. Baron &
Straus, 1987; Sanday, 1981). Auf individueller Ebene zeigte sich bei Frauen ein Zusammenhang
zwischen der Furcht vor Vergewaltigung und selbstauferlegten Restriktionen im Verhalten (z.B.
Riger & Gordon, 1981); andere Studien fanden einen deutlichen Zusammenhang zwischen
6
Historisch noch jünger ist die Anwendung einer evolutionsbiologischen Perspektive auf das Phänomen
"sexuelle Gewalt". Vor dem Hintergrund der Erklärung von Geschlechtsunterschieden in sexuellen Strategien
und Präferenzen durch differentielle evolutionäre Selektionsmechanismen (z.B. Buss & Schmitt, 1993) wurde
auch versucht, Vergewaltigung als Strategie zu erklären, die Männern langfristig Fortpflanzungsvorteile
verschafft (Thornhill & Thornhill, 1992). Trotz der unbestreitbaren Sparsamkeit evolutionärer Erklärungen
für viele Bereiche der menschlichen Sexualität stößt die Anwendung der Theorie auf Vergewaltigung sowohl
auf theorie-immanente als auch auf empirische Schwierigkeiten n aus diesen Gründen sowie aus
Raumgründen soll auf diesen Ansatz nicht näher eingegangen werden. Interessierte LeserInnen seien auf die
kritischen "peer commentaries" in Thornhill und Thornhill (1992) verwiesen (zur Gegenüberstellung
feministischer und evolutionstheoretischer Ansätze s.a. Buss & Malamuth, 1996).
Einleitung
5
restriktiven Einstellungen gegenüber den Rechten von Frauen einerseits und opferfeindlichen
Vorstellungen in bezug auf Vergewaltigung andererseits (z.B. Burt, 1980; Costin & Schwarz,
1987). Solche korrelativen Studien sind mit der Annahme eines Einflusses der Bedrohung durch
Vergewaltigung auf die Benachteiligung von Frauen kompatibel, erlauben aber keine
Entscheidung über die angenommene Kausalrichtung. Eine naheliegende alternative
Interpretation besteht in der Annahme eines umgekehrten kausalen Einflusses, indem
Geschlechterungleichheit als erleichternde gesellschaftliche Rahmenbedingung für sexuelle
Gewalt konzipiert wird (vgl. L. Baron & Straus, 1987). Schließlich könnte eine
"Scheinkorrelation" insofern bestehen, als sowohl sexuelle Gewalt als auch Benachteiligung von
Frauen im allgemeinen von Drittvariablen (z.B. traditionellen Geschlechtsrollen) gleichsinnig
beeinflußt wird.
Ein Hauptanliegen dieser Arbeit ist es daher, kausale Hypothesen zum Einfluß von
Vergewaltigung als gesellschaftlichem Phänomen auf die Selbstsicht von Frauen und Männern
zu prüfen (s. insbesondere Kapitel 6 bis 9). In gemeinsam mit KollegInnen in Mannheim und
New York durchgeführten Studien nutzte ich Methoden aus der experimentellen Forschung zur
sozialen Urteilsbildung, um zu untersuchen, wie die Beschäftigung mit Information über eine
Vergewaltigung den Selbstwert und die emotionale Befindlichkeit von Personen beiderlei
Geschlechts beeinflußt (Bohner & Schwarz, 1996; Bohner, Weisbrod, Raymond, Barzvi &
Schwarz, 1993; s.a. Schwarz & Brand, 1983; Sturm, 1994; Weisbrod, 1991). Wir beobachteten,
daß entsprechende Einflüsse nicht nur vom Geschlecht der untersuchten Personen abhängen,
sondern auch von einer komplexen Einstellungsvariable moderiert werden, nämlich der
Akzeptanz von Vergewaltigungsmythen (s. Kapitel 6). Dabei handelt es sich um ein System von
Überzeugungen, die Vergewaltigung verharmlosen oder rechtfertigen, Vergewaltiger entlasten
und Opfern Mitverantwortung zuschreiben (Brownmiller, 1975; Burt, 1980, 1991; Feild, 1978;
Gilmartin-Zena, 1987; zum Überblick s. Lonsway & Fitzgerald, 1994; s.a. Kapitel 2).
Auf der Grundlage dieser Befunde wird in Kapitel 7 ein Modell formuliert, in dem
Vergewaltigungsmythen als kognitive Schemata verstanden werden, die zur Interpretation von
Information über sexuelle Gewalt dienen (zum Schemabegriff s. Abschnitt 2.3.4; Fiske &
Morling, 1995; Fiske & Taylor, 1991, Kapitel 4 und 5). Ich nehme an, daß eine Person je nach
Ausprägung ihrer Vergewaltigungsmythenakzeptanz (VMA) derartige Information
unterschiedlich interpretiert, repräsentiert und zur Urteilsbildung nutzt. Auch Urteile über die
eigene Person sind hiervon betroffen, wobei neben der VMA Kategorisierungsprozesse eine
entscheidende Rolle spielen. Ein Teil der aus diesem Modell ableitbaren Hypothesen wurde in
einer Reihe von Experimenten überprüft, über die ich in Kapitel 8 dieser Arbeit berichte (s.a.
Bohner, Effler, Linke & Schmelcher, 1995; Sturm, Bohner, Kaffanke & Ayata, 1995; Reinhard,
Bohner & Wänke, 1994). Kapitel 9 ist der Besprechung der bisherigen Befunde in ihrer
Gesamtheit, der Diskussion offener Fragen sowie einem Ausblick auf künftige Untersuchungen
gewidmet. Abschließend werden darin auch Aspekte der Anwendung der zuvor dargestellten
Erkenntnisse behandelt.
Vor dem Bericht über eigene experimentelle Befunde soll jedoch zunächst in diesem
einleitenden Kapitel ein Überblick über korrelative Studien zum Zusammenhang zwischen
6
Kapitel 1
sexueller Gewalt und Ungleichheit der Geschlechter gegeben werden. Schon in diesem Kontext
wird auf das Konzept der Vergewaltigungsmythen einzugehen sein. In Kapitel 2 werden dann
ausführlicher Fragen der Definition, der empirischen Erfassung und der Verbreitung der
Akzeptanz von Vergewaltigungsmythen behandelt. Da Instrumente zur Erfassung der VMA
bisher überwiegend im englischsprachigen Raum entwickelt und erprobt worden waren, die
meisten unserer Studien aber in Deutschland durchgeführt wurden, war es notwendig, ein leicht
handhabbares deutschsprachiges Instrument zur Erfassung der Mythenakzeptanz zu entwickeln.
Diese Skala, eine Adaptation einer Skala von Costin und Schwarz (1987), wird in Kapitel 3
vorgestellt; außerdem werden die Ergebnisse von Skalenanalysen sowie korrelative Befunde zur
Validierung der Skala berichtet. In Kapitel 4 folgt ein Exkurs über den möglichen
Zusammenhang zwischen VMA und Sprache, in dem insbesondere die Strategie diskutiert und
untersucht wird, beim Schreiben über Vergewaltigung durch die Verwendung des
grammatikalischen Passivs den Täter in den Hintergrund und das Opfer in den Vordergrund des
Diskurses zu rücken (Penelope, 1990). Kapitel 5 ist der Untersuchung einer spezifischen
Funktion von Vergewaltigungsmythen bei Männern gewidmet, nämlich der Rationalisierung
eigener Tendenzen, sexuelle Gewalt auszuüben.
1.2 Sozialpsychologische Untersuchungen zum Thema Vergewaltigung
Bei der Einordnung dieser Arbeit in einen breiteren Forschungskontext soll
selbstverständlich auch auf die innerhalb der Sozialpsychologie geleistete Forschung zum Thema
"Vergewaltigung" eingegangen werden. Die meisten dieser Arbeiten, die in den frühen siebziger
Jahren mit einem Experiment von Jones und Aronson (1973) ihren Anfang nahmen, lassen sich
als Studien zur Verantwortungsattribution charakterisieren. Das zu jener Zeit vorherrschende
Paradigma der Attributionstheorien wurde herangezogen, um den Einfluß der unterschiedlichsten
Variablen (z.B. Merkmale des Täters, des Opfers, der Täter-Opfer-Beziehung, der Situation, der
urteilenden Personen) auf die Zuschreibung von Verantwortung an Vergewaltiger und
Vergewaltigungsopfer in mehr oder weniger konkret geschilderten Fällen zu untersuchen.
Dabei zeigte sich u.a., daß auf der Seite des Opfers geringer sozialer Status (z.B. Luginbuhl
& Mullin, 1981), eine größere Zahl von Sexualpartnern (z.B. Borgida & White, 1978) und
geschlechtsrollendiskrepantes Verhalten (z.B. Acock & Ireland, 1983; Krahé, 1988) dazu führten,
daß die VersuchsteilnehmerInnen der vergewaltigten Frau höhere Verantwortung für die Tat
zuschrieben. Bei Bestehen einer Bekanntschaft zwischen Opfer und Täter wird eine
Vergewaltigung häufig als weniger schwerwiegend eingeschätzt, als wenn keine Bekanntschaft
bestand (z.B. Calhoun, Selby & Waring, 1976). Mit Tätermerkmalen hat sich eine geringere Zahl
von Studien befaßt, und die Befundlage ist weniger eindeutig; am ehesten scheint noch ein
Zusammenhang zwischen höherem sozialen Status und geringeren Schuldzuschreibungen an den
Täter gesichert zu sein (z.B. Feild & Barnett, 1978). Unter den Einflußgrößen auf seiten der
urteilenden Person sind vor allem Geschlechtsunterschiede zu nennen: Männer schreiben
Vergewaltigungsopfern im allgemeinen größere Verantwortung zu, als Frauen dies tun (z.B.
Calhoun et al., 1976; Jones & Aronson, 1973). Außerdem gehen traditionelle Vorstellungen über
Geschlechtsrollen sowie die Akzeptanz von Vergewaltigungsmythen mit höherer
Einleitung
7
Verantwortungszuschreibung an das Opfer einher (z.B. Check & Malamuth, 1985; z. Überblick
s. Krahé, 1991 b; Pollard, 1992).
An vielen dieser Studien wurde kritisiert, daß (a) die Erfassung der eingeschätzten
Verantwortung von Täter und Opfer mit identischen Skalen eine gewisse Mitverantwortung der
Frau möglicherweise erst suggeriert (zum Informationsgehalt von Forschungsinstrumenten s.
Bless, Strack & Schwarz, 1993) und (b) die Beurteilung von Täter und Opfer auf ein und
derselben Dimension einen eher graduellen, nicht aber qualitativen Unterschied zwischen deren
Handlungen präsupponiert. Diese beiden Aspekte sind geeignet, bei den Versuchspersonen etwa
bestehenden opferfeindlichen Vorurteilen Vorschub zu leisten (s. a. Krahé, 1991 b, S. 286-287).
Andererseits kommt der attributionstheoretischen Forschungsrichtung, die immer noch den
Großteil der sozialpsychologischen Forschung über Vergewaltigung ausmacht, das Verdienst zu,
das Thema "sexuelle Gewalt" als Gegenstand der Sozialpsychologie etabliert zu haben (Krahé,
1995).
Obwohl auch in einigen der hier vorzustellenden Experimente
Verantwortungszuschreibungen erfaßt werden, soll doch insgesamt eine neue Perspektive auf das
Phänomen Vergewaltigung eröffnet werden. Im Brennpunkt dieser Perspektive stehen, wie oben
skizziert, nicht das Opfer oder der Täter einer konkreten Vergewaltigung, sondern die
Konsequenzen der Auseinandersetzung mit dem Thema "Vergewaltigung" für die urteilende
Person selbst (s. Schwarz & Brand, 1983). Ausgangspunkt für diese Herangehensweise ist
einerseits die bereits diskutierte gesellschaftsbezogene Interpretation sexueller Gewalt als eines
Faktors, der zur Benachteiligung von Frauen im allgemeinen beiträgt. Andererseits stelle ich das
Individuum ins Zentrum der Analyse und beleuchte mit den Methoden der experimentellen
Sozialpsychologie insbesondere die Ebene der kognitiven Repräsentationen und
Vermittlungsprozesse. Auf theoretischer Ebene beziehen sich die zu berichtenden
Untersuchungen auf allgemeine Überlegungen zur kognitiven Repräsentation sozialer
Sachverhalte (Fiske & Taylor, 1991), auf die Theorie der Selbstkategorisierung (Turner, Hogg,
Oakes, Reicher & Wetherell, 1987) sowie auf das Inklusions-Exklusions-Modell der sozialen
Urteilsbildung (Schwarz & Bless, 1992 a).
1.3 Vergewaltigung und Geschlechterungleichheit: Korrelative Befunde
Sowohl in traditionellen als auch in modernen Gesellschaften scheinen die Ausübung und
das Ausmaß sexueller Gewalt gegen Mädchen und Frauen mit der gesellschaftlichen
Konstruktion und Organisation des Geschlechterverhältnisses zusammenzuhängen. In einer
kulturvergleichenden Sekundäranalyse von Daten aus 156 (überwiegend traditionellen Stammes-)
Gesellschaften fand Sanday (1981), daß die Prävalenz sexueller Gewalt gegen Frauen stark
zwischen Gesellschaften variierte. Wichtiger für meine Fragestellung ist Sandays Befund, daß
in Gesellschaften, die eine geringe Prävalenz sexueller Gewalt aufwiesen (von Sanday als "rapefree societies" bezeichnet), Frauen insgesamt mehr respektiert und die Fähigkeiten und
Leistungen von Frauen und Männern gleichermaßen wertgeschätzt wurden. Darüber hinaus
wurde in solchen Gesellschaften Vergewaltigung streng sanktioniert. Gesellschaften mit hoher
Vergewaltigungshäufigkeit waren hingegen durch männliche Dominanz, Segregation der
8
Kapitel 1
Geschlechter und die Geringschätzung der kulturellen Beiträge von Frauen gekennzeichnet.
Vergleichbare Befunde berichten L. Baron und Straus (1987) für die Vereinigten Staaten von
Amerika. Diese Forscher verglichen die 50 Staaten der U.S.A. im Hinblick auf die Prävalenz von
Vergewaltigung und eine Reihe von Bedingungsfaktoren, die Vergewaltigung potentiell
erleichtern oder hemmen. Erwartungsgemäß wiesen Staaten mit hoher
Vergewaltigungshäufigkeit auch allgemein eine größere Benachteiligung von Frauen auf,
gemessen mit einem Index, der ökonomische, politische und rechtliche Aspekte des sozialen
Status von Frauen relativ zu Männern kombinierte. Obwohl Baron und Straus die Ungleichheit
der Geschlechter als Prädiktor des Auftretens von Vergewaltigung konzipierten, sind ihre im
Querschnitt erhobenen Daten auch mit der feministischen Position vereinbar, daß die Bedrohung
durch Vergewaltigung zur Erhaltung der Ungleichheit der Geschlechter beiträgt.
Auf der Ebene des Individuums wurde gezeigt, daß die Furcht vor (sexueller) Gewalt bei
Frauen weitverbreitet ist und diese offenbar bei der Teilnahme am öffentlichen und sozialen
Leben in ihrem Verhaltensspielraum einschränkt. Riger und Gordon (1981) fanden in einer
Umfrage in drei U.S.-amerikanischen Großstädten bei Frauen einen starken Zusammenhang
zwischen der Furcht vor Vergewaltigung (und anderen Gewaltdelikten) und dem Ausmaß, in dem
diese Frauen "vorbeugende Strategien" ergriffen. Diese umfaßten neben aktiven Strategien (z.B.
dem Tragen von Schuhen, die schnelles Laufen ermöglichen) vor allem Strategien
selbstauferlegter Isolation (z.B. abends nicht allein auszugehen). Insgesamt war bei Frauen die
Furcht vor Gewalttaten höher ausgeprägt als bei Männern, obwohl Männer objektiv häufiger
Opfer von Gewaltdelikten (mit Ausnahme von Vergewaltigung) werden (s. Riger & Gordon,
1981, S. 73-74).
Schließlich spielen unter den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sexueller Gewalt
gegen Frauen die bereits angesprochenen Vergewaltigungsmythen eine wichtige Rolle. Burt
(1980) fand in einer Umfrage unter 598 Erwachsenen aus Minnesota eine Akzeptanz solcher
realitätsfernen, opferfeindlichen Überzeugungen (z.B. "Eigentlich wünschen sich Frauen,
vergewaltigt zu werden", "Frauen provozieren häufig eine Vergewaltigung durch ihre
Aufmachung oder ihr Verhalten"). Das Ausmaß dieser Akzeptanz war verknüpft mit einer Reihe
von Einstellungsvariablen, u.a. einer traditionellen Geschlechtsrollenorientierung und der
Billigung interpersonaler Gewalt (s. Kapitel 2). Die enge Beziehung zwischen
Vergewaltigungsmythen und restriktiven Einstellungen zu den Rechten von Frauen wurde
vielfach repliziert, nicht allein in den U.S.A. (Check & Malamuth, 1983, 1985), sondern u.a.
auch in der Türkei, England, Westdeutschland, Israel, Hongkong und Singapur (Costin &
Kaptanolu, 1993; Costin & Schwarz, 1987; Lee & Cheung, 1991; Ward, 1988; s.a. Kapitel 3
dieser Arbeit; zum Überblick s. Ward, 1995).
Insgesamt belegen die referierten Studien auf der gesellschaftlichen Ebene einen
Zusammenhang zwischen der Häufigkeit von Vergewaltigung und der Verbreitung von
Überzeugungen und Werthaltungen, die Frauen benachteiligen; auf der individuellen Ebene zeigt
sich, daß allgemein frauenfeindliche Einstellungen mit der Zustimmung zu
Vergewaltigungsmythen einhergehen. Darüber hinaus kovariieren bei Frauen "selbstauferlegte"
Verhaltenseinschränkungen mit dem wahrgenommenen Ausmaß der Bedrohung. Allerdings
Einleitung
9
bleibt bei den bisher dargestellten Arbeiten die Frage offen, ob ein kausaler Einfluß der
Bedrohung durch Vergewaltigung auf die verschiedenen Indizes der Benachteiligung von Frauen
vorliegt. Die Daten lassen mindestens zwei weitere Deutungen zu: Erstens einen umgekehrten
Einfluß der Geschlechterungleichheit auf die Vergewaltigungsprävalenz dergestalt, daß
Gesellschaften, in denen allgemein ein deutliches Machtgefälle zuungunsten der Frauen besteht,
Männern die Ausübung sexueller Gewalt erleichtern. Zweitens ist ein gleichsinniger Einfluß von
Drittvariablen (wie z.B. traditionell-patriarchalische Geschlechtsrollen) auf die
Vergewaltigungshäufigkeit und auf die Ungleichheit der Geschlechter möglich, ohne daß eine
direkte Kausalbeziehung zwischen diesen letzteren Konstrukten besteht (zur Interpretation von
Vergewaltigung als Folge geschlechtstypischer sexueller "Skripts" s. Jackson, 1978). Auf
gesellschaftlicher Ebene ist auch eine wechselseitige Beeinflussung von
Vergewaltigungsprävalenz und Geschlechterungleichheit denkbar (s. L. Baron & Straus, 1987;
Bohner & Schwarz, 1996; Schwarz, 1987). Ein Anliegen dieser Arbeit ist es, den möglichen
kausalen Pfad, der von der wahrgenommenen Bedrohung durch Vergewaltigung zur
Benachteiligung und Einschüchterung von Frauen führt, auf der Ebene des individuellen Erlebens
und Verhaltens zu untersuchen.
1.4 Ethische Aspekte der Forschung über die Auswirkungen sexueller Gewalt
Die Besonderheit der Fragestellung und die verwendete experimentelle Methode erfordern
einige Anmerkungen zu ethischen Aspekten dieser Forschung. Bei der Erforschung der Einflüsse
von Information über Vergewaltigung ist es aus methodischen Gründen nicht immer möglich,
die TeilnehmerInnen vor dem Beginn einer Untersuchung vollständig über deren Inhalt und über
die Fragestellung zu informieren, so daß sie auf der Grundlage einer solchen Vorinformation über
die Teilnahme entscheiden könnten. Dies bedeutet häufig, Frauen "ohne Vorwarnung" mit dem
Thema Vergewaltigung zu konfrontieren und damit unter Umständen deren eigene Erfahrungen
mit sexueller Gewalt ungewollt zu aktualisieren.
Dieses Vorgehen erscheint mir trotz seiner möglichen negativen Auswirkungen aus
verschiedenen Gründen gerechtfertigt (für eine ausführliche Diskussion ethischer Aspekte des
sozialpsychologischen Experiments s. Aronson, Ellsworth, Carlsmith & Gonzales, 1990,
Kapitel 3). Die wichtigsten Gründe sind die Bedeutung des Themas, der zu erwartende
Erkenntnisgewinn und der Mangel an methodisch gleichwertigen Alternativen. Außerdem stellt
die unvermittelte Konfrontation mit Berichten über Vergewaltigung insofern keinen sehr
schwerwiegenden Eingriff dar, als dieses Vorgehen der Alltagsrealität sehr ähnlich ist. In keiner
der hier zu berichtenden Studien wurden Materialien verwendet, deren Inhalt in ähnlicher Form
nicht auch durch Zeitungen, Zeitschriften, Film und Fernsehen verbreitet wird. (Teilweise dienten
authentische Zeitungsartikel als Vorlage für das Versuchsmaterial bzw. wurden Ausschnitte aus
Film und Fernsehen direkt übernommen.) Die potentiell schädlichen Einflüsse der Experimente
gingen somit nicht über das hinaus, was Menschen auch außerhalb sozialpsychologischer
Experimente in ihrem Alltag zugemutet wird.
Um den TeilnehmerInnen dennoch ein Maximum an Entscheidungsfreiheit und Kontrolle
zuzusichern, wurde in allen Untersuchungen besonders deutlich gemacht, daß die Teilnahme
10
Kapitel 1
völlig freigestellt sei und ein Auslassen einzelner Fragen oder vorzeitiges Abbrechen der
Teilnahme jederzeit möglich sei und keinesfalls sanktioniert werde. Darüber hinaus wurde die
abschließende umfassende Aufklärung jeweils so gestaltet, daß die TeilnehmerInnen auch
allgemeine Information über sexuelle Gewalt und n sofern gewünscht n über entsprechende
Beratungsangebote erhielten. In allen Untersuchungen mit weiblichen Versuchspersonen war
mindestens eine weibliche Versuchsleiterin anwesend, um die Schwelle der Kontaktaufnahme
bei Rückfragen möglichst niedrig zu halten. In den abschließenden Gesprächen zeigten sich die
TeilnehmerInnen im allgemeinen interessiert und äußerten nach der postexperimentellen
Aufklärung fast ausnahmslos positive Einschätzungen der Bedeutsamkeit dieser Forschung.
Vergewaltigungsmythen: Definition, Funktion, Messung, Verbreitung 11
2
Vergewaltigungsmythen: Definition, Funktion, Messung und Verbreitung
In diesem Kapitel werden Einstellungen und Überzeugungen zum Bereich "sexuelle Gewalt"
näher beleuchtet, die in den letzten Jahren in einer Vielzahl von Studien unter der Bezeichnung
"Vergewaltigungsmythen" (VM) diskutiert wurden (z.B. Brownmiller, 1975; Burt, 1980, 1991;
Feild, 1978; Krahé, 1991 b; Ward, 1995; z. Überblick s. Lonsway & Fitzgerald, 1994). Dabei
werden zunächst Definitionen von VM kritisch reflektiert sowie ein eigener Definitionsvorschlag
formuliert. Inhalte und Funktionen von VM werden diskutiert und mit anwendbaren Theorien
aus der Sozialpsychologie und Kriminalsoziologie in Verbindung gebracht. Fragen der Messung
und Verbreitung von VM werden behandelt und einige der Skalen zur Erfassung von
Vergewaltigungsmythenakzeptanz (VMA) kurz vorgestellt. Bei der Darstellung der Funktionen
von VM werden Teile eines nomologischen Netzes (Cronbach & Meehl, 1955) um das Konstrukt
VMA skizziert, dessen empirische Seite in Kapitel 3 behandelt wird. Hinweise auf die
Konstruktvalidität gängiger VMA-Skalen werden ebenfalls referiert.
2.1 Definition von Vergewaltigungsmythen
Vergewaltigungsmythen wurden erstmals von Burt (1980) formal definiert als "prejudicial,
stereotyped, or false beliefs about rape, rape victims, and rapists" (Burt, 1980, S. 217). Über die
in dieser Definition genannten deskriptiven Aspekte hinaus sind die Funktionen und konkreten
Inhalte von Bedeutung, die Vergewaltigungsmythen zugeschrieben werden (s. Lonsway &
Fitzgerald, 1994). So können nicht beliebige "vorurteilsbehaftete, stereotype oder falsche
Vorstellungen" zum Thema Vergewaltigung als VM gelten. Vielmehr betonen die meisten
AutorInnen, daß VM Vergewaltigung enger fassen, als z.B. juristische Definitionen dies tun, und
Elemente enthalten, welche die Tat entschuldigen, die Täter entlasten und den Opfern eine
Mitverursachung der Tat zuschreiben (Brownmiller, 1975; Burt, 1980, 1991).
Lonsway und Fitzgerald (1994) merken an, daß Definitionen des Begriffs "Mythos" aus dem
Blickwinkel unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen Ähnlichkeiten aufweisen und
insbesondere drei Merkmale betonen: 1. Mythen sind falsche oder verkürzende Vorstellungen,
die weit verbreitet sind; 2. Mythen dienen der Erklärung eines in einer Kultur bedeutsamen
Phänomens; 3. Mythen dienen der Rechtfertigung existierender "kultureller Arrangements". Vor
diesem Hintergrund schlagen die Autorinnen folgende Definition von Vergewaltigungsmythen
vor: "Rape myths are attitudes and beliefs that are generally false but are widely and persistently
held, and that serve to deny and justify male sexual aggression against women" (Lonsway &
Fitzgerald, 1994, S. 134).
An dieser Definition fällt zunächst auf, daß keine Inhalte von VM explizit benannt werden
(im Sinne von "Einstellungen über X"); vielmehr ergeben sich "geeignete" Inhalte aus der
Funktion, sexuelle Aggression von Männern gegen Frauen zu leugnen und zu rechtfertigen. Dies
hat, wie auch Lonsway und Fitzgerald betonen, den Vorteil, daß damit eine operationale
Herangehensweise an VM erleichtert wird. Andererseits ist kritisch anzumerken, daß diese
Definition auch eine unnötige Ausweitung des Begriffes bedeutet. Sie erschwert die Abgrenzung
von VM zu allgemein frauenfeindlichen Einstellungen und zu Einstellungen gegenüber Gewalt
im allgemeinen. Beispielsweise wären nach dieser Definition auch die Vorstellung, daß die
12
Kapitel 2
Menschenrechte auf Frauen nicht anzuwenden seien, und die Vorstellung, daß in
zwischenmenschlichen Beziehungen Gewalt ein akzeptables Mittel zur Zielerreichung darstelle,
unter VM zu fassen. Aus diesem Grund erscheint es mir sinnvoll, zusätzlich zu den genannten
funktionalen Kriterien die inhaltlichen Aspekte aus Burts Definition ("beliefs about rape, rape
victims, and rapists"; Burt, 1980, S. 217) beizubehalten.
Ein zweites Problem der Definition von Lonsway und Fitzgerald besteht in der
Charakterisierung von VM als "weitverbreitet und überdauernd". Abgesehen von der
quantitativen Unschärfe dieser Attribute würde aus diesem Kriterium folgen, daß Vorstellungen,
die zu einer bestimmten Zeit weitverbreitet waren und die übrigen Definitionsmerkmale erfüllen,
heute aber nicht mehr weitverbreitet sind, nicht als VM zu fassen wären. Bei Veränderungen der
Verbreitung der hier interessierenden Überzeugungen in überschaubaren Zeiträumen müßte man
somit von einem "Verschwinden" oder "Auftauchen" von VM sprechen. Es erscheint mir
sinnvoller, die Verbreitung und zeitliche Erstreckung von VM nicht definitorisch vorzugeben,
sondern stattdessen die Akzeptanz entsprechender Vorstellungen und deren Stabilität versus
Veränderung als soziologisches und damit empirisches Problem zu untersuchen.
Schließlich stößt die Definition von VM als im allgemeinen falsche Vorstellungen ("beliefs
that are generally false"; Lonsway & Fitzgerald, 1994, S. 134) insofern auf Schwierigkeiten, als
viele Vorstellungen, die sinnvollerweise als VM gefaßt wurden, nur schwer auf ihren
Wahrheitsgehalt hin überprüft werden können bzw. leicht immunisierbar sind (z.B. "Most
women secretly desire to be raped", Barnett & Feild, 1977, zit. n. Ward, 1995, S. 44) oder aus
logischen Gründen überhaupt nicht falsifizierbar sind (wie etwa präskriptive Überzeugungen,
z.B. "Eine Frau sollte dafür verantwortlich sein, ihrer eigenen Vergewaltigung vorzubeugen",
Costin, 1985; s.a. Kapitel 3 dieser Arbeit). Auch für den Wahrheitsgehalt von Überzeugungen
gilt daher m.E., daß er kein notwendiges Definitionsmerkmal darstellen sollte (s. hierzu auch
Lonsway & Fitzgerald, 1995). Vielmehr ist festzuhalten, daß VM sowohl deskriptive als auch
präskriptiv-wertende Annahmen beinhalten können, wobei VM deskriptiven Inhalts eine
verkürzende oder trivialisierende, häufig empirisch widerlegte, Beschreibung von Sachverhalten
zum Nachteil von Vergewaltigungsopfern oder Frauen im allgemeinen darstellen. Die
"Falschheit" der VM ergibt sich somit primär aus dem funktionalen Definitionskriterium der
"Leugnung und Rechtfertigung sexueller Gewalt" und muß nicht gesondert aufgeführt werden.
Aus dem oben Gesagten ergibt sich folgender Vorschlag einer
Definition: Vergewaltigungsmythen sind deskriptive oder präskriptive Überzeugungen7 über
Vergewaltigung (d.h. über Ursachen, Kontext, Folgen, Täter, Opfer und deren Interaktion),
die dazu dienen, sexuelle Gewalt von Männern gegen Frauen zu leugnen, zu verharmlosen
oder zu rechtfertigen.
Diese Definition enthält die für eine Erfassung von VM theoretisch und operational
7
Gemeint i.S. des englischen Terminus "beliefs", wie er in Einstellungstheorien verwendet wird (z.B.
Fishbein & Ajzen, 1975).
Vergewaltigungsmythen: Definition, Funktion, Messung, Verbreitung 13
notwendigen Aspekte und subsumiert im übrigen die Inhalte der meisten bisher veröffentlichten
konkreten Verfahren zur Erfassung von VMA (s.u.; s.a. Lonsway & Fitzgerald, 1994). Aussagen
über konkrete Inhalte sowie Hypothesen über geschlechtsspezifische Funktionen von VM und
die Rolle von VM in der Informationsverarbeitung werden in den folgenden Abschnitten dieser
Arbeit vorgestellt.
2.2 Inhalt von Vergewaltigungsmythen
In bezug auf die Inhalte von Vergewaltigungsmythen wurden verschiedene Klassifikationen
vorgeschlagen. Häufig wurden dabei Einstellungen zu den Opfern von Vergewaltigung
hervorgehoben, wie z.B. in der Klassifikation von Burt (1991), die ich nachfolgend ausführlicher
vorstellen will. Burt nimmt an, daß die Mehrzahl der VM in unserer Kultur sich auf die Opfer
beziehen. Diese inhaltliche Gewichtung wäre funktional im Sinne unserer Definition, denn schon
allein die Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf die betroffenen Frauen kann die Täter in den
Hintergrund rücken und Vergewaltigung als ein Problem von Frauen charakterisieren
(s. Kapitel 4). Eine solche Verstärkung opferbezogener Attributionen durch die Ausrichtung der
Aufmerksamkeit auf das Opfer steht im Einklang mit Befunden zum Einfluß der subjektiven
Perspektive auf die Kausalattribution (z.B. Storms, 1973; Taylor & Fiske, 1975).
2.2.1
Ein Klassifikationsvorschlag von Burt (1991)
Burt (1991, S. 28 ff.) unterscheidet vier Typen von frauenzentrierten Mythen, die sie mit
knappen Aussagen folgendermaßen kennzeichnet: (a) "es ist nichts passiert"; (b) "es ist kein
Schaden entstanden"; (c) "sie wollte es"; (d) "sie hat es verdient". Auch die von Burt (1980)
entwickelte "Rape Myth Acceptance Scale" (RMAS) enthält Items, die sich auf diese vier Typen
beziehen lassen (s.u. Abschnitt 2.4). Diese Bezeichnungen sind nicht als strenge Klassifikation
zu verstehen; eine klare Abgrenzung zwischen den vier Typen ist nicht immer möglich, und die
Übergänge sind fließend.
Mythen des Typs (a) n "es ist nichts passiert" n schließen bestimmte (z.B. von einer
betroffenen Frau geschilderte) Geschehnisse aus der Menge der Vergewaltigungen aus, indem
sie leugnen, daß überhaupt irgendein sexueller Kontakt zwischen Täter und Opfer vorgekommen
sei. In diese Kategorie gehören Annahmen des Inhalts, daß Frauen aus den verschiedensten
Gründen Männer fälschlich der Vergewaltigung beschuldigten, z.B. um sich an einem Mann zu
rächen, der sie zurückgewiesen habe, oder im Verlauf irgendeines anderen Konfliktes. Eine
Variante dieses Mythos beinhaltet die Annahme, Anschuldigungen wegen Vergewaltigung
entsprängen der Phantasie oder dem "Wunschdenken" von Frauen8 oder einem Motiv, "sich
wichtig zu machen". Obwohl verschiedene Arbeiten darauf hindeuten, daß
Falschanschuldigungen bei Vergewaltigung objektiv selten sind (s. Kapitel 1), zeigt sich die
Prävalenz dieses Mythos unter anderem darin, daß in Gerichtsverhandlungen über
Vergewaltigung die Glaubwürdigkeit des Opfers wohl stärker zum Gegenstand der Untersuchung
8
Zur Deutung sogenannter "Vergewaltigungsphantasien" siehe im Überblick Leitenberg und Henning
(1995).
14
Kapitel 2
gemacht wird als bei jedem anderen Delikt (Abel, 1986; Brownmiller, 1975; Weis, 1982).
Die zweite Kategorie von Mythen (b) gruppiert sich um die Annahme, daß ein Vorfall zwar
sexuelle Handlungen beinhaltete, aber dennoch kein "wirklicher" Schaden angerichtet wurde.
Vergewaltigung wird hier als Variante normaler sexueller Interaktionen gedeutet; die negativen
psychischen Erfahrungen und Folgen für die Frau werden ausgeblendet oder heruntergespielt.
Burt (1991) führt die Verbreitung von Ratschlägen an Frauen wie "Relax and enjoy it!" zur
Illustration dieses Mythos an (S. 29). Interessanterweise wird die Annahme des "no harm done"
unter bestimmten Bedingungen in Frage gestellt, z.B. wenn eine Frau "ihrer Jungfräulichkeit
beraubt" wurde oder zum Zeitpunkt der Tat mit einem anderen Mann verheiratet war. Dann
allerdings sieht man den Schaden allein im Verlust der sexuellen Exklusivität der Frau für den
Mann, der die Frau "rechtmäßig besitzt", also den Vater oder Ehemann (zur Interpretation von
Vergewaltigung als Eigentumsdelikt in verschiedenen Rechtssystemen s. Brownmiller, 1975).
Als Extension dieser Überlegung kann der "no harm done"-Mythos beinhalten, daß nur
denjenigen Frauen Sicherheit vor sexuellen Übergriffen zustehen sollte, die sich unter den
exklusiven Schutz eines einzigen Mannes stellen, während alle übrigen Frauen sozusagen zu
legitimen Opfern erklärt werden. Wenn aber nur "schlechte Frauen" vergewaltigt werden, muß
eine Frau, die vergewaltigt wurde, zu dieser Tat beigetragen haben, an der Tat mitverantwortlich
sein (s.u. die Ausführungen zur Hypothese vom "Glauben an eine gerechte Welt"; Lerner, 1980).
Eng verknüpft mit diesen Überlegungen ist (c) der Mythos, daß vergewaltigte Frauen "in
Wirklichkeit" in sexuelle Kontakte eingewilligt hätten. Diese Annahme wird durch die
stereotypen Vorstellungen gespeist, daß Frauen zwar häufig "nein" sagen, eigentlich aber immer
"ja" meinen, daß Frauen in der Interaktion mit Männern gerne täuschen und ein Spiel spielen, daß
Frauen gerne "hart angefaßt werden" und Gewalt sexuell stimulierend finden. Damit verbunden
ist die Vorstellung, daß jede erwachsene Frau einen Mann abwehren kann, wenn sie wirklich will;
der auf dieser falschen Prämisse basierende "Umkehrschluß" besagt, daß eine Frau, die sich nicht
erfolgreich gewehrt hat, dies auch nicht wollte. In letzter Konsequenz folgt aus diesem Mythos,
daß es keine Vergewaltigung gibt, es sei denn unter bestimmten extremen Umständen (etwa
wenn der Täter eine Waffe einsetzt oder wenn mehrere Täter gemeinschaftlich vergewaltigen).
Schließlich können opferzentrierte VM (d) die Vorstellung beinhalten, daß in vielen Fällen
zwar sexuelle Kontakte vorkommen, die von der Frau nicht erwünscht sind und vom Mann
erzwungen werden, daß der Frau aber diese Gewaltanwendung recht geschieht. Wenn die Frau
in den Augen des Mannes aufreizend gekleidet war, wenn sie mit dem Mann flirtete, ihn einlud,
mit ihm ausging oder auch nur seinen Gruß erwiderte, kann ihr dieses Verhalten als
Mitverantwortung für die Tat ausgelegt werden. Auch wenn sich eine Frau in riskante Situationen
begibt, indem sie zum Beispiel abends allein ausgeht oder "per Anhalter" mit einem Mann fährt,
der sie später vergewaltigt, kann dies als Mitverantwortung und Entschuldigung für den Täter
interpretiert werden. Verschiedene Autorinnen betonen, daß es für diese Argumentation keine
Parallele bei anderen Verbrechen gibt. Einem Einbrecher gereicht es kaum zur Entlastung, daß
ihn der sichtbare Reichtum des Bestohlenen zum Diebstahl drängte; einem Betrüger wird nicht
zugute gehalten, daß er vor dem Betrug mehrfach legal und einvernehmlich mit dem Betrogenen
geschäftlich verkehrte. Ein Vergewaltiger, der auf "vergleichbare" Tatumstände verweist, kann
Vergewaltigungsmythen: Definition, Funktion, Messung, Verbreitung 15
jedoch mit einer milderen Beurteilung rechnen (Abel, 1986; Brownmiller, 1975; Burt & Albin,
1981; Weis, 1982). Da die Liste der für Frauen "riskanten Situationen" im Prinzip beliebig weit
gefaßt werden kann, ergeben sich aus diesen Vorstellungen normative
Verhaltenseinschränkungen. Frauen müssen eine Vielzahl von (recht vage umrissenen)
Handlungen unterlassen, wollen sie nicht zu "legitimen Opfern" werden.
Während sich die bisher angeführten Mythen auf Frauen bezogen, beschreibt Burt (1991)
auch komplementäre Vergewaltigungsmythen über Männer. Eine dieser Vorstellungen besagt,
daß Vergewaltiger geistig gestört sind. In Wirklichkeit sind die meisten Vergewaltiger psychisch
unauffällig (z.B. Groth, 1979). Außerdem gaben in U.S.-amerikanischen Umfragen unter
Studierenden bis zu 26 % der befragten Männer an, daß sie bereits versucht haben, eine Frau zu
sexuellem Verkehr zu zwingen (Koss, Gidycz & Wisniewski, 1987); in einer Studie von
Rapaport und Burkhart (1984) gaben 15 % zu, schon einmal "sexuellen Verkehr" gegen den
Willen einer Frau durchgesetzt zu haben; nach Umfragedaten von Koss und KollegInnen
berichteten 4.6 % der befragten Studenten, eine Handlung begangen zu haben, die die juristische
Definition einer Vergewaltigung erfüllt (Koss, Leonard, Beezley & Oros, 1985; z. Überblick
s. Koss et al., 1987). In Studien, die sich mit Verhaltensabsichten befaßten, schloß etwa ein
Drittel der befragten College-Studenten nicht völlig aus, daß sie vergewaltigen würden, wenn sie
sicher sein könnten, dafür nicht belangt zu werden (Malamuth, 1981; s.a. Kapitel 5).
Scheinbar im Widerspruch zum Mythos des "geistesgestörten Vergewaltigers" steht die
ebenfalls verbreitete Annahme, daß Männer im allgemeinen nicht in der Lage sind, ihr
Sexualverhalten zu steuern. Sobald ein Mann (z.B. durch den Anblick einer Frau in sommerlicher
Kleidung) auch nur minimal sexuell stimuliert ist, so die Annahme, wird er versuchen, zum
Geschlechtsverkehr zu kommen, "notfalls" mit Gewalt. Die Verantwortung des Mannes für seine
Tat sei dann zumindest als eingeschränkt anzusehen.
Die beiden von Burt (1991) beschriebenen männerbezogenen Mythen können trotz des
angedeuteten Widerspruchs insofern nebeneinander bestehen, als sie wahrscheinlich (wie auch
die angeführten frauenbezogenen Mythen) zur Erklärung und Rechtfertigung unterschiedlicher
Fälle von Vergewaltigung dienen. Eher untypische, überfallartige Vergewaltigungen mit extremer
Gewaltanwendung lassen sich wohl besser unter Rekurs auf den "geistesgestörten Täter"
mythenkonform erklären: Es handelte sich um eine Vergewaltigung, aber normale Männer
würden so etwas nicht tun. Eher typische Fälle lassen sich hingegen mit Bezug auf die
unkontrollierbare Sexualität des Mannes (meist im Zusammenspiel mit einer angeblichen
Provokation durch die Frau) aus der Menge der "richtigen" Vergewaltigungen ausschließen: Es
handelte sich gar nicht um eine Vergewaltigung (für ähnliche Annahmen in bezug auf
Viktimisierung im allgemeinen s. Lerner, 1980, S. 126 ff.). Diese Annahme einer "Passung" von
Art und Schwere eines Falles einerseits und den jeweils zur "Erklärung" herangezogenen Mythen
andererseits ist noch empirisch zu überprüfen.
In einer linguistischen Analyse von Zeitungsartikeln über Gewalt von Männern gegen
Frauen, die in dem britischen Boulevardblatt "The Sun" erschienen, findet Clark (1992)
Resultate, die mit dieser Überlegung kompatibel sind. Pejorative, auf psychische Devianz
anspielende Etikettierungen der Täter, z.B. "fiend", "beast", "maniac", wurden insbesondere in
16
Kapitel 2
Fällen benutzt, die wenige Anhaltspunkte für Verantwortungszuschreibungen an die Frau boten,
wohingegen in Fällen, in denen eine Mitverantwortung der Frau leichter konstruiert werden
konnte, die Täter eher neutral (z.B. mit ihrem Namen) bezeichnet oder durch
Passivkonstruktionen in den Hintergrund gerückt wurden (s.a. Kapitel 4). Komplementär hierzu
fanden sich in den letzteren Fällen Etikettierungen der Opfer, die "mangelnde Respektabilität"
suggerierten. Clark paraphrasiert zusammenfassend: "'Fiends' attack 'unavailable' females (wives,
mothers, and girls) while 'non-fiends' attack 'available' females (unmarried mothers, blondes, and
sexually active girls)" (S. 211).
Die Schlußfolgerung, daß durch die Heranziehung der jeweils "geeigneten" Mythen viele
Vergewaltigungen nicht mehr als solche gesehen werden, könnte auch erklären, daß
Alltagskonzepte einer "typischen Vergewaltigung" eine Reihe von Merkmalen enthalten, die für
die Mehrzahl der Vergewaltigungen objektiv untypisch sind (wie etwa "Überfall im Freien",
"Drohung mit einer Waffe", "erheblicher Widerstand des Opfers"; Burt, 1991; Krahé, 1991 a, b).
2.2.2
Weitere inhaltliche Kategorisierungen
Den Schwerpunkt auf opferbezogene Einstellungen setzt auch Ward (1988). Sie
unterscheidet die Kategorien "victim blame and denigration", "trivialization of victims'
experiences", "victim credibility" und "victim deservingness". Sowohl in diesen Bezeichnungen
als auch in den 25 Items der von Ward entwickelten "Attitudes toward Rape Victim Scale"
(ARVS; s.a. Ward, 1995, S. 60-61) zeigt sich eine starke Überlappung mit der
Konzeptualisierung von Burt (1991) und deren "Rape Myth Acceptance Scale" (RMAS; Burt,
1980).
Andere Klassifikationsvorschläge beziehen sich allgemeiner auf die Ursachen, auf die
Vergewaltigung zurückgeführt wird. Brodsky (1976) nimmt eine Einteilung in vier "blame
models" vor ("societal values blame", "victim blame", "assailant blame", "situational blame").
Empirisch wurde dieses System von Ward und Resick umgesetzt in der "Attribution of Rape
Blame Scale" (zitiert in Ward, 1995, S. 199 f.; s.a. Resick & Jackson, 1981).
Die Komponente der gesellschaftlich-strukturellen Ursachen für Vergewaltigung greift auch
Gilmartin-Zena (1987, 1988) bei der Konstruktion ihrer "Acceptance of Rape Myth Scale"
(ARMS) auf. Als weitere Kategorien berücksichtigt sie die Verursachung durch die Frau, die
Motive des Vergewaltigers, die Schwere des Verbrechens, situative Definitionsmerkmale einer
Vergewaltigung sowie Merkmale des "typischen" Opfers.
Weitere Typologien sowie mehr oder weniger gute Bestätigungen der oben angeführten
Systeme ergeben sich empirisch aus der Gruppierung von VM-Items auf der Grundlage von
Faktorenanalysen (z.B. Briere, Malamuth & Check, 1985; Costin, 1985; Feild, 1978; Larsen &
Long, 1988; Lonsway & Fitzgerald, 1995). Auf einige der am häufigsten eingesetzten VMASkalen gehe ich unten im Abschnitt 2.4 näher ein. Bemerkenswert ist, daß die meisten
Typologien große Überschneidungen aufweisen und mit der oben formulierten Definition von
VM kompatibel sind (s.a. Lonsway & Fitzgerald, 1994).
2.3 Zur Funktion von Vergewaltigungsmythen
Vergewaltigungsmythen: Definition, Funktion, Messung, Verbreitung 17
Welchem Zweck können letztlich Überzeugungen dienen, welche die Verantwortung für ein
Verbrechen (und seine Vermeidung) den Opfern zuschreiben und die Täter entlasten? Alle
angesprochenen Mythen ermöglichen es einer Person, den potentiell bedrohlichen oder
zumindest unangenehmen Sachverhalt, in einer Gesellschaft zu leben, in der Vergewaltigung
häufig vorkommt, zu leugnen, umzudeuten oder zu verharmlosen. Derartige Mechanismen sind
nicht spezifisch für den Inhaltsbereich der sexuellen Gewalt. Eine Reihe soziologischer und
sozialpsychologischer Studien hat sich allgemeiner mit dem Phänomen befaßt, daß sozial
benachteiligte Personen und unschuldige Opfer von Gewalt, Verbrechen oder Naturkatastrophen
häufig von anderen negativ bewertet und für ihr Unglück verantwortlich gemacht werden (Lerner
& Simmons, 1966; Ryan, 1971; z. Überblick s. Herbert & Dunkel-Schetter, 1992) oder sogar sich
selbst abwerten und verantwortlich machen (Rubin & Peplau, 1973; mit Bezug auf
Vergewaltigungsopfer Medea & Thompson, 1974).
Eine umfassende motivationale Erklärung dieses Sachverhalts bietet Lerner (1980) mit
seiner Theorie des "Glaubens an eine gerechte Welt", die in der Tradition der Gestaltpsychologie
und der Theorien kognitiver Konsistenz steht (s.a. Heider, 1958). Diese Theorie wird im
folgenden Abschnitt etwas ausführlicher behandelt. Dann folgen Überlegungen zu
geschlechtsspezifischen Funktionen von VM im Hinblick auf den Selbstwerterhalt.
2.3.1
Vergewaltigungsmythen als Ausdruck des Glaubens an eine gerechte Welt
Der "Glaube an eine gerechte Welt" steht im Dienste des übergeordneten Motivs, die eigene
Umwelt als geordnet, vorhersagbar und kontrollierbar wahrzunehmen (Lerner, 1980). Er
beinhaltet neben der Erwartung von Ordnung und Beeinflußbarkeit ein Gefühl für das, was als
gerecht und angemessen zu gelten hat. Die Geschehnisse in der eigenen subjektiven "Welt"
werden so interpretiert, daß — prospektiv — "jede/r das bekommt, was sie/er verdient", und —
retrospektiv — "jede/r das verdient hat, was sie/er bekommen hat". Was in einem konkreten Fall
für eine Person als gerechtes, d.h. "verdientes" Ergebnis, anzusehen ist, wird durch sozial geteilte
Regeln bestimmt, wie zum Beispiel durch das Prinzip, daß Entlohnung proportional zur
erbrachten Leistung sein sollte (s. Adams, 1965), oder die Übereinkunft, daß bestimmte
Handlungen eine Bestrafung nach sich ziehen sollten. Lerner (1980) nimmt an, daß Menschen
bestrebt sind, den Glauben an eine gerechte Welt aufrechtzuerhalten, da diese Überzeugung eine
wichtige Grundlage für zielgerichtetes Handeln und Schutz vor negativen Emotionen bietet.
Bedeutsam für unsere gegenwärtige Diskussion sind die Vorhersagen der Theorie für den
Fall, daß eine Person mit einem Ereignis konfrontiert wird, das ihre Erwartung von Gerechtigkeit
verletzt, zum Beispiel wenn ein "unschuldiger" anderer zum Opfer wird. Prinzipiell stehen der
Person dann zwei Reaktionsweisen zur Verfügung, um die Gerechtigkeit ihrer subjektiven Welt
wiederherzustellen. Zum einen kann sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten den als ungerecht
erlebten Zustand aktiv in Richtung auf größere Gerechtigkeit verändern (z.B. durch Hilfe oder
Kompensation für das Opfer, Bestrafung des Täters etc.). Derartige Reaktionen werden von
Lerner (1980, S. 19) als "rationale Taktiken" bezeichnet. Da ihr Einsatz oft nicht möglich oder
mit hohem Aufwand verbunden ist, werden aber häufiger andere, "nichtrationale"
Reaktionsweisen gewählt. Letztere bestehen entweder in Leugnung/Rückzug — d.h. die Person
18
Kapitel 2
setzt sich bestimmten bedrohlichen Informationen gar nicht erst aus — oder in einer kognitiven
Verzerrung und Uminterpretation des Ereignisses derart, daß es doch gerecht erscheint.
Diese letztere Reaktionsweise gliedert sich wiederum in mehrere Varianten. Zum einen kann
das Ergebnis für das Opfer als positiv oder zumindest harmlos reinterpretiert werden. Zum
anderen ist es häufig möglich, die Ursachen für ein negatives Ereignis so umzudeuten, daß das
Opfer sein Schicksal durch eigenes Fehlverhalten selbst herbeigeführt und somit "verdient" hat.
Schließlich können auch negative Aspekte am Charakter des Opfers "entdeckt" werden, die
ebenfalls geeignet sind, sein Schicksal als gerecht erscheinen zu lassen (Lerner, 1980, S. 20-21).
Aus Lerners Theorie folgen eine Reihe von Vorhersagen, die experimentell überprüft und
weitgehend bestätigt wurden. Am bekanntesten ist der Befund, daß die charakterliche Abwertung
eines unschuldigen Opfers, dem in einem psychologischen Experiment schmerzhafte
Elektroschocks verabreicht werden, umso deutlicher ausfällt, je größer die experimentell
induzierte Ungerechtigkeit ist (Lerner & Simmons, 1966). Interessant ist aber auch, daß nicht alle
Personen in gleicher Weise auf wahrgenommene Ungerechtigkeit reagieren, sondern eine große
interindividuelle Variation besteht. So änderten in dem Experiment von Lerner und Simmons
20 von 65 Versuchspersonen nicht ihre Bewertung des Opfers, sondern ihre Bewertung des
Experiments in negativer Richtung. Mit anderen Worten: Sie akzeptierten die Ungerechtigkeit
der Situation und reagierten rational. Später konnten Rubin und Peplau (1973) mit Hilfe einer
"Glaube an eine gerechte Welt" (GGW)-Skala zeigen, daß sich aus Unterschieden im
überdauernden GGW vorhersagen läßt, wie stark Individuen eine Zielperson abwerten, die
zufällig ein negatives Schicksal erleidet.
Die Parallelen zwischen Lerners Theorie und den Überlegungen zur Funktion von
Vergewaltigungsmythen liegen auf der Hand. Die oben referierten Typen von VM lassen sich als
Spezialfälle der von Lerner beschriebenen GGW-Taktiken auffassen. Schon im ersten
Experiment zur Verantwortungsattribution bei Vergewaltigung wurde das Konstrukt des
Gerechte-Welt-Glaubens zur Erklärung der Befunde herangezogen (Jones & Aronson, 1973). In
dieser Studie wurde einer "respektablen" (d.h. verheirateten oder sexuell unerfahrenen) Frau
größere Mitverantwortung an "ihrer" Vergewaltigung zugeschrieben als einer "weniger
respektablen" (d.h. geschiedenen) Frau. Dieser Befund steht im Einklang mit der Annahme, daß
im Falle der respektablen Frau die Ungerechtigkeit als größer wahrgenommen und die mangelnde
charakterliche Erklärungsmöglichkeit durch eine verhaltensbezogene Erklärung kompensiert
wird. Allerdings konnte dieser Befund in nachfolgenden Studien nicht repliziert werden; zum
Teil traten auch gegenteilige Ergebnisse auf (s. Krahé, 1991 b). Ein Teil dieser Divergenz in den
Befunden mag durch unterschiedliche Definitionen von "Respektabilität" (über den
Familienstand, den Beruf, die Kleidung) zustandegekommen sein. Ein anderer Teil der Divergenz
liegt wohl darin begründet, daß einerseits interindividuelle Unterschiede in der VMA —
verstanden als eine spezifische Form des Glaubens an eine gerechte Welt — gerade dann zu
Unterschieden in der Beurteilung des Opferverhaltens als mehr oder weniger tadelnswert führen
können, wenn (wie bei Jones & Aronson, 1973) keine Hinweise auf charakterliche Mängel
vorliegen. Andererseits wird aber gerade bei hoher VMA auch ein externer Hinweis auf mögliche
charakterliche Mängel des Opfers vielleicht eher bereitwillig aufgegriffen, was einen
Vergewaltigungsmythen: Definition, Funktion, Messung, Verbreitung 19
gegenläufigen Befund produzieren kann. In jedem Fall sollte die Gesamtbewertung des Opfers
auf verschiedenen Skalen, die möglichst breit Verhaltens- und Charaktermerkmale abdecken,
eine direkte Funktion des GGW sein.
Vergewaltigungsmythen bilden also einen Spezialfall des Glaubens an eine gerechte Welt.
Sie können sowohl für Männer als auch für Frauen die Funktion erfüllen, negative Gefühle zu
vermeiden, die sich aus der Erkenntnis ergeben könnten, daß wir in einer "Welt" leben, in der
relativ häufig Frauen der verschiedensten Schichten und Altergsgruppen ohne ihr Zutun
vergewaltigt werden:
The belief in rape myths allows people to feel safe by believing that rape does not really
happen or at least not often, or that if it does, it is because the women secretly wanted
to be raped. The myths enable us to maintain our belief that we live in a just world
(Ledray, 1986, S. 13).
Aus diesen Überlegungen ergibt sich, daß die Akzeptanz von Vergewaltigungsmythen für
beide Geschlechter mit dem generellen Glauben an eine gerechte Welt positiv korreliert sein
sollte (s.a. Burt, 1980). Diesen Zusammenhang untersuche ich unten in Abschnitt 3.3.1.4. Die
GGW-Theorie liefert eine allgemeine Erklärung für das Vorkommen von VM und läßt Raum für
interindividuelle Differenzen in der Ausprägung der VMA. Sie liefert außerdem Vorhersagen
über die kognitiven und emotionalen Auswirkungen der Konfrontation mit Information über
sexuelle Gewalt: Insofern VM eine Erklärung für sexuelle Gewalt liefern, die deren Ursachen
insbesondere bei den Opfern lokalisiert, können sie generell die subjektive Konstruktion einer
"gerechten Welt" aufrechterhalten; negative emotionale Auswirkungen auf die eigene Person wie
Furcht oder Bedrohungsgefühle sowie (bei Männern) Schuldgefühle können dadurch abgemildert
oder gänzlich unterdrückt werden. Aufgrund dieser Überlegungen läßt sich folgende Hypothese
formulieren: Wenn Personen mit hoher VMA mit sexueller Gewalt konfrontiert werden, tendieren
sie eher dazu, das Opfer abzuwerten und Ursachen für die Gewalt beim Opfer zu lokalisieren,
als Personen mit niedriger VMA dies tun (s. Abschnitt 3.3.2).
2.3.2
Geschlechtsspezifische Funktionen von Vergewaltigungsmythen
Über die allgemeine Funktion hinaus, die Illusion einer gerechten Welt aufrechtzuerhalten,
sind geschlechtsspezifische Funktionen der VM zu berücksichtigen. Walster (1966) nahm an, daß
Schuldzuschreibungen an Personen, die von einem negativen Ereignis betroffen sind, aus dem
Wunsch entstehen, Gedanken an eigene Viktimisierung zu vermeiden. Da Frauen aufgrund ihrer
Geschlechtszugehörigkeit objektiv zur Gruppe der potentiellen Vergewaltigungsopfer gehören,
sollte vor allem für sie dieser Aspekt der Angstabwehr im Vordergrund stehen. In der Tat können
sich Frauen durch die Interpretation bedrohlicher Information mit Hilfe von VM in relativer
Sicherheit wiegen. Wie wir gesehen haben, sind in den Mythen die Überzeugungen enthalten,
daß Frauen selbst durch "Fehlverhalten" i.w.S. ihre eigene Vergewaltigung herbeiführen, daß nur
bestimmte Frauen Opfer einer Vergewaltigung werden können, und daß "normale" Männer keine
Bedrohung darstellen. Daraus folgt für Frauen, die diese Mythen akzeptieren, daß sie die
20
Kapitel 2
Bedrohung vermeiden können, indem sie sich "richtig" verhalten, sich hinreichend vom
"typischen Vergewaltigungsopfer" unterscheiden und Umgang mit den "richtigen" Männern
haben.
If we can believe that people do not suffer unless something is wrong with them or their
behavior, we will feel protected from undeserved suffering ourselves, and our feelings
of vulnerability to similar fates should be reduced (Herbert & Dunkel-Schetter, 1992,
S. 508).
Besonders interessant ist dabei, daß VM ein "partialisiertes" Frauenbild beinhalten. Durch
die Unterteilung von Frauen in "schlechte Frauen", d.h. potentielle Opfer, und in "gute Frauen",
d.h. Frauen, die von sexueller Gewalt nicht betroffen sind, kann eine Frau ein positives Selbstbild
aufrechterhalten, indem sie sich der letzteren Kategorie zuordnet und dadurch positiv von der
Gruppe der "schlechten Frauen" abhebt. Die Frau bezieht Information über Vergewaltigung somit
nicht mehr auf die eigene Person, sondern nur auf die Fremdgruppe der potentiellen Opfer, die
sie dann bei selbstbezogenen Urteilen als Vergleichsstandard heranziehen kann. Kontrastierung
der Eigengruppe "gute Frauen" mit der Fremdgruppe der Opfer sollte zur Aufrechterhaltung eines
positiven Selbstwerts beitragen (Turner et al., 1987, Kapitel 3). Frauen, die VM ablehnen, sollten
hingegen ein stärker einheitliches Frauenbild haben und Information über Vergewaltigung als alle
Frauen n und damit auch sie selbst n betreffend wahrnehmen, was mit negativen Konsequenzen
für den Selbswert und die emotionale Befindlichkeit verbunden sein kann. Ich gehe auf diesen
Aspekt in den Kapiteln 6 bis 9 unter Rekurs auf das Inklusions-Exklusions-Modell der
Urteilsbildung (Schwarz & Bless, 1992 a) und die Theorie der Selbstkategorisierung (Turner et
al., 1987) näher ein.
Eine weitere Folge der angedeuteten Kategorisierungsprozesse bei hoher VMA ist die
Ausbildung einer Kontrollillusion (Langer, 1975): Frauen, die an VM glauben, sollten das
Risiko, selbst Opfer einer Vergewaltigung zu werden, geringer einschätzen als Frauen, die nicht
an VM glauben (s. Tabone, Pardine & Salzano, 1992). Sie sollten außerdem weniger bereit sein,
Maßnahmen zur Prävention von Vergewaltigung oder zur Erhöhung ihrer
Selbstverteidigungskompetenz zu unternehmen. Über die empirische Untersuchung dieser
Zusammenhänge wird in den Abschnitten 3.3.1.5 und 3.3.1.6 berichtet.
Im Widerspruch zu der oben diskutierten Funktionalität der VM im Sinne der Angstabwehr
steht jedoch der insgesamt frauenfeindliche Charakter der meisten VM, der sich auch dadurch
belegen läßt, daß hohe VMA bei Männern und Frauen mit einer für Frauen restriktiveren
subjektiven Geschlechtsrollendefinition einhergeht (z. Überblick Bohner & Schwarz, 1996;
s.a. Abschnitt 3.3.1.1). Während die Funktion der Angstabwehr den Schluß nahelegt, daß Frauen
eher an VM glauben sollten als Männer, impliziert die Frauenfeindlichkeit der Mythen
umgekehrt, daß sie für Frauen weniger akzeptabel sein sollten als für Männer. In
Übereinstimmung mit dem letzteren Argument zeigen fast alle Studien, die die
geschlechtstypische Ausprägung der VMA untersuchten, daß Frauen weniger an VM glauben als
Männer (s. unten Abschnitte 2.5 und 3.2.3). Dennoch erscheint die Hypothese plausibel, daß
Vergewaltigungsmythen: Definition, Funktion, Messung, Verbreitung 21
innerhalb der Gruppe der Frauen die emotionalen Reaktionen auf Vergewaltigungsfälle stärker
von der VMA moderiert werden als bei Männern. Dies deswegen, weil die Mythen Frauen, nicht
aber Männern, zur Bewältigung der eigenen Bedrohung dienen.
Warum glauben Männer an VM? Auch bei Männern dürften Aspekte der sozialen
Kategorisierung und des sozialen Vergleichs eine Rolle spielen, jedoch in etwas anderer Weise
als bei Frauen. Da Männer aufgrund ihres biologischen Geschlechts im allgemeinen nicht zur
Gruppe der potentiellen Vergewaltigungsopfer gehören (s. Kapitel 1 und Fußnote 4), sehr wohl
aber zur Gruppe der potentiellen Täter, wäre zunächst an einen möglichen Mechanismus der
Schuldabwehr zu denken, der sich in einer Distanzierung vom Stereotyp des
"geistesgestörtenTriebtäters" ausdrücken mag. Zur Schuldabwehr mag weiterhin der Inhalt von
VM geeignet sein, Vergewaltigung als "Frauenproblem" zu charakterisieren, für dessen
Vorhandensein und Bewältigung Frauen verantwortlich sind und mit dem "normale" Männer
nichts zu tun haben.
Auch ein Aspekt der "Angstabwehr" auf seiten der Männer wird in populären Abhandlungen
über das Thema Vergewaltigung gerne angesprochen. So schreibt etwa Degler (1981, S. 15):
"Das Mißtrauen den Opfern gegenüber ... entspringt der biblischen Männerangst, eine Frau könne
sie zu Unrecht der Vergewaltigung bezichtigen n so wie das in der Genesis beschriebene Weib
des ägyptischen Großwesirs Potifar den Sklaven Josef durch eine falsche Anschuldigung in den
Kerker brachte." Der biblische Mythos wird hier als Erklärung für die Akzeptanz des (offenbar
zeitlosen) Vergewaltigungs-Mythos ins Feld geführt. Allerdings scheint die Zahl der
Falschanschuldigungen wesentlich geringer zu sein als die Zahl der tatsächlichen
Vergewaltigungen, die nicht verfolgt werden (s. Kapitel 1). Man könnte versucht sein zu folgern,
daß die Annahme der Angstabwehr einer rationalen Grundlage entbehrt. Verläßliche Daten über
einen eventuellen Zusammenhang zwischen der individuellen Furcht vor falscher Bezichtigung
und der Ausprägung der VMA existieren meines Wissens allerdings nicht, so daß diese
Möglichkeit weder bestätigt noch gänzlich ausgeschlossen werden kann.
Plausibler zur Erklärung der VMA bei Männern erscheint die Annahme, daß die Abwertung
der Opfer, die sich in VM ausdrückt, zur Aufrechterhaltung einer positiven "männlichen"
Identität durch sozialen Vergleich mit der negativ bewerteten Fremdgruppe der Frauen beitragen
kann. Hierbei ist interessant, daß bei Männern somit die Abwertung von Vergewaltigungsopfern
mit einer generellen negativen Bewertung von Frauen und der Wahrnehmung von Frauen als
homogene Gruppe konsistent sein kann (zum Aspekt der "outgroup homogeneity" s. z.B. Park,
1995; Simon, 1992). Alle Frauen würden demnach von Männern mit hoher VMA negativer
beurteilt als von Männern mit niedriger VMA. (Einige schwache Hinweise auf einen solchen
geschlechtstypisch bei Männern auftretenden Zusammenhang ergeben sich daraus, daß bei
Männern die Korrelation zwischen frauenfeindlichen Einstellungen und VMA etwas höher
ausfällt als bei Frauen; s. Abschnitt 3.3.1.1.) Frauen, die an VM glauben, sind hingegen — wie
oben ausgeführt — gezwungen, eine deutliche Binnendifferenzierung innerhalb der Kategorie
"Frauen" vorzunehmen, sofern sie sich nicht selbst mit abwerten wollen. Auch diese
Geschlechtsunterschiede im Zusammenhang zwischen VMA und Selbstkategorisierung werden
in den Kapiteln 6 bis 9 stärker beleuchtet.
22
Kapitel 2
2.3.3
Vergewaltigungsmythen als neutralisierende Kognitionen
Für Männer könnte eine hohe Ausprägung der VMA auch dazu dienen, eigene
Gewalttendenzen zu rationalisieren. Schon in den frühesten Arbeiten zu Vergewaltigungsmythen
(Burt, 1980; Feild, 1978) wurde die These vertreten, daß VMA bei Männern zu der Bereitschaft
beitragen könnte, selbst zu vergewaltigen. So bezeichnete Martha Burt Vergewaltigungsmythen
als "psychological releasers or neutralizers, allowing potential rapists to turn off social
prohibitions against injuring or using others when they want to commit an assault" (Burt, 1978,
S. 282). Tatsächlich liegen Ergebnisse einer Reihe von Studien vor, die bei Männern einen
korrelativen Zusammenhang zwischen der Ausprägung der VMA und der selbstberichteten
Bereitschaft nahelegen, eine Vergewaltigung zu begehen (s. dazu ausführlicher Kapitel 5).
Ähnliche Zusammenhänge werden in der "Theorie der Neutralisation" (Sykes & Matza, 1957)
thematisiert, einem Ansatz aus der Kriminalsoziologie, der Parallelen zur fast zeitgleich
erschienenen Theorie der kognitiven Dissonanz (Festinger, 1957) aufweist.
Die Theorie der Neutralisation erklärt die Entstehung und Aufrechterhaltung von Delinquenz
mit Hilfe von Entschuldigungen und Rechtfertigungen. Demnach lehnen jugendliche
Delinquenten, die gegen Gesetze und Normen der Gesellschaft verstoßen, diese Normen nicht
etwa generell ab (vgl. aber A. K. Cohen, 1955). Vielmehr, so die Theorie, erkennen Delinquenten
die Normen "im Prinzip" an, verfügen aber über eine Reihe "neutralisierender Kognitionen", die
dazu dienen, Verstöße gegen die Norm in bestimmten Fällen zu rechtfertigen. Dies kann
nachträglich geschehen in Form einer Entschuldigung oder Rationalisierung, aber auch im voraus
im Sinne einer in die Zukunft wirkenden "Neutralisierung". Opp (1974) erweiterte den
Geltungsbereich der Neutralisationstheorie auf Personen aller Altersgruppen und auf
abweichendes Verhalten im allgemeinen. Einschränkend machte er jedoch darauf aufmerksam,
daß abweichendes Verhalten und der Gebrauch von Neutralisationen nur dann miteinander
zusammenhängen sollten, wenn die Normen einer Gesellschaft, welche die Tat verbieten,
hinreichend internalisiert sind.
Sykes und Matza (1957) führten fünf Typen von Rechtfertigungsargumenten an, die von
Delinquenten eingesetzt werden: Ablehnung des Opfers ("Sie sind doch selbst schuld"),
Verneinung des Schadens ("In Wirklichkeit habe ich gar keinen Schaden angerichtet"),
Ablehnung der Verantwortung ("Die Umstände sind schuld"), Berufung auf höhere Instanzen
("Ich tat es nicht für mich selbst"), und Verdammung der Verdammenden ("Die Polizei ist
korrupt"). Einem Vorschlag von Minor (1981) folgend, fügte Thurman (1984) dieser Liste zwei
weitere Techniken hinzu: die Metapher des Hauptbuches ("Ich bin sonst immer sehr gesetzestreu,
da kann ich mir einen Ausrutscher erlauben"), und die Verteidigung der Notwendigkeit ("Es ging
nicht anders, ich mußte das tun").9
Die Neutralisationstheorie regte zahlreiche Forschungsarbeiten an (z. Überblick s. Amelang,
9
Die deutschen Bezeichnungen der Techniken wurden z.T. aus einer deutschen Übersetzung von Opp
(Sykes & Matza, 1968) übernommen. Anders als Opp n und abweichend von eigenen früheren Arbeiten
(Schahn, Dinger & Bohner, 1994, 1995) n übersetze ich jedoch "denial of the injury" mit "Verneinung des
Schadens" (anstatt "Verneinung des Unrechts"), da dies m.E. sowohl der englischen Originalbezeichnung eher
entspricht als auch den inhaltlichen Kern der Technik besser trifft.
Vergewaltigungsmythen: Definition, Funktion, Messung, Verbreitung 23
Zahn & Schahn, 1988). Empirische Arbeiten im Delinquenzbereich, die meist selbstberichtete
oder amtlich erfaßte Straftaten zu selbstberichteter Neutralisation in Beziehung setzten,
bestätigten im wesentlichen, daß ein positiver Zusammenhang zwischen Neutralisation und
delinquentem Verhalten besteht (z.B. Agnew & Peters, 1986; Amelang, Schahn & Kohlmann,
1988; Hollinger, 1991; Mitchell & Dodder, 1983; Mitchell, Dodder & Norris, 1990; Norris &
Dodder, 1979). Neuere korrelative Studien belegen, daß Sykes' und Matzas
Neutralisationstheorie auch für die Bereiche Bagatelldelinquenz (z.B. "Schwarzfahren", kleinere
Ladendiebstähle etc.; Amelang, Zahn & Schahn, 1988), umweltschädigendes Verhalten (z.B.
unnötiger Energieverbrauch, unkorrekte Abfallbeseitigung; Schahn, Dinger & Bohner, 1994,
1995) und eine Vielzahl weiterer Verhaltensbereiche (z.B. Ausübung extremer Sportarten;
Schwangerschaftsabbruch; Alkoholmißbrauch; Ausübung sozial stigmatisierter Berufe;
z. Überblick s. Schahn et al., 1994) Erklärungskraft besitzt. Über erste Hinweise auf einen
möglichen kausalen Einfluß von Neutralisation auf die Bereitschaft, Bagatelldelikte zu begehen,
berichten Schwarz und Bayer (1989).
Ein Vergleich der Neutralisationstechniken mit den Inhalten, die in Vergewaltigungsmythen
zum Ausdruck kommen, verleiht der Annahme zusätzliche Plausibilität, daß auch die Mythen
eine spezifische Neutralisationsfunktion erfüllen und so zum Auftreten von Vergewaltigung
beitragen könnten (so z.B. Brownmiller, 1975; Burt, 1978, 1980; Jackson, 1978; Weis & Borges,
1973). Am deutlichsten kommen in den Mythen die Ablehnung des Opfers ("Sie hat es verdient")
und die Verneinung des Schadens ("Es ist nichts passiert") zum Ausdruck. Auch Sykes und
Matza (1957) betonen in ihrer Darstellung der Neutralisationstechniken den Aspekt des "blaming
the victim":
The injury, it may be claimed, is not really an injury; rather, it is a form of rightful
retaliation or punishment. By a subtle alchemy the delinquent moves himself into the
position of an avenger and the victim is transformed into a wrongdoer. ... [A]ttacks on
members of minority groups who are said to have gotten 'out of place' ... may be hurts
inflicted on a transgressor, in the eyes of the delinquent (S. 668).
Diese Überlegungen lassen sich auf sexuelle Übergriffe gegen Frauen übertragen, deren
"getting out of place" in den Augen der Täter beispielsweise im Tragen der "falschen" Kleidung,
dem "Aussenden der falschen Signale" oder — im Wortsinne — dem bloßen Aufenthalt an
bestimmten Orten bestehen kann. Aussagen von Vergewaltigern, die zu ihren Motiven befragt
wurden, beinhalten häufig diese Aspekte (Beneke, 1982; Groth, 1979). Darüber hinaus kann die
Existenz eines individuellen Opfers, dem Schmerz und Leid zugefügt wird, auch dadurch in den
Hintergrund treten, daß die Vergewaltigung vom Täter als Akt verstanden wird, der sich gegen
alle Frauen richtet. Sykes und Matza (1957) diskutieren ebenfalls den Aspekt der mangelnden
"awareness of the victim's existence" (S. 668), allerdings nur im Hinblick auf die Abstraktheit
oder physische Abwesenheit des Opfers etwa bei Eigentumsdelikten. Diese Überlegungen sind
im Falle der Vergewaltigung eventuell zu ergänzen durch die Annahme einer Depersonalisierung
des Opfers dadurch, daß es nur als austauschbares Mitglied der (von vielen Tätern insgesamt
24
Kapitel 2
negativ bewerteten) Kategorie "Frauen" gesehen wird.
Auch die Ablehnung der Verantwortung ("Eine Frau sollte dafür verantwortlich sein, ihrer
eigenen Vergewaltigung vorzubeugen") und die Verteidigung der Notwendigkeit ("Die meisten
Vergewaltiger haben einen ausgeprägten Sexualtrieb") n die auch in dem Wort "Notzucht" zum
Ausdruck kommt n könnten Teil eines Vergewaltigung rechtfertigenden Überzeugungssystems
sein.10 Daraus ergibt sich die Überlegung, daß Männer Vergewaltigungsmythen nicht nur zur
(abstrakten) Rechtfertigung der Taten anderer, sondern auch zur Neutralisation eigener
Verhaltenstendenzen nutzen könnten. Über korrelative Befunde in der Literatur und eine eigene
empirische Untersuchung zu diesem Problem, die auch der Frage der Kausalrichtung des
Zusammenhangs zwischen VMA und Verhaltensbereitschaft nachgeht, wird in Kapitel 5
berichtet.
2.3.4
Kognitive Repräsentation von Vergewaltigungsmythen
Bei der Diskussion der Funktionen von Vergewaltigungsmythen ist auch die Frage nach
deren kognitiver Repräsentation von Belang. Ich habe oben VM als Überzeugungen (im Sinne
von "beliefs") definiert. Diese Überzeugungen sind nicht voneinander isoliert zu betrachten; es
ist vielmehr anzunehmen, daß sie im Gedächtnis miteinander verknüpft sind und ein integriertes
Ganzes bilden. Für derartige komplexe Repräsentationen ist in der kognitiven (Sozial)Psychologie der Begriff "Schema" geläufig. Ohne diesen Punkt hier vertiefen zu können, will
ich darauf eingehen, was es bedeuten könnte, Vergewaltigungsmythen als kognitive Schemata
zu verstehen.11
Nachdem Bartlett schon vor mehr als 60 Jahren auf der Grundlage von Arbeiten zu
Gedächtnisprozessen im sozialen Kontext den Begriff des Schemas in die Psychologie eingeführt
hatte (Bartlett, 1932/1995), wurde in der kognitiven Psychologie und der Sozialpsychologie
insbesondere in den vergangenen beiden Jahrzehnten eine Vielzahl von verwandten Konzepten
entwickelt. Diese beziehen sich auf die Repräsentation bestimmter Inhalte, wie Personen, das
10
Die weiteren Neutralisationstechniken erscheinen zur Neutralisation von Vergewaltigung auf den ersten
Blick weniger relevant. Eine "Berufung auf höhere Instanzen" bzw. auf "übergeordnete" Ziele läßt sich jedoch
in den Aussagen von Männern erkennen, die im Krieg Frauen der Gegenseite vergewaltigten und die
Vergewaltigung als Bestandteil von "Befragungen" oder "Durchsuchungen" rechtfertigten. Brownmiller zitiert
einen amerikanischen Armeebeobachter des Vietnam-Krieges: "When we went through the villages and
searched people the women would have all their clothes taken off and the men would use their penises to
probe them to make sure they didn't have anything hidden anywhere" (Brownmiller, 1976, S. 112,
Hervorhebungen G.B.) Auch zur drastischen Illustration der weiteren Neutralisationstechniken erscheinen
Aussagen aus Kriegen geeignet (s. Brownmiller, 1976, Kapitel 3). Eine bis zur Entmenschlichung reichende
Ablehnung der Opfer drückt sich in den Worten desselben Armeebeobachters aus: "It wasn't like they were
humans. ... They were a gook or a Commie and it was okay" (Brownmiller, 1976, S. 113).
Zur theoretischen Bedeutung der Techniken ist zu sagen, daß weder von Sykes und Matza (1957) noch
von späteren AutorInnen differentielle Aussagen im Hinblick auf die verschiedenen Techniken gemacht
wurden. Die Auflistungen einzelner Techniken (die je nach Inhaltsbereich, auf den die Theorie angewendet
wurde, variieren) dienen hauptsächlich der Veranschaulichung der Theorie sowie als Anregungen zur
Konstruktion von Neutralisations-Skalen.
11
In den Kapiteln 7 und 8 wird ein spezifischer Aspekt des VM-Schemas, nämlich die Repräsentation von
Vergewaltigungsopfern in Relation zu Prozessen der Selbstkategorisierung, näher beleuchtet.
Vergewaltigungsmythen: Definition, Funktion, Messung, Verbreitung 25
Selbst, Rollen, Ereignisse, Situationen (z. Überblick: Fiske & Taylor, 1991, Kapitel 4; Wyer &
Carlston, 1984), oder inhaltsübergreifender Zusammenhänge, wie z.B. das Balance-Schema
(Heider, 1958) oder Kausalitäts-Schemata (Kelley, 1972). Auch soziale Einstellungen wurden
unter funktionalen Gesichtspunkten als kognitive Schemata behandelt (z.B. Pratkanis, 1989).
Bei aller Verschiedenheit der vorfindbaren Konzeptionen lassen sich einige deskriptive und
funktionale Gemeinsamkeiten hervorheben (Fiske & Morling, 1995):
— Schemata sind abstrakt; sie stellen einen allgemeinen "Fall" dar und verweisen auf
Ähnlichkeiten zwischen Spezialfällen; in diesem Sinne dienen sie dazu, Realität zu
vereinfachen.
— Schemata beeinflussen die Verarbeitung neuer Information; sie etablieren Erwartungen
über die Beschaffenheit neuer Information, erleichtern die Herstellung von
Beziehungen zwischen Details bzw. zwischen Detailinformation und dem allgemeinen
Fall; sie liefern aber auch die Basis für Inferenzen über Sachverhalte, über die in einer
speziellen Situation keine externe Information vorliegt — eine Person, die ein Schema
nutzt, kann somit "über die gegebene Information hinausgehen" (Bruner, 1957).
Lassen sich diese Aspekte der kognitiven Ökonomie, der Ausrichtung der Aufmerksamkeit
und der schemageleiteten Schlußfolgerungen auf VM übertragen? Und wenn ja, welcher
speziellen Spielart kognitiver Schemata wären VM zuzuordnen? Eine bejahende Antwort auf die
erste Frage läßt sich plausibel begründen. Die bereits besprochenen und in den folgenden
Kapiteln noch zu behandelnden Forschungsergebnisse zeigen, daß Personen ohne ersichtliche
Schwierigkeiten allgemeine und abstrakte Vorstellungen über Vergewaltigung, Opfer und Täter
berichten können, und daß offenbar regelhafte Zusammenhänge zwischen diesen Aspekten
bestehen. In einer Arbeit, die sich auf der Grundlage eines Prototypenansatzes direkt mit
kognitiven Repräsentationen von Vergewaltigung befaßte, zeigten sich systematische
Unterschiede zwischen den Repräsentationen von Personen mit positiven bzw. negativen
Einstellungen gegenüber Vergewaltigungsopfern (Krahé, 1991 a). Andere Studien zeigen, daß
die subjektiven Kriterien, einen Sachverhalt als Vergewaltigung zu definieren, sowie die
Interpretation bestimmter Verhaltensweisen und die Attribution psychischer Dispositionen an
Täter und Opfer mit der Akzeptanz von Vergewaltigungsmythen kovariieren (Bridges, 1991;
Klemmack & Klemmack, 1976). Auch die bereits angesprochene häufig beobachtete Korrelation
von VMA und der Verantwortungszuschreibung bei konkreten Vergewaltigungsfällen läßt sich
als Indiz für schemageleitete Inferenzen werten. In den Folgekapiteln wird sich zeigen, daß
Personen je nach Ausprägung ihrer VMA bestimmte Einzelfallinformation selektiv
interpretieren. Eine derartige selektive Informationsverarbeitung könnte auch zur
Aufrechterhaltung der Mythen beitragen.
Die oben formulierten Hypothesen über den Zusammenhang zwischen VMA und dem
subjektiven Risiko bei Frauen sowie der Gewaltbereitschaft bei Männern beinhalten ebenfalls
implizit die Wirkung eines VM-Schemas (in Verbindung mit Einflüssen des Selbstkonzepts). In
den genannten Fällen leiten Personen spezielle (d.h. einzelfallbezogene oder selbstbezogene)
Urteile aus einer übergeordneten Wissens- und Einstellungsstruktur ab. Schließlich lassen sich
auch Unterschiede in der Rechtfertigung von Normen, die Frauen benachteiligen und in ihrer
26
Kapitel 2
Bewegungsfreiheit einschränken, als Folge der aus dem jeweiligen VM-Schema hergeleiteten
Schlußfolgerungen interpretieren.
Die Frage nach der Zuordnung von VM zu einem der in der Literatur vorfindbaren SchemaTypen läßt sich weniger klar beantworten. Insofern VM allgemeine Repräsentationen von
Personen, Ereignissen, Handlungen und Ursachen beinhalten, bilden sie einen Komplex, der
mehrere Schema-Typen einschließt. Im einzelnen sind dies "scripts" (Schank & Abelson, 1977)
über den typischen Hergang einer Vergewaltigung (z.B. "Überfall eines Einzeltäters nachts im
Freien auf eine Frau, die Alkohol getrunken hat; der ebenfalls angetrunkene Täter droht mit einer
Waffe; die Frau wehrt sich verbal, trägt leichte physische und schwere psychische Verletzungen
davon; es gibt keine Zeugen"12), Stereotypen über Opfer und Täter, bereichsspezifische
Heuristiken über Kausalität und Verantwortungszuschreibung (z.B. "Im Zweifel hat die Frau die
Situation herbeigeführt" oder "Wenn Männer sexuell erregt sind, können sie für
Gewaltanwendung nicht verantwortlich gemacht werden") und kategoriebezogene evaluative
Einstellungen (z.B. "Vergewaltigungsopfer sind minderwertig").
Die Beispiele zeigen, daß sich Vergewaltigungsmythen auf unterschiedlichen Ebenen der
mentalen Repräsentation beschreiben lassen. Eine ähnliche Analyse der Konzeptualisierung des
Begriffs Einstellung auf verschiedenen Ebenen der kognitiven Repräsentation (Objekte,
Kategorien, Propositionen, Schemata) findet sich bei Greenwald (1989; s.a. Pratkanis, 1989).
Eine theoretisch befriedigende Differenzierung der verschiedenen Repräsentationsebenen im
Hinblick auf VM ist noch zu leisten (s.a. Lonsway & Fitzgerald, 1994).
Da die VMA auf einem unidimensionalen Kontinuum erfaßt wird (s. folgende Abschnitte
und Kapitel 3), stellt sich auch die Frage nach der Identifizierbarkeit qualitativ unterschiedlicher
Schemata und deren Zusammenhang mit der dimensionalen Ausprägung der VMA. Hierzu liegen
kaum einschlägige Daten vor; verschiedene Möglichkeiten sind plausibel. Zum einen ist denkbar,
daß nur starke Zustimmung zu VM mit einem deutlichen Schema verknüpft ist, während die
Ablehnung von VM mit dem Fehlen einer schematischen Repräsentation und eher
datengetriebener Verarbeitung einhergeht. Zum anderen könnten sowohl mit einer klaren
Zustimmung zu VM als auch mit einer klaren Ablehnung von VM jeweils prägnante Schemata
verbunden sein, während sich im Mittelbereich des Kontinuums weniger deutliche Strukturen
finden. Entsprechend fanden Krosnick und KollegInnen, daß die Extremität von Einstellungen
mit verschiedenen Operationalisierungen der Einstellungsstärke ("attitude strength") positiv
korreliert ist, insbesondere mit den Variablen "Gewißheit" und "Intensität" (Krosnick, Boninger,
Chuang, Berent & Carnot, 1993).
Eine befriedigende empirische Antwort auf die Frage nach dem Zusammenhang zwischen
Ausprägungen VMA und der Indentifizierbarkeit prägnanter Schemata kann bisher nur
ansatzweise gegeben werden. In Kapitel 7 wird ein theoretisches Modell formuliert, nach dem
mit hohen und niedrigen Ausprägungen der VMA jeweils spezifische Repräsentationen der
12
Ein derartiger Hergang läßt sich z.B. aus der Prototypenstudie von Krahé (1991 a) rekonstruieren als
"Skript" einer typischen Vergewaltigung von PolizeibeamtInnen mit negativen opferbezogenen Einstellungen
.
Vergewaltigungsmythen: Definition, Funktion, Messung, Verbreitung 27
Kategorie "Vergewaltigungsopfer" verbunden sind. Diese Überlegung erscheint mit vorliegenden
empirischen Befunden vereinbar (s. insbes. Kapitel 6 bis 8). Darüber hinaus gibt es Evidenz für
"Schema-Effekte" bei niedriger (versus hoher) VMA im Sinne einer höheren chronischen
Verfügbarkeit der sozialen Kategorie "Geschlecht" bei sozialen Urteilsaufgaben, die sich nicht
explizit auf diese Kategorie beziehen (Bohner, Sturm, Ayata, Effler & Litters, 1996; s. Kapitel 8).
Bei der Frage des Zusammenhangs zwischen der Extremität der VMA und der Prägnanz
kognitiver Repräsentationen besteht auch ein definitorisches Problem. In den von uns
untersuchten, meist studentischen, Stichproben gab es meist nur wenige Vpn, die VM klar
zustimmten (im Sinne von Antworten im oberen Bereich der Antwortskala): Personen, die nach
einem Mediansplit "hohe VMA" aufweisen, urteilen näher an der Skalenmitte und haben somit
vielleicht weniger prägnante Einstellungen als Vpn in der Gruppe, deren Urteile unterhalb des
Medians und damit nahe dem Pol extremer Ablehnung der VM liegen. Allerdings ist schwer
abzuschätzen, ob nicht schon "mittlere" Antworten (i.S. der Antwortskala) eine klare Ablehnung
der Opfer und Entlastung der Täter ausdrücken. Eine Lösung dieses Problems könnte darin
bestehen, verschiedene numerische Ausprägungen der VMA mit qualitativen Repräsentationen
verschiedener Schema-Aspekte empirisch in Beziehung zu setzen (wie andeutungsweise
geschehen bei Krahé, 1991 a).
Insgesamt weisen die angesprochenen Probleme über die Ziele und Möglichkeiten dieser
Arbeit hinaus. In den Kapiteln 7 und 8 werden jedoch einige Aspekte schemageleiteter
Verarbeitung im Rahmen eines Modells formuliert und getestet, das den Einfluß der Bedrohung
durch sexuelle Gewalt auf selbstbezogene evaluative Urteile von Frauen erklären soll.
2.4 Die Messung von Vergewaltigungsmythen
In Kapitel 3 gehe ich ausführlich auf die Entwicklung und Validierung einer
deutschsprachigen Skala zur Erfassung der VMA ein. Hier will ich zunächst über die wichtigsten
englischsprachigen Instrumente berichten, die zur Erfassung von VMA und verwandten
Konstrukten eingesetzt werden (für eine umfassende Darstellung und Diskussion entsprechender
Skalen s. Lonsway & Fitzgerald, 1994). Dabei stelle ich die beiden am häufigsten eingesetzten
Skalen von Burt (1980) und Feild (1978) ausführlicher vor. Eine Skala von Costin (1985), die
auf Feild (1978) aufbaut, wird in Kapitel 3 beschrieben, da unsere deutsche VMA-Skala
ihrerseits aus einer Übersetzung der Skala von Costin weiterentwickelt wurde. Bei fast allen
übrigen in der Literatur verfügbaren Skalen handelt es sich ebenfalls um Adaptationen oder
Rekombinationen der Skalen von Feild bzw. Burt (s. Lonsway & Fitzgerald, 1994, Table 1).
Auch ein aktueller Versuch von Lonsway und Fitzgerald (1995), aus einem großen, rational
generierten Item-Pool eine neue Skala zu bilden, resultierte in Items, die große inhaltliche
Überlappung mit den Skalen von Feild und Burt aufweisen.
2.4.1
Die "Rape Myth Acceptance Scale" von Burt (1980)
Die im englischsprachigen Raum sicherlich am häufigsten eingesetzte Skala ist die von Burt
(1980) vorgestellte "Rape Myth Acceptance Scale" (RMAS), durch deren Präsentation auch der
Begriff "rape myths" in die psychologische Literatur Eingang fand. Die RMAS besteht aus
28
Kapitel 2
19 Items, die aus Voruntersuchungen mit einer "großen Itemsammlung" hervorgingen. Bei Burt
(1980) finden sich nur Angaben zur Trennschärfe der einzelnen Items (rit = .27 bis .62) und zur
internen Konsistenz der Gesamtskala (" = .88). Briere et al. (1985) identifizierten in einer
Hauptkomponentenanalyse mit 452 ProbandInnen vier Faktoren der RMAS, die sie
folgendermaßen bezeichneten: disbelief of rape claims (6 Items: "A person comes to you and
claims they were raped. How likely would you be to believe their statement if the person were
... your best friend / an Indian woman / a neighborhood woman / a young boy / a black woman
/ a white woman ?"), victim responsible for rape (9 Items, z.B. "When women go around braless
or wearing short skirts and tight tops, they are just asking for trouble"; vgl. Burts oben diskutierte
Kategorien "Sie wollte es" bzw. "Sie hat es verdient"), rape reports as manipulation (2 Items,
z.B. "What percentage of women who report a rape would you say are lying because they are
angry and want to get back at the man they accuse?"; vgl. Burts Kategorie "Es ist nichts passiert")
und rape only happens to certain kinds of women (1 Item, "Any female can get [sic] raped").
Man sieht bereits an den beispielhaft angeführten Items, daß die RMAS konkrete Inhalte
anspricht, die z.T. recht spezifisch für die US-amerikanische Kultur sind. Problematisch
erscheinen auch die teilweise sehr unklaren, umgangssprachlichen Formulierungen (z.B. "to be
asking for trouble"). Darüber hinaus tragen unterschiedliche Antwortformate sowie die
Präsentation der sechs disbelief-Items als Block mit einem übergeordneten Einleitungssatz
möglicherweise mehr zur Faktorenstruktur bei als inhaltliche Zusammenhänge zwischen den
Items. (Bei den meisten Items wurden 7-Punkte-Skalen der Zustimmung versus Ablehnung
verwendet, z.T. aber auch 5-Punkte-Skalen: Bei den Items zu rape reports as manipulation
bezogen sich diese auf den geschätzten Anteil falscher Anschuldigungen; bei den Items zu
disbelief of rape claims reichte die Skala n inkonsistent mit der Frageformulierung "how likely"
n von "always" bis "never".)
In einer eigenen Untersuchung mit der RMAS an 137 "undergraduates" der New York
University (Daten aus Exp. 2 von Bohner et al., 1993) verwendeten wir ein einheitliches
Antwortformat und präsentierten nur zwei der sechs disbelief-Items. Wir fanden in einer
Hauptkomponentenanalyse ebenfalls vier Faktoren mit einem Eigenwert größer als 1, von denen
jedoch einer klar dominant war (Eigenwertverlauf 5.39, 1.39, 1.14, 1.05). Items, welche die
Ursachen für Vergewaltigung im vorausgehenden Verhalten des Opfers lokalisierten bzw.
Vergewaltigung als natürliche und gerechte Folge bestimmter Verhaltensweisen charakterisierten
(entsprechend dem victim responsible-Faktor von Briere et al., 1985), luden auf dem ersten und
dritten Faktor. Auf dem zweiten Faktor luden die beiden rape reports as manipulation-Items und
zwei weitere, die die technische (Un-)Möglichkeit einer Vergewaltigung thematisierten
(einschließlich "any female can get raped"). Den vierten Faktor markierten schließlich die beiden
verbliebenen Items, die die Glaubwürdigkeit von bestimmten Opfern betrafen (disbelief of rape
claims).
Insgesamt decken die Inhalte der RMAS somit weitgehend die von Burt (1991) diskutierten
opferbezogenen Mythen ab. Trotz einer gewissen Heterogenität der Inhalte scheint die
Zusammenfassung aller Items zu einer Gesamtskala statistisch gerechtfertigt, zumal sich bei
einheitlichem Antwortformat ein Faktor als klar dominant erwies. Einige Itemformulierungen
Vergewaltigungsmythen: Definition, Funktion, Messung, Verbreitung 29
erscheinen jedoch mangelhaft in bezug auf Eindeutigkeit und Verständlichkeit, andere sind zu
spezifisch formuliert (z.B. "If a woman gets drunk at a party and has intercourse with a man she's
just met there, she should be considered 'fair game' to other males at the party who want to have
sex with her too, whether she wants to or not" [Burt, 1980, S. 223]) oder auf den kulturellen
Kontext der USA zugeschnitten (z.B. die Fragen nach der Glaubwürdigkeit von "Indian women"
bzw. "black women"). Aus diesen Gründen erschien die RMAS auch für eine Übertragung ins
Deutsche ungeeignet (zur Kritik an der RMAS s.a. Lonsway & Fitzgerald, 1994, S. 156-158).
2.4.2
Die "Attitudes Toward Rape Scale" von Feild (1978)
Eine andere VM-Skala, bei der eine Reihe von ForscherInnen Anleihen gemacht haben,
wurde etwas früher als Burts RMAS von Hubert Feild (1978) präsentiert. Seine "Attitudes
Toward Rape"-Skala (ATR) enthält 32 Items, die aus einer 75 Aussagen umfassenden Sammlung
ausgewählt wurden. Die Itemsammlung resultierte aus einer Analyse der populären und
wissenschaftlichen Literatur im Hinblick auf Aussagen über Vergewaltigung, Vergewaltiger und
Vergewaltigungsopfer, die gefühlsbezogene, kognitive und/oder verhaltensbezogene Aspekte von
Einstellungen beinhalten. Die endgültigen Items sollten den Kriterien "as brief, unambiguous,
and nonredundant as possible" (Feild, 1978, S. 158) genügen und hatten sich in einer
Voruntersuchung mit 400 "undergraduates" als brauchbar erwiesen.
In einer Hauptkomponentenanalyse der ATR (N = 1448) identifizierte Feild acht
interpretierbare Faktoren: woman's responsibility in rape prevention (z.B. "A raped woman is
a responsible victim, not an innocent one"); sex as motivation for rape (z.B. "The reason most
rapists commit rape is for sex"); severe punishment for rape (z.B. "A convicted rapist should be
castrated"); victim precipitation of rape (z.B. "In forcible rape, the victim never causes the crime"
n negativ gepolt); normality of rapists (z.B. "All rapists are mentally sick" n negativ gepolt);
power as motivation for rape (z.B. "all rape is a male exercise in power over women"); favorable
perception of a woman after rape (z.B. "A raped woman is a less desirable woman" n negativ
gepolt); und resistance as woman's role during rape (z.B. "During a rape, a woman should do
everything she can to resist"). Nach Feild lassen sich fünf dieser Faktoren als "pro-rape attitudes"
oder "anti-rape attitudes" charakterisieren, d.h. als Einstellungen, die Vergewaltigung
rechtfertigen bzw. verdammen; drei Faktoren (sex as motivation for rape, normality of rapists
und power as motivation for rape) entziehen sich einer solchen Einordnung.
Diese Schwierigkeit der Zuordnung von Items zu einer generellen Bewertungsdimension
sowie ein Blick auf die angeführten Beispielitems verdeutlichen, daß nicht alle Inhalte der ATR
mit dem funktionalen Aspekt unserer Definition von VM im Einklang stehen. Die meisten Items
bereiten jedoch keine derartigen Probleme; darüber hinaus sind sie eindeutiger, allgemeiner und
weniger umgangssprachlich formuliert als die Items der RMAS.
2.4.3
Weitere Skalen
Die veröffentlichten VMA-Skalen sind zu zahlreich, um sie hier erschöpfend zu behandeln;
einen brauchbaren Überblick geben Lonsway und Fitzgerald (1994). Eine eingehende
Behandlung ist auch insofern unnötig, als in der Regel eine große inhaltliche Überlappung mit
30
Kapitel 2
Burts (1991) Klassifikationsvorschlag besteht. Die meisten Skalen betonen Einstellungen
gegenüber den Opfern einer Vergewaltigung. In einigen Fällen wird zusätzlich die Rolle
gesellschaftlicher Bedingungen berücksichtigt, z.B. bei Gilmartin-Zena (1987) und Resick und
Jackson (1981; s.a. Ward, 1995, Appendix B, S. 199). Während das Vorgehen bei der
Formulierung der Items in den meisten verfügbaren Arbeiten unklar bleibt, lag der
Itemformulierung für einige Skalen, wie schon in Abschnitt 2.2.2 erwähnt, eine a-prioriKategorisierung von VM zugrunde. Allerdings führt auch ein derartiges Vorgehen in der Regel
zu relativ eindimensionalen Skalen, wie zum Beispiel bei der "Attitudes Toward Rape Victim
Scale" (ARVS; Ward, 1988). Ward benutzte bei der Konstruktion dieser Skala eine a-prioriKlassifikation von VM in vier Kategorien, liefert jedoch keine genauen Informationen über die
empirische Unterscheidbarkeit dieser Kategorien. Sie berichtet vielmehr, daß die ARVS
"essentially unidimensional" sei, wobei ein dominanter Faktor ca. 25% der Varianz erklärt
(Ward, 1995, S. 202).
Einige Skalen beziehen sich auf spezielle Phänomene wie "acquaintance rape" (Giarusso,
Johnson, Goodchilds & Zellman; beschrieben in Fischer, 1986, 1987) oder auf spezifische
Aspekte von VM wie etwa die Verantwortungszuschreibung (z.B. die "Attribution of Rape
Blame Scale"; Resick & Jackson, 1981). Die letztere Skala wird in der Überblicksarbeit von
Lonsway und Fitzgerald (1994) als VMA-Skala aufgelistet. Allerdings erfüllt nur ein Teil der
Items unsere Definitionskriterien für VM, andere lassen sich nur schwer zuordnen (z.B.
"Hitchhiking by women increases the likelihood that they will be raped" lädt positiv auf dem
"assailant blame"-Faktor, ist aber möglicherweise empirisch wahr [s. Abel, 1986] und ambivalent
hinsichtlich der Verantwortungszuschreibung).
2.5 Zur Verbreitung von Vergewaltigungsmythen
Bevor ich im folgenden Kapitel eine deutschsprachige VMA-Skala vorstelle, will ich noch
die Frage der Verbreitung von VMA anschneiden. Zu diesem Aspekt müssen im Rahmen dieser
Arbeit einige Hinweise genügen.
2.5.1
Daten aus allgemeinen Bevölkerungsstichproben
Die Akzeptanz von Vergewaltigungsmythen in der allgemeinen Bevölkerung wurde in den
U.S.A. vor allem von Burt (1980) und Feild (1978) untersucht. Burt berichtet über Interviews mit
einer Zufallsstichprobe erwachsener EinwohnerInnen des Staates Minnesota (N = 598;
Durchschnittsalter 42 Jahre; 60% Frauen). Obwohl das Hauptziel der Arbeit in der Bestimmung
von Korrelaten der VMA bestand, lassen sich ihr doch einige Aussagen zum Ausmaß der
Zustimmung zu solchen Mythen entnehmen. Nach Burts Angaben haben die Werte der RMAS
eine mögliche Spannweite von 19 (= maximale Zustimmung) bis 117 (= maximale Ablehnung).
Der für die Gesamtstichprobe berichtete Mittelwert von 49.4 liegt deutlich im
Zustimmungsbereich, und zwar um annähernd zwei Standardabweichungen (s = 11.9) von der
Skalenmitte (68) entfernt. Die Autorin merkt außerdem an, daß mehr als 50% der Befragten
annahmen, daß über die Hälfte der angezeigten Vergewaltigungen Falschanschuldigungen seien;
daß eine Frau, die sich beim ersten Treffen mit einem Mann in dessen Wohnung begibt, dadurch
Vergewaltigungsmythen: Definition, Funktion, Messung, Verbreitung 31
ihr Einverständnis mit sexuellen Handlungen signalisiere; daß in der Mehrzahl der
Vergewaltigungsfälle das Opfer einen "schlechten Ruf" habe. Sie schließt daraus, daß "the world
is indeed not a safe place for rape victims" (Burt, 1980, S. 229).
Feild (1978) führte um etwa dieselbe Zeit in den USA eine schriftliche Befragung durch.
Seine Stichprobe bestand aus N = 1448 Personen; davon waren 1056 EinwohnerInnen einer
mittelgroßen Gemeinde (50% Frauen), 254 Polizei-StreifenbeamtInnen, 20 in psychiatrischer
Verwahrung befindliche Vergewaltiger und 118 Beraterinnen aus VergewaltigungsKriseninterventionszentren. Feild berichtet Itemmittelwerte für diese Gesamtstichprobe (Skala
von 1, maximale Zustimmung, bis 6, maximale Ablehnung). Betrachtet man nur die 22 Items der
"Attitudes Toward Rape"-Skala, die Feild als "pro-rape" bzw. "anti-rape" einstuft, so finden sich
Mittelwerte im mythenkonformen Bereich (d.h. im zustimmenden Bereich bei "pro-rape"-Items
und im ablehnenden Bereich bei "anti-rape"-Items) für 7 Items. Allerdings sind einige der Items,
die sich auf die angemessene Bestrafung für einen Vergewaltiger beziehen, sehr drastisch
formuliert, so daß man diesen Befund vorsichtig interpretieren sollte (z.B. lehnten die Befragten
im Mittel die Aussage ab, daß ein verurteilter Vergewaltiger kastriert werden solle n diese
Ablehnung als "pro-rape" zu klassifizieren, d.h. als Zustimmung zu täterentlastenden Mythen,
erscheint zumindest zweifelhaft). Die Befragten stimmten im Mittel aber auch den Aussagen zu,
daß "Frauen durch ihre äußere Erscheinung oder ihr Verhalten Vergewaltigung provozieren"
(M = 3.37), und daß "eine Frau sich nach einer Vergewaltigung schuldig fühlen sollte" (M =
2.05).
Unter den korrelativen Befunden der beiden Studien von Burt (1980) und Feild (1978) ist
vor allem erwähnenswert, daß Frauen Mythen im allgemeinen weniger zustimmten als Männer,
und daß die Ausprägung der VMA jeweils mit konservativeren Einstellungen gegenüber den
Rechten von Frauen einherging. Burt berichtet darüber hinaus positive Korrelationen zwischen
der VMA und der Bejahung interpersoneller Gewalt sowie zwischen der VMA und "feindseligen
Einstellungen im Bereich der Sexualität". Durch die starke inhaltliche Überlappung der
jeweiligen Skalen mit der RMAS werden die beiden letztgenannten Befunde allerdings
trivialisiert n zum Teil sprechen die gewalt- und sexualitätsbezogenen Skalen Inhalte an, die
unmittelbar als Vergewaltigungsmythen zu charakterisieren sind (s.a. Lonsway & Fitzgerald,
1994, 1995).
Daten aus der Bundesrepublik Deutschland bietet die bereits erwähnte Bevölkerungsumfrage
von Weis (1982). Es handelt sich um eine schriftliche Befragung einer repräsentativen Stichprobe
aus dem Stadtverband Saarbrücken (N = 448; 50.2% Frauen). Weis erfaßte sowohl allgemeine
Einstellungen und Meinungen, die der hier vorgestellten Definition von VM entsprechen, als
auch Beurteilungen konkreter Szenarien im Hinblick auf die Definition als Vergewaltigung und
die Mitverantwortung der Frau. Aus der Fülle der Ergebnisse können hier nur einige wenige,
bemerkenswerte Aspekte herausgegriffen werden. Insgesamt ist in dieser Ende der siebziger
Jahre durchgeführten Befragung die Opferfeindlichkeit, die sich in vielen Antworten ausdrückt,
erschreckend hoch. Zum Beispiel beurteilten nur 11.1% der Befragten ein Szenario eindeutig als
Vergewaltigung, in dem die Frau zunächst in penil-vaginalen Verkehr einwilligt, während des
Verkehrs den Mann aber mehrfach auffordert aufzuhören, was dieser jedoch ignoriert. Selbst in
32
Kapitel 2
einer Variante dieses Szenarios, in der die Frau sich außer ihren eindeutigen verbalen
Äußerungen heftig wehrt und der Mann sie schlägt und festhält, um den Verkehr fortsetzen zu
können, steigt der Anteil der Befragten, die dies für eine eindeutige Vergewaltigung halten, nur
auf 46.4%. Bei allgemeinen Einstellungsfragen zu Vergewaltigung stimmten 70.7% der Aussage
zu, daß "man bei einer Vergewaltigung das Verhalten des Mannes entschuldigen" könne, "wenn
eine Frau sich erst mit dem Geschlechtsverkehr einverstanden erklärt, dann aber doch nicht will".
Eine deutliche Mehrheit stimmte jeweils auch den Aussagen zu, daß "Männer .. meistens eine
Vergewaltigung [begehen], weil ihr Sexualtrieb übermächtig ist", daß "Männer, die von Frauen
enttäuscht worden sind, .. die gewaltsame Eroberung einer Frau als eigentliche Genugtuung für
das empfundene Unrecht [erleben]", und daß "Frauen, die sich aufreizend kleiden, Männer zur
Vergewaltigung provozieren".
Auch in Weis' (1982) Daten zeigen sich deutliche Zusammenhänge zwischen stereotypen
opferfeindlichen Vorstellungen einerseits und allgemein frauenfeindlichen Einstellungen,
positiven Einstellungen zu Gewalt, rigiden Einstellungen zur Sexualität sowie einer rigiden
Orientierung an "Recht und Ordnung" andererseits. Die entsprechenden Zusammenhänge werden
überzeugender belegt als in der Studie von Burt (1980), da Weis zur Erfassung der Einstellungen
zu Gewalt etc. Items verwendet, die keine inhaltliche Überlappung mit Vergewaltigungsmythen
aufweisen. Überraschenderweise berichtet Weis von Geschlechtsunterschieden, deren Richtung
dem allgemeinen Trend der Forschungsergebnisse widerspricht. Obwohl insgesamt meist keine
oder nur geringe Geschlechtsunterschiede auftraten, stimmten doch die befragten Frauen einigen
opferfeindlichen Aussagen stärker zu als die Männer. Ich komme auf diesen Punkt in Abschnitt
3.2.3 zurück.
2.5.2
Vergewaltigungsmythen in Viktimologie, Strafverfolgung und Rechtsprechung
Zum Abschluß dieses Kapitels sei noch angemerkt, daß VM nicht nur unter der allgemeinen
Bevölkerung weit verbreitet sind, sondern auch unter ExpertInnen. Beispielsweise zeigt sich eine
klar opferfeindliche Perspektive als Teil des wissenschaftlichen Diskurses in Standardwerken der
Viktimologie (Amir, 1971; Schneider, 1975). Eine vorzügliche Diskussion und Kritik dieser
Positionen findet sich u.a. bei Weis (1982, S. 17-22).
Sehr konkrete Auswirkungen können stereotype und opferfeindliche Vorstellungen zeigen,
wenn sie bei der Bearbeitung von Vergewaltigungsfällen in die Handlungsfreiräume der
RepräsentantInnen der "formellen Sozialkontrolle" (also Polizei, Staatsanwaltschaft, Gerichte)
einfließen. In einer umfassenden Analyse von Befragungsdaten und von Gerichtsakten kommt
Abel (1986) zu dem Schluß, daß Geschlechtsstereotypen, die nach unserer Definition z.T. als VM
einzustufen sind, auf alle Stufen des Bekanntwerdens und der Verfolgung eines sexuellen
Gewaltdelikts Einfluß nehmen, nämlich auf das Anzeigeverhalten, auf das Verhalten der Polizei,
auf die Frage, ob Anklage erhoben wird, auf den Verlauf der Gerichtsverhandlung, die
Wahrscheinlichkeit der Verurteilung eines Tatverdächtigen und im Falle einer Verurteilung
letztlich auf die Strafzumessung und die Höhe der Entschädigung des Opfers.
Empirische Arbeiten aus der Dunkelfeldforschung kommen zu dem Ergebnis, daß in der
Bundesrepublik Deutschland die überwiegende Mehrzahl der Vergewaltigungen und sexuellen
Vergewaltigungsmythen: Definition, Funktion, Messung, Verbreitung 33
Nötigungsdelikte gegen Frauen über 14 Jahre nicht angezeigt werden (71% nach Ergebnissen von
Weis, 1982; 95% nach Schätzungen von Degler, 1981; zum Überblick s. Abel, 1986, S. 13-25).
Erfolgt eine Anzeige, so scheint die Behandlung des Opfers durch die Polizei um so reservierter
und negativer zu sein, je eher sich für die berichtete Vergewaltigung mythenkonforme
Entschuldigungen finden lassen (Holmstrom & Burgess, 1978). Zum Teil verhalten sich
Beamtinnen gegenüber dem deklarierten Opfer mißtrauischer und distanzierter als Beamte (Abel,
1986, S. 32-33), was Henry und Beyer (1985) als eine Strategie der Angstabwehr interpretieren.
Frappierend sind auch inhaltsanalytische Befunde von Abel (1986), die aufzeigen, daß in die
schriftlichen Urteilsbegründungen deutscher Gerichtsurteile zu Fällen der Vergewaltigung und
der sexuellen Nötigung in hohem Maße geschlechtsbezogene und opferfeindliche Stereotypen
einfließen. Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, auf Einzelheiten der Befunde in diesem
Bereich einzugehen. Die angeführten Beispiele mögen genügen, um deutlich zu machen, daß
stereotype, mythenkonforme Beurteilungen sexueller Gewalt weit verbreitet sind und
Entscheidungen beeinflussen können, die für betroffene Frauen und ihr soziales Umfeld
nachhaltige Bedeutung haben.
34
Kapitel 3
3
Entwicklung und Validierung einer deutschsprachigen Skala zur Erfassung der
Vergewaltigungsmythenakzeptanz (VMA-Skala, VMAS)
Um Vergewaltigungsmythen im deutschsprachigen Raum zu untersuchen, war es notwendig,
ein reliables und valides Meßinstrument der Mythenakzeptanz zu entwickeln. In diesem Kapitel
wird die deutsche Adaptation einer Skala von Costin (1985) vorgestellt, die unter Mitwirkung
des Autors erstmals von Costin und Schwarz (1987) eingesetzt und später in einer Serie von
Untersuchungen weiterentwickelt und validiert wurde (Bohner et al., 1993, 1996; Bohner, Effler
et al., 1995; Bohner, Hübner, Karrer & Metz, 1994; Bohner, Reinhard & Kerschbaum, 1995;
Herberg, Ayata, Kaffanke, Klingemann, Potgeter & Bohner, 1995; Herberg, Klingemann,
Potgeter, Litters & Bohner, 1996; Sturm & Bohner, 1995; Sturm et al., 1995). Die folgenden
Abschnitte geben Auskunft über die Ergebnisse von Skalenanalysen, über
Geschlechtsunterschiede sowie über korrelative Befunde zur Konstruktvalidität.
3.1 Die Items der deutschen VMA-Skala
Unsere VMA-Skala (VMAS) basiert auf der "R scale" von Costin (1985), die aus dem
Englischen auch in andere Sprachen übersetzt worden war und sich bereits in mehreren Studien
als reliabel erwiesen hatte. Tabelle 3.1 zeigt die englischen Original-Items und deren deutsche
Übersetzung in der Form, wie sie von Costin und Schwarz (1987) benutzt wurde. Die
Konstruktvalidität der Skala war bisher ausschließlich in korrelativen Studien überprüft worden,
in denen ProbandInnen neben der "R scale" auch eine Skala zur normativen
Geschlechtsrollenorientierung ausfüllten ("W scale"; Itembeispiel: "Women should worry less
about their rights and more about becoming good wives and mothers"; Costin, 1985, S. 322) .
Dabei zeigte sich konsistent, daß Personen, die Vergewaltigungsmythen eher zustimmten, für
Frauen auch eher traditionelle und untergeordnete Rollen befürworteten und ihnen
eingeschränkte Rechte zubilligten (Costin & Schwarz, 1987; Costin & Kaptanolu, 1993; s.a.
Abschnitt 3.3.1.1).
Entwicklung und Validierung der VMA-Skala 35
Tabelle 3.1 Items der deutschen VMAS und der englischen Originalskala ("R scale"; Costin,
1985)
Items der VMASa
Englische Original-Items
(Costin, 1985)
1. Um Männer vor ungerechtfertigten Vorwürfen zu
schützen, sollte man bei Vergewaltigungsklagen nur
möglichst schwerwiegende Beweise zulassen.
1. In order to protect the male it should be
difficult to prove that a rape has occurred.
*2. Bei einer Vergewaltigung unter Anwendung von Gewalt
*20. In forcible rape the victim never causes
ist niemals das Opfer Ursache des Verbrechens.b
the crime.
3. Die meisten Frauen, die behaupten, sie seien von einem
13. Most women who claim they were raped
Bekannten vergewaltigt worden, haben vermutlich zuerst
by a man they knew probably consented at
eingewilligt und es sich nachher anders überlegt.
the time and then changed their mind
afterward.
*4. Frauen werden durch die traditionellen
Geschlechtsrollen in unserer Gesellschaft zu
Vergewaltigungsopfern gemacht.
*2. Women are conditioned by sexist
attitudes in our society to be rape victims.
*5. Wenn ein Beischlaf durch finanzielle Drohungen *18. Economic threats (for example, an
erzwungen wird (z.B. wenn eine Angestellte mit dem Verlust
employee threatened with the loss of her
ihres Arbeitsplatzes bedroht wird, falls sie sich weigert,job
mitif she does't have sex with her boss)
ihrem Chef zu schlafen), sollte das rechtlich wie die should be treated legally on an equal basis
Androhung körperlicher Gewalt behandelt werden.
with threats of force in cases of rape.
6. Die meisten Anzeigen wegen Vergewaltigung sind 3. Most charges of rape are unfounded.
unbegründet.
7. Im allgemeinen sind die Opfer einer Vergewaltigung4. In general, rape victims exhibit more
durch ihr provokatives Verhalten eher dafür verantwortlich,
provocative behavior than victims of other
was mit ihnen geschieht, als die Opfer anderer Verbrechen.
kinds of violent crime.
8. In einer Ehe kann es keine Vergewaltigung durch den
16. Within a marriage there can be no such
Ehemann geben, da die Einwilligung zum Beischlaf eincrime as rape by a husband, since a wife's
ständiger Bestandteil des Eheversprechens ist und nicht
"consent" to the husband is a permanent
zurückgenommen werden kann.
part of the marriage vows and cannot be
withdrawn.
9. Die meisten Vergewaltiger haben einen ausgeprägten
5. Most rapists are oversexed.
Sexualtrieb.
10. Eigentlich wünschen sich viele Frauen, vergewaltigt6.zu
Many women really want to be raped.
werden.
(Fortsetzung auf der folgenden Seite)
36
Kapitel 3
Tabelle 3.1 (Fortsetzung)
Items der VMASa
Englische Original-Items
(Costin, 1985)
*11.Das grundlegende Motiv eines Vergewaltigers besteht
*7. A basic motive of a rapist is not so much
nicht so sehr in der sexuellen Befriedigung, sondern in sexual
der as it is to humiliate the victim.
Demütigung des Opfers.
12. Keine gesunde erwachsene Frau, die sich energisch
8. zur
No healthy adult female who resists
Wehr setzt, kann von einem unbewaffneten Mann
vigorously can be raped by an unarmed
vergewaltigt werden.
man.
13. Oft fordern Frauen eine Vergewaltigung durch ihre 9. Women often provoke rape through their
äußerliche Erscheinung oder ihr Verhalten heraus.
appearance or behavior.
*14. In einer Gerichtsverhandlung wegen Vergewaltigung
*15. The defense in a rape trial should not
sollte es der Verteidigung nicht erlaubt sein, das sexuelle
be able to submit as evidence the sexual
Vorleben des mutmaßlichen Opfers zur Sprache zu bringen,
history of the alleged victim, unless it
es sei denn, es hat direkt mit dem Fall zu tun.c
pertains directly to the case.
15. Wenn eine Anzeige wegen Vergewaltigung erst zwei
10. A charge of rape two days after the act
Tage nach der Tat erfolgt, handelt es sich vermutlich nicht
has occurred is probably not rape.
um eine Vergewaltigung.
*16. Eine vergewaltigte Frau ist ein unschuldiges Opfer*14.
undA raped woman is an innocent victim,
trägt keine Verantwortung.
not a responsible one.
17. Jede Frau, die einen Mann "anmacht", ohne die 11. Any woman who is a "tease" or leads a
geweckten Wünsche zu erfüllen, legt es geradezu darauf
man on is just asking to be raped.
an, vergewaltigt zu werden.
18. Eine Frau sollte dafür verantwortlich sein, ihrer eigenen
12. A woman should be responsible for
Vergewaltigung vorzubeugen.
preventing her own rape.
*19. Es ist möglich, eine Frau gegen ihren Willen zu
vergewaltigen.d
*19. A woman can be raped against her
will.
20. Wenn eine Frau vergewaltigt wird, kann sie sich
ebensogut entspannen und das Ganze genießen.
17. If a woman is going to be raped, she
might as well relax and enjoy it.
Anm.: Items mit * sind umzupolen. Die Nummern entsprechen der jeweiligen Reihenfolge der
Beantwortung in der englischen und deutschen Version.
a
Die Übersetzung der Items stammt von Norbert Schwarz. Die Skala wurde in dieser
Form von Costin und Schwarz (1987) eingesetzt.
b
Ab Stichprobe 3 wurden die Worte "unter Anwendung von Gewalt" weggelassen.
c
Die Worte "es sei denn, es hat direkt mit dem Fall zu tun" wurden in den von uns
durchgeführten Untersuchungen weggelassen.
d
Ab Stichprobe 2 ersetzt durch "Im Grunde kann jede Frau Opfer einer Vergewaltigung
werden".
Entwicklung und Validierung der VMA-Skala 37
Die "R scale" besteht aus 20 Items, die größtenteils aus der "Attitudes Toward Rape"-Skala
von Feild (1978) übernommen oder adaptiert wurden (Costin, 1985). Alle Items erfüllen die in
Abschnitt 2.1 vorgeschlagene Definition; diesbezüglich problematische Items der Skala von Feild
sind nicht mehr enthalten. Eine von Costin durchgeführte Faktorenanalyse der 20 Items (N = 762)
nach der Hauptachsenmethode ergab drei Faktoren, die folgendermaßen etikettiert wurden:
1. Verantwortlichkeit für bzw. Verursachung von Vergewaltigung durch Frauen: Items 4, 6, 9,
11, 12, 14, 15, 20 (s. Tabelle 3.1, linke Spalte); 2. Rolle der Einwilligung bei Vergewaltigung:
Items 2, 8, 10, 13, 16, 17, 19; 3. Rolle und Motivation des Vergewaltigers: Items 1, 3, 5, 7, 18
(Costin, 1985, S. 321). Allerdings war der erste dieser Faktoren klar dominant, und die Faktoren
waren paarweise positiv miteinander korreliert, so daß man insgesamt von einer relativ
homogenen Skala sprechen kann. Auch für die deutsche Skala ergaben
Hauptkomponentenanalysen, die an verschiedenen Stichproben durchgeführt wurden, nach dem
scree-Test (Cattell, 1966) ebenfalls jeweils einen dominanten Faktor, der etwa ein Viertel der
Gesamtvarianz aufklärte. Die deutsche VMAS läßt somit als unidimensional betrachten.
Ausführlichere Skalenanalysen werden unten in den Abschnitten 3.2.1 und 3.2.2 berichtet.
3.2 Skalenkennwerte und Geschlechtsunterschiede
Im Anschluß an die Arbeit von Costin und Schwarz (1987) wurde die Skala inzwischen in
unabhängigen Untersuchungen mit 13 Stichproben eingesetzt und weiterentwickelt (Gesamt-N =
1184; Bohner et al., 1993, 1996; Bohner, Effler et al., 1995; Bohner, Hübner et al., 1994; Bohner,
Reinhard & Kerschbaum, 1995; Bohner, Reinhard & Wänke, 1994; Bohner & Sturm, 1995;
Herberg et al., 1995, 1996; Sturm & Bohner, 1995, 1996; Sturm et al., 1995). Um die
Durchführungsökonomie zu erhöhen, erprobten wir an fünf dieser Stichproben eine auf 10 Items
verkürzte Skala, welche die (ggf. modifizierten; s.u.) Items 1, 2, 3, 4, 9, 11, 13, 14, 16 und 18 der
Langversion enthielt.
3.2.1 Skalenanalysen der VMA-Skala
Costin und Schwarz (1987) berichten Spearman-Brown-Reliabilitäten von R = .67 bis .80
für die von ihnen untersuchten 19 Stichproben (Studierende, Krankenschwestern, Polizisten,
Lehrer, Lehrerinnen, andere Berufstätige) aus vier Ländern (U.S.A., England, Israel, alte
BR Deutschland). In allen Stichproben berichteten Männer höhere Mythenakzeptanz als Frauen
(Mittelwerte der Männer zwischen 52.0 und 60.0; Mittelwerte der Frauen zwischen 45.1 und
49.8; Summenwert aus 20 Items mit Antwortskala von 1 bis 6: mögliche Spannweite von 20 bis
120). In der deutschen Stichprobe zeigte sich für Studentinnen (N = 65) ein Mittelwert von
M = 46.8 (s = 11.4), für Studenten (N = 88) ein Mittelwert von M = 57.2 (s = 12.5). Diese
Differenz von etwa 0.9 Standardabweichungen ist typisch für die Unterschiede in allen von
Costin und Schwarz (1987) untersuchten Stichproben (s.a. Costin & Kaptanolu, 1993, für eine
38
Kapitel 3
Replikation mit türkischen Befragten).
Einen Überblick über die 13 Stichproben der im Anschluß an Costin und Schwarz (1987)
in Deutschland durchgeführten Untersuchungen gibt Tabelle 3.2. Die meisten dieser
Untersuchungen dienten vorrangig der Überprüfung spezifischer Hypothesen zur kognitiven
Funktion von Vergewaltigungsmythen. Diese Experimente werden in späteren Abschnitten
dargestellt; hier sollen zunächst die Fragen der testtheoretischen Reliabilität und der
Geschlechtsunterschiede im Vordergrund stehen. Wie Tabelle 3.2 zu entnehmen ist, ist die
interne Konsistenz der VMAS mit Werten von Cronbachs Alpha zumeist im Bereich von .70 bis
.80 befriedigend bis gut; die Kurzskala weist eine annähernd gleich hohe interne Konsistenz auf
wie die Langversion. Lediglich in Stichprobe 6 fiel Cronbachs Alpha mit .54 eindeutig niedriger
aus als in den übrigen Studien, was durch die geringe Streuung der Skalenwerte in dieser
Stichprobe mitbedingt sein mag (Cronbach, 1951; s. Abschnitt 3.2.2).
Das Ausmaß der Zustimmung zu den einzelnen Items lag im Mittel immer in derjenigen
Hälfte der Skala, welche eine Ablehnung der Mythen repräsentiert. Insgesamt scheint die
Ablehnung der Mythen bei Studierenden stärker ausgeprägt als bei Auszubildenden; allerdings
wurde in fast allen Stichproben eine recht große Variationsbreite der individuellen Skalenwerte
ermittelt. Zur Veranschaulichung dieser Unterschiede und der Einflüsse der Modifikation
einzelner Items werden nachfolgend die Skalenanalysen für die Stichproben 1 bis 3 ausführlicher
dargestellt; dann folgen die entsprechenden Ergebnisse der weiteren Stichproben im Überblick.
Entwicklung und Validierung der VMA-Skala 39
Tabelle 3.2 Beschreibung der Stichproben, die die deutsche VMA-Skala ausfüllten
Beschreibung der Stichprobe und
zugehörige Untersuchung a
Skalenversion
"
1
Mannheim er Auszubildende (N = 113; 49 w,
64 m ); Bohner et al. (1993, Exp. 1);
6.3
20 Item s; Item 14 gegenüber
Costin & Schwarz m odifiziert
.77
2
Heidelberger Auszubildende (N = 102; alle w);
Sturm & Bohner (1995);
3.3.1.4 bis 3.3.1.6
20 Item s; wie Stichprobe 1,
aber Item 19 neu form uliert
.77
3
Mannheim er Studierende (N = 70; 36 w, 34 m );
Bohner, Reinhard & W änke (1994)
20 Item s; wie Stichprobe 2,
aber Item 2 m odifiziert
.81
4
Mannheim er Studenten (N = 125; alle m );
Bohner, Reinhard & Kerschbaum (1995);
20 Item s; wie Stichprobe 3
.77
Nr.
5.2
5
Mannheim er Studierende (N = 88; 44 w, 44 m );
Reinhard et al. (1994)
8.1.1
10 Item -Kurzskala
(s. Abschn. 3.2.2)
.71
6
Mannheim er Studierende (N = 67; 29 w, 38 m );
Herberg, Ayata, Klingem ann, Potgeter &
Bohner (1995);
3.3.2.2 u. 4.2
10 Item -Kurzskala
.54
7
Mannheim er Studenten (N = 60; alle m );
Bohner, Hübner, Karrer & Metz (1994); 3.3.2.1
10 Item -Kurzskala
.72
8
Mannheim er Studentinnen (N = 62; alle w);
Sturm et al. (1995)
8.1 u. 8.2
10 Item -Kurzskala
.65
9
Mannheim er Studierende (N = 157; 79 w,
78 m ); Bohner, Effler, Linke & Schm elcher
(1995)
8.1 u. 8.2
10 Item -Kurzskala
.61
10
Mannheim er Studentinnen (N = 68; alle w);
Bohner & Sturm (1995)
3.3.1.5
20 Item s, wie Stichprobe 3
.75
11
Heidelberger Studentinnen (N = 100; alle w);
Bohner & Sturm (1995)
3.3.1.5
20 Item s, wie Stichprobe 3
.65
12
BenutzerInnen der Mannheim er Stadtbücherei
(N = 102; 52 w, 50 m ); Herberg, Klingem ann,
Potgeter, Litters & Bohner (1996);
3.3.2.2, 4.3 u. 8.3
20 Item s, wie Stichprobe 3
.80
13
Mannheim er Studierende (N = 70; 45 w, 25 m );
Sturm & Bohner (1996)
3.3.1.1 u. 8.2
20 Item s, wie Stichprobe 3
.83
(r tt = .81)
Anm.: " = Cronbachs Alpha; w = weiblich, m = männlich; rtt = Test-Retest-Reliabilität über
drei Wochen (N = 58).
a
Die fettgedruckten Nummern am Ende der Einträge verweisen ggf. jeweils auf die
Abschnitte dieser Arbeit, in denen über die entsprechende Untersuchung ausführlich
berichtet wird.
40
Kapitel 3
Stichprobe 1
Bei der Untersuchung von Stichprobe 1 wurde die Skala fast unverändert von Costin und
Schwarz (1987) übernommen. Lediglich bei Item 14 wurde der Zusatz "es sei denn, es hat direkt
mit dem Fall zu tun" weggelassen, um Mehrdeutigkeit zu vermeiden. Diese Skala füllten 113
Mannheimer Berufsschülerinnen und Berufsschüler am Ende einer experimentellen Sitzung aus
(Bohner, Weisbrod et al., 1993, Exp. 1; s.a. Weisbrod, 1991; u. Kapitel 6). Zur Wahrung der
Konsistenz mit anderen in diesem Experiment verwendeten Skalen wurde eine Antwortskala von
1 bis 7 vorgegeben; die einzelnen Antwortalternativen trugen die Bezeichnungen:
- "vollkommen unzutreffend" (1),
- "ziemlich unzutreffend" (2),
- "eher unzutreffend" (3),
- "wedernnoch" (4),
- "eher zutreffend" (5),
- "ziemlich zutreffend" (6),
- "vollkommen zutreffend" (7).
(Diese 7-Punkte-Skalierung wurde auch in den Folgestudien beibehalten.) Die Stichprobe
bestand aus 49 Frauen und 64 Männern im Alter zwischen 15 und 24 Jahren (M = 18.5). Die
Frauen befanden sich fast alle (bis auf zwei) in der Ausbildung zur Technischen Zeichnerin, die
Männer waren fast alle (bis auf sechs) in der Ausbildung zum Industriemechaniker.
Für jedes Item wurden der Mittelwert, die Standardabweichung und die Trennschärfe ("partwhole"-korrigierte Item-Test-Korrelation rit) berechnet; für die Gesamtskala der Mittelwert, die
Standardabweichung sowie Cronbachs Alpha ("; Cronbach, 1951). Zur besseren
Vergleichbarkeit wurde als Gesamtskalenwert der Mittelwert aus allen 20 Items berechnet, so daß
Werte zwischen 1 und 7 auftreten können. Die wichtigsten Ergebnisse der Skalenanalyse sind
in Tabelle 3.3 dargestellt. In dieser Studie reichten die individuellen Skalenwerte von 1.32 bis
6.05, also von klarer Ablehnung bis zu eindeutiger Akzeptanz der Mythen; die mittleren 50% der
Verteilung lagen zwischen 2.65 und 3.65. Die interne Konsistenz war mit " = .77
zufriedenstellend; allerdings trugen einige Items nur wenig zur Konsistenz der Skala bei;
besonders problematisch war die negative Item-Test-Korrelation des Items 19. Eine
Hauptkomponentenanalyse (HKA) ergab einen dominanten Faktor, der durch die Items 3, 6, 7,
8, 10, 15 und 20 markiert wurde, also sowohl Items, die bei Costin (1985) auf dem ersten Faktor
"Verantwortlichkeit / Verursachung durch Frauen" luden, als auch solche, die bei Costin den
zweiten Faktor "Rolle der Einwilligung" ausmachten (Eigenwerte der ersten vier Faktoren: 4.90;
1.68; 1.50; 1.36; entsprechend einer Varianzaufklärung von 24.5%; 8.4%; 7.5%; 6.8%).
Entwicklung und Validierung der VMA-Skala 41
Tabelle 3.3 Item- und Skalenkennwerte der deutschen VMAS
(Stichprobe 1: Mannheimer Auszubildende; N = 113)
sa
Ma
Item-Nr. u. Kurzbezeichnung
ritb
1. Nur schwerwiegende Beweise zulassen
2.93
1.70
.26
2. Opfer ist niemals Ursache*
3.40
2.03
.14
3. Vergewaltigungsvorwurf als Schutzbehauptung
3.57
1.64
.54
4. Vergewaltigung als Ergebnis traditioneller Geschlechtsrollen*
2.88
1.48
.09
5. Finanzielle Drohung wie Gewalt behandeln*
1.96
1.35
.22
6. Meiste Anzeigen unbegründet
2.96
1.64
.31
7. Provokatives Verhalten
3.75
1.84
.62
8. Vergewaltigung in der Ehe nicht möglich
2.64
1.80
.46
9. Vergewaltiger haben ausgeprägten Sexualtrieb
4.99
1.61
.23
10. Wunsch nach Vergewaltigung
2.26
1.52
.53
11. Motiv Demütigung*
3.62
1.58
.20
12. Frau, die sich wehrt, kann nicht vergewaltigt werden
2.85
1.72
.31
13. Frauen fordern Vergewaltigung heraus
4.16
1.83
.58
14. Sexuelles Vorleben des Opfers irrelevant*
2.50
1.45
.38
15. Späte Anzeige als Indiz gegen Vergewaltigung
2.84
1.75
.48
16. Vergewaltigte Frau ist unschuldiges Opfer*
3.71
1.68
.34
17. Frau, die Mann "anmacht", legt es auf Vergewaltigung an
3.76
1.59
.37
18. Frau verantwortlich für Vorbeugung
3.96
1.90
.23
19. Es ist möglich, eine Frau zu vergewaltigen*
2.32
1.87
-.01
20. Opfer kann Vergewaltigung genießen
2.03
1.66
.46
Gesamtskala
3.15
0.77
Cronbachs Alphab
.77
Anm.: Items mit * wurden vor Berechnung der Statistiken umgepolt.
M = Mittelwert (mögl. Spannweite von 1, max. Ablehnung, bis 7, max. Zustimmung);
s = Standardabweichung; rit = "part-whole"-korrigierte Item-Total-Korrelation.
a
Wegen einzelner fehlender Werte beruhen die Mittelwerte und Standardabweichungen
auf unterschiedlichem N (110 bis 113).
b
Alle rit sowie Cronbachs Alpha beruhen auf N = 101.
42
Kapitel 3
Stichprobe 2
In Stichprobe 2 wurde Item 19 wegen der tautologischen Formulierung "gegen ihren Willen
zu vergewaltigen" und der in Stichprobe 1 ermittelten unzulänglichen Item-Test-Korrelation
(rit = -.01) ersetzt durch: "19. Im Grunde kann jede Frau Opfer einer Vergewaltigung werden."
Auch dieses Item ist wie das ursprüngliche umzupolen, da eine negative Beantwortung
Zustimmung zu dem Mythos ausdrückt, daß bestimmte Frauen eher zum Opfer "prädestiniert"
sind als andere.
Die so modifizierte VMAS wurde von 102 Heidelberger Berufsschülerinnen ebenfalls am
Ende einer experimentellen Sitzung ausgefüllt (Sturm & Bohner, 1995; s.a. Sturm, 1994). Die
Antwortskala entsprach der bei Stichprobe 1 eingesetzten 7-Punkte-Skala. Die Teilnehmerinnen
befanden sich in der Berufsausbildung zur Zahnarzthelferin (83%), Arzthelferin (16%) oder
Drogistin (1%); ihr Durchschnittsalter betrug 18.6 Jahre. Die Ergebnisse einer Skalenanalyse
zeigt Tabelle 3.4. In dieser Studie reichten die individuellen Skalenwerte von 1.10 bis 4.61; die
mittleren 50% der Verteilung lagen zwischen 2.56 und 3.56. Das neu formulierte Item 19 wies
mit rit = .24 eine höhere Trennschärfe auf als das entsprechende ursprüngliche Item. Die interne
Konsistenz war mit " = .77 wiederum zufriedenstellend; allerdings waren die geringen
Trennschärfen der Items 2, 4 und 9 unbefriedigend. In einer HKA dominierte wiederum ein
Faktor (Eigenwertverlauf 4.97; 2.02; 1.57; 1.41; Varianzaufklärung 24.9%; 10.1%; 7.9%; 7.1%).
Auf dem ersten Faktor luden am höchsten die Items 7, 8, 10, 12, 15, 19 und 20, also ein Großteil
der Items, die schon in Stichprobe 1 den ersten Faktor gebildet hatten.
Entwicklung und Validierung der VMA-Skala 43
Tabelle 3.4 Item- und Skalenkennwerte der deutschen VMAS
(Stichprobe 2: weibliche Heidelberger Auszubildende; N = 102)
sa
Ma
Item-Nr. u. Kurzbezeichnung
ritb
1. Nur schwerwiegende Beweise zulassen
2.74
1.87
.37
2. Opfer ist niemals Ursache*
3.28
2.07
.09
3. Vergewaltigungsvorwurf als Schutzbehauptung
3.34
1.76
.52
4. Vergewaltigung als Ergebnis traditioneller Geschlechtsrollen*
3.12
1.62
.08
5. Finanzielle Drohung wie Gewalt behandeln*
2.21
1.68
.34
6. Meiste Anzeigen unbegründet
3.25
1.93
.39
7. Provokatives Verhalten
3.33
1.88
.60
8. Vergewaltigung in der Ehe nicht möglich
2.59
1.73
.54
9. Vergewaltiger haben ausgeprägten Sexualtrieb
4.86
1.59
.00
10. Wunsch nach Vergewaltigung
2.07
1.60
.40
11. Motiv Demütigung*
3.43
1.70
.32
12. Frau, die sich wehrt, kann nicht vergewaltigt werden
2.63
1.63
.37
13. Frauen fordern Vergewaltigung heraus
3.93
1.87
.44
14. Sexuelles Vorleben des Opfers irrelevant*
3.40
1.79
.15
15. Späte Anzeige als Indiz gegen Vergewaltigung
2.37
1.58
.33
16. Vergewaltigte Frau ist unschuldiges Opfer*
3.66
1.92
.28
17. Frau, die Mann "anmacht", legt es auf Vergewaltigung an
3.25
1.84
.44
18. Frau verantwortlich für Vorbeugung
4.07
2.11
.28
19. Jede Frau kann Opfer werden*
1.67
1.43
.24
20. Opfer kann Vergewaltigung genießen
1.69
1.39
.50
Gesamtskala
3.04
0.74
Cronbachs Alphab
.77
Anm.: Items mit * wurden vor Berechnung der Statistiken umgepolt.
M = Mittelwert (mögl. Spannweite von 1, max. Ablehnung, bis 7, max. Zustimmung);
s = Standardabweichung; rit = "part-whole"-korrigierte Item-Total-Korrelation.
a
Wegen einzelner fehlender Werte beruhen die Mittelwerte und Standardabweichungen
auf unterschiedlichem N (91 bis 98).
b
Alle rit sowie Cronbachs Alpha beruhen auf N = 78.
44
Kapitel 3
Stichprobe 3
Als Teil einer unveröffentlichten Studie (Bohner, Reinhard & Wänke, 1994; Voruntersuchung
zu Reinhard, Bohner & Wänke, 1994) füllten 70 Mannheimer Studierende (36 weiblich, 34
männlich) die VMAS aus. Die Versuchspersonen gehörten verschiedenen Fachrichtungen an,
hauptsächlich Wirtschaftswissenschaften (36%) und Jura (17%); ihr Durchschnittsalter betrug
24.7 Jahre. In dieser und den weiteren Untersuchungen wurden bei Item 2 wegen der redundanten
Formulierung die Worte "unter Anwendung von Gewalt" weggelassen. Tabelle 3.5 zeigt die
Ergebnisse einer Skalenanalyse. In dieser Studie reichten die individuellen Skalenwerte von 1.00
bis 4.58; die mittleren 50% der Verteilung lagen zwischen 1.90 und 2.85. Diese Werte geben schon
einen ersten Hinweis darauf, daß die Ausprägung der VMA bei Studierenden wesentlich geringer
ist als bei Auszubildenden; diese Tendenz bestätigte sich auch in allen folgenden Untersuchungen.
Das modifizierte Item 2 wies eine höhere Trennschärfe auf als seine ursprüngliche Fassung.
Auch für Item 4 ermittelten wir in dieser Untersuchung einen befriedigenden TrennschärfeKoeffizienten. Dies mag darin begründet sein, daß die studentischen Versuchspersonen besser als
die Auszubildenden in den Stichproben 1 und 2 in der Lage waren, den Begriff "traditionelle
Geschlechtsrollen" zu verstehen. Item 9 trug weiterhin am wenigsten zur Reliabilität der
Gesamtskala bei. Die interne Konsistenz war mit " = .81 als gut zu beurteilen. Auch in dieser
Stichprobe ergab eine HKA einen klar dominanten Faktor, der durch die Items 3, 4, 6, 7 und 11
markiert wurde (Eigenwertverlauf 5.01; 1.87; 1.60; 1.34; Varianzaufklärung 25.1%; 9.4%; 8.0%;
6.7%).
In Stichprobe 4, die aus 125 männlichen Studenten der Universität Mannheim bestand (s.
Bohner, Reinhard & Kerschbaum, 1995; Kerschbaum, Reinhard & Bohner, 1995), ergab die
Skalenanalyse im wesentlichen vergleichbare Ergebnisse. Die Trennschärfe-Koeffizienten der
Einzelitems lagen zwischen .07 (Item 5) und .64 (Item 13), die Itemmittelwerte zwischen 1.34
(Item 20) und 4.38 (Item 4), der Gesamtmittelwert für die Skala war mit 2.54 annähernd identisch
mit dem Mittelwert der Männer in Stichprobe 3 (M = 2.57). Die mittleren 50 Prozent der Verteilung
lagen zwischen 2.05 und 2.95. Wiederum ermittelten wir eine zufriedenstellend hohe interne
Konsistenz, " = .77. Eine HKA ergab Eigenwerte der ersten vier Faktoren von 4.43, 1.89, 1.43 und
1.24 (Varianzaufklärung 22.2%; 9.4%; 7.4%; 6.2%).
Entwicklung und Validierung der VMA-Skala 45
Tabelle 3.5 Item- und Skalenkennwerte der deutschen VMAS
(Stichprobe 3: Mannheimer Studierende; N = 70)
Item-Nr. u. Kurzbezeichnung
M
s
rit
1. Nur schwerwiegende Beweise zulassen
2.29
1.51
.36
2. Opfer ist niemals Ursache*
3.20
2.00
.32
3. Vergewaltigungsvorwurf als Schutzbehauptung
2.06
1.46
.49
4. Vergewaltigung als Ergebnis traditioneller Geschlechtsrollen*
4.26
2.10
.48
5. Finanzielle Drohung wie Gewalt behandeln*
1.97
1.79
.28
6. Meiste Anzeigen unbegründet
1.73
1.24
.33
7. Provokatives Verhalten
1.81
1.18
.71
8. Vergewaltigung in der Ehe nicht möglich
1.53
1.32
.26
9. Vergewaltiger haben ausgeprägten Sexualtrieb
4.23
1.93
.13
10. Wunsch nach Vergewaltigung
1.54
0.93
.44
11. Motiv Demütigung*
3.19
1.59
.63
12. Frau, die sich wehrt, kann nicht vergewaltigt werden
2.09
1.52
.24
13. Frauen fordern Vergewaltigung heraus
2.64
1.65
.67
14. Sexuelles Vorleben des Opfers irrelevant*
2.23
1.85
.34
15. Späte Anzeige als Indiz gegen Vergewaltigung
1.37
0.95
.25
16. Vergewaltigte Frau ist unschuldiges Opfer*
3.07
1.97
.37
17. Frau, die Mann "anmacht", legt es auf Vergewaltigung an
1.91
1.18
.55
18. Frau verantwortlich für Vorbeugung
2.71
1.87
.29
19. Jede Frau kann Opfer werden*
1.57
1.12
.43
20. Opfer kann Vergewaltigung genießen
1.09
0.50
.17
Gesamtskala
2.37
0.74
Cronbachs Alpha
.81
Anm.: Items mit * wurden vor Berechnung der Statistiken umgepolt.
M = Mittelwert (mögl. Spannweite von 1, max. Ablehnung, bis 7, max. Zustimmung);
s = Standardabweichung; rit = "part-whole"-korrigierte Item-Total-Korrelation.
Alle Statistiken beruhen auf N = 70.
46
Kapitel 3
Die Stichproben 10 und 11, bei denen ebenfalls die Langversion der Skala zum Einsatz
kam, umfaßten 68 Mannheimer bzw. 100 Heidelberger Studentinnen (Bohner & Sturm, 1995).
Wir fanden in Stichprobe 10 Trennschärfekoeffizienten von .12 (Item 12) bis .55 (Item 6) und
Itemmittelwerte zwischen 1.19 (Item 20) und 4.22 (Item 9). Der Gesamtmittelwert der Skala lag
bei 2.24, was dem entsprechenden Wert der Frauen in Stichprobe 3 (M = 2.16) sehr nahekommt.
Die mittleren 50% der Verteilung lagen zwischen 1.95 und 2.45; die interne Konsistenz war mit
" = .75 erneut befriedigend hoch. Eine HKA ergab Eigenwerte der ersten vier Faktoren von 4.83,
2.59, 1.57 und 1.43 (Varianzaufklärung 24.2%; 12.9%; 7.9%; 7.2%). Der zweite Faktor, der in
dieser Stichprobe noch einen relativ hohen Varianzanteil ausmachte, war durch die Items 2, 14
und 16 markiert, die alle direkt eine potentielle Mitschuld des Opfers ansprechen und auch bei
Costin (1985) auf dem dominanten Faktor luden. Der erste Faktor (Items 6, 8, 10, 12, 15, 19, 20)
beinhaltete dagegen zum großen diejenigen Items, die eine Einwilligung der Frau thematisieren
und auf Costins zweitem Faktor angesiedelt waren.
In Stichprobe 11 wiesen die individuellen Skalenwerte eine außergewöhnlich geringe
Spannweite auf (1.25 bis 3.35). Der Mittelwert lag bei 2.13, die mittleren 50% der Verteilung
zwischen 1.70 und 2.50. Die eingeschränkte Spannweite ist möglicherweise auch eine Ursache
für die relativ niedrige interne Konsistenz (" = .65). Eine HKA ergab einen Eigenwertverlauf von
3.46; 1.64; 1.59; 1.56 (Varianzaufklärung 17.3%; 8.2%; 7.9%; 7.8%).
Stichprobe 12 umfaßte 102 BenutzerInnen der Mannheimer Stadtbücherei (52 Frauen, 50
Männer) im Alter von 14 bis 63 Jahren (Median = 27.0). Von den 90 ProbandInnen, die Angaben
zu ihrem Beruf machten, waren 38 (42.2%) Studierende, 39 (43.3%) Berufstätige und 13 (14.4%)
in der Schul- oder Berufsausbildung (s.a. Herberg et al., 1996). Die individuellen Skalenwerte
reichten von 1.40 bis 4.10, der Mittelwert lag bei 2.31, die mittleren 50% der Verteilung
zwischen 1.85 und 2.75. Die interne Konsistenz war gut, " = .80. Eine separate Analyse mit den
nichtstudentischen Versuchspersonen ergab " = .79. Eine HKA zeigte einen Eigenwertverlauf
von 5.28; 1.87; 1.58; 1.35 (Varianzaufklärung 26.4%; 9.4%; 7.9%; 6.8%).
Stichprobe 13 bestand aus 45 weiblichen und 25 männlichen Studierenden der Universität
Mannheim, die die Langform der VMAS im Rahmen von Lehrveranstaltungen ausfüllten. Die
Trennschärfekoeffizienten der Items variierten zwischen .21 (Item 8) und .78 (Item 13); die
interne Konsistenz war mit " = .83 gut. Die Spannweite der Skalenwerte reichte von 1.20 bis
4.30, der Mittelwert betrug 2.29, der Interquartilbereich reichte von 1.80 bis 2.70. Eine HKA
ergab Eigenwerte der ersten vier Faktoren von 5.48, 1.96, 1.83 und 1.45 (Varianzaufklärung
27.4%; 9.8%; 9.2%; 7.2%).
An Stichprobe 13 ermittelten wir auch die Test-Retest-Reliabilität der Langversion der
VMAS. Die VersuchsteilnehmerInnen wurden nach etwa drei Wochen gebeten, die VMAS
erneut ausfüllen. Die Reihenfolge der Items wurde zwischen den Erhebungszeitpunkten variiert.
Zum zweiten Erhebungszeitpunkt nahmen noch 58 Studierende teil, was einem Schwund von
Entwicklung und Validierung der VMA-Skala 47
17% entspricht. Für diese 58 Studierenden fanden wir eine gute Reliabilität von rtt = .81. Die
individuellen Skalenwerte änderten sich nur geringfügig; bei 84.5% der Teilnehmenden betrug
die Änderung eine halbe Skaleneinheit oder weniger. Der Stichprobenmittelwert blieb für die 58
Personen, die die Skala zweimal ausfüllten, zwischen dem ersten Erhebungszeitpunkt (M = 2.21)
und dem zweiten Erhebungszeitpunkt (M = 2.16) ebenfalls stabil, t(57) = 0.93, ns.
Insgesamt erwies sich die 20-Item-Skala somit als unidimensional, intern konsistent und
reliabel über einen Zeitraum von etwa drei Wochen. Die Schwächen einzelner Items konnten
durch sukzessive kleinere Modifikationen behoben werden.
3.2.2 Überprüfung einer 10-Item-Kurzskala
Um die Akzeptanz von Vergewaltigungsmythen noch ökonomischer erfassen zu können,
bildeten wir aus 10 Items eine Kurzfassung der Skala. Da einige Items der Langversion gerade
in den studentischen Stichproben sehr niedrige Mittelwerte und schiefe Verteilungen aufwiesen,
wählten wir für die Kurzskala solche Items aus, deren Mittelwerte im oberen Bereich lagen und
deren Trennschärfekoeffizienten nicht zu niedrig waren. Dies ergab eine Kurzskala, die aus den
Items 1, 2, 3, 4, 9, 11, 13, 14, 16 und 18 besteht. Item 9 wurde trotz seiner eher geringen
Trennschärfe beibehalten, da es als einziges Item ein zentrales Vorurteil über Vergewaltiger
wiedergibt, das auf die Konstruktion von Vergewaltigung als sexuell motivierte Tat rekurriert
(s. Brownmiller, 1976, S. 193-194) und dem in den bisher berichteten Studien auch die
ProbandInnen tendenziell zustimmten (s. Mittelwerte in Tab. 2.3 bis 2.5). Die 10-Item-Skala
wurde bisher in fünf Untersuchungen eingesetzt. Ihre Items sowie die wichtigsten Statistiken der
Skalenanalysen sind in Tabelle 3.6 zusammenfassend dargestellt. Information über
Stichprobengrößen und -zusammensetzung sowie Literaturhinweise zu den einzelnen Studien
sind Tabelle 3.2 zu entnehmen.
48
Kapitel 3
Tabelle 3.6 Items der VMA-Kurzskala und Übersicht über Statistiken der Skalenanalyse aus den
Stichproben 5 bis 9
Item
M
s
r ita
1. Um M änner vor ungerechtfertigten Vorwürfen zu schützen, sollte m an bei
Vergewaltigungsklagen nur m öglichst schwerwiegende Beweise zulassen.
2.54
1.95 - 3.47
1.56
1.34 - 1.71
.27
.08 - .42
*2. Bei einer Vergewaltigung ist niem als das O pfer U rsache des
Verbrechens.
3.27
2.64 - 4.37
1.97
1.80 - 2.09
.38
.34 - .47
3. Die m eisten Frauen, die behaupten, sie seien von einem Bekannten
vergewaltigt worden, haben verm utlich zuerst eingewilligt und es sich
nachher anders überlegt.
1.87
1.47 - 2.35
1.21
0.90 - 1.47
.42
.33 - .56
*4. Frauen werden durch die traditionellen Geschlechtsrollen in unserer
Gesellschaft zu Vergewaltigungsopfern gem acht.
3.84
3.45 - 4.23
1.84
1.63 - 1.96
.13
.00 - .26
5. D ie m eisten Vergewaltiger haben einen ausgeprägten Sexualtrieb.
4.04
3.45 - 4.51
1.75
1.54 - 1.89
.15
-.02 - .22
*6. D as grundlegende M otiv eines Vergewaltigers besteht nicht so sehr in der
sexuellen Befriedigung, sondern in der D em ütigung des O pfers.
3.45
2.55 - 4.58
1.61
1.57 - 1.67
.22
.17 - .38
7. O ft fordern Frauen eine Vergewaltigung durch ihre äußerliche Erscheinung
oder ihr Verhalten heraus.
2.88
2.30 - 3.83
1.60
1.37 - 1.79
.55
.48 - .70
*8. In einer Gerichtsverhandlung wegen Vergewaltigung sollte es der
Verteidigung nicht erlaubt sein, das sexuelle Vorleben des m utm aßlichen
O pfers zur Sprache zu bringen.
2.65
2.05 - 3.70
1.85
1.67 - 2.05
.32
.14 - .46
*9. Eine vergewaltigte Frau ist ein unschuldiges O pfer und trägt keine
Verantwortung.
2.85
2.38 - 3.37
1.73
1.42 - 1.89
.49
.43 - .56
10. Eine Frau sollte dafür verantwortlich sein, ihrer eigenen Vergewaltigung
vorzubeugen.
2.95
2.17 - 3.22
1.81
1.51 - 1.95
.24
.14 - .34
3.00
2.73 - 3.69
0.85
0.71 - 0.93
Gesamtskala
Cronbachs Alpha
.54 - .72
Anm.: Items mit * wurden vor Berechnung der Statistiken umgepolt.
M = Mittelwert (mögl. Spannweite von 1, max. Ablehnung, bis 7, max. Zustimmung);
s = Standardabweichung; rit = "part-whole"-korrigierte Item-Total-Korrelation.
In Fettdruck: gewichteter Mittelwert des entsprechenden Kennwerts über fünf
Stichproben; darunter: Spannweite der Stichprobenkennwerte.
a
Vor der Mittelung wurden die Koeffizienten nach Fishers z transformiert; die so
erhaltenen Mittelwerte wurden in Pearsons r rücktransformiert.
Entwicklung und Validierung der VMA-Skala 49
In Stichprobe 5 betrug die Spannweite der individuellen Skalenwerte 1.20 bis 5.20; der
Skalenmittelwert lag bei M = 2.77 (s = 0.87), die mittleren 50% der Verteilung lagen zwischen
2.20 und 3.33. Eine Hauptkomponentenanalyse ergab Eigenwerte für die ersten vier Faktoren von
2.98, 1.27, 1.08 und 1.00 (Varianzaufklärung 29.8%; 12.7%; 10.8%; 10.0%). In Stichprobe 6
lagen die individuellen VMA-Werte zwischen 1.40 und 4.80, der Mittelwert betrug M = 2.78
(s = 0.71); die mittleren 50% der Verteilung lagen zwischen 2.30 und 3.20. Eine HKA ergab
einen Eigenwertverlauf von 2.39, 1.46, 1.23, 1.19 (Varianzaufklärung 23.9%; 14.6%; 12.3%;
11.9%). Die Spannweite der individuellen Skalenwerte reichte in Stichprobe 7 von 1.90 bis 5.70,
der Mittelwert betrug M = 3.69 (s = 0.93); die mittleren 50% der Verteilung lagen zwischen 3.10
und 4.20. Die ersten vier Faktoren einer HKA erzielten Eigenwerte von 2.98, 1.43, 1.19 und 1.06
(Varianzaufklärung 29.8%; 14.3%; 11.9%; 10.6%). In Stichprobe 8 lagen die individuellen
Skalenwerte zwischen 1.10 und 5.30; der Mittelwert lag bei M = 2.73 (s = 0.83), die mittleren
50% der Verteilung zwischen 2.20 und 3.30. Der Eigenwertverlauf der HKA war 2.86, 1.55,
1.15, 1.08 (Varianzaufklärung 28.6%; 15.5%; 11.5%; 10.8%). Stichprobe 9 schließlich lieferte
individuelle Skalenwerte von 1.20 bis 5.14 und einen Mittelwert von M = 3.17 (s = 0.85). Die
mittleren 50% der Verteilung lagen zwischen 2.60 und 3.70. Der Eigenwertverlauf in einer HKA
war 2.55, 1.52, 1.07, 1.03 (Varianzaufklärung 25.5%; 15.2%; 10.7%; 10.3%).
Insgesamt weist die Kurzskala also etwas höhere Zustimmungswerte auf als die Langversion,
was durch die Itemauswahl auch intendiert war. Die interne Konsistenz der Skala fällt zwar
geringer aus als die der Langversion, ist aber insgesamt zufriedenstellend (s. Tabelle 3.2). In
zukünftigen Untersuchungen sollte bei der Entscheidung zwischen der Kurz- und der Langform
je nach Durchführungsgegebenheiten daher eine Abwägung zwischen dem Ökonomie- und dem
Reliabilitätsaspekt erfolgen. Zu beachten ist auch, daß in allen bisher durchgeführten
Untersuchungen mit der Kurzskala die ProbandInnen Studierende der Universität Mannheim
waren; zur Abschätzung der Einsatzmöglichkeiten der Skala in breiteren Bevölkerungskreisen
erscheint es wünschenswert, diese Version der Skala in Zukunft auch an Personen aus anderen
Segmenten der Bevölkerung zu erproben (s. Bohner, Sturm & Weis, 1995).
3.2.3
Unterschiede zwischen Frauen und Männern
In der Einleitung und in Kapitel 2 wurde die Annahme diskutiert, daß Vergewaltigung als
extremer Ausdruck männlicher Dominanz zur Stabilisierung der gesellschaftlichen
Benachteiligung von Frauen beiträgt. Aus dieser Überlegung folgt die Hypothese, daß Männer
n als Nutznießer des status quo n den Mythen in höherem Maße zustimmen als Frauen (obwohl
die Akzeptanz von Vergewaltigungsmythen auch für Frauen funktional sein kann, s. Kapitel 2).
Die Befunde bisheriger Studien mit der "R scale" (Costin & Schwarz, 1987; Costin &
Kaptanolu, 1993) sowie mit anderen Mythenskalen vorwiegend im englischsprachigen Raum
(zum Überblick s. Lonsway & Fitzgerald, 1994) stützen diese Vorhersage.
50
Kapitel 3
Andererseits zeigten sich in der einzigen Bevölkerungsumfrage zum Thema Vergewaltigung,
die in Deutschland durchgeführt wurde, nur wenige Geschlechtsunterschiede in
mythenrelevanten Einstellungen; soweit Unterschiede auftraten, waren Frauen meist ablehnender
in ihrer Beurteilung von Opfern und eher bereit als Männer, das Verhalten der Täter zu
entschuldigen (Weis, 1982). Der Autor erklärt dieses Ergebnis damit, "daß Frauen als die stärker
Angepaßten unserer Gesellschaft die männlich-orientierten Normen und Klischees bezüglich
Vergewaltigung in größerem Maße übernehmen als Männer" (Weis, 1982, S. 40). Etwas
unplausibel ist an dieser Erklärung allerdings, wie eine reine Anpassung an männliche Klischees
dazu führen sollte, daß Frauen diesen Klischees noch stärker anhängen als Männer. Sollte die
Einschätzung von Weis dennoch (auch heute noch) zutreffen, so wäre zu erwarten, daß Frauen
höhere VMA-Werte aufweisen als Männer.
Zur Prüfung von Geschlechtsunterschieden wurden für jede unserer Studien, an der sowohl
Frauen als auch Männer teilgenommen hatten, t-Tests zum Vergleich der Skalenmittelwerte
berechnet. Tabelle 3.7 gibt einen Überblick über die so ermittelten Unterschiede zwischen Frauen
und Männern. Zur Vergleichbarkeit der Studien ist als Maß der Effektstärke Cohens d angegeben,
das die Differenz in Einheiten der Standardabweichung ausdrückt (J. Cohen, 1977). Für jede der
sieben verfügbaren Stichproben zeigte sich, daß Männer Vergewaltigungsmythen stärker
zustimmten als Frauen.
Eine quantitative Metaanalyse (Rosenthal, 1984) ergab bei gewichteter Integration der sieben
Stichprobenergebnisse (Gesamt-N = 667) eine mittlere Effektstärke von d = 0.63, z = 7.85, p <
10-5, 95%-Konfidenzintervall (KI) von d = 0.47 bis 0.79. (Bei Korrektur der Stichprobenwerte
um Unreliabilität mit Cronbachs Alpha [Cronbach, 1951] als Reliabilitätskriterium erhält man
ein mittleres d = 0.75, z = 9.42, p < 10-5, 95%-KI von d = 0.57 bis 0.94.) Es handelt sich bei dem
Unterschied in der VMA zwischen Männern und Frauen also nach Cohens Einteilung um einen
"mittleren" (entsprechend d = .5) bis "großen" Effekt (entsprechend d = .8) (J. Cohen, 1977; s.a.
Rosenthal & Rosnow, 1984, Kap. 24). Der Geschlechtsunterschied ist über die sieben
Stichproben hinweg homogen, P2(6) = 8.74, p > .18 (bzw. P2(6) = 7.34, p > .29 bei Korrektur
um Unreliabilität).
Entwicklung und Validierung der VMA-Skala 51
Tabelle 3.7 Geschlechtsunterschiede in der Akzeptanz von Vergewaltigungsmythen in sieben
Stichproben
Stichprobe
(Version)
MFrauen (N)
MMänner (N)
Cohens d
p (Differenz)
1 (20 Items)
2.79 (49)
3.44 (64)
0.84
< .001
3 (20 Items)
2.16 (36)
2.57 (34)
0.55
< .02
12 (20 Items)
2.10 (52)
2.55 (50)
0.70
< .001
13 (20 Items)
2.02 (45)
2.77 (25)
1.06
< .001
5 (10 Items)
2.51 (44)
3.03 (44)
0.60
< .005
6 (10 Items)
2.48 (29)
3.00 (38)
0.80
< .005
9 (10 Items)
3.05 (79)
3.30 (78)
0.29
< .04
Anm.: Skala jeweils von 1 bis 7; höhere Werte bedeuten größere VMA.
M = Mittelwert; N = Anzahl Versuchspersonen; d = (MMänner - MFrauen) : s , mit Schätzung der
Standardabweichung aus der Gesamtstichprobe;
p = einseitige Irrtumswahrscheinlichkeit.
Der Befund, daß Männer Vergewaltigungsmythen stärker zustimmen als Frauen, steht im
Einklang mit den meisten vorliegenden Untersuchungen (Costin & Schwarz, 1987; Costin &
Kaptanolu, 1993; Lonsway & Fitzgerald, 1994), widerspricht aber den von Weis (1982)
berichteten gegenläufigen Geschlechtsunterschieden. Möglicherweise ist diese Diskrepanz damit
zu erklären, daß die von Weis (1982) konstatierte "größere Angepaßtheit der Frauen" in den
letzten 10 bis 15 Jahren abgenommen hat. Zusätzlich ist zu beachten, daß unsere ProbandInnen
wesentlich jünger waren und sich die studentischen Stichproben auch hinsichtlich ihres
Bildungsstandes von einem repräsentativen Bevölkerungsquerschnitt unterschieden. Es wäre
daher interessant, erneut eine repräsentative Stichprobe über Einstellungen zum Thema
Vergewaltigung zu befragen, um herauszufinden, ob hier ein historischer Trend vorliegt und sich
Geschlechtsunterschiede in der VMA seit den späten siebziger Jahren tatsächlich umgekehrt
haben (für entsprechende Vorüberlegungen s. Bohner, Sturm & Weis, 1995). Die Homogenität
der von uns beobachteten Geschlechtsunterschiede über verschiedene Stichproben hinweg und
die Tatsache, daß auch in den beiden nichtstudentischen bzw. großenteils nichtstudentischen
Stichproben 1 und 12 die Effektgrößen mit d = 0.84 bzw. 0.70 der zentralen Tendenz
entsprechen, legen diesen Schluß jedenfalls nahe.
3.3 Validierungsstudien
Hinweise zur Konstruktvalidität ergaben sich aus einer Reihe von Untersuchungen, in denen
als Validierungskriterien andere allgemeine Einstellungen und Persönlichkeitsmerkmale, Urteile
über konkrete Fälle von Vergewaltigung, spezifische Verhaltensabsichten und
52
Kapitel 3
Wahrscheinlichkeitsurteile herangezogen wurden. Über die Konstruktvalidierung hinaus
verfolgten wir mit den entsprechenden Untersuchungen z.T. weitere, spezifischere Zielsetzungen,
die im einzelnen in späteren Abschnitten dieser Arbeit ausgeführt werden. Im folgenden
Abschnitt wird vorab zusammenfassend über diejenigen korrelativen Ergebnisse berichtet, die
Aufschluß über die Validität der VMAS geben.
3.3.1
Korrelative Befunde zur Konstruktvalidität: VMA und allgemeine Einstellungen,
Persönlichkeitsmerkmale, Verhaltensabsichten
Um Anhaltspunkte für die Validität der VMAS zu erhalten, legten wir ProbandInnen
zusätzliche Skalen vor, deren Auswahl sich aus den in Kapitel 2 angestellten Überlegungen zu
Inhalt und Funktion von Vergewaltigungsmythen ergibt. Dabei sind zunächst drei Gruppen von
Außenkriterien zu unterscheiden:
(a) Merkmale, deren Korrelation mit VMA geschlechtsunabhängig sein sollte:
- Einstellungen zu den Rechten und der Rolle von Frauen,
- die Tendenz, sozial erwünschte Antworten zu geben,
- zwischenmenschliches Vertrauen,
- der Glaube an eine "gerechte Welt" (s. Lerner, 1980);
(b) Variablen, die wegen ihres Bezugs zur Opferrolle nur bei Frauen erfaßt wurden:
- subjektive Vulnerabilität,
- Präventionsstrategien,
- die Bereitschaft, Strategien der Gegenwehr zu erlernen und einzusetzen;
(c) eine Variable, die wegen ihres Bezugs zur Täterrolle nur bei Männern erhoben wurde,
nämlich die Bereitschaft zu vergewaltigen.13
Details zu den Hypothesen und Ergebnissen in bezug auf die Variablengruppen (a) und (b)
finden sich in den folgenden Abschnitten 3.3.1.1 bis 3.3.1.6; eine Untersuchung, in der VMA als
Prädiktor für die Bereitschaft zu vergewaltigen (c) konzeptualisiert wurde, wird ausführlich in
Kapitel 5 dargestellt. Eine Zusammenschau der wichtigsten korrelativen Ergebnisse wird in
Tabelle 3.8 schon vorweggenommen.
13
Darüber hinaus untersuchten wir Merkmale, für deren Korrelation mit VMA geschlechtsspezifische
Unterschiede zu erwarten waren, nämlich Aspekte des "kollektiven Selbstwerts" (Luhtanen & Crocker,
1992). Über diese Zusammenhänge wird in Kapitel 8 berichtet.
Entwicklung und Validierung der VMA-Skala 53
Tabelle 3.8 Korrelate der VMA: Einstellungen und Persönlichkeitsvariablen
Variable
Skala
(Cronbachs ")
r
(N)
VMASVersion
und Nr. der
Stichprobe
(a) geschlechtsunabhängige Außenkriterien
Konservative
Einstellung zu
Frauenrechten
Deutsche Fassung der
"W scale" (Costin, 1985)
(.88)
.66***(113)
lang / 1
Deutsche "Neosexism Scale"
(Tougas, Brown, Beaton & Joly,
1995; eig. Übers.)
(.77)
.68*** (70)
lang / 13
Schmidt (1980)
(.53)
-.05
(113)
lang / 1
Schmidt (1980)
(.49)
.02
(157)
kurz / 9
(.48)
.08
(70)
lang / 13
SD-Skala des deutschen BSRI
(Schneider-Düker & Kohler, 1988().58)
-.19
(70)
lang / 13
Zwischenmenschliches
Vertrauen
5 Items aus Amelang, Gold
& Külbel (1984)
(.49)
-.24** (113)
lang / 1
Glaube an eine
"gerechte Welt"
6 Items der GW AL (Dalbert,
Montada & Schmitt, 1987)
(.70)
.23* (102)
lang / 2
1 Item in Anlehnung an
Tabone et al. (1992)
(n)
-.26*
(60)b
lang / 2
3 selbstformulierte Items
(.53)
-.25** (100)
lang / 11
3 selbstformulierte Items
(.54)
-.38**
(51)
lang / 12
Tendenz zu sozialer
Erwünschtheit
Schmidt (1980)
a
(b) Außenkriterien mit Bezug zur Opferrolle (Frauen)
Subjektive
Vulnerabilität
Bereitschaft zu
präventivem Verhalten
6 Items in Anlehnung an
Furby, Fischhoff & Morgan (1989)(.67)
-.14
(102)
lang / 2
Bereitschaft zur
Selbstverteidigung
6 Items in Anlehnung an
Furby et al. (1989)
(.85)
-.35*** (98)
lang / 2
(.79)
.21** (125)
lang / 4
(c) Außenkriterium mit Bezug zur Täterrolle (Männer)
Bereitschaft zu
vergewaltigen
2 Items, übernommen von
Malamuth (1981)
Anm.: * p < .05; ** p < .02; *** p < .001; alle Werte zweiseitig.
a
Bem Sex Role Inventory (Bem, 1974).
b
Wegen einer mißverständlichen Instruktion im Fragebogen wurde dieses Item nur von
60 der 102 Versuchspersonen bearbeitet.
54
Kapitel 3
3.3.1.1 Einstellungen zu den Rechten und der Rolle von Frauen
Eine der zentralen Hypothesen in der feministischen Literatur (z.B. Brownmiller, 1975;
Griffin, 1979) besagt, daß Ursachen für sexuelle Gewalt gegen Frauen in den gesellschaftlichen
Machtverhältnissen und den damit verbundenen Konstruktionen von "Männlichkeit" und
"Weiblichkeit" zu suchen sind. Umgekehrt wird vermutet, daß Vergewaltigung als extremer
Ausdruck der Gewalt, die Männer gegen Frauen ausüben, dazu beiträgt, Geschlechterungleichheit
zuungunsten der Frauen aufrechtzuerhalten. Diese Ungleichheit zeigt sich darin, daß Frauen
andere Rollen zugewiesen werden und ihnen weniger Verhaltensoptionen offenstehen als
Männern. Wie schon in der Einleitung diskutiert, wird die Annahme eines Zusammenhanges
zwischen Geschlechterungleichheit und sexueller Gewalt sowohl auf der gesellschaftlichen
Ebene (L. Baron & Straus, 1987; Sanday, 1981) als auch auf der individuell-psychischen Ebene
(Riger & Gordon, 1981) durch korrelative Studien unterstützt.
Vor diesem Hintergrund sollten Personen, die Vergewaltigungsmythen akzeptieren, auch
generell eher restriktive und stereotype Einstellungen gegenüber der Rolle und den Rechten von
Frauen aufweisen. Die wohl umfassendste Datenbasis zu diesem Zusammenhang bietet die
Untersuchung von Burt (1980). Sie befragte 357 Frauen und 241 Männer unter anderem zu ihrer
Akzeptanz von Vergewaltigungsmythen (19 Items; z.B.: "When women go around braless or
wearing short skirts and tight tops, they are just asking for trouble") und zu
geschlechtsrollenbezogenen Einstellungen (9 Items; z.B.: "It is acceptable for women to have a
carreer, but marriage and family should come first."). Burt berichtet eine hochsignifikante
Korrelation zwischen Mythenakzeptanz und Geschlechtsrollen-Stereotypisierung von r = .48.
Signifikante Unterschiede in der Stärke dieses Zusammenhanges zwischen Männern (r = .53) und
Frauen (r = .45) traten nicht auf (z = 1.26, ns; eigene Berechnung).
Auch Costin und Schwarz (1987) sowie Costin und Kaptanolu (1993) konnten in einer
kulturvergleichenden Serie von Fragebogenuntersuchungen zeigen, daß höhere VMA mit einer
eher traditionell-patriarchalischen Einstellung gegenüber den Rechten und der Rolle von Frauen
einhergeht. Für Studierende bewegen sich die entsprechenden Korrelationen zwischen r = .51
und .87, für berufstätige Personen zwischen r = .52 und .85. Die Höhe der Koeffizienten ist für
weibliche und männliche Teilstichproben etwa gleich, und auch im Vergleich zwischen den
Ländern, in denen die Untersuchungen durchgeführt wurden, zeigen sich nur geringe
Unterschiede in der Höhe der Korrelation.14 Schließlich berichten Gieseke und Schlupp (1985),
die jeweils auf acht Items verkürzte deutsche Versionen von Costins "R scale" und "W scale"
14
Vergleicht man die Mittelwerte der Zustimmung zu patriarchalischen Rollenvorstellungen bzw.
Vergewaltigungsmythen zwischen den studentischen Stichproben aus fünf Ländern, so stellt man zwischen
England, Israel, den U.S.A. und Westdeutschland nur geringfügige Unterschiede fest (im Bereich von etwa
0.3 Standardabweichungen [s]), während die Werte der türkischen Studierenden deutlich höher liegen: bei
Vergewaltigungsmythen für Männer und Frauen jeweils um mehr als 0.5 s höher als der nächstniedrigere
Stichprobenmittelwert; bei der Geschlechtsrollenorientierung um etwa 0.8 s für die Männer und etwa 0.3 s für
die Frauen (berechnet nach Costin & Kaptanolu, 1993, Table 1).
Entwicklung und Validierung der VMA-Skala 55
("beliefs about rape" und "beliefs about women's social roles") einsetzten, eine Korrelation dieser
beiden Skalen von r(121) = .41, p < .001, ohne dabei zwischen männlichen und weiblichen
Versuchspersonen zu differenzieren.
Aus unseren eigenen Untersuchungen liegen Daten zum Zusammenhang zwischen VMA
und Einstellungen zu den Rechten und der Rolle von Frauen für die Stichproben 1 und 13 (s.
Tabelle 3.2) vor. Die ProbandInnen in Stichprobe 1 beantworteten neben der Langform der
VMAS auch die 20 Items einer deutschen Version der "W scale" (Costin, 1985). Wie Tabelle 3.8
zu entnehmen ist, betrug die Korrelation zwischen traditioneller Geschlechtsrollenorientierung
und VMA insgesamt r(111) = .66, p < .001. Nach Geschlecht getrennte Analysen ergaben für
Frauen r(47) = .40, p < .005, und für Männer r(62) = .67, p < .001. Der erwartete positive
Zusammenhang bestätigte sich also unter Verwendung der Gesamtskalen auch für eine
Stichprobe deutscher Auszubildender, und zwar für beide Geschlechter. Daß der Zusammenhang
bei Männern tendenziell stärker ist als bei Frauen (z = 1.94, p < .06), läßt sich mit der oben
vorgetragenen Überlegung vereinbaren, daß VMA bei Männern mit einem Frauen insgesamt
abwertenden Geschlechtsstereotyp verknüpft sein sollte, wohingegen die "protektive Funktion"
hoher VMA bei Frauen auch eine Differenzierung der sozialen Kategorie "Frauen" erfordert (s.a.
unten Kapitel 6-8).
Die VersuchsteilnehmerInnen aus Stichprobe 13 beantworteten neben der Langform der
VMAS eine deutsche Fassung der "Neosexism Scale" (Tougas, Brown, Beaton & Joly, 1995).
Die Items dieser Skala sprechen keine offenen Vorurteile an, sondern enthalten Aussagen zu
Frauen und Frauenrechten, aus denen sich eine subtile Ablehnung erschließen läßt (Beispiele:
"Die Diskriminierung von Frauen stellt in der Bundesrepublik Deutschland kein Problem mehr
dar"; "Es ist schwierig, für eine weibliche Vorgesetzte zu arbeiten"). Damit soll der Tatsache
Rechnung getragen werden, daß im Zuge der Änderung von Gesetzen und gesellschaftlichen
Normen der offene Ausdruck sexistischer Einstellungen allgemein weniger akzeptiert wird. Eine
eigene Übersetzung der aus 11 Items bestehenden Skala wies eine interne Konsistenz von " =
.77 auf und war weitgehend unabhängig von sozialer Erwünschtheit. Die VMAS war auch mit
diesem subtileren Maß für frauenfeindliche Einstellungen hoch positiv korreliert, r(68) = .68, p <
.001. Geschlechtsunterschiede tendierten wiederum in Richtung eines etwas höheren
Zusammenhangs bei Männern (r = .63) als bei Frauen (r = .57); allerdings ist die Differenz dieser
Koeffizienten nicht signifikant, p > .30.
Insgesamt zeigen diese Befunde, daß Personen, die Vergewaltigungsmythen eher zustimmen,
Frauen auch insgesamt restriktivere, eher traditionelle Rollen zuweisen. Sie sind darüber hinaus
weniger geneigt, eine Diskriminierung oder Ungleichbehandlung von Frauen als mögliches
Problem anzuerkennen.
3.3.1.2 Soziale Erwünschtheit
56
Kapitel 3
Die Mittelwerte der VMA lagen in allen von uns untersuchten Stichproben bezogen auf die
Antwortskala im Bereich der Ablehnung von Vergewaltigungsmythen (s. Abschnitt 3.2). Es wäre
problematisch für die Interpretation dieses Ergebnisses und insgesamt für die Validität der
VMAS, wenn sich in den Antworten der Versuchspersonen auf VMA-Items eine klare Tendenz
widerspiegelte, sozial erwünschte Antworten zu geben. Diese potentielle Bedrohung der
Konstruktvalidität wurde sowohl für die Langversion als auch für die Kurzskala untersucht.
Stichprobe 1 wurde neben der Langversion der VMAS auch eine 4-Item-Skala vorgelegt, die eine
Tendenz erfassen soll, nach sozialer Erwünschtheit (SE) zu antworten (Schmidt, 1980;
Itembeispiel "Ich bin immer gewillt, einen Fehler, den ich mache, zuzugeben."). Die
ProbandInnen in Stichprobe 9 füllten dieselbe SE-Skala zusammen mit der Kurzform der VMAS
aus. In beiden Studien waren die Korrelationen zwischen VMA und SE erfreulicherweise nahezu
null, r(111) = -.05 bzw. r(155) = .02, ns, und es traten auch keine Geschlechtsunterschiede
hinsichtlich der Höhe dieser Korrelationen auf. Die ProbandInnen in Stichprobe 13 beantworteten
neben der Langversion der VMAS sowohl die Skala von Schmidt als auch eine verkürzte
Fassung der "social desirability"-Subskala des deutschen "Bem Sex Role Inventory" (Bem, 1974;
Schneider-Düker & Kohler, 1988). Die Korrelationen der VMAS mit diesen beiden Skalen
betrugen r(68) = .08 bzw. -.19, jeweils ns. Es ist somit nicht anzunehmen, daß die Messung von
VMA in nennenswertem Ausmaß durch einen Einfluß sozialer Erwünschtheit verzerrt wird.
Allerdings wiesen die verwendeten SE-Skalen in allen drei Untersuchungen jeweils mit
Werten von " in der Größenordnung von .50 (s. Tab. 3.8) eine recht geringe interne Konsistenz
auf, was weitere Studien mit anderen Operationalisierungen sozialer Erwünschtheit sinnvoll
erscheinen läßt. Indirekte Evidenz für die Unabhängigkeit der VMAS-Skalenwerte von sozialer
Erwünschtheit liefern jedoch auch die Ergebnisse experimenteller Arbeiten. Wenn man annimmt,
daß durch die Thematisierung des Problems "sexuelle Gewalt" in einer experimentellen
Untersuchung das Motiv angeregt wird, sozial erwünschte Antworten zu geben, so wären
Unterschiede zu erwarten zwischen Kontrollbedingungen, in denen vor dem Ausfüllen der
VMAS Vergewaltigung nicht thematisiert wurde, und Experimentalbedingungen, in denen sich
die Versuchspersonen vor dem Ausfüllen der VMAS intensiv mit einem Vergewaltigungsfall
beschäftigt hatten. Derartige Unterschiede blieben aber bisher praktisch vollständig aus (z.B.
Bohner et al., 1993).
3.3.1.3 Interpersonelles Vertrauen
Nachdem sich bereits in U.S.-amerikanischen wie in deutschen Umfragestudien gezeigt
hatte, daß opferfeindliche und den Täter entschuldigende Einstellungen mit Mißtrauen gegenüber
dem anderen Geschlecht sowie der Akzeptanz interpersoneller Gewalt zusammenhängen (Burt,
1980; Weis, 1982), war zu erwarteten, daß VMA mit einer Skala zur Erfassung des generellen
zwischenmenschlichen Vertrauens negativ korreliert sein sollte. In Stichprobe 1 füllten die
Versuchspersonen neben den 20 Items der VMAS auch fünf Items einer Skala zum
Entwicklung und Validierung der VMA-Skala 57
Interpersonellen Vertrauen aus (Amelang, Gold & Külbel, 1984; Itembeispiel: "Im Umgang mit
Fremden kommt man besser voran, wenn man so lange vorsichtig ist, bis diese den Nachweis
erbracht haben, daß man ihnen trauen kann."). Die Items dieser Skala wurden so gepolt, daß hohe
Werte hohem Vertrauen entsprechen.
Erwartungsgemäß zeigte sich eine signifikant negative Korrelation von r(111) = -.24,
p < .02. Auch hier gilt allerdings, daß die interne Konsistenz der Kriteriumsskala mit " = .49 eher
gering war (s. Tab. 3.8), was das Aufdecken eines stärkeren Zusammenhangs möglicherweise
verhindert hat.
3.3.1.4 Glaube an eine gerechte Welt
In Kapitel 2 wurden die theoretischen Beziehungen zwischen Vergewaltigungsmythen und
dem allgemeineren Motiv aufgezeigt, die eigene "Welt" als "gerecht" zu konstruieren (Lerner,
1980). Da sich in mehreren Untersuchungen interindividuelle Unterschiede in der Ausprägung
des "Gerechte-Welt-Glaubens" gezeigt hatten, erschien es sinnvoll, auch eine Skala, die dieses
Konstrukt erfaßt, als Außenkriterium mit VMA zu korrelieren. Wir verwendeten hierfür in
Stichprobe 2 die Subskala "Allgemeiner Gerechte-Welt-Glaube" (GWAL) aus einem von
Dalbert, Montada und Schmitt (1987) entwickelten Instrument (6 Items; Beispiel: "Ich glaube,
daß die Leute im großen und ganzen das bekommen, was ihnen gerechterweise zusteht"). Diese
Skala hatte sich in der Forschung von Dalbert und Mitarbeitern als reliabel erwiesen (" = .82;
Dalbert et al., 1987, S. 606) und war unter anderem positiv korreliert mit den von Lerner (1980,
S. 20-21) diskutierten Urteilstendenzen: Je höher die Ausprägung der GWAL, desto eher neigten
die Befragten bei der Beurteilung "ungerechter" Szenarien zur Abwertung unterprivilegierter
Personen (r = .47), zur Relativierung von deren Notlagen (r = .45) und zur Annahme, daß die
Opfer ihre Lage selbst verschuldet hätten (r = .50; Dalbert et al., 1987, S. 610).
Bei den Berufsschülerinnen in Stichprobe 2 wies die GWAL-Skala eine zufriedenstellende
interne Konsistenz von " = .70 auf. Insgesamt zeigte sich wie vorhergesagt eine n wenn auch
geringe n positive Korrelation zwischen VMA und dem Glauben an eine gerechte Welt,
r(100) = .23, p < .05. Interessanterweise war ein moderierender Einfluß früherer Viktimisierung15
auf die Höhe dieser Korrelation zu beobachten: Nur bei Frauen, die berichteten, selbst noch nie
15
Die frühere Viktimisierung wurde anhand von drei Fragen erfaßt, die wir von Burt (1980) übernahmen:
"Haben Sie jemals die Erfahrung gemacht, daß ein Mann Sie gegen Ihren Willen zu sexuellen Handlungen
gezwungen hat?" n "Haben Sie jemals die Erfahrung gemacht, daß ein Mann versucht hat, Sie zu sexuellen
Handlungen zu zwingen, aber erfolglos?" n "Haben Sie sich jemals nur deshalb auf Sex mit einem Mann
eingelassen, weil Sie Angst hatten, daß er körperliche Gewalt oder andere Druckmittel einsetzen könnte, wenn
Sie nicht mitmachen?" Da uns insbesondere die Reaktionen von Frauen interessierten, die selbst keine
unmittelbare sexuelle Gewalt erlitten haben, definierten wir diese Gruppe in konservativer Weise als
diejenigen Frauen, die auf alle drei vorgenannten Fragen mit "nein" antworteten. Nach diesem Kriterium
berichteten in dieser Stichprobe 35 Frauen (34.3%) von früherer Viktimisierung; 61 Frauen (59.8%) verneinten
alle drei Fragen, und 6 Frauen (5.9%) machten keine Angaben. Die Anteile der "Ja"-Antworten für jede der
drei Fragen lauteten in der o.a. Reihenfolge 19.6%, 27.5% und 3.9%.
58
Kapitel 3
Opfer sexueller Gewalt gewesen zu sein, trat eine hohe positive Korrelation zwischen VMA und
dem Gerechte-Welt-Glauben auf, r(59) = .43, wohingegen bei Frauen, die berichteten, selbst
bereits Opfer sexueller Gewalt gewesen zu sein, die entsprechende Korrelation praktisch gleich
Null war, r(33) = .01 (Test auf Korrelationsdifferenz: z = 2.00, p < .05). Während sich also die
allgemeine Überzeugung, daß Personen in der Regel "bekommen, was sie verdienen", auch in
Einstellungen zu Vergewaltigung niederzuschlagen scheint, wird die Anwendung einer solchen
"Gerechte-Welt-Heuristik" auf den Bereich sexueller Gewalt offenbar durch die Erfahrung
eigener Viktimisierung durchbrochen.
Diese ersten Daten zur Beziehung zwischen dem allgemeinen Gerechte-Welt-Glauben und
der VMA zeigen also eine enge Verbindung dieser beiden Einstellungskomplexe, und zwar
übereinstimmend mit Überlegungen Lerners (1980) insbesondere dann, wenn die urteilende
Person selbst nicht von der in Frage stehenden "Ungerechtigkeit" betroffen ist. Es wäre
interessant, in Zukunft auch bei Männern, die ja noch klarer außerhalb des Kreises potentieller
Opfer stehen, entsprechende Zusammenhänge zu untersuchen.
3.3.1.5 Subjektive Vulnerabilität
Die subjektive Vulnerabilität, d.h. das von Frauen wahrgenommene Risiko, selbst Opfer
sexueller Gewalt zu werden, wurde bei den Stichproben 2, 10 und 11 miterhoben (Bohner &
Sturm, 1995; Sturm & Bohner, 1995). Eine unserer zentralen Hypothesen besagt, daß
Vergewaltigungsmythen eine Illusion der Unverwundbarkeit vermitteln können. Frauen, die
Mythen eher zustimmen, sollten daher ihre Vulnerabilität subjektiv als geringer einschätzen (s.a.
Tabone et al., 1992). In Anlehnung an eine Untersuchung von Tabone et al. (1992) stellten wir
den Teilnehmerinnen in Stichprobe 2 die Frage: "Halten Sie es für möglich, daß eine Frau wie
Sie in eine Situation geraten könnte, wo ein Mann sie gegen ihren Willen zu sexuellen
Handlungen zwingt?". Die Antwortskala reichte von 1, "vollkommen unwahrscheinlich", über
4, "weder–noch", bis 7, "vollkommen wahrscheinlich". Die 60 Probandinnen, die diese Frage
beantworteten, hielten eine zukünftige Viktimisierung im Mittel für eher wahrscheinlich
(M = 4.85). Insgesamt zeigte sich erwartungsgemäß eine negative Korrelation zwischen VMA
und eingeschätzter Vulnerabilität, r(58) = -.26, p < .05. Frauen, die Mythen eher zustimmten,
hielten das Risiko, selbst Opfer sexueller Gewalt zu werden, somit tatsächlich für geringer als
Frauen, die Mythen eher ablehnten.
Dieser Zusammenhang schien weniger ausgeprägt zu sein bei Frauen, die bereits früher
Opfer sexueller Gewalt waren (n = 21; zur Erfassung der früheren Viktimisierung s. Fußnote 15).
Diese schätzten ihr zukünftiges Risiko relativ unabhängig vom Ausmaß der Mythenakzeptanz
(r[19] = -.15) als hoch ein (M = 5.48 im Vergleich zu M = 4.51 bei den nichtviktimisierten
Frauen, t[56] = 1.93, p < .01). Bei Frauen, die in der Vergangenheit selbst noch keine sexuelle
Gewalt erlitten hatten (n = 39), betrug die Korrelation r(37) = -.28, p < .10. Allerdings ist der
Unterschied zwischen den beiden Korrelationskoeffizienten nicht statistisch signifikant, z = 0.56.
Entwicklung und Validierung der VMA-Skala 59
Etwas problematisch für die Interpretation dieser ersten Daten zum Zusammenhang von
subjektiver Vulnerabilität und VMA ist allerdings, daß in dem Item zur Vulnerabilität nicht
explizit das eigene Risiko angesprochen wurde, sondern indirekt das Risiko einer "Frau wie Sie".
Um verläßlichere Daten zu gewinnen, wurde daher bei den Stichproben 11 und 12 die subjektive
Vulnerabilität anhand von drei neuen Items erfaßt, die eindeutig das Risiko für die eigene Person
thematisierten (s. Bohner & Sturm, 1995). Diese Fragen lauteten:
- "Wie sicher fühlen Sie sich vor sexuellen Übergriffen?" (Skala von 1, "überhaupt nicht
sicher", bis 7, "vollkommen sicher"),
- "Für wie wahrscheinlich halten Sie es, daß Sie in eine Situation kommen könnten, wo
ein Mann Sie gegen Ihren Willen zu sexuellen Handlungen zwingt?" (Skala von 1,
"vollkommen unwahrscheinlich", bis 7, "vollkommen wahrscheinlich") und
- "Verglichen mit anderen Frauen, wie hoch schätzen Sie für sich persönlich die Gefahr
ein, vergewaltigt zu werden?" (Skala von 1, "viel geringer als der Durchschnitt", bis 7,
"viel höher als der Durchschnitt").
Diese drei Items wurden zu einem Index der subjektiven Vulnerabilität zusammengefaßt
(" = .53 bzw. .54). Die Korrelation zwischen diesem Index und der VMA betrug in
Stichprobe 11 r(98) = -.25, p < .02, und in Stichprobe 12 r(49) = -.38, p < .01. Dadurch wird
erneut die Hypothese eines negativen Zusammenhanges bestätigt.
In Stichprobe 11 berichteten 32 Frauen (32%), schon einmal Opfer einer vollendeten
(n = 14) oder versuchten (weitere n = 18) Vergewaltigung oder sexuellen Nötigung gewesen zu
sein (zur Erfassung s. Fußnote 15; die Frage nach Einwilligung aus Angst wurde nicht gestellt).
Jedoch hatten frühere Erfahrungen sexueller Gewalt keinen signifikanten Einfluß auf die Höhe
der Korrelation zwischen VMA und subjektiver Vulnerabilität. Auch die Mittelwerte der
Risikoeinschätzung waren in dieser Stichprobe für Frauen ohne (M = 3.74) bzw. mit
Gewalterfahrungen (M = 3.81) annähernd gleich, t(98) < 1.
In Stichprobe 12 zeigte sich hingegen erneut, daß der Zusammenhang bei den 34 Frauen, die
alle Fragen nach früherer Viktimisierung verneinten, mit r(32) = -.59, p < .001, ausgeprägter war
als bei den 17 Frauen, die mindestens eine dieser Fragen bejahten, r(15) = -.03, ns.16 Der
Unterschied zwischen diesen beiden Korrelationskoeffizienten ist signifikant, z = 2.02, p < .05.
Die Mittelwerte des Index der subjektiven Vulnerabilität betrugen 3.70 für Frauen ohne
16
Die Fragen nach früheren Gewalterfahrungen und ihr Antwortformat waren in dieser Untersuchung leicht
modifiziert: (1) "Haben Sie jemals die Erfahrung gemacht, daß ein Mann Sie gegen Ihren Willen zu sexuellen
Handlungen gezwungen hat?" (2) "Haben Sie jemals die Erfahrung gemacht, daß ein Mann versucht hat, Sie
zu sexuellen Handlungen zu zwingen, es aber aus verschiedenen Gründen nicht dazu kam?" (3) "Haben Sie
sich jemals nur deshalb auf sexuelle Handlungen mit einem Mann eingelassen, weil Sie Angst hatten, daß er
körperliche Gewalt oder andere Druckmittel einsetzen könnte, wenn Sie sich weigerten?" Die
Antwortalternativen lauteten jeweils "nein, nie" (a), "ja, einmal" (b) und "ja, mehrmals" (c). Die
Antwortverteilungen auf die Alternativen (a) bis (c) lauteten für Frage 1: 39 (76.5%), 7 (13.7%), 5 (9.8%), für
Frage 2: 37 (72.5%), 11 (21.6%), 3 (5.9%) und für Frage 3: 47 (92.2%), 2 (3.9%), 2 (3.9%). Eine Frau machte
zu keiner der drei Fragen eine Angabe.
60
Kapitel 3
Gewalterfahrung und 4.12 für Frauen mit Gewalterfahrung, t(49) = 1.43, p > .15.
Insgesamt stützen die Analysen somit die Hypothese, daß die Akzeptanz von
Vergewaltigungsmythen mit der Wahrnehmung eines geringeren subjektiven Risikos einhergeht,
selbst von sexueller Gewalt betroffen zu werden. Selbstverständlich lassen unsere Daten keine
eindeutigen Schlüsse auf die Kausalrichtung zu, die diesem Zusammenhang zugrundeliegt.
Neben dem bereits diskutierten Einfluß der VMA auf die Risikoeinschätzung wäre einerseits
denkbar, daß hohe VMA bei Frauen aus dem Bedürfnis heraus entsteht, mit der Furcht vor
sexueller Gewalt umzugehen. Andererseits könnte auch das Ausmaß der Auseinandersetzung mit
dem Thema sexuelle Gewalt sowohl zu realistischeren Einschätzungen (d.h. geringerer VMA)
als auch — vermittelt über die höhere Salienz des Themas (s. Johnson & Tversky, 1983) — zu
einer höheren Risikobeurteilung führen.
Der Zusammenhang zwischen VMA und eingeschätztem Risiko zeigt sich tendenziell
stärker bei Frauen, die in der Vergangenheit noch keine Gewalt erlitten haben. Die Opfer
sexueller Gewalt hingegen scheinen ihr zukünftiges Viktimisierungsrisiko unabhängig von ihren
allgemeinen Einstellungen zu Vergewaltigung einzuschätzen, und zwar insgesamt
möglicherweise höher als Frauen ohne Gewalterfahrungen. (Allerdings zeigte sich nur in einer
von drei Studien ein signifikanter Unterschied, so daß weitere Untersuchungen angezeigt sind.)
Da sich frühere Viktimisierung als ein valider Prädiktor für zukünftige Viktimisierung erwiesen
hat (Finkelhor, 1984; Koss, 1993), könnten die angedeuteten Mittelwertunterschiede realistische
Einschätzungen widerspiegeln.17 Nebenbei sei bemerkt, daß die Ausprägung der VMA von
früheren Viktimisierungserfahrungen unabhängig war (in Stichprobe 2: M = 3.06 bzw. 3.01 für
Frauen ohne versus mit Gewalterfahrungen, t(94) < 1; in Stichprobe 11: M = 2.18 bzw. 2.03,
t(97) = 1.41, p > .16; in Stichprobe 12: M = 2.11 bzw. 2.08, t(49) < 1).
3.3.1.6 Bereitschaft zu präventivem Verhalten
Aus dem Befund, daß Frauen mit höherer VMA ihre eigene Verwundbarkeit eher geringer
einschätzen (Tabone et al., 1992; s. vorigen Abschnitt), folgt unmittelbar die Hypothese, daß
auch die Bereitschaft zu präventivem Verhalten mit VMA negativ korreliert sein sollte
(s.a. Perloff, 1987). Bei der Untersuchung dieses Zusammenhangs soll der Begriff der Prävention
weit gefaßt werden. In einer gemeinsam mit Sabine Sturm durchgeführten Studie (Bohner &
17
Finkelhor (1984) beispielsweise berichtet einen Zusammenhang zwischen sexuellem "Mißbrauch" in der
Kindheit und Vergewaltigungserfahrungen im Erwachsenenalter (S. 193-194): 32 % der Opfer früheren
sexuellen Mißbrauchs wurden im Erwachsenenalter erneut vergewaltigt im Vergleich zu 22 % der Frauen, die
als Kind keine Gewalterfahrungen gemacht hatten. Allerdings ist hier wie bei allen korrelativen Befunden
Vorsicht bei kausalen Interppretationen geboten. Finkelhor berichtet weiter, daß der Zusammenhang
verschwindet, wenn man weitere Variablen kontrolliert, u.a. eine Variable, die er "sexually punitive mothers"
nannte. Es ist also wahrscheinlich, daß kein direkter kausaler Zusammenhang besteht, sondern vielmehr
Drittvariablen die Vulnerabilität für Gewalterfahrungen sowohl im Kindes- als auch im Erwachsenenalter
beeinflussen.
Entwicklung und Validierung der VMA-Skala 61
Sturm, 1995; s.a. Sturm, 1994) untersuchte ich sowohl Strategien, die zur Vermeidung von
Situationen geeignet sind, in denen einer Frau Gefahr durch sexuelle Gewalt drohen könnte
(Riger & Gordon, 1981), als auch aktive Strategien der Gegenwehr im Falle eines konkreten
Angriffs (Furby, Fischhoff & Morgan, 1989). Zusätzlich erfaßten wir, ob die Probandinnen
bereits an einem Selbstverteidigungskurs oder -training teilgenommen hatten, bzw. für wie
wahrscheinlich sie es hielten, daß sie dies innerhalb der folgenden zwölf Monate tun würden.
Auch im Hinblick auf die letztgenannten Verhaltensweisen erwarteten wir eine negative
Korrelation mit der VMA. Allerdings sind neben der oben angeführten Kausalkette "hohe VMA,
folglich geringe Risikoeinschätzung, folglich geringe subjektive Notwendigkeit der Prävention
und Selbstverteidigung" wiederum andere Kausalbeziehungen denkbar: Frauen, die z.B. an
spezifischen Selbstverteidigungskursen für Frauen teilnehmen oder dies zu tun planen,
informieren sich möglicherweise auch während der Vorbereitung auf einen Kurs oder während
der Teilnahme besser über das Ausmaß und die Hintergründe sexueller Gewalt, was n wie bereits
angemerkt n zu einer Reduktion stereotyper Einstellungen und damit der VMA beitragen mag.
In Anlehnung an Vorarbeiten von Furby et al. (1989) formulierten wir sechs Items zu
allgemeinen Präventionsstrategien und sechs Items zu Strategien der Selbstverteidigung bei
einem konkreten Angriff. Diese Items thematisierten solche Strategien, die von Frauen und
Männern (einschließlich ExpertInnen, die mit Vergewaltigungsopfern arbeiten) als sehr effektiv
eingeschätzt worden waren (Furby et al., 1989) und grundsätzlich jeder Frau zur Verfügung
stehen. Die Items zur Prävention wurden eingeleitet mit der Frage "Welche der nachfolgenden
Strategien setzen Sie bewußt oder unbewußt in Ihrem Alltag ein, um sich sicherer zu fühlen?"18.
Es folgten die Strategien als Aussagesätze, die jeweils auf einer Skala von 1, "sehr
unwahrscheinlich", bis 7, "sehr wahrscheinlich", einzuschätzen waren:
(a) Ich schließe meine Wohnungstür ab.
(b) Ich bin abends nicht allein unterwegs.
(c) Ich versuche, selbstbewußt und stark zu wirken.
(d) Ich gehe auf der Straße zügig und sicher.
(e) Ich behalte aufmerksam die Umwelt im Auge.
(f) Ich meide einsame und schlecht beleuchtete Gegenden.
Die Items zur Selbstverteidigung wurden mit der Frage eingeleitet: "Welche der
nachfolgenden Strategien würden Sie einsetzen, wenn Sie von einem unbewaffneten Mann von
etwa Ihrer Größe angegriffen würden?". (Auch diese Items waren auf der o.a. 7-Punkte-Skala
einzuschätzen.)
(a) Ich würde versuchen, auf ihn einzureden.
18
Die Paradoxie der Formulierung "bewußt oder unbewußt" wurde uns leider erst nach Abschluß der Studie
bewußt. Die Versuchsteilnehmerinnen hatten aber offenbar keine Schwierigkeiten mit dem Verständnis und
der Beantwortung der Fragen
62
Kapitel 3
(b) Ich würde versuchen, laut zu schreien.
(c) Ich würde versuchen wegzulaufen.
(d) Ich würde versuchen, auf ihn einzuschlagen.
(e) Ich würde versuchen, ihm mit den Fingern in die Augen zu greifen.
(f) Ich würde versuchen, ihn in die Geschlechtsteile zu treten.
Die 102 weiblichen Auszubildenden in Stichprobe 2 beantworteten diese Items am Ende der
experimentellen Sitzung, nachdem sie die Langversion der VMAS und die Fragen zur
wahrgenommenen Vulnerabilität und zu früherer Viktimisierung bearbeitet hatten. Zur
Auswertung unterzogen wir zunächst die Items zur allgemeinen Prävention und die Items zur
Selbstverteidigung jeweils separaten Skalenanalysen. Es zeigte sich, daß die Skala der
Präventionsstrategien (" = .64) eine mittelhohe und die Skala der Selbstverteidigungsstrategien
(" = .85) eine gute interne Konsistenz aufwies. Die Präventionsstrategien ließen sich weiter nach
inhaltlichen Kriterien in aktive Prävention (Items c, d und e; " = .68) und in passive Prävention
(Items a, b und f; " = .58) unterteilen; die Selbstverteidigungsstrategien in defensive
Selbstverteidigung (Items a, b und c; " = .65) und offensive Selbstverteidigung (Items d, e und
f; " = .86). Die Items wurden zu entsprechenden Indizes gemittelt, und diese wurden mit der
VMA korreliert.
Für die Präventionsstrategien ergibt sich insgesamt eine Korrelation mit VMA von
r(100) = -.14, ns; für passive Prävention fanden wir r(100) = -.05, ns; allein für aktive
Präventionsstrategien zeigte sich eine schwache Tendenz in der vorhergesagten Richtung:
r(100) = -.18, p < .07.
Deutlicher ausgeprägt war die Korrelation zwischen VMA und der Bereitschaft,
Selbstverteidigungsstrategien einzusetzen. Für den Index aus allen sechs Items betrug die
Korrelation r(96)19 = -.35, p < .001; für defensive Strategien betrug sie r(96) = -.26, p < .02, für
offensive Strategien r(96) = -.35, p < .001.
Die Daten stützen also die Hypothese, daß bei Frauen ein negativer Zusammenhang
zwischen VMA und der Bereitschaft besteht, sich im Falle eines Angriffs effizienter
Abwehrstrategien zu bedienen. Dieser Befund ist möglicherweise auch im Lichte des engen
Zusammenhangs zwischen traditionellen Geschlechtsrollen und VMA zu interpretieren. Frauen,
die Vergewaltigungsmythen akzeptieren, präferieren in der Regel auch traditionellere Rollen für
sich selbst (s.o., Abschnitt 3.3.1.1). Strategien der Selbstverteidigung, insbesondere der aktiven
körperlichen Gegenwehr, sind mit diesen Rollenvorstellungen weitgehend unvereinbar.
Dies sollte für allgemein präventives Verhalten weniger zutreffen. Tatsächlich ist ja das
Überzeugungssystem hoher VMA u.a. durch die Annahme gekennzeichnet, daß Frauen selbst
dafür Sorge tragen sollten, Situationen erst gar nicht entstehen zu lassen, in denen ein Mann "in
Versuchung geraten könnte", sexuelle Gewalt auszuüben. Obwohl Frauen mit hoher VMA also
19
Diese Koeffizienten beruhen auf n = 98 wegen fehlender Werte.
Entwicklung und Validierung der VMA-Skala 63
aufgrund ihrer geringeren subjektiven Risikoeinschätzung die spezifische Notwendigkeit der
Prävention als geringer ansehen dürften (wohl auf der Grundlage der Annahme, daß sie selbst
"nicht diese Art Frauen" sind), fällt es ihnen möglicherweise weniger schwer, den prinzipiellen
Nutzen solcher Strategien zu bejahen. Frauen, die Vergewaltigungsmythen ablehnen, sind
hingegen mit dem Dilemma konfrontiert, daß sie die Notwendigkeit präventiver Bemühungen
nicht gänzlich verneinen können, andererseits aber die Berechtigung solcher Strategien aus
prinzipiellen politischen Erwägungen eher ablehnen n Frauen sollten eben nicht "dafür
verantwortlich sein, ihrer eigenen Vergewaltigung vorzubeugen".20 Diese Überlegungen mögen
im nachhinein eine plausible Erklärung dafür liefern, daß eine höhere negative Korrelation
zwischen VMA und Präventionsstrategien ausblieb.
3.3.2
Experimentelle Validierung: VMA und Verantwortungszuschreibung in konkreten
Fällen
Wie die Diskussion in Kapitel 2 zeigte, besteht einer der zentralen Aspekte von
Vergewaltigungsmythen in einer Zuschreibung von Mitverantwortung an die Opfer und, damit
einhergehend, der Entlastung der Täter (Brownmiller, 1975; Burt, 1980, 1991; Ward, 1995).
Entsprechend sollten Personen, die Vergewaltigungsmythen im allgemeinen eher zustimmen,
auch in konkret beschriebenen Vergewaltigungsfällen strengere Urteile über die Opfer und
mildere Urteile über die Täter abgeben als Personen, die Vergewaltigungsmythen eher ablehnen.
In Studien mit englischsprachigen Skalen zur Erfassung der VMA wurden entsprechende
Zusammenhänge wiederholt demonstriert (z.B. Bunting & Reeves, 1983; Burt, 1980; Krahé,
1988; Quackenbush, 1989; zum Überblick s. Krahé, 1991 b). In ähnlicher Weise hängt auch die
subjektive Definition eines konkreten Geschehens als Vergewaltigung mit der VMA zusammen.
Personen mit hoher VMA verwenden engere Definitionen einer "wirklichen" Vergewaltigung
(Burt & Albin, 1981).
Es ist anzunehmen, daß diese engeren Definitionen durch alle drei von Lerner (1980)
diskutierten "Taktiken der Uminterpretation" eines "ungerechten" Ereignisses zustande kommen
können: "reinterpret the outcome", "reinterpret the cause" oder "reinterpret the character of the
victim" (S. 20-21). Erstens können unmittelbar die Folgen für das Opfer heruntergespielt werden,
indem etwa viele Vergewaltigungen als besonders rauhe, aber im Prinzip akzeptable Spielart der
Sexualität umgedeutet werden. Zweitens kann die Tatsache, daß bestimmte vorausgehende
20
In diesem Sinne sind auch Proteste aus der Frauenbewegung Anfang der achtziger Jahre gegen ein
Flugblatt der Bremer Polizei zu verstehen, das an Frauen gerichtet war und gutgemeinte n aber z.T. grotesk
mythenkonforme n Vorschläge zur Prävention enthielt, u.a. eine Liste von Fragen wie "Kleiden und verhalten
Sie und Ihre Tochter sich so, daß sich kein Mann 'eingeladen' fühlt?", gefolgt von der Versicherung: "Wenn
alle Fragen von Ihnen mit 'Ja' beantwortet wurden, dann kann man Ihnen nur gratulieren und sagen: GEFAHR
ERKANNT n GEFAHR (FAST) GEBANNT!" (zit. n. Schäfer, 1982; zur Diskussion s.a. Fehrmann et al.,
1984).
64
Kapitel 3
Handlungen des Opfers subjektiv als Einwilligung oder Inkaufnahme sexueller Handlungen
interpretiert werden, indirekt dazu beitragen, daß ein konkreter Vorfall nicht mehr als
Vergewaltigung definiert wird (Klemmack & Klemmack, 1976). Drittens können bestimmte
Opfer als charakterlich minderwertig eingestuft werden, mit der Folge, daß eine Vergewaltigung
dieser Frauen nicht mehr als solche angesehen wird (so z.B., wenn Befragte der Aussage
zustimmen, daß eine Prostituierte nicht vergewaltigt werden "könne"; Gilmartin-Zena, 1987,
1988).
Die erste Studie, die im deutschsprachigen Raum den Zusammenhang zwischen VMA und
der Verantwortungszuschreibung an Täter und Opfer bei einem konkreten Fallszenario
untersuchte, ist die bereits erwähnte Arbeit von Gieseke und Schlupp (1985). VMA wurde mit
acht Items gemessen, die nach inhaltlichen Kriterien aus der "R Scale" von Costin ausgewählt
worden waren (s. Tabelle 3.1: Items Nr. 1, 2, 3, 4, 15, 16, 17 und 20). In dieser Studie zeigte sich
insgesamt eine signifikante positive Korrelation zwischen VMA und einem Index, der die
Verantwortung des Opfers relativ zur Verantwortung des Täters ausdrückte. Interessanterweise
fiel die entsprechende Korrelation höher aus (p < .06), wenn aufgrund einer experimentellen
Manipulation traditionelle Geschlechtsstereotype leicht verfügbar waren (r = .51, N = 62), als
wenn dies nicht der Fall war (r = .26, N = 62; s.a. Schwarz, Gieseke & Schlupp, 1990). Wenn
man der Argumentation der AutorInnen folgt, daß bei den Versuchspersonen durch die
Aktivierung der Geschlechtsrollen-Thematik auch die eigenen Einstellungen zu Vergewaltigung
kognitiv leichter verfügbar wurden, dann sprechen diese Befunde nicht nur für einen korrelativen
Zusammenhang, sondern auch für einen kausalen Einfluß der VMA auf die Interpretation
konkreter Beispiele für sexuelle Gewalthandlungen (zur Logik der Informationsaktivierung s.a.
Abschnitt 5.2; Bohner, Reinhard & Kerschbaum, 1995).
In eigenen Studien überprüften wir an drei Stichproben den Zusammenhang zwischen VMA
und der Zuschreibung von Verantwortung an Täter und Opfer in konkreten Fällen. In einem
dieser Experimente (Stichprobe 7; Bohner, Hübner et al., 1994) sollte außerdem der Einfluß der
Gruppenzugehörigkeit des Täters untersucht werden. Dieses Experiment wird ausführlich im
folgenden Abschnitt 3.3.2.1 berichtet. In zwei weiteren Untersuchungen standen Textmerkmale
bei der Beschreibung einer Vergewaltigung im Vordergrund. An Texten, die Versuchspersonen
selbst generierten, wurde die Verwendung grammatikalischer Formen untersucht, die geeignet
sind, die Täterschaft des Mannes zu verschleiern und die Frau in den Vordergrund des Diskurses
zu rücken (Stichprobe 6; Herberg et al., 1995); darüber hinaus analysierten wir die Wirkung
solcher Textmerkmale in Texten, die Versuchspersonen zum Lesen vorgelegt wurden
(Stichprobe 12; Herberg et al., 1996; s.a. Abschnitt 4.3). Die für den Zusammenhang von VMA
und Verantwortungszuschreibung relevanten Aspekte dieser beiden Studien werden im Abschnitt
3.3.2.2 berichtet.
3.3.2.1 Akzeptanz von Vergewaltigungsmythen und Verantwortungszuschreibung I: Erste
Entwicklung und Validierung der VMA-Skala 65
Evidenz für einen Zusammenhang auf der Grundlage der VMAS
Dieses Experiment sollte erste Evidenz für einen Zusammenhang zwischen den Werten der
VMAS und Urteilen über Täter, Opfer und Tat in einem konkreten Fallszenario erbringen.
Darüber hinaus sollte der Einfluß der Gruppenzugehörigkeit des Täters untersucht werden. Auf
der Grundlage der Theorie der sozialen Identität (Tajfel & Turner, 1979) wurde vorhergesagt, daß
einem Täter, der der Eigengruppe angehört, geringere Verantwortung für eine Vergewaltigung
zugeschrieben wird als einem Täter, der nicht der Eigengruppe angehört. Ergebnisse, die dafür
sprechen, daß Personen Mitglieder ihrer Eigengruppe gegenüber Fremdgruppenangehörigen
bevorzugen, liegen aus vielfältigen Studien zum "minimal group paradigm" vor (z. Überblick
s. Diehl, 1990). Mindestens eine Studie konnte zeigen, daß auch im Bereich realer sozialer
Gruppen mehrdeutige, als aggressiv interpretierbare Handlungen dann positiver beurteilt werden,
wenn ein Mitglied der Eigengruppe sie ausübt, als wenn ein Mitglied einer Fremdgruppe
dieselben Handlungen ausführt (Duncan, 1976). Im Bereich sexueller Gewalt wurde die
Gruppenzugehörigkeit von Täter und urteilender Person (bei letzterer außer in bezug auf das
Geschlecht) bisher nicht systematisch untersucht.
Methode und Hypothesen
Die 60 männlichen Versuchspersonen (Stichprobe 7; Bohner, Hübner et al., 1994) waren je
zur Hälfte Studenten der Betriebswirtschaftslehre (BWL) und Studenten anderer Fächer. Wir
realisierten die Zugehörigkeit des Täters zur Eigengruppe über das Studienfach: Der Täter in dem
zu beurteilenden Fall wurde entweder als BWL-Student identifiziert oder nicht (s. Text in
eckigen Klammern in Abb. 3.1). Die Versuchspersonen wurden nach dem Zufall entweder der
Bedingung "BWL-Täter" oder der Bedingung "Täter unspezifiziert" zugewiesen. Als weitere
unabhängige Variable wurde der Einfluß der VMA untersucht.
Die Versuchspersonen lasen unter dem Vorwand, daß eine Studie zur "Verarbeitung von
Medienberichten" durchgeführt würde, einen kurzen, als Zeitungsartikel gestalteten Text über
eine Vergewaltigung (s. Abb. 3.1). Um einen gewissen Interpretationsspielraum zu ermöglichen,
wurde das Wort "Vergewaltigung" nicht genannt, und es wurden in Anlehnung an Krahé (1991 b,
S. 300) einige "prototypische" Details einer "zweifelhaften Vergewaltigung" in die Beschreibung
eingebaut, die mythenkonform interpretiert und so zur Entlastung des Täters herangezogen
werden konnten (Opfer und Täter kennen sich; beide konsumieren vor der Tat gemeinsam
Alkohol; das Opfer lädt den Täter zu sich nach Hause ein; der Täter ist ein "unbescholtener
Bürger").
66
Kapitel 3
________________________________________________________________________________
MANNHEIMER MORGEN, 20.4.1994
SCHLIMMES ENDE EINES PARTYBESUCHS
Der 23 Jahre alte [ BWL-Student ] Michael D. aus Mannheim hat am
Wochenende eine Bekannte in ihrer Wohnung im Lindenhof zum
Geschlechtsverkehr gezwungen. Laut Zeugenaussagen haben beide zuvor auf
einer Party alkoholische Getränke konsumiert und miteinander getanzt. Gegen
0.30 Uhr begleitete Michael D. die Frau nach Hause, wo sie ihn noch auf einen
Kaffee hereinbat. In der Wohnung drängte er die Frau, die nicht in der Lage
war,
sich
zu
wehren,
in
ihr
Schlafzimmer
und
zwang
sie
zum
Geschlechtsverkehr. Nach Angaben der Polizei war der Mann unbewaffnet
und bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht als Straftäter bekannt.
_________________________________________________________________________________
Abbildung 3.1: Vergewaltigungsszenario zur Untersuchung des Einflusses der
Gruppenzugehörigkeit des Täters und der VMA des Urteilers auf
Verantwortungsattributionen.
Zentrale abhängige Variablen waren Urteile über die Verantwortung des Mannes und der Frau,
die Definition des Geschehens als Vergewaltigung sowie die Schwere der Tat und ihrer Folgen
(insgesamt 10 Items). Jedes Item war als Aussagesatz formuliert (Beispiele: "Die Verantwortung
für das Geschehen trug der Mann"; Die Verantwortung für das Geschehen trug die Frau"; "Es
handelte sich um eine Vergewaltigung"). Die Versuchsteilnehmer sollten jeweils auf Skalen von
1, "Dieser Aussage stimme ich überhaupt nicht zu", bis 7, "Dieser Aussage stimme ich völlig zu",
ihr Urteil abgeben. Eine Ausnahme hiervon bildete ein Item zum angemessenen Strafmaß für den
Täter: "Welches Strafmaß wäre Deiner Meinung nach im vorliegenden Fall angemessen?"; dieses
hatte die 7 Antwortoptionen Freispruch (1), Bewährungsstrafe (2), Haftstrafe bis zu 1 Jahr (3),
Haftstrafe von 1 bis 2 Jahren (4), Haftstrafe von 2 bis 3 Jahren (5), Haftstrafe von 3 bis 4 Jahren
(5) und Haftstrafe von 4 oder mehr Jahren. Am Ende des Experiments füllten die
Versuchspersonen die Kurzform der VMAS aus, gaben in freiem Antwortformat an, was ihrer
Meinung nach der Zweck der Untersuchung war, und wurden im Verlauf eines ausführlichen
postexperimentellen Gesprächs über die wahren Ziele des Experiments aufgeklärt.
Wir prüften folgende Hypothesen:
Hypothese 1:
Einem Täter, der der Eigengruppe angehört, wird geringere Verantwortung
zugeschrieben als einem Täter, dessen Gruppenzugehörigkeit nicht spezifiziert
wurde.
Hypothese 2:
Entwicklung und Validierung der VMA-Skala 67
Personen mit höherer VMA schreiben dem Täter geringere Verantwortung zu als
Personen mit niedrigerer VMA.
Analoge Hypothesen formulierten wir für die Definition als Vergewaltigung, die Einschätzung der
Schwere der Tat und das vorgeschlagene Strafmaß, umgekehrte Zusammenhänge sagten wir für die
Verantwortungszuschreibung an die Frau vorher.
Ergebnisse
Skalenanalysen zeigten, daß die zehn Items zur Einschätzung der Tat und der Verantwortung
der "Beteiligten" bei Polung aller Items in Richtung Belastung des Täters eine hohe interne
Konsistenz aufwiesen (" = .81). Sie wurden daher zu einem Index der Täterverantwortung
gemittelt. Die Stichprobe wurde am Median der VMAS (" = .72; Median = 3.80) in Personen mit
niedriger versus hoher VMA eingeteilt.21 Der Index der Täterverantwortung wurde einer 2x2x2faktoriellen Varianzanalyse mit den Faktoren Studienfach des Urteilers (BWL, Nicht-BWL),
Gruppenzugehörigkeit des Täters (BWL-Student, unspezifiziert) und VMA (niedrig, hoch)
unterzogen.
In dieser Analyse erreichte nur der Haupteffekt der VMA statistische Signifikanz,
F(1,52) = 6.31, p < .02, alle übrigen p > .25. In Übereinstimmung mit Hypothese 2 schrieben
Personen mit niedriger VMA dem Täter größere Verantwortung zu (M = 5.41) als Personen mit
hoher VMA (M = 4.77). Hypothese 1 wird hingegen durch die Daten nicht gestützt. Geplante
Einzelvergleiche zeigen, daß Versuchspersonen, die selbst BWL studieren, einem Täter der
Eigengruppe nicht geringere Verantwortung zuschrieben (M = 5.06) als einem Täter, dessen
Gruppenzugehörigkeit unbekannt war (M = 4.76), t(56) = -0.37, ns; ebensowenig unterschieden
sich BWL-Studenten in der Beurteilung des BWL-Täters (M = 5.06) von anderen Studenten
(M = 5.10), t(56) = 0.12, ns.
Analysen mit den zehn Einzelitems zeigten vergleichbare Ergebnisse. Auf fünf Variablen
findet sich ein signifikanter Effekt der VMA (p < .05), und auf einer weiteren ein tendenzieller
Effekt (p < .10). Erwähnenswert ist, daß die stärksten Effekte auf dem direkten Item zur
Verantwortung des Mannes ("Die Verantwortung für das Geschehen trug der Mann"; niedrige
VMA: M = 6.34, hohe VMA: M = 5.29), F(1,52) = 13.57, p < .002, und auf der Frage nach der
Definition des Geschehens als Vergewaltigung auftraten ("Es handelte sich um eine
Vergewaltigung"; niedrige VMA: M = 6.67, hohe VMA: M = 5.61), F(1,52) = 14.02, p < .001. Für
die direkte Frage nach der Verantwortung der Frau ("Die Verantwortung für das Geschehen trug
21
Vorab durchgeführte Analysen hatten gezeigt, daß die VMA-Werte der Teilnehmer von der
Versuchsbedingung unabhängig waren, F < 1. Jedoch wiesen die BWL-Studenten im Mittel höhere VMAWerte auf (M = 4.06) als die übrigen Versuchsteilnehmer (M = 3.39), F(1,56) = 9.16, p < .01. Dadurch
ergaben sich etwas ungleiche Zellenbesetzungen (BWL/niedrige VMA: 11, BWL/hohe VMA: 16,
andere/niedrige VMA: 18, andere/hohe VMA: 15). Diesem Umstand wurde in den Varianzanalysen durch
Berechnung der Quadratsummen nach dem Regressionsmodell Rechnung getragen.
68
Kapitel 3
die Frau") fanden wir einen schwächeren, aber ebenfalls signifikanten Haupteffekt der VMA
(niedrige VMA: M = 1.97, hohe VMA: M = 2.45), F(1,52) = 4.53, p < .04. Die Zusammenhänge
zwischen der VMA und den beiden Items, die sich auf die Schwere der Tat bezogen, wiesen in
dieselbe Richtung, waren aber nicht signifikant: Vpn mit hoher VMA (M = 5.77) hielten es
tendenziell für weniger wahrscheinlich als Vpn mit niedriger VMA (M = 6.38), daß die Frau
psychische Folgeschäden davontragen würde, F(1,52) = 3.36, p < .08. Der Modalwert des
vorgeschlagenen Strafmaßes lag bei Vpn mit niedriger VMA bei der Kategorie "Haftstrafe bis zu
1 Jahr" (9 Vpn bzw. 31 %), wohingegen die meisten Vpn mit hoher VMA die Kategorie
"Bewährungsstrafe" wählten (14 Vpn bzw. 45 %). Die Mehrheit der Vpn mit niedriger VMA
(79.3 %) entschied sich für eine Haftstrafe (Kategorien 3 bis 7); die Mehrheit der Vpn mit hoher
VMA (51.6 %) entschied sich hingegen für "keine Haft" (Kategorien 1 und 2). Für eine 2x7Kontingenztafel der sieben Antwortoptionen als Funktion der VMA ergab sich ein signifikanter
Zusammenhang, P2(6) = 15.41, p < .02; der Koeffizient Gamma, der den Zusammenhang zwischen
ordinalskalierten Variablen angibt, betrug ( = -.34.
Zur besseren Vergleichbarkeit mit anderen Untersuchungen, und um die volle Information der
VMAS zu nutzen, berechneten wir außerdem die Korrelation zwischen VMA und dem Index der
Täterverantwortung. Diese Analyse zeigte, daß der Täter bei höherer VMA wesentlich milder
beurteilt wurde, r(58) = -.46, p < .001. Auch das Urteil über die direkte Verantwortung des Täters
fiel bei höherer VMA niedriger aus, r(58) = -.52; entsprechendes gilt für die Definition des
Geschehens als Vergewaltigung, r(58) = -.50, jeweils p < .001. Umgekehrt gingen mit höherer
VMA strengere Urteile über die direkte Verantwortung der Frau einher, r(58) = .27, p < .05.
Diskussion
Für das Ausbleiben der in Hypothese 1 vorhergesagten relativen Favorisierung eines Täters aus
der Eigengruppe können verschiedene Faktoren verantwortlich sein, die ich hier nur kurz anreißen
kann. Eine Möglichkeit wäre, daß die Information über die Gruppenzugehörigkeit von den
Versuchspersonen nicht bemerkt oder nicht hinreichend beachtet wurde. Allerdings gaben in dem
postexperimentellen Gespräch mit der Versuchsleitung praktisch alle Versuchspersonen in der
"BWL-Täter"-Bedingung an, daß sie die Information zum Studienfach des Täters bemerkt hätten,
und erinnerten diese auch korrekt. Darüber hinaus äußerte keine Versuchsperson den Verdacht, daß
das Studienfach des Täters etwas mit dem Untersuchungsziel zu tun habe.
Eine weitere mögliche Erklärung der mangelnden Unterstützung für Hypothese 1 besteht darin,
daß die Zugehörigkeit zu einem Studiengang nur wenig zur sozialen Identität beiträgt, insbesondere
bei einem so großen und wenig distinkten Studiengang, wie ihn die Betriebswirtschaftslehre in
Mannheim darstellt. Schließlich betonen Tajfel und Turner (1979) die Bedeutung des Vergleichs
zwischen Eigen- und Fremdgruppe als Quelle sozialer Identitätsprozesse. Ein solcher Vergleich
wurde in unserem Experiment kaum angeregt, da kein wirklicher Intergruppen-Kontext hergestellt
war (außer in bezug auf das Geschlecht). Zur adäquaten Überprüfung von Einflüssen der sozialen
Entwicklung und Validierung der VMA-Skala 69
Identität auf die Beurteilung von Fällen sexueller Gewalt sind daher weitere Untersuchungen
wünschenswert, in denen Täter aus relevanten Eigengruppen und Fremdgruppen zu beurteilen
wären.
Obwohl also die Hypothese einer Favorisierung der Eigengruppe im Kontext sexueller Gewalt
keine Unterstützung fand, zeigten sich — unabhängig von der täterbezogenen Information —
insgesamt sehr klar die nach Hypothese 2 erwarteten Zusammenhänge zwischen VMA und
Verantwortungsattribution sowie zwischen VMA und der Definition des Geschehens als
Vergewaltigung. Wie vorhergesagt schrieben Versuchspersonen mit geringerer VMA dem Täter
mehr und dem Opfer weniger Verantwortung zu als Versuchspersonen mit höherer VMA. Ebenso
definierten Personen mit höherer VMA das Geschehen weniger eindeutig als Vergewaltigung im
Vergleich zu Personen mit geringerer VMA. Diese Befunde replizieren entsprechende Ergebnisse
aus dem englischsprachigen Raum (s. Krahé, 1991 b).
3.3.2.2 Akzeptanz von Vergewaltigungsmythen und Verantwortungszuschreibung II und
III: Mythenkonsistente versus -inkonsistente Information
In zwei weiteren Experimenten überprüften wir ebenfalls unter anderem die Hypothese, daß
VMA mit der Zuschreibung von Verantwortung an den Täter negativ und mit der Attribution von
Verantwortung an das Opfer positiv korreliert ist (s.a. Herberg et al., 1995, 1996). Beide
Untersuchungen befaßten sich in diesem Zusammenhang auch mit sprachlichen Variablen bei der
Textproduktion und -rezeption, worauf ich im nächsten Kapitel ausführlich eingehe; hier soll
zunächst über die Korrelationen zwischen VMA einerseits und Urteilen über die Verantwortung
von Opfer und Täter andererseits berichtet werden.
Im Unterschied zu dem zuvor beschriebenen Experiment, in dem allen Versuchspersonen eine
Reihe mythenkonform interpretierbarer Details zur Verfügung stand, variierten wir in diesen
Studien die Menge derartiger Information. Dieses Vorgehen basierte auf der Überlegung, daß
Vergewaltigungsmythen im Sinne eines kognitiven Schemas die Aufmerksamkeit auf
mythenkonsistente Information lenken und eine mythenkonsistente Interpretation mehrdeutiger
Information begünstigen sollten (s. Fiske & Taylor, 1991, Kapitel 4; s.a. Bohner, Moskowitz &
Chaiken, 1995, zur Nutzung verfügbarer Heuristiken bei der Interpretation mehrdeutiger
Information). Unsere Hypothesen lauteten entsprechend, daß (1) bei höherer VMA die Tat weniger
streng beurteilt wird als bei niedrigerer VMA (was einschließt, daß dem Täter weniger und dem
Opfer mehr Verantwortung zugeschrieben wird), und daß (2) dieser Einfluß der VMA auf die
Interpretation der Vergewaltigungsszenen um so deutlicher ausfällt, je mehr mythenkonsistente
bzw. als mythenkonsistent interpretierbare Hinweise in der Situation enthalten sind (s.a. Krahé,
1988, 1991 b).
Methode
Siebenundsechzig Mannheimer Studierende (Stichprobe 6; Herberg et al., 1995), betrachteten
70
Kapitel 3
einen kurzen Videoausschnitt ohne Ton, in dem eine Vergewaltigung zu sehen war. Je nach
Versuchsbedingung enthielt die gezeigte Sequenz vorherige Interaktionen zwischen Opfer und
Täter, die mythenkonform interpretiert werden können (Ausschnitt aus dem U.S.-amerikanischen
Spielfilm "Angeklagt"), oder keine solchen Interaktionen (Ausschnitt aus einer Folge der ZDF-Serie
"Die Schwarzwaldklinik"; für Details zur Operationalisierung s. Abschnitt 4.2). Die
Versuchspersonen wurden nach dem Zufall einer dieser Bedingungen zugewiesen.
Nachdem die Versuchspersonen eines der Videos angesehen hatten, wurden sie zunächst
gebeten, das Gesehene kurz schriftlich nachzuerzählen (zu Details s. Abschnitt 4.2). Dann
beantworteten sie die folgenden fünf Fragen zur Beurteilung der Tat: "Wieviel Verantwortung für
die Tat schreiben Sie dem Vergewaltiger zu?"; "Wieviel Verantwortung für die Tat schreiben Sie
der Frau zu?" (jeweils Skala von 1, "überhaupt keine", bis 7, "vollständige"); "Was für ein Strafmaß
würden Sie für den Vergewaltiger festlegen?" (Antwortoptionen: "Freispruch"; "Strafe auf
Bewährung / Geldstrafe"; "Haftstrafe bis zu 1 Jahr"; "Haftstrafe bis zu 3 Jahren"; "Haftstrafe bis
zu 5 Jahren"; "Haftstrafe bis zu 10 Jahren"; "Haftstrafe über 10 Jahre"); "Wie hoch schätzen Sie das
Rückfallrisiko des Vergewaltigers ein?" und "Wie hoch schätzen Sie die psychischen Folgeschäden
dess Opfers ein?" (jeweils Skalen von 1, "sehr niedrig", bis 7, sehr hoch"). Nach Umpolung des
Items 2 wurden diese Items zu einem Index der Täterverantwortung zusammengefaßt (" = .54).
Sowohl dieser Index als auch die beiden Einzelitems 1 und 2 wurden mit den Werten der
Versuchspersonen auf der Kurzform der VMAS, die diese am Ende des Experiments ausfüllten,
korreliert, und zwar sowohl für die Gesamtstichprobe als auch getrennt nach den beiden VideoBedingungen. Eine vorab durchgeführte Analyse zeigte, daß die Video-Ausschnitte keine
Unterschiede in den VMA-Werten der Versuchspersonen hervorriefen.
Ergebnisse
Die zentralen Ergebnisse zur Verantwortungsattribution zeigt Tabelle 3.9. Insgesamt wurden
die Hypothesen bestätigt. Für die Gesamtstichprobe sind alle drei Korrelationskoeffizienten mit
Beträgen um .50 in der vorhergesagten Richtung hochsignifikant; je höher die VMA, desto weniger
Verantwortung wurde dem Täter und desto mehr Verantwortung dem Opfer zugeschrieben. Ein
Vergleich der beiden Video-Bedingungen zeigt darüber hinaus, daß diese Zusammenhänge
tendenziell ausgeprägter erscheinen, wenn die Vergewaltigungs-Szene Hinweise enthielt, die im
Sinne der Vergewaltigungsmythen interpretiert werden konnten; allerdings erreichten die
entsprechenden Vergleiche der Korrelationskoeffizienten zwischen den Video-Bedingungen keine
statistische Signifikanz (s. Tabelle 3.9, rechte Spalte). Dieser sich andeutende Befund steht im
Einklang mit der Annahme, daß Vergewaltigungsmythen als kognitive Schemata genutzt werden,
die zur Interpretation von Information über sexuelle Gewalt dienen. Je mehr Anknüpfungspunkte
für eine mythenkonsistente Interpretation diese Information in dem Experiment bot, um so eher
zeigten sich Einflüsse der VMA auf täter- und opferbezogene Urteile.
Entwicklung und Validierung der VMA-Skala 71
Tabelle 3.9 Korrelationen zwischen VMA und Verantwortungszuschreibung bei VideoAusschnitten einer Vergewaltigungsszene; Test auf Korrelationsdifferenzen
zwischen mytheninkonsistenter und mythenkonsistenter Bedingung (Stichprobe 6)
Gesamt
Variable
N = 67
Ausschnitt 1
("Schwarzwaldklinik"); n = 33
Ausschnitt 2
("Angeklagt")
n = 34
z (Vergleich)
Verantw.-Indexa
-.54**
-.32+
-.66**
1.79+
Verantw. Täter
-.48**
-.26
-.56**
1.43
Verantw. Opfer
.50**
.36*
.60**
1.20
Anm.:
a
Index aus fünf Items; die gültigen n für diese Variable lauten 65, 32, und 33.
** p < .001; * p < .05; + p < .10; alle Werte zweiseitig.
Entsprechende Befunde berichtet Krahé (1988; Exp. 2). In ihrer Studie lasen britische
Versuchspersonen eine kurze Beschreibung einer Vergewaltigung, in der das Opfer vor der Tat je
nach Versuchsbedingung geschlechtsrollendiskrepantes oder relativ neutrales Verhalten zeigte.
Danach beurteilten sie die Verantwortung von Täter und Opfer und füllten abschließend die von
Burt (1980) entwickelte VMA-Skala aus. Insgesamt schrieben Vpn mit hoher VMA dem Opfer
mehr Verantwortung zu als Vpn mit niedriger VMA. Dieser Einfluß der VMA auf
Verantwortungsattributionen an das Opfer war ausgeprägter, wenn die Frau sich
geschlechtsrollendiskrepant verhalten hatte (indem sie allein in einem Lokal etwas getrunken hatte)
als wenn sie sich "neutral" verhalten hatte (indem sie nach der Arbeit direkt zu ihrem geparkten
Wagen ging).
Unsere Daten replizieren diesen Befund mit der Kurzform der deutschen VMAS unter
Verwendung von visuellem, nichtsprachlichem Stimulusmaterial. Diese Methode hat den Vorteil,
daß sich in das Versuchsmaterial keine ungewollten Präsuppositionen durch die Wortwahl
einschleichen, wie es in vorgegebenen schriftlichen Vignetten der Fall sein kann. Nachteilig ist
jedoch, daß bei unserer Vorgehensweise mythenrelevante Aspekte weniger gezielt variiert werden
können (es sei denn, man hat die Möglichkeit, entsprechende Videos selbst zu produzieren). Da sich
die beiden Video-Ausschnitte in einer Vielzahl von Merkmalen unterscheiden, nicht
auszuschließen, daß Unterschiede im Urteil auf andere Einflüsse als den der Mythenkonsistenz
zurückzuführen sind. Die Konvergenz unserer Ergebnisse mit denen von Krahé (1988) stützt jedoch
die Hypothese einer Interaktion von Mythenakzeptanz der BetrachterInnen und Mythenkonsistenz
der Information.
In einer weiteren Untersuchung (Stichprobe 12; s.a. Herberg et al., 1996) variierten wir das
Ausmaß mythenkonformer Inhalte bei schriftlicher Information. Da diese Untersuchung ausführlich
in Abschnitt 4.3 beschrieben wird, seien hier nur die Befunde zur Korrelation zwischen VMA und
72
Kapitel 3
der Verantwortungszuschreibung vorweggenommen. Wie Tabelle 3.10 zu entnehmen ist, konnte
insgesamt sowohl die negative Korrelation von VMA und Verantwortungszuschreibung an den
Täter als auch die positive Korrelation von VMA und Verantwortungszuschreibung an das Opfer
repliziert werden. Die Beträge dieser Koeffizienten waren erwartungsgemäß geringer, wenn die
Vorgeschichte der Tat keine mythenkonsistenten Hinweise enthielt, als wenn in die Beschreibung
einige solcher Hinweise eingestreut waren (zur Operationalisierung s. Abschnitt 4.3, Tabelle 4.4).
Tests auf Korrelationsunterschiede ergaben eine signifikante Differenz für das Urteil über die
Opferverantwortung; bei dem Urteil über die Täterverantwortung lag die Korrelationsdifferenz in
der vorhergesagten Richtung, war jedoch nicht signifikant.
Tabelle 3.10
Korrelationen zwischen VMA und Verantwortungszuschreibung bei
Texten über eine Vergewaltigung; Test auf Korrelationsdifferenzen
zwischen mytheninkonsistenter und mythenkonsistenter Bedingung
(Stichprobe 12)
Gesamt
Variable
N = 97
Text 1
(mytheninkonsistent); n = 45
Text 2
(mythenkonsistent); n = 52
z (Vergleich)
Verantw. Täter
-.54***
-.49**
-.61***a
0.81
Verantw. Opfer
.57***
.44**
.71***
1.97*
Anm.:
a
gültiges n = 51.
*** p < .001; ** p < .01; * p < .05; alle Werte zweiseitig.
Insgesamt stützen die Daten zur Verantwortungsattribution aus den drei berichteten Studien
somit die Annahme, daß Personen konkrete Fallinformationen in Übereinstimmung mit ihren
allgemeinen Einstellungen zu Vergewaltigung beurteilen. Dieser Zusammenhang ist
erwartungsgemäß insgesamt ausgeprägter, wenn mythenkonsistente oder zumindest mehrdeutige
Elemente in der Fallinformation enthalten sind. Die beobachteten Urteilseffekte generalisieren über
verschiedene Darbietungsformen und treten auch auf, wenn den Urteilenden kein sprachlich
kodiertes Material zur Verfügung steht.
3.4 Zusammenfassung der Befunde zur Reliabilität und Validität der deutschen VMASkala
Die in diesem Kapitel berichteten Arbeiten belegen, daß die deutsche VMA-Skala ein reliables
und valides Instrument zur Erfassung der Zustimmung zu Vergewaltigungsmythen darstellt.
Obwohl in den einzelnen Items unterschiedliche Aspekte angesprochen werden, die der in Kapitel 2
erarbeiteten Definition entsprechen, erwiesen sich sowohl die Langversion mit 20 Items als auch
die 10-Item-Kurzskala als relativ homogen und erreichten befriedigende bis gute Kennwerte der
Entwicklung und Validierung der VMA-Skala 73
internen Konsistenz. Eine Normierung an größeren und repräsentativen Stichproben wäre
wünschenswert, kann und soll aber im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden (für
entsprechende Überlegungen s. aber Bohner, Sturm & Weis, 1995).
In allen untersuchten Stichproben berichteten erwartungsgemäß Männer wesentlich höhere
VMA als Frauen. Die Konstruktvalidität der VMAS wurde weiter belegt durch positive
Korrelationen mit einer konservativen Geschlechtsrollenorientierung und dem Glauben an eine
gerechte Welt sowie negative Korrelationen mit zwischenmenschlichem Vertrauen. Beide Formen
der VMAS sind unkorreliert mit der Tendenz, sozial erwünschte Antworten zu geben.
Bei Frauen fanden wir, wie vorhergesagt, negative Korrelationen der VMAS mit dem
subjektiven Risiko, selbst Opfer sexueller Gewalt zu werden, und mit der Bereitschaft, aktive
Strategien der Gegenwehr einzusetzen. Ein entsprechender Zusammenhang mit selbstberichtetem
präventivem Verhalten ließ sich entgegen der Vorhersage statistisch nicht absichern.
In bezug auf konkrete fallbezogene Urteile erwies sich die VMAS als positiv korreliert mit der
Zuschreibung von Verantwortung an das Opfer einer Vergewaltigung und negativ korreliert mit
sowohl der Zuschreibung von Verantwortung an den Täter als auch der Definition eines
Tathergangs als Vergewaltigung. Der Zusammenhang zwischen VMA und
Verantwortungsattribution trat deutlicher zutage, wenn mythenkonsistent interpretierbare
Information in der zu beurteilenden Fallbeschreibung enthalten war. Dieser Befund ist kompatibel
mit der Annahme, daß Vergewaltigungsmythen im Sinne eines kognitiven Schemas wirken, das die
Aufnahme und Interpretation von Information steuert (Fiske & Taylor, 1991). In späteren Kapiteln
wird dieser Schemaaspekt der VMA noch gezielter untersucht.
Auch in den folgenden beiden Kapiteln werden Ergebnisse behandelt, die Funktionen und
Korrelate der VMA beleuchten. Die zu berichtenden Arbeiten gehen jedoch in ihrer Zielsetzung
über reine Validierungsstudien hinaus, so daß ihnen eigene Kapitel gewidmet sind. In Kapitel 4
gehe ich den Fragen nach, ob sich Unterschiede in der VMA in der Sprache ausdrücken, mit der
Personen über sexuelle Gewalt schreiben, und ob bestimmte Textmerkmale bei den RezipientInnen
Unterschiede in der Verantwortungszuschreibung auslösen. In Kapitel 5 befasse ich mich empirisch
mit möglichen Kausalbeziehungen, die dem Zusammenhang zwischen VMA und der
selbstberichteten Bereitschaft von Männern, sexuelle Gewalt auszuüben, zugrundeliegen könnten.
74
Kapitel 4
4
Exkurs: VMA und verschleiernde Sprache
Ein Kritikpunkt, der in bezug auf Studien zur Attributionstheorie vorgebracht wurde, bezieht
sich auf die Reaktivität der abhängigen Variablen. Das Argument lautet, daß Versuchspersonen
möglicherweise erst durch Fragen des Forschers dazu angehalten werden, über Kausalität oder
Verantwortlichkeit nachzudenken, spontan aber keine solchen Überlegungen angestellt hätten (zur
Diskussion s. Bohner, Bless, Schwarz & Strack, 1988; Weiner, 1985; allgemein zum Problem der
Reaktivität s. Bohner, 1995). Auch auf die oben in Abschnitt 3.3.2 diskutierten abhängigen
Variablen trifft diese Kritik zu: Vielleicht wird über eine mögliche Verantwortung des Opfers in
Reaktion auf eine entsprechende Frage eher nachgedacht als ohne eine solche Frage (s.a. Krahé,
1991 b). Zwar können die beobachteten Korrelationsunterschiede kaum allein mit dem
Erhebungsverfahren erklärt werden. Dennoch erschien es sinnvoll, im Zusammenhang mit unserer
Fragestellung auch spontane, weniger reaktive Indizien für eine Abwertung der Opfer und
Entlastung der Täter zu betrachten.
4.1 Das grammatikalische Passiv als "täterabgewandte Perspektive" und andere
sprachliche Strategien indirekter Verantwortungszuschreibung
Opferfeindliche Einstellungen sollten sich im Alltag nicht nur in offenen, direkten
Verantwortungszuschreibungen an die Frau ausdrücken. Schuldzuweisungen an die Opfer und eine
Entlastung der Täter äußern sich vielleicht auf subtilere Weise in der Sprache, mit der wir über
sexuelle Gewalt sprechen und schreiben (Reinholtz, Muehlenhard, Phelps & Satterfield, 1995). Ein
Aspekt der Sprache, der in diesem Zusammenhang diskutiert wird, ist die Verwendung des
grammatikalischen Passivs. Penelope (1990) vertritt die These, daß Passivkonstruktionen,
insbesondere das "Passiv ohne Erweiterung" (also ohne Nennung der handelnden Person), sowie
nominale Wendungen verschiedene "Täuschungsfunktionen" erfüllen können, nämlich u.a.
Allgemeingültigkeit zu suggerieren ("Es wird angenommen, daß ..."), die handelnde Person in den
Hintergrund des Diskurses zu rücken ("Die Frau wurde vergewaltigt") oder Mehrdeutigkeit
zuzulassen (s.a. Bolinger, 1980; Clark, 1992). Im Englischen scheint darüber hinaus das "get"Passiv besonders geeignet, eine direkte Verantwortlichkeit der Opfer zu suggerieren ("The woman
got raped" z.B. mag die Ergänzung "got herself raped" und damit eine aktive Beteiligung
nahelegen).
Doch auch Passivkonstruktionen mit Erweiterung, also solche, in denen die handelnde Person
oder Entität genannt wird, scheinen in hohem Maße ihre grammatikalischen Subjekte (und damit
semantischen Objekte) zu betonen. "It seems .. that one use of the passive is to emphasize the
relative importance of whatever is referred to by its subject" (Johnson-Laird, 1968, S. 69,
Hervorhebung im Original). Dieser angenommene Bedeutungsunterschied zwischen Aktiv und
Passiv wurde von Johnson-Laird (1968) in einer originellen experimentellen Anordnung überprüft.
Seine Versuchspersonen sollten die Bedeutung von je zwei Sätzen zeichnerisch abbilden. Die
Satzpaare drückten einander äquivalente Anordnungen von Farben im Aktiv und im Passiv aus
Exkurs: VMA und verschleiernde Sprache
75
(z.B. "Blue follows red" und "Red is followed by blue"). In einer anderen Versuchsbedingung
bezogen sich die beiden Sätze auf einander entgegengesetzte Anordnungen (z.B. "Blue follows red"
und "Blue is followed by red"). Die Versuchspersonen sollten zu jedem Satz mit einem blauen und
einem roten Buntstift ein liegendes längliches Rechteck so ausmalen, daß die Bedeutung des Satzes
wiedergegeben wird. Johnson-Laird nahm an, daß sich unterschiedliche Bedeutungen der
grammatikalischen Modi in verschieden großen Flächen der Farben niederschlagen würden, die
jeweils als Subjekt bzw. als Objekt des Satzes fungierten. Tatsächlich malten die meisten
Versuchspersonen die grammatikalischen "Subjekt-Flächen" größer als die "Objekt-Flächen" (also
z.B. bei "blue follows red" eine kleine rote Fläche links und eine große blaue Fläche rechts; bei "red
is followed by blue" hingegen eine große rote Fläche links und eine kleine blaue Fläche rechts).
Diese Subjekt-Objekt-Differenz war darüber hinaus ausgeprägter bei Passivkonstruktionen als bei
Aktivkonstruktionen.
Folgt man der Interpretation Johnson-Lairds, daß durch das Passiv die Bedeutsamkeit des
Subjekts, also inhaltlich der "leidenden" (i.S. von "acted-upon") Person oder Entität erhöht wird,
so sollte dies auch bei Texten über Vergewaltigung der Fall sein. Sätze wie "Die Frau wurde [von
dem Mann] vergewaltigt" weisen dem Opfer demnach eine "bedeutsamere" Rolle zu als Sätze wie
"Der Mann vergewaltigte die Frau". Diese unterschiedliche Betonung muß per se jedoch noch keine
negative Wertung implizieren, wie Penelope (1990) annimmt. Vielmehr könnte durch eine
Hervorhebung des Opfers auch Empathie oder Mitgefühl ausgedrückt werden (s.a. Lamb, 1991).
Eindeutige Generalisierungen auf den Bereich sexueller Gewalt erscheinen auf der Grundlage der
experimentellen Befunde Johnson-Lairds (1968) kaum möglich. Es ist auch denkbar, daß die
Verwendung des Passivs (versus Aktivs) je nach Voreinstellung der RezipientInnen
unterschiedliche Interpretationen begünstigt. Demnach könnten Beschreibungen einer
Vergewaltigung im Passiv bei Personen mit hoher VMA die ohnehin bestehende Tendenz zu
negativen Schlußfolgerungen über das Opfer verstärken, insbesondere wenn mythenkonform
interpretierbare inhaltliche Anhaltspunkte gegeben sind. Bei Personen mit niedriger VMA könnten
hingegen eher Empathie und eine positive Bewertung des Opfers begünstigt werden.
Aus dem englischsprachigen Raum liegen einige Studien vor, die sich weitgehend deskriptiv
mit der Häufigkeit von Aktiv- und Passivkonstruktionen (und anderen linguistischen Merkmalen)
bei Texten über sexuelle Gewalt befaßten. In einer archivarischen Analyse von Zeitungsberichten
zeigte sich, daß bei dem Verb "vergewaltigen" das Passiv gegenüber dem Aktiv dominierte (70 %
Passiv) und häufiger vorkam als bei positiven Verben ("danken", "vergeben": 27 %), einem
neutralen Verb ("berühren": 40 %) und einem "nicht-gewalttätigen" verbrechensbezogenen Verb
("rauben": 56 %). Noch etwas häufiger war das Passiv allerdings mit 76 % bei dem Verb
"[er]morden" (Henley, Miller & Beazley, 1993). Henley et al. werten diesen Befund als
Unterstützung der Hypothese, daß eine weitverbreitete Tendenz besteht, die Verantwortung
sexueller Gewalttäter für ihre Taten durch subtile sprachliche Manipulationen in den Hintergrund
zu rücken.
76
Kapitel 4
Sie führen allerdings auch eine Reihe von Alternativerklärungen für ihre Ergebnisse an. So ist
zum Beispiel bei Verbrechen zum Zeitpunkt des Berichts in einer Zeitung der Täter häufig nicht
bekannt. Außerdem sind bei bestimmten (vor allem leichteren) Straftaten Schilderungen aus der
Sicht des Opfers, in denen die Handlungen des Täters wohl in aktiver Form vorkommen, eher
verfügbar als bei anderen (vor allem schwereren) Delikten. Damit wäre auch zu erklären, daß bei
Mord das Passiv am stärksten überwiegt n hier ist die Übernahme von Schilderungen des
Tathergangs aus der Sicht des Opfers unmöglich.
In einer anderen archivarischen Studie untersuchte Lamb (1991) wissenschaftliche Artikel über
Männer, die Frauen schlagen, im Hinblick auf "linguistic avoidance", d.h. Strategien der
Textgestaltung, welche die Verantwortung der Täter verschleiern. Neben der auch in diesem Genre
hohen Verbreitung des Passivs (z.B. "battered wives") identifizierte Lamb weitere Sprachmerkmale,
die geeignet sind, die Verantwortungszuschreibung an die Täter zu reduzieren, nämlich u.a.
Nominalisierung (z.B. "domestic violence occurs ...") und eine distanzierende Wortwahl, die den
eigentlichen Gewaltaspekt abschwächt (z.B. "violent exchanges") oder überhaupt nicht mehr
anspricht (z.B. "family problems"). Das Ausmaß linguistischer Vermeidung war mit dem
Geschlecht und der fachlichen Ausrichtung der AutorInnen korreliert: Männer verwendeten die
Strategien häufiger als Frauen, und SozialarbeiterInnen verwendeten sie weniger als SoziologInnen
und PsychologInnen. Auch Lamb interpretiert ihre Befunde als kompatibel mit der Hypothese, daß
die Autoren (und, in geringerem Ausmaß, die Autorinnen) der untersuchten Artikel motiviert sind,
die Verantwortung von Männern für die Gewalt, die diese Frauen antun, zu verschleiern. Sie
diskutiert jedoch ebenfalls eine Reihe alternativer Erklärungen, nämlich: den Wunsch, sich selbst
von emotional belastenden Inhalten zu distanzieren; den Versuch, neutral und wertfrei zu schreiben;
theoretische Vorlieben, z.B. für systemtheoretische Erklärungen; das Ziel, Mittel zur Unterstützung
der Opfer durch die Betonung ihrer Viktimisierung (und die Vermeidung eventuell unerwünschter
Schuldzuweisungen an Männer) einzuwerben (Lamb, 1991, S. 255-256).
Die diskutierten archivarischen Studien belegen, daß in Texten über sexuelle Gewalt häufig
sprachliche Formen verwendet werden, die geeignet sind, die Verantwortung des Täters zu
verschleiern. Daß die Verwendung solcher Sprachmerkmale aus einem Motiv erwächst, die Täter
zu schützen und die Opfer zu verdammen, ist zwar nicht unplausibel, kann mit diesen Daten jedoch
allenfalls indirekt belegt werden. Die Befunde sind, wie die Autorinnen selbst einräumen, offen für
eine Vielzahl alternativer Interpretationen.
Im Unterschied dazu können wir mit einem experimentellen Ansatz Aufschluß über eine Reihe
von offengebliebenen Fragen erhalten und kausale Hypothesen prüfen, die von Henley et al. (1993),
Lamb (1991) und Penelope (1990) formuliert, aber nicht direkt getestet wurden: Bevorzugen auch
Personen, die nicht professionell schreiben, beim Schreiben über Vergewaltigung das Passiv oder
andere verschleiernde Wendungen? Wirken sich Variationen in der Vergewaltigungssituation
kausal auf die verwendeten Textmerkmale aus? Ist die Verwendung solcher Textmerkmale eine
Funktion der VMA, und ist sie mit direkten Maßen der Verantwortungszuschreibung korreliert?
Exkurs: VMA und verschleiernde Sprache
77
Schließlich läßt sich allein in einem kontrollierten Experiment gezielt die Hypothese testen, daß die
Verwendung von Aktiv versus Passiv sich in der unterstellten Weise kausal auf die Interpretation
der Texte durch die LeserInnen auswirkt.
Eine Voraussetzung für die Untersuchung der diskutierten Sachverhalte mit deutschsprachigen
Versuchspersonen ist die Äquivalenz der relevanten Textmerkmale im Englischen und im
Deutschen. In bezug auf Aktiv versus Passiv ist diese Äquivalenz formal prinzipiell gegeben, denn
auch im Deutschen sind Passivkonstruktionen mit und ohne Nennung der handelnden Person
möglich. Allerdings ist der Gebrauch des Passivs im Deutschen mit etwa 7% der finiten
Verbformen (Brinker, 1990) sehr selten. Laut Duden (Bibliographisches Institut, 1973, S. 92) liegt
der Passivanteil je nach Literaturgenre zwischen etwa 1.2% ("Trivialliteratur") und 10.5%
("Gebrauchsliteratur"); in Zeitungen macht er etwa 9% aus und ist damit viel seltener als im
Englischen (vgl. die o.a. Ergebnisse von Henley et al., 1993).
Trotz dieser Einschränkungen wurde auch in der deutschen Sprachwissenschaft die Hypothese
vorgebracht, daß durch die Verwendung des Passivs (insbesondere ohne Erweiterung) der Täter in
den Hintergrund und das Opfer in den Vordergrund des Diskurses gerückt wird (Bibliographisches
Institut, 1973; Brinker, 1990). Besonders pointiert wandte sich Weisgerber (1963) dagegen, das
Passiv als bloße wirkungsneutrale Umkehrung der Blickrichtung gegenüber dem Aktiv zu
interpretieren: "Wenn nun neben diese täterbezogene Diathese [das Aktiv] eine täterabgewandte
Sehweise [das Passiv] tritt, so hat das weitreichende Folgen für die Interpretation der Welt ... es
ergibt sich eine Möglichkeit, das Geschehen auch täterfern zu sehen ... die Welt versinkt nicht im
Ungestalteten, Führerlosen; aber sie kann gegenüber der unentwegten Handlungsperspektive auch
stärker als Ereignis interpretiert werden" (S. 55; Hervorhebungen hinzugefügt). Auch andere
täterabgewandte Sprach- bzw. Textmerkmale, wie Nominalisierung oder eine distanzierende
Wortwahl, können ohne größere Schwierigkeiten im Deutschen untersucht werden.
4.2 VMA und Schreiben über eine Vergewaltigung: Ein Experiment zur Verwendung des
Passivs und anderer "distanzierender" Formen und Wendungen
Um die angesprochenen Fragen zu beantworten, untersuchten wir den Einfluß von
Situationsmerkmalen und VMA auf die Verwendung von Aktiv und Passiv sowie anderen
distanzierenden Textmerkmalen beim Schreiben über eine Vergewaltigung. In dem bereits in
Abschnitt 3.3.2.2 teilweise beschriebenen Experiment mit den Videoausschnitten ließen wir das
Geschehen von den Versuchspersonen schriftlich nacherzählen und analysierten die so
entstandenen Texte. In einem weiteren Experiment, das ebenfalls in Abschnitt 3.3.2.2 kurz
angesprochen wurde, untersuchten wir den Einfluß von Aktiv versus Passiv in vorgegebenen
Texten auf die Textrezeption und -wiedergabe. In beiden Experimenten wurden erstmals direkte
Urteile der Versuchspersonen über die Verantwortung von Opfer und Täter mit Textmerkmalen in
Beziehung gesetzt.
In dem Experiment zur Textproduktion wurden folgende Vorhersagen überprüft:
78
Kapitel 4
Hypothese 1:
Bei der Beschreibung einer beobachteten Vergewaltigungsszene stellen Personen
Handlungen des Täters bei der Tat häufiger im Passiv dar als andere Aspekte der
Szene (also Handlungen des Opfers und Handlungen des Täters vor oder nach der
Tat).
Hypothese 2:
Der in Hypothese 1 ausgedrückte Unterschied ist ausgeprägter bei Personen mit
hoher als bei Personen mit niedriger VMA.
Hypothese 3:
Der in Hypothese 1 ausgedrückte Unterschied ist ausgeprägter, wenn die Szene
zahlreiche mythenkonsistente Informationen enthält, als wenn sie wenige solche
Informationen enthält.
Hypothese 4:
Es besteht eine negative (positive) Korrelation zwischen der Verwendung des
Passivs bei Handlungen des Täters und der Zuschreibung von Verantwortung an
den Täter (das Opfer).
Die Versuchspersonen wurden auch angehalten, Überschriften für ihre Texte zu generieren.
Diesem Vorgehen lag die Überlegung zugrunde, daß in einer Überschrift die Sichtweise des
gesamten Textes prägnant zum Ausdruck kommen sollte (Clark, 1992). In bezug auf die
Überschriften interessierte neben der Verwendung des Aktivs und des Passivs auch die Frage, ob
überhaupt das Wort "vergewaltigen" oder indirekte Umschreibungen benutzt wurden. Analog zu
den Hypothesen 2 bis 4 wurde vorhergesagt, daß distanzierende Wendungen in den Überschriften
(zur Definition s.u.) mit der VMA und der Mythenkonsistenz der Szenen positiv, mit der
Verantwortungszuschreibung an den Täter negativ zusammenhängen sollten.
4.2.1 Methode
Siebenundsechzig Mannheimer Studierende (Stichprobe 6; 29 Frauen, 38 Männer) wurden zu
einer angeblichen "Untersuchung über die Wirkung von Medien" angeworben und nach dem Zufall
einer von zwei Bedingungen zugewiesen, in denen ohne Ton je ein Filmausschnitt über eine
Vergewaltigung vorgeführt wurde. Die für das Experiment wesentlichen Unterschiede zwischen
den beiden Videos bestanden in dem Anteil mythenkonsistenter Information. In dem Ausschnitt
aus der "Schwarzwaldklinik" überfallen die Täter eine unauffällig gekleidete Frau nachts auf dem
Nachhauseweg, ohne daß Täter und Opfer vorher interagiert hatten (Mythenkonsistenz gering); in
dem Ausschnitt aus dem Spielfilm "Angeklagt" hingegen befindet sich die Frau ohne männliche
Begleitung abends in einer Bar, trägt einen kurzen Rock und ein enges T-Shirt; Opfer und Täter
tanzen und flirten miteinander (Mythenkonsistenz hoch). Neben der Mythenkonsistenz der
Information wurde am Ende der experimentellen Sitzung die VMA als weitere, quasiexperimentelle
unabhängige Variable erhoben. Für Teile der Auswertung wurden die Versuchspersonen in
Exkurs: VMA und verschleiernde Sprache
79
Gruppen mit hoher bzw. niedriger VMA eingeteilt, je nachdem, ob ihr VMA-Wert über bzw. unter
dem Median der Versuchspersonen desselben Geschlechts (Frauen: 2.5; Männer: 2.9) lag.
Unmittelbar nach dem Betrachten des Videos wurden die Versuchspersonen gebeten, "die im
Film gezeigte Szene" schriftlich nachzuerzählen. Sie hatten dafür sieben vorgedruckte Linien auf
einem Blatt im Format A4 zur Verfügung und wurden gebeten, diesen Raum vollständig zu nutzen.
Danach sollten sie ihre Schilderung mit einer Überschrift versehen: "Wenn Ihre obige Schilderung
als Zeitungsartikel erscheinen würde, welche Überschrift würden Sie wählen?". Danach wurden die
bereits in Abschnitt 3.3.2.2 beschriebenen Urteile zur Verantwortungszuschreibung an Opfer und
Täter und zur Einschätzungen der Tatfolgen erfaßt.
4.2.2 Auswertung der Texte und Überschriften
Die Texte der Versuchspersonen wurden von zwei unabhängigen Auswertern zunächst in
semantische Handlungseinheiten unterteilt. Dabei bildete jede Einzelhandlung eine Einheit,
gleichgültig, ob sie als eigenständiger Haupt- oder Nebensatz oder als Partizipialkonstruktion
formuliert war (zum "unitizing" in der Inhaltsanalyse s. Krippendorf, 1980). Diese
Handlungseinheiten wurden dann je drei dichotomen Kategorien zugewiesen: (1) handelnde
Person (Opfer oder Täter); (2) Tatbezug (während der Vergewaltigung oder davor/danach); (3)
grammatikalische Form (Aktiv oder Passiv). Nominale Aussagen (z.B. "es kam zur
Vergewaltigung") wurden dabei wie Passiv behandelt. Aussagen, die sich keiner dieser Kategorien
zuweisen ließen (ca. 25 %), wurden bei der Grundgesamtheit der auszuwertenden Aussagen nicht
berücksichtigt. Für die acht möglichen Kombinationen aus handelnder Person, Tatbezug und
Verbform zeigten sich zufriedenstellende bis gute Übereinstimmungen zwischen den Auswertern
(mittlere Korrelation r[63]22 = .85). In die Datenanalyse gingen die über beide Auswerter
gemittelten Häufigkeiten der Kategorien je Versuchsperson ein.
Zur Auswertung der Überschriften, die die Versuchspersonen ihren Texten gaben, verwendeten
wir fünf Kategorien, die (von 1 bis 5) eine zunehmende Vermeidung bzw. Distanzierung von der
Handlung beinhalten: (1) das Verb "vergewaltigen" wurde im Aktiv benutzt; (2) das Verb
"vergewaltigen" wurde im Passiv mit Erweiterung benutzt; (3) das Verb "vergewaltigen" wurde im
Passiv ohne Erweiterung benutzt; (4) kein Verb, sondern das Substantiv "Vergewaltigung" wurde
benutzt; (5) die Überschrift enthält weder das Verb "vergewaltigen" noch das Substantiv
"Vergewaltigung". Ein extremes Beispiel für die letzte Kategorie ist die Überschrift "Wer sich in
Gefahr begibt, kommt darin um". Die Beurteilerübereinstimmung für diese Variable war perfekt.
Die Kategorien der Überschrift wurden als unabhängige Variable zur "Vorhersage" der VMA und
der Verantwortungszuschreibung benutzt. Dazu wurde im Rahmen einfaktorieller Varianzanalysen
sowohl ein linearer Trendtest als auch ein geplanter Vergleich der Kategorien 1-3 versus 4-5
berechnet; ersterer, um den Zusammenhang zwischen zunehmender sprachlicher Distanzierung und
22
Es standen nur von 65 der 67 Versuchspersonen kodierbare Texte zur Verfügung.
80
Kapitel 4
den Urteilsvariablen zu untersuchen, letzterer, um zu prüfen, ob Personen, die Nominalisierung oder
andere verschleiernde Wendungen bevorzugen, sich in ihren Urteilen von denen unterscheiden, die
"vergewaltigen" als Verb benutzen.
4.2.3 Ergebnisse und Diskussion
Im Mittel generierten die Versuchspersonen 6.23 Handlungseinheiten, die sich den relevanten
Auswertungskategorien zuordnen ließen. Tabelle 4.1 zeigt die mittlere Anzahl von Aussagen in
jeder Kategorie, ohne noch zwischen den Versuchsbedingungen zu differenzieren. In der untersten
Zeile der Tabelle ist der relative Anteil von Sätzen im Passiv für jede Kombination aus handelnder
Person und Tatbezug dargestellt.
Obwohl das Passiv (insgesamt 15 %) insgesamt seltener verwendet wurde als das Aktiv
(insgesamt 85 %), entspricht das Muster der Mittelwerte der Hypothese 1. Passivkonstruktionen
wurden bei Aussagen über den Täter bei der Tat sowohl absolut als auch relativ häufiger benutzt
als bei Aussagen über andere Handlungen des Täters oder über Handlungen des Opfers. In einer
2x2x2-faktoriellen Varianzanalyse mit den Meßwiederholungsfaktoren Person, Bezug und
Verbform zeigte sich entsprechend eine signifikante Interaktion aller drei Faktoren,
F(1,64) = 25.09, p < .001.23
Tabelle 4.1 Mittlere Anzahl Aussagen (Handlungseinheiten) nach handelnder Person, Tatbezug
und grammatikalischer Form in den Texten der Versuchspersonen (Stichprobe 6)
Handelnde Person
Inhaltlicher Bezug
Verbform
Täter
Tat
Opfer
Anderes
Tat
Anderes
Aktiv
1.89
1.18
0.38
1.85
Passiv
0.58
0.19
0.05
0.12
2.47
1.37
0.43
1.97
insgesamt
davon Passiv in %
23.4
14.0
10.9
5.8
Zur Prüfung der Hypothesen 2 und 3 wurden weitere Varianzanalysen berechnet, die zusätzlich
zu den o.a. Meßwiederholungsfaktoren die "between-subjects"-Faktoren Video-Bedingung und
VMA-Gruppe berücksichtigten. Die in den Hypothesen ausgedrückten Zusammenhänge sollten sich
23
Darüber hinaus zeigten sich Effekte niedrigerer Ordnung, nämlich Haupteffekte des Tatbezugs,
F(1,64) = 3.93, p < .06, der Verbform, F(1,64) = 146.89, p < .001, und der Person, F(1,64) = 16.94, p < .001:
Tendenziell wurde über die Tat mehr geschrieben als über anderes; es wurden mehr Aussagen im Aktiv als
im Passiv formuliert und mehr über Handlungen des Täters berichtet als über die des Opfers. Außerdem
zeigten Interaktionen von Tatbezug und Verbform, F(1,64) = 12.53, p < .01, und von Tatbezug und Person,
F(1,64) = 114.97, p < .001, daß über Handlungen des Täters relativ mehr im Passiv geschrieben wurde als über
Handlungen des Opfers; Aussagen über den Täter waren überwiegend tatbezogene, solche über das Opfer
bezogen sich überwiegend auf anderes.
Exkurs: VMA und verschleiernde Sprache
81
jeweils in einer Interaktion aller drei Meßwiederholungsfaktoren und VMA-Gruppe bzw. VideoBedingung zeigen. Hypothese 2 ließ sich nicht bestätigen; die entsprechende Interaktion war mit
F(1,61) = 0.48 nicht signifikant. Auch der Test für Hypothese 3 verfehlte das konventionelle
Signifikanzniveau, F(1,61) = 2.71, p > .10, und das Muster der Mittelwerte wies nicht in die
vorhergesagte Richtung. Eine verstärkte Passivverwendung bei Aussagen über Handlungen des
Täters bei der Tat trat also insgesamt zutage, war aber unabhängig von allgemeinen Einstellungen
und Variationen der in der Situation vorliegenden Information.
Zur Prüfung von Hypothese 4 wurden der Index der Täterverantwortung sowie die beiden
Einzelitems zur Verantwortung des Täters und des Opfers (s. Abschnitt 3.3.2.2) mit einem Index
korreliert, der die Differenz zwischen der relativen Häufigkeit des Passivs bei tatbezogenen
Aussagen über den Täter im Vergleich zu sonstigen Aussagen ausdrückte ("Passiv-Index"). Die
mögliche Spannweite dieses Passiv-Index reicht von -1 bis +1; in der Stichprobe traten Werte von
-0.42 bis +1.00 auf, der Mittelwert betrug +0.18. Auch die VMA-Werte wurden mit dem PassivIndex korreliert.
In Tabelle 4.2 sind die Korrelationen für die Gesamtstichprobe und getrennt für die beiden
Video-Bedingungen dargestellt. Die Vorzeichen aller Koeffizienten weisen in die vorhergesagte
Richtung, nämlich die eines positiven Zusammenhangs zwischen der Passivverwendung bei
Aussagen über Handlungen des Täters bei der Tat (Passiv.-Index) und der VMA sowie der
Verantwortungszuschreibung an das Opfer, und eines negativen Zusammenhangs zwischen dem
Passiv-Index und Maßen der Verantwortungszuschreibung an den Täter. Die Stärke der
Zusammenhänge ist jedoch gering und meist nur tendenziell signifikant. Am deutlichsten
erscheinen die vorhergesagten Zusammenhänge bei dem Ausschnitt aus "Angeklagt", dessen Inhalt
mehr Anknüpfungspunkte für eine mythenkonsistente Interpretation bietet. In dieser
Versuchsbedingung zeigte sich auch, daß die Passivverwendung mit höherer VMA zunahm, r(32) =
.39, p < .05), was bei Verwendung der dichotomen VMA-Werte in der Varianzanalyse nicht zu
erkennen war.
82
Kapitel 4
Tabelle 4.2 Korrelationen zwischen Passiv-Index einerseits
Verantwortungszuschreibung andererseits (Stichprobe 6)
Gesamt
Variable
N = 65
Ausschnitt 1
"Schwarzwaldklinik"
n = 31
.24+
und
VMA und
Ausschnitt 2
"Angeklagt"
n = 34
.03
.39*
-.19
-.10
-.33+
Verantw. Täter
-.24+
-.33+
-.31+
Verantw. Opfer
.17
.14
.26
VMA
Index der Täterverantwortunga
Anm.:
a
Index aus fünf Items; gültiges n = 63, 30, 33.
* p < .05; + p < .10; alle Werte zweiseitig.
Tabelle 4.3 zeigt die Mittelwerte der VMA und der Verantwortungsattribution jeweils getrennt
für Versuchspersonen, deren Überschriften den fünf Auswertungskategorien zuzurechnen waren.
Zwischen der Kategorie der Überschrift und der VMA zeigte sich kein systematischer
Zusammenhang, Betrag von t < 1 für beide geplanten Kontraste. Hingegen konnte die Hypothese
bestätigt werden, daß distanziertere Überschriften mit der Zuschreibung geringerer Verantwortung
an den Täter und höherer Verantwortung an das Opfer einhergehen. Für den Verantwortungsindex
wurden sowohl der lineare Trend als auch der Vergleich hinsichtlich der Verwendung des Verbs
"vergewaltigen" (Kategorien 1-3) versus der Verwendung nominaler und "distanzierter"
Wendungen (Kategorien 4 u. 5) signifikant, t(60) = 1.89, p < .04, bzw. t(60) = 2.07, p < .03;
gleiches gilt, besonders deutlich, für die direkte Verantwortungszuschreibung an die Frau, t(62) =
-2.16, p < .02, bzw. t(62) = -2.74, p < .01, alle Werte einseitig. Für die direkte
Verantwortungszuschreibung an den Mann resultierte t(62) = 1.25, ns, bzw. t(62) = 1.91, p < .04.
Tabelle 4.3 Mittelwerte der VMA und Verantwortungsattribution als Funktion der gewählten
Überschrift (Stichprobe 6)
"Distanzierung" in der Formulierung der Überschrift
(1)
"vergewaltig
en" im Aktiv
Variable
n=7
(2)
"vergewaltig
en" im
Passiv m it
Erweiterung
n=4
(3)
"vergewaltige
n" im Passiv
ohne
Erweiterung
(4)
"Vergewaltigu
ng" (nom inal)
(5) Indirekte
Um schreibu
ng
n = 33
n = 14
n=9
VMA
2.67
3.23
2.30
2.77
3.00
Index der
Täterverantw. a
6.11
6.47
6.04
5.84
5.67
Exkurs: VMA und verschleiernde Sprache
Verantw. Täter
6.71
7.00
7.00
6.51
6.43
Verantw. Opfer
1.29
1.25
1.33
2.67
2.43
Anm.:
a
83
Index aus fünf Items; gültige n von links nach rechts: 7, 3, 9, 32, 14.
Diese t-Werte und die Mittelwerte in Tabelle 4.3 zeigen, daß die Daten deutlicher dem Kontrast
entsprechen, bei dem die Kategorien (1) bis (3) mit den Kategorien (4) und (5) verglichen werden.
Diejenigen Versuchspersonen, die das Verb "vergewaltigen" entweder im Aktiv oder im Passiv
benutzten, unterschieden sich klar von den Versuchspersonen, die entweder "Vergewaltigung" als
Substantiv oder eine indirekte Umschreibung des Geschehens wählten. Unterschiede zwischen
Aktiv und Passiv innerhalb der verbalen Kategorien konnten darüber hinaus bei den Überschriften
nicht festgestellt werden, die Beträge aller entsprechenden t-Tests waren kleiner als 1.
4.2.4 Zusammenfassung
Die Daten belegen, daß beim Schreiben über den Sachverhalt, daß ein Mann eine Frau
vergewaltigt, das Passiv relativ häufiger verwendet wird als beim Schreiben über andere
Sachverhalte in demselben Handlungskontext. Zwar überwog in allen Versuchsbedingungen und
Inhaltskategorien eindeutig das Aktiv, doch dies mag nur die generell höhere Prävalenz des Aktivs
in der deutschen Sprache widerspiegeln. Wichtiger ist der Befund, daß sich trotz dieser geringen
Grundhäufigkeit des Passivs Zusammenhänge zwischen VMA und Passivverwendung sowie
zwischen Verantwortungszuschreibung und Passivverwendung dann zeigten, wenn die beobachtete
Szene einen gewissen Spielraum für mythenkonsistente Interpretationen zuließ.
Darüber hinaus weist die Auswertung der von den Vpn generierten Überschriften darauf hin,
daß andere Strategien der sprachlichen Distanzierung, wie Nominalisierung und eine
Ausdrucksweise, die das Verb "vergewaltigen" vermeidet, mit erhöhten
Verantwortungszuschreibungen an das Opfer einhergehen. Vielleicht sind im Deutschen somit
andere linguistische Strategien als die Verwendung von Aktiv versus Passiv zuverlässigere
Indikatoren der sprachlichen Distanzierung. Diese Schlußfolgerungen sind auf der Grundlage einer
einzelnen Untersuchung allerdings noch spekulativ; weitere Experimente sollten der Frage
nachgehen, ob und ggf. welche sprachlichen Kategorien zu einer nonreaktiven Erfassung von
Verantwortungszuschreibung geeignet sind. Ich verweile jedoch noch bei Hypothesen zur Verbform
und wende mich der Frage zu, wie sich eine gezielte Variation von Aktiv- und Passivkonstruktionen
in Texten über eine Vergewaltigung auf die RezipientInnen auswirkt.
4.3 VMA und Textrezeption: Ein Experiment zu den Einflüssen von Texten im
84
Kapitel 4
grammatikalischen Aktiv versus Passiv auf die Verantwortungszuschreibung und die
Textwiedergabe
Obwohl in dem Experiment zur Textproduktion das Passiv auch bei der Beschreibung einer
Vergewaltigung relativ selten auftrat, ging seine Verwendung n zumindest bei der Beschreibung
des mythenkonsistenten Falles n bei den TextproduzentInnen doch mit der Zuschreibung größerer
Verantwortung an das Opfer einher. Wird durch die Verwendung des Passivs auch den LeserInnen
auf subtile Weise eine Mitverantwortung des Opfers suggeriert, wie Henley et al. (1993), Lamb
(1991) und Penelope (1990) annehmen? Um diese Frage zu klären, wurde in einem weiteren
Experiment (s.a. Herberg et al., 1996) Versuchspersonen die Beschreibung einer Vergewaltigung
vorgelegt. Je nach Versuchsbedingung wurde die Verbform (Aktiv versus Passiv) variiert. Weitere
unabhängige Variablen waren die inhaltliche Vorinformation (Mythenkonsistenz niedrig versus
hoch) und die VMA (niedrig versus hoch). Die Versuchspersonen beurteilten die Verantwortung
von Opfer und Täter sowie weitere Aspekte des Falles (s.u.). Später erzählten sie den Teil des
Textes, der die Vergewaltigung beschrieb, in eigenen Worten nach und gaben dem Text eine
Überschrift. Wir prüften folgende Hypothesen:
Hypothese 1:
Personen, die einen Text über eine Vergewaltigung lesen, in dem die Handlungen
des Täters im Passiv beschrieben sind, schreiben dem Täter im Vergleich zum Opfer
weniger Verantwortung zu und beurteilen die Vergewaltigung insgesamt als
weniger schwerwiegend im Vergleich zu Personen, die einen weitgehend
identischen Text lesen, in dem die Handlungen des Täters im Aktiv beschrieben
sind.
Hypothese 2:
Der in Hypothese 1 ausgedrückte Einfluß der Verbform ist ausgeprägter bei
Personen mit hoher VMA als bei Personen mit niedriger VMA.
Hypothese 3:
Der in Hypothese 1 ausgedrückte Einfluß der Verbform ist ausgeprägter, wenn der
Text mythenkonsistente Vorinformationen enthält, als wenn der Text
mytheninkonsistente Vorinformationen enthält.
Anhand der von den Versuchspersonen generierten Nacherzählungen und Überschriften
prüften wir zusätzlich, inwieweit der Tathergang in derselben Verbform (Aktiv bzw. Passiv) wie
im Text wiedergegeben würde und ob sich Einflüsse der im Text verwendeten Verbform auf die
Formulierung der Überschrift zeigen würden. Für die Analyse der Überschriften benutzten wir
dieselben fünf Kategorien wie in der vorangegangenen Untersuchung.
4.3.1 Methode
Einhundertundzwei BenutzerInnen der Stadtbücherei Mannheim (Stichprobe 12; Herberg et
al., 1996) wurden für eine Untersuchung zum Thema "Textverständnis" angeworben. Die 50
Exkurs: VMA und verschleiernde Sprache
85
Teilnehmer und 52 Teilnehmerinnen waren zwischen 14 und 63 Jahren alt (M = 29.9; Median =
26.5), 37.3 % waren Studierende, 38.2 % berufstätig, 12.7 % in Ausbildung; 11.8 % machten zu
ihrem Beruf keine Angabe. Die Vpn wurden nach dem Zufall einer der vier Versuchsbedingungen
eines 2x2-faktoriellen Versuchsplans mit den Faktoren Verbform (Aktiv, Passiv) und
Vorinformation (mytheninkonsistent, mythenkonsistent) zugewiesen.
Zunächst erhielten die Versuchspersonen einen kurzen Text und wurden gebeten, diesen
aufmerksam durchzulesen. In dem Text waren eine Vergewaltigung und ihre "Vorgeschichte"
beschrieben; je nach Versuchsbedingung war die Vorinformation entweder mytheninkonsistent
oder mythenkonsistent, und die Vergewaltigung wurde entweder im Aktiv oder im Passiv
beschrieben (s. Tabellen 4.4 und 4.5).
Nach dem Lesen des Textes beantworteten die Vpn zunächst drei Fragen zum Textverständnis,
die der Aufrechterhaltung der "cover story" dienten. Dann folgten sechs Fragen zur
Verantwortungszuschreibung und zur Einschätzung der Tat und ihrer
Folgen: "Wieviel Verantwortung für die Tat schreiben Sie der Frau zu?" (Skala von 1, "überhaupt
keine", bis 9, "sehr große"); "Wieviel Verantwortung für die Tat schreiben Sie dem Mann zu?"
(1, "überhaupt keine", bis 9, "sehr große"); "Wie stark waren äußere Umstände Auslöser der
Tat?" (1, "überhaupt nicht stark", bis 9, "sehr stark"); "Was für ein Strafmaß würden Sie für den
Vergewaltiger festlegen?" ("Freispruch ___ / Strafe auf Bewährung oder Geldstrafe ___ /
Haftstrafe von ___ Jahr(en)"); "Wie hoch schätzen Sie das Rückfallrisiko des Vergewaltigers
ein?" (1, "sehr niedrig", bis 9, "sehr hoch"); "Wie hoch schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit, daß
Tanja K. psychische Folgeschäden erleidet?" (1, "sehr niedrig", bis 9, "sehr hoch").
86
Kapitel 4
Tabelle 4.4 Stimulustexte zur Prüfung des Einflusses des Aktiv- und Passivgebrauchs auf die
Textrezeption: Variation der Vorgeschichte (Stichprobe 12)
mytheninkonsistente Vorgeschichte
mythenkonsistente Vorgeschichte
Samstag abend besucht Tanja K. (24) eine
Ballettvorführung mit Freunden. Aus
diesem Anlaß hat sie sich völlig neu
eingekleidet: ein schwarzes Abendkleid
und eine Seidenbluse, die ihr besonders
gut gefallen haben. Im Büro, wo sie als
Assistentin der Geschäftsführung
angestellt ist, hatte sie ihren Kolleginnen
die neuen Sachen schon vorgeführt, und
auch an diesem Abend erntet sie
Komplimente.
Samstag abend besucht Tanja K. (24)
eine Party bei Freunden. Aus diesem
Anlaß hat sie sich völlig neu eingekleidet:
ein schwarzer Minirock und ein Top, die ihr
besonders gefallen haben. Im Friseursalon
hatte sie ihren Kolleginnen die neuen
Sachen schon vorgeführt, und auch auf
der Party kommt ihr Outfit gut an.
Die Stimmung ist fröhlich und angenehm.
Tanja macht in der Pause die
Bekanntschaft eines Mannes, der ihr
relativ aufdringlich erscheint, er ist groß
und hat blaue Augen. Beide unterhalten
sich, bis die Vorführung weitergeht. Nach
der Aufführung trennt sie sich von ihren
Freunden, weil sie müde ist und gleich
nach Hause gehen will. Da sie alleine ist,
geht sie einen kleinen Umweg, um auf
einer belebten Straße zu bleiben.
Die Stimmung ist ausgelassen und
fröhlich. Tanja flirtet intensiv mit einem
Mann, der ihr sehr gefällt, er ist groß und
hat blaue Augen. Beide tanzen den
ganzen Abend und unterhalten sich
angeregt. Zum Abschied küßt sie ihn und
gibt ihm noch ihre Telefonnummer. Da sie
ziemlich müde ist und schnell nach Hause
möchte, nimmt sie eine Abkürzung durch
eine unbelebte Seitengasse.
Exkurs: VMA und verschleiernde Sprache
87
Tabelle 4.5 Stimulustexte zur Prüfung des Einflusses des Aktiv- und Passivgebrauchs auf die
Textrezeption: Variation der Verbform (Stichprobe 12)
Beschreibung der Vergewaltigung im
Aktiv
Beschreibung der Vergewaltigung im
Passiv
Auf halbem Wege bemerkt Tanja Schritte
hinter sich. Als sie sich umdreht, erkennt
sie den Mann von vorher. Er eilt mit
großen Schritten auf sie zu. Verwundert
bleibt sie stehen und fragt ihn, was los ist.
Auf halbem Wege bemerkt Tanja Schritte
hinter sich. Als sie sich umdreht, erkennt
sie den Mann von vorher. Er eilt mit
großen Schritten auf sie zu. Verwundert
bleibt sie stehen und fragt ihn, was los ist.
Wortlos packt sie der Mann am Arm und
hält sie fest. Da sie Angst bekommt,
beginnt sie, ihn in ein Gespräch zu
verwickeln, doch er hält ihr den Mund zu.
Sie versucht sich ihm zu entziehen. Er
aber drängt sie ins Gebüsch und drückt sie
zu Boden. Obwohl sie ihn bittet
aufzuhören, zieht er ihr hastig das Oberteil
aus. Dann zerrt der Mann ihr die
Unterwäsche vom Leib. Obwohl sie sich
wehrt, vergewaltigt er sie.
Wortlos wird sie von dem Mann am Arm
gepackt und festgehalten. Da sie Angst
bekommt, beginnt sie, ihn in ein Gespräch
zu verwickeln, doch ihr wird der Mund
zugehalten. Sie versucht sich ihm zu
entziehen. Sie wird aber ins Gebüsch
gedrängt und zu Boden gedrückt. Obwohl
sie ihn bittet aufzuhören, wird ihr von ihm
hastig das Oberteil ausgezogen. Dann
wird ihr die Unterwäsche vom Leib gezerrt.
Obwohl sie sich wehrt, wird sie
vergewaltigt.
Später wurden die Vpn gebeten, sich an den Text zu erinnern und das "Ende des gelesenen
Textes" in fünf Zeilen "mit eigenen Worten" nachzuerzählen. Um klarzumachen, an welchem
Abschnitt des Textes wir interessiert waren, wurden zwei Sätze aus dem Text in der Instruktion
wiederholt: "Er eilt mit großen Schritten auf sie zu. Verwundert bleibt sie stehen und fragt ihn, was
los ist..."; darunter waren fünf Linien zur Fortsetzung durch die Vpn vorgedruckt. Auf der nächsten
Seite folgte die Frage, welche Überschrift die Vp dem gelesenen Text geben würde, wenn er als
Zeitungsartikel erschiene.
Anschließend füllten die Versuchspersonen die 20-Item-VMAS aus. Für weibliche Vpn folgten
Fragen zur subjektiven Vulnerabilität und zu früheren sexuellen Gewalterfahrungen (Ergebnisse
zu diesem Teil der Studie wurden bereits in Abschnitt 3.3.1.5 berichtet); zum Abschluß machten
alle Vpn Angaben zu ihrem Geschlecht, Alter und Beruf. Die TeilnehmerInnen wurden schließlich
sorgfältig über die Ziele der Untersuchung aufgeklärt und erhielten als Dankeschön ein kleines
Geschenk (z.B. einen Kugelschreiber).
4.3.2 Auswertung und Ergebnisse
Aus der weiteren Auswertung wurden die Daten von fünf Personen (4.9 %) ausgeschlossen
(eine Person hatte unzureichende Kenntnisse der deutschen Sprache, vier Personen machten
weitgehend unvollständige Angaben); die Analysen beziehen sich also auf maximal 97 Personen.
88
Kapitel 4
Fünf weitere Personen hatten die VMAS nicht ausgefüllt; alle Analysen, bei denen die Variable
VMA beteiligt ist, beziehen sich daher auf maximal 92 Personen. (Kleinere Abweichungen hiervon
beruhen auf dem Fehlen einzelner Antworten.)
Zur Prüfung der Hypothesen 1 bis 3 wurden 2x2x2x2-faktorielle Varianzanalysen mit den
Faktoren Verbform (Aktiv, Passiv), Vorinformation (mytheninkonsistent, mythenkonsistent), VMA
(niedrig, hoch) und Geschlecht berechnet. Zur Bildung der beiden VMA-Gruppen wurden die
Teilstichproben der Frauen und Männer am jeweiligen Median der VMA-Werte (Frauen: 1.90;
Männer: 2.55) halbiert. Zuvor durchgeführte Analysen hatten gezeigt, daß die VMA-Werte von den
Versuchsbedingungen unabhängig waren, alle p > .18. Als abhängige Variablen betrachteten wir
zunächst einen Gesamtindex aus den sechs Fragen zur Beurteilung des Falles (Cronbachs " = .59)24
sowie separat die relative Verantwortungszuschreibung an den Mann (als Differenz der
Verantwortung des Mannes minus der Verantwortung der Frau).
Diese beiden abhängigen Variablen kovariierten stark mit der VMA. Personen mit hoher VMA
beurteilten den Fall als weniger schwerwiegend (M = 6.70) und schrieben dem Täter geringere
relative Verantwortung zu (M = 4.74) als Personen mit niedriger VMA (Gesamtindex M = 7.83;
Täter M = 7.43), beide F(1,76) > 21, p < .001. Für den Gesamtindex ergab die ANOVA weiterhin
Haupteffekte des Geschlechts und der Vorinformation: Frauen (M = 7.50) beurteilten den Fall als
schwerwiegender im Vergleich zu Männern (M = 6.98), F(1,76) = 5.42, p < .03, und Personen, die
die mytheninkonsistente Vorinformation gelesen hatten (M = 7.53), tendierten zu einer strengeren
Beurteilung des Falles als Personen, die einen mythenkonsistenten Text gelesen hatten (M = 7.02),
F(1,76) = 3.18, p < .08. Der in Hypothese 1 vorhergesagte Haupteffekt der Verbform trat hingegen
nicht auf; die Mittelwerte für Aktiv (Gesamtindex: M = 7.19; relative Täterverantwortung: M =
5.84) und Passiv (M = 7.31 bzw. 6.24) wiesen jeweils nicht-signifikant in die entgegengesetzte
Richtung, beide F < 1.35, p > .25.
Auch die in den Hypothesen 2 und 3 vorhergesagten Interaktionen zwischen Verbform und
VMA bzw. Verbform und Vorinformation waren nicht signifikant, alle p > .22. Allerdings zeigte
sich auf beiden abhängigen Variablen eine annähernd signifikante Interaktion von Verbform,
Vorinformation und VMA, F(1,76) = 3.92, p < .06, und F(1,76) = 2.82, p < .10, die auf ein
komplexes Zusammenspiel dieser drei Faktoren verweist. Die Tabellen 4.6 und 4.7 zeigen die
zugehörigen Mittelwerte.
24
Dabei wurde das Item zum Strafmaß folgendermaßen kodiert: Keine Vp hatte die Option "Freispruch"
gewählt; die Antworten verteilten sich auf die beiden anderen Antwortoptionen, wobei zur Höhe einer
Haftstrafe die meisten Antworten zwischen einem und sechs Jahren lagen, der Median bei 4. Bei einigen Vpn,
die "Haftstrafe" angekreuzt, aber keine Angabe zur Dauer gemacht hatten, wurde der Medianwert "4 Jahre"
eingesetzt. Wir bildeten zunächst eine siebenstufige Skala mit den Stufen "keine Haft" (0), "1 Jahr" (1),
"2 Jahre" (2) usw. bis "6 Jahre oder mehr" (6). Zur Bildung eines Index mit den übrigen fünf Items und zur
Berechnung der internen Konsistenz wurde diese Skala durch Multiplikation der Werte mit 4/3 und
anschließende Addition von 1 auf eine Spannweite von 1 bis 9 linear transformiert.
Exkurs: VMA und verschleiernde Sprache
89
Tabelle 4.6 Mittelwerte der Beurteilung der Schwere (Index aus sechs Items) als Funktion von
Verbform, Vorinformation und VMA (Stichprobe 12)
VMA
niedrig
Vorinformation
hoch
inkonsistent
konsistent
inkonsistent
konsistent
Aktiv
8.29 (11)
7.54 (11)
6.46 ( 9)
6.58 (15)
Passiv
7.71 (12)
7.79 (11)
7.44 (10)
6.42 (13)
1.54 (ns)
-0.66 (ns)
-2.38 (p<.03)
0.46 (ns)
Verbform
t-Test (df = 84)
Passiv vs. Aktiv
Anm.: Skala von 1 (minimale Schwere der Tat und Verantwortung des Täters) bis 9 (maximale
Schwere der Tat und Verantwortung des Täters). In Klammern n je Versuchsbedingung.
Tabelle 4.7 Mittelwerte der wahrgenommenen relativen Verantwortung des Täters
(Verantwortung Täter minus Verantwortung Opfer) als Funktion von Verbform,
Vorinformation und VMA (Stichprobe 12)
VMA
niedrig
Vorinformation
hoch
inkonsistent
konsistent
inkonsistent
konsistent
Aktiv
7.55 (11)
6.90 (10)
4.56 ( 9)
4.67 (15)
Passiv
7.67 (12)
7.55 (11)
6.10 (10)
3.92 (13)
-0.29 (ns)
-1.59 (ns)
-1.03 (ns)
0.57 (ns)
Verbform
t-Test a
Passiv vs. Aktiv
Anm.: Skala von -8 (minimale Täterverantwortung) bis +8 (maximale Täterverantwortung). In
Klammern n je Versuchsbedingung.
a
Separate Varianzschätzungen wegen inhomogener Varianzen (df von links nach rechts:
19.8, 14.8, 11.9, 22.7).
Eine Betrachtung der Mittelwerte zeigt, daß die "täterfreundlichsten" Urteile jeweils von
Personen mit hoher Mythenakzeptanz in der Versuchsbedingung gegeben wurden, in der
mythenkonsistente Vorinformation mit einer Darstellung im Passiv verknüpft war. Bei hoher VMA
scheinen darüber hinaus Einflüsse der Vorinformation dann deutlicher in den Urteilen zum Tragen
zu kommen, wenn der Tathergang im Passiv anstatt im Aktiv beschrieben war. Dies mag auf eine
höhere "Interpretierbarkeit" von Texten im Passiv verweisen, die sich sowohl in höheren als auch
in geringeren Verantwortungszuschreibungen an das Opfer ausdrücken kann. Problematisch für
diese Interpretation ist aber, daß sich bei Versuchspersonen mit niedriger VMA ein tendenziell
gegenläufiges Muster zeigte, also augenscheinlich größere Einflüsse der Vorinformation bei der
Darstellung im Aktiv als im Passiv zu beobachten waren. Ein generell "täterentlastender" Effekt des
Passivs ließ sich bei den Urteilen jedenfalls nicht nachweisen, wie auch die inkonsistenten
Ergebnisse der Einzelvergleiche in den jeweils letzten Zeilen der Tabellen 4.6 und 4.7 zeigen.
Signifikante Interaktionen mit dem Geschlecht der Teilnehmenden traten nicht auf.
90
Kapitel 4
Im nächsten Auswertungsschritt betrachteten wir die Nacherzählungen der
VersuchsteilnehmerInnen. Wir untersuchten den Einfluß der Versuchsbedingungen auf den Umfang
der wiedergegebenen Inhalte sowie auf die von den Versuchspersonen gewählte Verbform. Hierzu
wurde der nachzuerzählende Teil des Textes in 13 Sinneinheiten unterteilt, von denen sich 8 auf
Handlungen des Täters bezogen, 5 auf Handlungen des Opfers (s. Tabelle 4.8).
Eine Beurteilerin, die für die Versuchsbedingungen blind war, kodierte für jede der 13
Sinneinheiten, ob sie in der Nacherzählung wiedergegeben wurde oder nicht (0). Bei den
wiedergegebenen Einheiten wurde weiterhin die Verbform kodiert in Aktiv (1), Passiv mit
Erweiterung (2), Passiv ohne Erweiterung (3) und Nominalstil (4). Zur Überprüfung der Reliabilität
dieser Zuordnungen kodierte ein weiterer Beurteiler 30 zufällig ausgewählte Nacherzählungen. Die
Übereinstimmung zwischen den beiden Urteilenden war perfekt.
Tabelle 4.8 Sinneinheiten des nachzuerzählenden Textesa und Zuordnung zur jeweils
handelnden Person (Stichprobe 12)
Sinneinheit
handelnde Person
1. Wortlos packt sie der Mann am Arm
Täter
2. und hält sie fest.
Täter
3. Da sie Angst bekommt,
Opfer
4. versucht sie ihn in ein Gespräch zu verwickeln,
Opfer
5. doch er hält ihr den Mund zu.
Täter
6. Sie versucht, sich ihm zu entziehen.
Opfer
7. Er aber drängt sie ins Gebüsch
Täter
8. und drückt sie zu Boden.
Täter
9. Obwohl sie ihn bittet aufzuhören,
Opfer
10. zieht er ihr hastig das Oberteil aus.
Täter
11. Dann zerrt ihr der Mann die Unterwäsche vom Leib.
Täter
12. Obwohl sie sich wehrt,
Opfer
13. vergewaltigt er sie.
Täter
Anm.:
a
Nur die Version im Aktiv ist wiedergegeben.
Für die nachfolgend berichteten Analysen ist zu beachten, daß die Verbform nur bei den acht
täterbezogenen Sätzen variiert worden war. In separaten 2x2x2x2-faktoriellen Varianzanalysen
wurde zunächst untersucht, wieviele opfer- und täterbezogene Sinneinheiten in den verschiedenen
Versuchsbedingungen überhaupt wiedergegeben worden waren. Im nächsten Schritt wurden die
täterbezogenen Sätze in aktive (Kategorie 1) versus passive Konstruktionen (Kategorien 2 bis 4)
unterteilt und untersucht, welchen Einfluß die Versuchsbedingungen, das Geschlecht und die VMA
Exkurs: VMA und verschleiernde Sprache
91
auf den Anteil der Passivkonstruktionen hatten.
Im Mittel wurden 44 % der täterbezogenen Einheiten wiedergegeben (das entspricht 3.54
Einheiten). In der ANOVA zeigte sich ein signifikanter Haupteffekt der VMA, F(1,76) = 6.07, p <
.02. Personen mit niedriger VMA gaben einen größeren Anteil der täterbezogenen Sinneinheiten
wieder (M = 48 %) als Personen mit hoher VMA (M = 41 %). Ein marginaler Haupteffekt der
Verbform trat ebenfalls auf, F(1,76) = 3.65, p < .07. Bei einer Darbietung im Passiv wurden
tendenziell mehr täterbezogene Handlungen wiedergegeben (M = 48 %) als bei einer Darbietung
im Aktiv (M = 40 %). Außerdem zeigten sich marginale Interaktionen von Vorinformation und
Geschlecht, F(1,76) = 3.30, und von Vorinformation, Geschlecht und Verbform, F(1,76) = 3.39,
jeweils p < .08. Der tendenzielle Einfluß der Verbform war für Frauen ausgeprägter unter der
Bedingung inkonsistenter Vorinformation, für Männer hingegen unter der Bedingung konsistenter
Vorinformation.
Von den opferbezogenen Einheiten wurden im Mittel 24 % wiedergegeben (das entspricht 1.22
Einheiten). Der einzige signifikante Effekt war auch hier eine (kaum sinnvoll interpretierbare)
Interaktion von Vorinformation, Geschlecht und Verbform, F(1,76) = 4.11, p < .05. Ein Haupteffekt
der Verbform trat nicht auf, F < 1; die Mittelwerte weisen aber in die Richtung, daß bei einer
Darstellung der Täterhandlungen im Passiv eher weniger Handlungen des Opfers nacherzählt
wurden (M = 23 %) als bei einer Darstellung im Aktiv (M = 26 %).
Betrachtet man die Verbform, in der die täterbezogenen Aussagen reproduziert wurden, so fällt
zunächst auf, daß das Passiv (einschließlich nominaler Wendungen) insgesamt nur sehr selten
benutzt wurde (Gesamtanteil = 9%). In der ANOVA zeigte sich, nicht überraschend, ein
signifikanter Haupteffekt der Verbform, F(1,72) = 4.88, p < .04. Versuchspersonen, die den Text
im Passiv gelesen hatten, reproduzierten einen größeren Anteil der Sätze im Passiv (M = 15%) als
Versuchspersonen, die den Text im Aktiv gelesen hatten (M = 2%). Darüber hinaus zeigte sich nur
eine signifikante Interaktion von Verbform, Vorinformation und Geschlecht, F(1,72) = 7.18, p <
.01. Während männliche und weibliche Versuchspersonen praktisch keine Aussagen im Passiv
wiedergaben, die sie im Aktiv gelesen hatten, tendierten in der Passiv-Bedingung männliche
Versuchspersonen dann stärker zum Passiv, wenn sie mythenkonsistente Vorinformation erhalten
hatten, weibliche Versuchspersonen hingegen dann, wenn sie mytheninkonsistente Vorinformation
erhalten hatten (Mittelwerte s. Tabelle 4.9).
92
Kapitel 4
Tabelle 4.9 Anteil des Passivs in der Nacherzählung der Handlungen des Täters in
Abhängigkeit von Verbform der Stimulustexte, Vorinformation und Geschlecht
(Stichprobe 12)
Geschlecht
weiblich
Vorinformation
Verbform
Aktiv
Passiv
männlich
mytheninkonsistent
mythenkonsistent
mytheninkonsistent
mythenkonsistent
0% (9)
0% (14)
11% (9)
0% (10)
23% (10)
3% (12)
10% (11)
24% (13)
Anm.: In Klammern n je Versuchsbedingung.
In zusätzlichen Korrelationsanalysen betrachteten wir den Zusammenhang zwischen Anzahl
und Form der wiedergegebenen Handlungen einerseits und dem Index der Schwere des Falles und
der relativen Täterverantwortung andererseits. Weder die Anzahl der wiedergegebenen
täterbezogenen Sätze noch der Anteil des Passivs an diesen Sätzen stand in einem signifikanten
Zusammenhang mit den Maßen der Verantwortungszuschreibung, alle p > .27. Die Korrelation
zwischen der Anzahl der wiedergegebenen opferbezogenen Sätze und dem Schwere-Index war
signifikant, r(95) = .24, p < .02. Je schwerer der Fall beurteilt wurde, desto genauer wurden die
Handlungen der betroffenen Frau wiedergegeben. Darüber hinaus war die Anzahl sowohl der
wiedergegebenen täterbezogenen als auch der opferbezogenen Aussagen signifikant negativ mit
der VMA korreliert, r(90) = -.24, p < .03, und -.21, p < .05. Personen mit niedrigerer VMA
erzählten also mehr Details der Vergewaltigung nach als Personen mit höherer VMA.
Schließlich analysierten wir die Überschriften, welche die Versuchspersonen für den gelesenen
Text erfunden hatten, nach demselben Schema wie in dem Experiment zur Textproduktion. Die
Verteilung der Überschriften auf die fünf Kategorien entsprach fast exakt derjenigen in dem
Experiment mit den Videoausschnitten (s. Tabelle 4.10). Betrachtet man die Verteilung der
Überschriften in Abhängigkeit von der Variation der Verbform im Text, so zeigt sich kein klares
Bild, P2(4, N = 91) = 4.36, ns. Faßt man die verbalen Kategorien 1 bis 3 und die nominalen
Kategorien 4 und 5 jeweils zusammen, ergibt sich ebenfalls kein signifikanter Zusammenhang mit
der im Text verwendeten Verbform, P2(1, N = 91) = 2.11, ns.
Exkurs: VMA und verschleiernde Sprache
93
Tabelle 4.10 Kategorie der gewählten Überschrift in Abhängigkeit von der vorgegebenen
Verbform (Stichprobe 12)
"Distanzierung" in der Formulierung der Überschrift
vorgegebene
Verbform
(1)
"vergewaltig
en" im Aktiv
n=5
(2)
"vergewalti
gen" im
Passiv mit
Erweiterun
g
(3)
"vergewalti
gen" im
Passiv
ohne
Erweiterun
g
(4)
"Vergewalti
gung"
(nominal)
(5) Indirekte
Umschreibu
ng
n = 28
n = 38
n=2
n = 18
Aktiv
2
1
6
23
12
Passiv
3
1
12
15
16
Wie bereits in dem Video-Experiment zur Textproduktion untersuchten wir außerdem den
Zusammenhang zwischen Überschrift-Kategorie einerseits und VMA, Schwere-Index und relativer
Täterverantwortung andererseits (Mittelwerte s. Tabelle 4.11). In dieser Untersuchung zeigte sich
tendenziell, daß Personen, die nominale oder "distanzierende" Wendungen benutzten (Kategorien
4 und 5), im Mittel höhere VMA-Werte hatten als Personen, die andere Formulierungen wählten,
t(82) = 1.87, p < .07. Obwohl die Befunde weniger deutlich ausfallen als in dem Video-Experiment,
zeigte sich darüber hinaus erneut, daß Personen, die nominale oder "distanzierende" Wendungen
benutzten, dem Täter weniger Verantwortung zuschrieben als Personen, die direkte verbale
Formulierungen wählten, t(48.0)25 = -1.97, p < .06. Für die relative Verantwortungszuschreibung
war auch der lineare Kontrast annähernd signifikant, t(14.1) = -2.13, p < .06. Keine signifikanten
Kontraste zeigten sich für den Schwere-Index, alle p > .80.
25
Separate Varianzschätzung wegen inhomogener Varianzen für diese Variable.
94
Kapitel 4
Tabelle 4.11 Mittelwerte der VMA, des Schwere-Index und der Verantwortungsattribution in
Abhängigkeit von der gewählten Überschrift (Stichprobe 12)
"Distanzierung" in der Formulierung der Überschrift
(1)
"vergewalti
gen" im
Aktiv
Variable
(2)
"vergewalti
gen" im
Passiv mit
Erweiterun
g
(3)
"vergewalti
gen" im
Passiv
ohne
Erweiterun
g
n=5
VMA
(5)
Indirekte
Umschrei
bung
n = 28
n = 38
n=2
a
(4)
"Vergewa
ltigung"
(nominal)
n = 18
2.22
1.63
2.09
2.27
2.45
Schwere-Index
6.81
8.25
7.15
7.42
7.30
relative
Täterverantw.c
6.60
8.00
6.11
6.56
5.52
b
Anm.:
a
Gültige n für VMA von links nach rechts: 5, 2, 17, 36, 27.
Index aus sechs Items; Spannweite von 1 (minimale Schwere bzw. Täterverantwortung)
bis 9 (maximale Schwere bzw. Täterverantwortung).
c
Verantwortung Täter minus Verantwortung Opfer; Spannweite von -8 (minimale
Täterverantwortung) bis +8 (maximale Täterverantwortung).
b
4.3.3 Diskussion
Insgesamt sprechen die Daten dieser Untersuchung nicht für eine generell verschleiernde und
den Täter entlastende Wirkung des Passivs auf die LeserInnen der Beschreibung einer
Vergewaltigung. Die Ergebnisse zu den direkten Urteilen legen eher eine größere Interpretierbarkeit
und Komplexität von Passivkonstruktionen nahe. So führten Beschreibungen einer Vergewaltigung
im Passiv bei Vpn mit hoher VMA nur dann zur Zuschreibung geringerer Verantwortung an den
Täter, wenn auch die Vorgeschichte entsprechend interpretierbare Details enthielt; fehlten derartige
Details, so war die Verantwortungszuschreibung an den Täter sogar tendenziell höher als bei der
Beschreibung im Aktiv.
Auch auf die Wiedergabe von täterbezogenen und opferbezogenen Textmerkmalen hatte die
vorgegebene Verbform keinen deutlichen Einfluß. Wenn überhaupt, wurden entgegen der
"Taten ohne Täter"-Hypothese (Lamb, 1991) tendenziell mehr Details über den Tathergang
wiedergegeben, wenn die Tat im Passiv anstatt im Aktiv beschrieben war. Besonders auffällig ist,
daß die Vpn bei der schriftlichen Wiedergabe der Täterhandlungen in diesem Experiment fast
vollständig auf das Passiv verzichteten. Selbst wenn im nachzuerzählenden Text alle Handlungen
des Täters, die Teil der Vergewaltigung waren, im Passiv beschrieben waren, gaben die Vpn diese
Sachverhalte zu mehr als 80% im Aktiv wieder. Die Passivverwendung war darüber hinaus im
Gegensatz zu dem zuvor berichteten Video-Experiment nicht mit der Verantwortungszuschreibung
oder der VMA korreliert. Der letztere Befund mag auch mit der geringen Varianz der
Exkurs: VMA und verschleiernde Sprache
95
Passivverwendung zusammenhängen.
Im Kontrast zu diesen geringfügigen Einflüssen der Verbform auf die Textinterpretation und
-wiedergabe steht der deutliche Einfluß der VMA auf die tatbezogenen Urteile und die Wiedergabe
von Details. Versuchspersonen mit niedriger VMA schrieben wiederum dem Täter größere und dem
Opfer geringere Verantwortung zu als Versuchspersonen mit hoher VMA. Außerdem gaben Vpn
mit niedriger VMA mehr Details der Vergewaltigung wieder als Vpn mit hoher VMA. Es wäre
interessant zu prüfen, ob dieser Befund durch Unterschiede in der Gedächtnisleistung zu erklären
ist, also etwa eine aufwendigere und detailgetreuere Enkodierung bei niedriger VMA im Sinne
systematischer Verarbeitung (s. Bohner, Moskowitz & Chaiken, 1995), oder durch Unterschiede
in der Bereitschaft, erinnerte Sachverhalte auch detailliert wiederzugeben. Hierüber könnte ein
Experiment Aufschluß geben, in dem nach der Enkodierungsphase unterschiedlich hohe externe
Anreize für eine möglichst vollständige und detaillierte Reproduktion der Inhalte gesetzt werden.
Außerdem könnten VMA-abhängige Unterschiede in der Reproduktion von Details auf
differentielle Coping-Strategien im Umgang mit emotional belastenden Informationen verweisen,
wie sie z.B. im Zusammenhang mit dem Konstrukt "repression-sensitization" diskutiert wurden
(z. Überblick s. Krohne, 1996).
4.4 Zusammenfassung
In der Zusammenschau liefern die beiden Experimente zu Textmerkmalen erste Hinweise, daß
Personen bei der Beschreibung einer Vergewaltigung etwas häufiger das Passiv verwenden, wenn
der Informations-Input nicht verbal kodiert ist und wenn die tatbezogene Information Elemente
enthält, die eine mythenkonforme Interpretation zulassen. In diesem Fall traten auch geringe, aber
gleichwohl statistisch signifikante Zusammenhänge zwischen Passivverwendung und
verantwortungsbezogenen Urteilen auf. Andererseits ergaben sich bei Vorgabe schriftlicher
Information keine eindeutigen Effekte des Passivs auf die Textinterpretation. Möglicherweise sind
derartige Einflüsse in einem einzelnen Experiment jedoch schwer zu entdecken — die alltägliche
Konfrontation mit Passiv-Formulierungen über längere Zeiträume übt vielleicht einen massiveren
Einfluß auf Einstellungen gegenüber sexueller Gewalt aus. Auch der Vergleich zwischen unseren
Befunden und Studien im englischsprachigen Raum gestaltet sich wegen der Unterschiede in der
Prävalenz des Passivs in beiden Sprachen schwierig — es erscheint notwendig, auch mit
englischsprechenden Versuchspersonen Experimente zu diesem Themenkomplex durchzuführen.
Interessanterweise lieferten beide "Sprachexperimente" Hinweise auf andere sprachliche
Strategien, sich von den beschriebenen Inhalten zu distanzieren: Insbesondere eine Präferenz für
nominale Wendungen und der Verzicht auf die Begriffe "vergewaltigen" bzw. "Vergewaltigung"
scheint mit der Zuschreibung von Verantwortung an das Opfer einherzugehen. Die Erfassung dieser
Strategien im Rahmen offener Antwortformate könnte sich somit als weniger reaktive Alternative
oder Ergänzung zu geschlossenen Attributions-Ratings anbieten.
In bezug auf die Gültigkeit der VMAS ist schließlich bemerkenswert, daß Unterschiede in den
96
Kapitel 4
tatbezogenen Urteilen und sogar in den weitgehend nonreaktiven Maßen der verwendeten
Sprachformen aufgrund von Unterschieden in den VMA-Werten vorhergesagt werden konnten.
Dabei erwies sich die VMAS als besserer Prädiktor selbst im Vergleich zu recht drastischen
Variationen der in einer Situation verfügbaren Information. Ich verlasse nun den Bereich der
Beurteilung bzw. Beschreibung konkreter Szenarien und wende mich im folgenden Kapitel der
Frage zu, inwieweit Vergewaltigungsmythen bei Männern zur Rechtfertigung eigener
Verhaltensabsichten beitragen.
VMA und die Bereitschaft zu vergewaltigen 97
5
VMA und die Bereitschaft zu vergewaltigen
In Kapitel 2 wurde unter Rekurs auf die Theorie der Neutralisation (Sykes & Matza, 1957) die
Möglichkeit diskutiert, daß VMA bei Männern zu der Bereitschaft beitragen könnte, selbst zu
vergewaltigen (Burt, 1980; Feild, 1978). Wie die meisten Kausalhypothesen, die zur Erklärung
sexueller Gewalt formuliert wurden, ist diese Annahme bisher rein korrelativ überprüft worden. In
den folgenden Abschnitten gebe ich zunächst einen kurzen Überblick über korrelative und
quasiexperimentelle Befunde aus der Literatur und berichte dann über ein eigenes Experiment, in
dem ich die Richtung der möglichen Kausalbeziehung zwischen VMA und der
Vergewaltigungsbereitschaft untersuchte.
5.1 Quasiexperimentelle und korrelative Befunde
Eine Möglichkeit, sich einer Prüfung der Neutralisationshypothese mit einem
quasiexperimentellen Ansatz zu nähern, besteht in dem Vergleich von Vergewaltigern und
Nichtvergewaltigern im Hinblick auf ihre VMA: Wenn die Neutralisierungsannahme zutrifft,
müßten Vergewaltiger höhere VMA-Werte aufweisen als Männer, die nicht vergewaltigt haben. Ein
solches Vorgehen stößt allerdings auf verschiedene methodische Schwierigkeiten. Studien in
diesem Bereich stützten sich meist auf Stichproben verurteilter Vergewaltiger, die im Strafvollzug
befragt wurden (z.B. Burt, 1978; Feild, 1978; Overholser & Beck, 1986). Diese Gruppe ist aber
höchstwahrscheinlich nicht repräsentativ für Vergewaltiger im allgemeinen und unterscheidet sich
insbesondere von Vergleichsgruppen nichtinhaftierter Personen in einer ganzen Reihe schwer
kontrollierbarer Merkmale (s.a. Lonsway & Fitzgerald, 1994; Malamuth, 1981). Darüber hinaus
dürften die Kontrollgruppen solcher Studien auch Männer enthalten, die vergewaltigt haben und
dafür nicht belangt wurden, was die Interpretation zusätzlich erschwert.
Entsprechend gemischt fallen auch die Befunde aus. Feild (1978) berichtet, daß Vergewaltiger
einigen der von ihm erfaßten Mythen stärker zustimmten als Personen aus der
Allgemeinbevölkerung, während sich in bezug auf andere Mythen kein signifikanter Unterschied
zeigte. Allerdings werden die Daten der allgemeinen Bevölkerungsstichprobe in diesem Vergleich
nicht nach Geschlecht differenziert berichtet, so daß die Unterschiede auch auf die vermutlich
geringere VMA der Frauen in der Bevölkerungsstichprobe und somit auf allgemeine
Geschlechtsunterschiede in der VMA zurückzuführen sein dürften. Burt (1978) fand in einer
Stichprobe von verurteilten Vergewaltigern eher geringere VMA als in der Allgemeinbevölkerung;
allerdings nahmen die von ihr befragten Vergewaltiger seit längerer Zeit an
Behandlungsprogrammen teil, die auf die Änderung opferfeindlicher Einstellungen abzielten.
Overholser und Beck (1986) erfaßten die Ausprägung der VMA mit der RMAS von Burt (1980;
s. Abschnitt 2.4.1) bei inhaftierten Sexualstraftätern, inhaftierten anderen Straftätern und zwei
Vergleichsgruppen nichtinhaftierter Männer (nämlich College-Studenten mit geringer "Dating"Häufigkeit und Männer mit niedrigem sozio-ökonomischen Status). In dieser Studie traten zwischen
den untersuchten Gruppen keine signifikanten Unterschiede in der VMA auf.
98
Kapitel 5
Eine alternative Strategie zur Prüfung der Neutralisierungshypothese, die zumindest im
Hinblick auf die Vermeidung der angesprochenen Konfundierungsprobleme zu bevorzugen ist,
besteht in der Erfassung der VMA und der selbstberichteten Bereitschaft zu vergewaltigen. Ein
positiver Zusammenhang zwischen diesen beiden Variablen wäre im Einklang mit der Hypothese,
daß Mythen zur Rechtfertigung sexueller Aggression genutzt werden können. Mehrere Studien im
englischsprachigen Raum belegen diesen Zusammenhang (z.B. Malamuth, 1981; Malamuth &
Check, 1985; Quackenbush, 1989; Tieger, 1981). Die Bereitschaft zu vergewaltigen wurde in
diesen Untersuchungen im Sinne einer hypothetischen "Selbst-Vorhersage" (ähnlich wie
Verhaltensintentionen in Einstellungs-Verhaltens-Modellen; z.B. Fishbein & Stasson, 1990) als
subjektive Wahrscheinlichkeit erfaßt: "[M]ales were asked ... to indicate the likelihood that they
personally would rape if they could be assured of not being caught and punished" (Malamuth, 1981,
S. 140). Dabei gab ein gutes Drittel der befragten Männer in College-Stichproben eine gewisse
Wahrscheinlichkeit an, selbst zu vergewaltigen: Malamuth (1981) berichtet, daß 35% der Befragten
auf einer Skala von 1 (= sehr unwahrscheinlich) bis 5 (= sehr wahrscheinlich) Werte größer als
1 angaben; Tieger (1981) benutzte eine vergleichbare Skala mit Werten von 0 bis 4 und erhielt von
37% der Befragten Werte größer als 0, von 20% Werte größer als 1. Die Korrelation zwischen
VMA und der Verhaltensbereitschaft betrug in einer Studie von Ceniti und Malamuth (berichtet in
Malamuth, 1981) r(67) = .60. Auch Tieger (1981) fand, daß sich mit Hilfe einer von ihm
entwickelten Skala zur Erfassung von Vergewaltigungsmythen die Bereitschaft zu vergewaltigen
signifikant vorhersagen ließ. In mindestens einer Studie zeigte sich auch ein signifikanter
Zusammenhang zwischen früherer Gewaltausübung und opferfeindlichen Einstellungen (Koss et
al., 1985).
Derartige korrelative Befunde können jedoch unterschiedliche Kausalbeziehungen
widerspiegeln. Wie bereits in Kapitel 2 diskutiert, kann eine hohe Akzeptanz von
Vergewaltigungsmythen die Bereitschaft zu vergewaltigen erhöhen, indem sie im voraus der Tat
entgegenstehende Normen neutralisiert (s.a. Burt, 1978, 1980). Eine erhöhte Bereitschaft, selbst zu
vergewaltigen, könnte aber auch umgekehrt zur Ausbildung höherer Mythenakzeptanz beitragen
im Sinne einer nachträglichen Rechtfertigung dieser Verhaltensbereitschaft (oder sogar früheren
Verhaltens). Schließlich ist es möglich, daß Drittvariablen (wie etwa eine traditionelle
Geschlechtsrollenorientierung) im gleichen Sinne sowohl die Verhaltensbereitschaft als auch die
Mythenakzeptanz beeinflussen, ohne daß zwischen diesen beiden letzteren Variablen eine direkte
kausale Beziehung besteht.
5.2 Ein Experiment zur neutralisierenden Wirkung von VMA
In einem mit Bernd Kerschbaum und Marc-André Reinhard durchgeführten Experiment
(Bohner, Reinhard & Kerschbaum, 1995; s.a. Kerschbaum et al., 1995) untersuchten wir bei
Männern den Einfluß von VMA auf die Bereitschaft, selbst zu vergewaltigen. Dabei versuchten wir,
VMA und die Bereitschaft zu vergewaltigen 99
über einen rein korrelativen Ansatz hinauszugehen, um so eine Entscheidung über die Art des
kausalen Zusammenhangs zwischen VMA und Verhaltensbereitschaft zu ermöglichen. Um die
angedeuteten Möglichkeiten unterschiedlicher Kausalbeziehungen zu explorieren, bedienten wir
uns einer Variation der Reihenfolge, in der die Versuchspersonen die VMAS und eine Skala zur
Erfassung der Bereitschaft zu vergewaltigen ausfüllten. Der Grundgedanke hierbei war, daß durch
die zuerst vorgelegte Skala die darin erfaßten Einstellungen bzw. Verhaltensintentionen den
Befragten leichter kognitiv zugänglich sein sollten. Bei der Beantwortung der zweiten Skala kann
dann eher auf die gerade aktivierten Inhalte zurückgegriffen werden, sofern sie für die anstehenden
Urteile relevant sind. Durch eine solche Manipulation der Augenfälligkeit von Sachverhalten ist
es möglich, kausale Einflüsse von Variablen zu überprüfen, die sich der direkten Manipulation
durch den Forscher entziehen, wie etwa Einstellungen, gesellschaftliche Rahmenbedingungen oder
politische Ereignisse (zur Theorie s. Schwarz & Strack, 1981). In anderen Kontexten wurde dieses
Verfahren bereits mit Erfolg eingesetzt (Nebel, Strack & Schwarz, 1989; Strack, Schwarz, Weidner,
Hippler & Schwarz, 1983), nicht zuletzt auch zur Prüfung des kausalen Einflusses neutralisierender
Kognitionen auf die Bereitschaft, Bagatelldelikte zu begehen (Schwarz & Bayer, 1989). Die Logik
dieses Verfahrens wurde auch in den in Kapitel 6 zu berichtenden Untersuchungen zur Überprüfung
des kausalen Einflusses der Bedrohung durch Vergewaltigung auf den Selbstwert und die
Befindlichkeit von Frauen eingesetzt und wird dort noch näher zu besprechen sein.
Für unsere gegenwärtige Fragestellung ist folgende Überlegung entscheidend: Wenn
opferfeindliche Einstellungen die Bereitschaft zu vergewaltigen kausal beeinflussen, so sollte sich
ein Zusammenhang zwischen diesen Variablen insbesondere dann zeigen, wenn die Vp zuerst über
derartige Einstellungen nachgedacht und ihre Ausprägung dieser Einstellungen berichtet hat. Wenn
andererseits ein umgekehrter Einfluß der Verhaltensbereitschaft auf die Akzeptanz opferfeindlicher
Mythen vorliegt, sollte der korrelative Zusammenhang zwischen VMA und der Bereitschaft zu
vergewaltigen dann ausgeprägter sein, wenn diese Bereitschaft zuerst abgefragt wurde. Liegt jedoch
ein wechselseitiger kausaler Einfluß oder eine durch Drittvariablen verursachte "Scheinkorrelation"
vor, so sollte die Reihenfolgevariation keine Unterschiede in der Höhe der Korrelation bewirken.
Neben der Annahme eines generellen Zusammenhangs (Hypothese 1) ergeben sich also je nach Art
des Kausalzusammenhangs konkurrierende Vorhersagen (Hypothesen 2 a bis c) über die Höhe der
Korrelation in Abhängigkeit von der Reihenfolgebedingung (s.a. Schwarz & Strack, 1981):
Hypothese 1:
Bei männlichen Versuchspersonen besteht eine positive Korrelation zwischen der
Vergewaltigungsmythenakzeptanz (VMA) und der Bereitschaft zu vergewaltigen (BZV).
Hypothese 2 a (Vergewaltigungsmythen als in die Zukunft wirkende Neutralisatoren):
Die positive Korrelation zwischen VMA und BZV ist höher, wenn zuerst die VMA und
dann die BZV erfaßt wird, als wenn zuerst die BZV und dann die VMA erfaßt wird.
Hypothese 2 b (Vergewaltigungsmythen als nachträgliche Rechtfertigung):
100
Kapitel 5
Die positive Korrelation zwischen VMA und BZV ist höher, wenn zuerst BZV und dann
VMA erfaßt wird, als wenn zuerst VMA und dann BZV erfaßt wird.
Hypothese 2 c (wechselseitiger Einfluß oder Scheinkorrelation):
Die positive Korrelation zwischen VMA und BZV ist von der Reihenfolge der Erfassung
der beiden Konstrukte unabhängig.
5.2.1 Stichprobe, Vorgehensweise und Materialien
An dem Experiment nahmen 125 männliche Studenten der Universität Mannheim teil
(Stichprobe 4; Bohner, Reinhard & Kerschbaum, 1995). Sie wurden gebeten, einen Fragebogen
über "Einstellungen zu verschiedenen Aspekten der Sexualität" auszufüllen. Wegen der sehr
intimen Natur der Fragen wurde mit besonderem Nachdruck auf Anonymität und Freiwilligkeit der
Teilnahme hingewiesen. Um die Anonymität zu betonen, baten wir die Versuchspersonen
außerdem, den ausgefüllten Fragebogen in einem verschlossenen Umschlag in einen bereitgestellten
Kasten einzuwerfen. Alle Versuchspersonen füllten den Fragebogen im Anschluß an die Teilnahme
an anderen, thematisch nicht verwandten Experimenten aus.
Der Fragebogen bestand aus einer allgemeinen Instruktion, der 20-Item-Version der deutschen
VMAS und einer deutschen Adaptation der "Attraction Toward Sexual Aggression"-Skala (ASA;
Malamuth, 1989 a, b). Die letztere Skala erfaßt Einstellungen und Verhaltensintentionen zu
verschiedenen "sexuellen Aktivitäten", beginnend mit erlaubten und unproblematischen Aktivitäten
(z.B. Zungenküsse; Petting) bis hin zu "exotischen" und strafbaren Handlungen (z.B.
Transvestismus; Geschlechtsverkehr mit Kindern). Die für unsere Untersuchung relevanten
Handlungen waren "Vergewaltigung" und "eine Frau zu Sexualpraktiken zwingen, die sie nicht
ausführen mag".26 Zu jeder dieser Handlungen sollte die Vp zunächst angeben, ob sie schon einmal
daran gedacht habe und wie attraktiv sie sie finde; dann sollte sie schätzen, welcher Prozentsatz
von Männern und Frauen diese Handlungen jeweils erregend finde, und angeben, wie erregend
sie selbst sie finde. Schließlich wurde die für uns zentrale Frage gestellt: "Wenn Sie sicher sein
könnten, daß niemand davon erfahren würde und Sie in keiner Weise dafür bestraft werden
könnten, wenn Sie die folgenden Aktivitäten ausüben würden: wie wahrscheinlich ist es, daß Sie
die folgenden Aktivitäten ausüben würden?" Dieser Frage folgte für jede aufgelistete Handlung
eine Skala von 1, "überhaupt nicht wahrscheinlich", bis 5, "sehr wahrscheinlich".
26
Es mag sowohl aus ethischen als auch aus methodischen Gründen als problematisch erscheinen,
Vergewaltigung im Kontext von Sexualpraktiken so zu präsentieren, als handele es sich dabei (nur) um eine
Variante des Sexualverhaltens. Zum ethischen Gesichtspunkt ist zu sagen, daß wir in einer schriftlichen
Aufklärung alle Versuchspersonen eindringlich darauf hinwiesen, daß Vergewaltigung in keinem Fall zu
tolerieren und auch nicht primär sexuell motiviert ist. Zum versuchstechnischen Aspekt ist anzumerken, daß
das "framing" von Vergewaltigung als "sexuelle Aktivität" wohl generell die Bereitschaft erhöhen dürfte,
entsprechende Verhaltensintentionen zu berichten; dies sollte sich jedoch nicht im Sinne eines systematischen
Fehlers auf die Testung der Hypothesen auswirken.
VMA und die Bereitschaft zu vergewaltigen 101
5.2.2 Variation der Reihenfolge und Auswertung
Die Versuchspersonen wurden nach dem Zufall einer von zwei Experimentalbedingungen
zugewiesen: Etwa die Hälfte der Versuchspersonen erhielt einen Fragebogen, in dem die VMAS
vor den ASA-Fragen zu beantworten war; die andere Hälfte erhielt einen Fragebogen, in dem die
VMAS nach Beantwortung der ASA-Fragen auszufüllen war. In der erstgenannten Reihenfolge
sollten die eigenen Einstellungen zu Vergewaltigung, Opfern und Tätern zum Zeitpunkt der Angabe
der eigenen Verhaltensabsicht kognitiv leichter verfügbar sein als in der letztgenannten
Reihenfolge.
Nach der Umpolung negativ formulierter Items bestimmten wir zunächst die interne
Konsistenz der VMAS; sie war in dieser Studie mit " = .77 zufriedenstellend. Für jede Vp wurde
der VMA-Wert als Mittelwert der 20 VMA-Items berechnet. Außerdem berechneten wir die
Korrelation zwischen den selbstberichteten Verhaltensintentionen für "Vergewaltigung" und "eine
Frau zu Sexualpraktiken zwingen ..."; sie betrug r = .65. Die Zusammenfassung der beiden Items
zu einem Index der BZV (Mittelwert aus beiden Items) erschien somit gerechtfertigt. Zur Prüfung
von Hypothese 1 berechneten wir die Korrelation aus BZV und VMA. Um erste Hinweise auf die
Gültigkeit der Hypothesen 2 a bis c zu erhalten, wurden die Korrelation von BZV und VMA
außerdem getrennt für jede der beiden Reihenfolge-Bedingungen berechnet.
Zur gezielten Prüfung der Hypothese 2 a führten wir mit der Kriteriumsvariablen BZV eine
hierarchische Regressionsanalyse durch, in die in einem ersten Schritt die Prädiktoren Reihenfolge
(Kodierung: 0 = ASA zuerst, 1 = VMA zuerst) und VMA-Wert eingingen und im zweiten Schritt
das Produkt aus diesen beiden Variablen als Maß für deren Interaktion; zur Prüfung der Hypothese
2 b wurde eine entsprechende Analyse mit der Kriteriumsvariablen VMA und den Prädiktoren BZV,
Reihenfolge sowie deren Produkt durchgeführt (zur Methode s. J. Cohen & Cohen, 1983, Kapitel
8). Wenn in keiner der beiden Regressionsanalysen ein signifikanter Interaktionseffekt auftritt,
würde dies für die Beibehaltung der als Nullhypothese formulierten Hypothese 2 c sprechen.
5.2.3 Ergebnisse
Die Spannweite der VMA-Werte reichte von 1.30 bis 4.10; das arithmetische Mittel lag bei
2.54, der Median bei 2.45. (Eine vorab durchgeführte Varianzanalyse mit VMA als abhängiger
Variable hatte gezeigt, daß die Ausprägung der VMA von der Reihenfolgebedingung unbeeinflußt
war.) Der BZV-Index wies eine Spannweite von 1.0 bis 5.0 auf; der Mittelwert lag bei 1.41. Die
Verteilung war erwartungsgemäß deutlich linkssteil: Die meisten Versuchspersonen (67%) wählten
sowohl für Vergewaltigung als auch für die Ausübung von Zwang den Extremwert "überhaupt nicht
wahrscheinlich", während 33% zumindest eine dieser Verhaltensoptionen für sich nicht gänzlich
ausschlossen. Dieser Befund entspricht fast exakt den von Malamuth (1981) und Tieger (1981)
berichteten Ergebnissen für US-amerikanische College-Studenten.
Die Korrelations- und Regressionsanalysen bestätigten die Hypothesen 1 und 2 a. Wie in
Hypothese 1 vorhergesagt, waren VMA und BZV insgesamt positiv korreliert, r(123) = .21, p < .02.
102
Kapitel 5
Diese Korrelation zwischen VMA und BZV war höher, wenn zuerst die VMAS beantwortet wurde,
r(60) = .48, p < .01, als wenn zuerst die ASA-Skala ausgefüllt wurde, r(61) = .04, ns; die Differenz
zwischen diesen beiden Korrelationskoeffizienten ist signifikant, z = 2.61, p < .01. Dieser Befund
spricht klar für einen kausalen Einfluß von VMA auf BZV und gegen einen umgekehrten Einfluß.
In Übereinstimmung mit Hypothese 2 a ergab auch die Regressionsanalyse mit dem Kriterium
BZV, daß dieser Zusammenhang ausgeprägter war, wenn die VMAS vor als wenn sie nach der
ASA-Skala beantwortet wurde, was sich in einer signifikanten Regression auf den Interaktionsterm
ausdrückte, t(122) = 2.80, p < .01, rsp = .24.27 Bei der gewählten Kodierung der Prädiktoren ist das
positive Vorzeichen der Regression im Einklang mit Hypothese 2 a. Der unstandardisierte
Regressionskoeffizient von B = 0.67 besagt, daß sich aus einem Unterschied von einer
Skaleneinheit VMA ein um 0.67 Skaleneinheiten größerer Unterschied in der BZV vorhersagen
läßt, wenn die VMAS zu Beginn erhoben wurde, als wenn sie am Ende erhoben wurde. Zur
weiteren Veranschaulichung der Ergebnisse in bezug auf Hypothese 2 a berechneten wir separate
Regressionsanalysen zwischen BZV und VMA für jede der beiden Reihenfolgebedingungen. Für
die Bedingung "ASA zuerst" erhielten wir B = 0.05, für die Bedingung "VMA zuerst" B = 0.72.
Auch die Regressionsanalyse mit VMA als Kriteriumsvariable ergab eine signifikante
Interaktion von Reihenfolge und BZV, B = 0.28, t(122) = 2.16, p < .04, rsp = .19. Das positive
Vorzeichen des Regressionskoeffizienten spricht aber gegen Hypothese 2 b, nach der ein negatives
Vorzeichen zu erwarten gewesen wäre. Da beide Regressionsanalysen signifikante
Interaktionseffekte ergaben, muß auch Hypothese 2 c verworfen werden.
Zur besseren Veranschaulichung dieser Zusammenhänge teilten wir die Stichprobe am Median
der VMA und berechneten eine Varianzanalyse mit den Faktoren Reihenfolge (VMA-BZV versus
BZV-VMA) und VMA (niedrig versus hoch) und der abhängigen Variable BZV. Auch in der
ANOVA trat eine signifikante Interaktion von Reihenfolge und VMA-Gruppe auf, F(1,121) = 4.01,
p < .05. Unterschiede in der Bereitschaft zu vergewaltigen als Funktion der VMA-Gruppe zeigten
sich allein in der Reihenfolge-Bedingung "VMA zuerst" (M = 1.04 bzw. 1.61 für niedrige bzw.
hohe VMA), t(121) = 2.69, p < .01, nicht aber in der Reihenfolge-Bedingung "ASA zuerst" (M =
1.47 bzw. 1.44), t(121) = -0.13, ns.28
5.2.4 Diskussion
Die Daten dieser Untersuchung liefern erste Hinweise für einen kausalen Einfluß der
27
Der semipartiale Korrelationskoeffizient rsp bezeichnet den separaten Beitrag eines Prädiktors unter
Absehung der von anderen Prädiktoren gebundenen Varianz (J. Cohen & Cohen, 1983).
28
Wegen der sehr geringen Varianz in der Bedingung "VMA zuerst/niedrige VMA" waren die Varianzen
insgesamt inhomogen. Der F-Test ist allerdings bei den gegebenen Fallzahlen robust gegenüber dieser
Verletzung der Voraussetzungen der ANOVA. Bei separaten Varianzschätzungen erhält man für den
Einzelvergleich innerhalb "VMA zuerst" sogar eine noch kleinere Irrtumswahrscheinlichkeit, t(35.5) = 3.26,
p < .003.
VMA und die Bereitschaft zu vergewaltigen 103
Akzeptanz von Vergewaltigungsmythen auf die Bereitschaft, selbst zu vergewaltigen. Sie gehen
damit in ihrer Aussagekraft über bisherige korrelative Befunde hinaus. Allerdings sind die
Ergebnisse wegen der schiefen Verteilung des Verhaltenskriteriums sowie wegen der nichtsignifikanten Korrelation in der Reihenfolge-Bedingung "BZV zuerst" mit Vorsicht zu
interpretieren. Vor allem der letztere Aspekt könnte zu der Interpretation verleiten, daß die hohe
Korrelation, die wir beobachteten, wenn VMA zuerst erfaßt wurde, ein Artefakt der
Experimentalsituation darstellt und unter natürlichen Bedingungen nicht auftreten würde. Dazu ist
jedoch anzumerken, daß auch viele soziale Situationen Hinweisreize enthalten, welche die
kognitive Zugänglichkeit der eigenen Einstellungen zu Vergewaltigung erhöhen dürften (s. Beneke,
1982, Kapitel 1). Dies mag insbesondere in solchen Situationen der Fall sein, in denen ein Mann
tatsächlich die Möglichkeit hat zu vergewaltigen, etwa bei Interaktionen mit einer Partnerin, in der
situative Hinweisreize mythenkonform interpretiert werden können (z.B.: die Frau sagt zögernd
nein, was den Mythos "Wenn Frauen nein sagen, meinen sie eigentlich ja" aktiviert). Gerade in
solchen Situationen könnte hohe VMA unmittelbar tatauslösend wirken.
Die Annahme einer Neutralisations-Funktion von Vergewaltigungsmythen erscheint somit
plausibel und mit den Daten vereinbar. Damit liefert unsere Untersuchung auch in einem neuen
Anwendungsbereich weitere empirische Unterstützung dafür, daß neutralisierende Kognitionen die
Bereitschaft zu abweichendem Verhalten erhöhen können, wie in der Neutralisationstheorie (Sykes
& Matza, 1957) vorhergesagt. Obwohl neben der VMA sicher weitere Faktoren zur Erklärung der
Genese sexueller Gewalt beachtet werden müssen (zum Überblick s. Godenzi, 1993), verweisen die
Befunde auf einen wichtigen Aspekt für die Prävention: In dem Maße, wie Mythen im Sinne von
Neutralisatoren wirken, sollte es möglich sein, durch Aufklärung und evtl. auch situationsbezogene
Attributionstrainings (z.B. Durchspielen alternativer, realitätsangemessener Erklärungen für das
Zögern, wenn eine Frau zögernd nein sagt), der Bereitschaft zu sexueller Gewalt entgegenzuwirken.
Interessant erscheint in diesem Zusammenhang der Befund, daß in unserer Studie diejenigen
Männer, die Vergewaltigungsmythen klar ablehnten (VMA < Median), dann eine deutlich
geringere Bereitschaft zur Vergewaltigung angaben, wenn diese Ablehnung durch vorheriges
Ausfüllen der VMAS leicht verfügbar war (M = 1.04), als wenn dies nicht der Fall war (M = 1.47).
Im Vergleich hierzu war der Anstieg der Bereitschaft bei den Versuchsteilnehmern, die
Vergewaltigungsmythen eher zustimmten (VMA > Median), geringer (M = 1.67 versus 1.44). Die
förderliche Wirkung des Bewußtmachens der eigenen Ablehnung der Mythen auf die
Verhaltensabsicht erscheint somit größer als der schädliche Einfluß des Bewußtmachens der
eigenen Zustimmung zu solchen Mythen. Allerdings ist diese Schlußfolgerung schon wegen der
geringen Zahl von Personen, die in unserer Studie tatsächlich deutliche Zustimmung zu den Mythen
zeigten, zugegebenermaßen spekulativ und sollte durch weitere Forschung unter Rückgriff auf
nichtstudentische Stichproben überprüft werden.
104
Kapitel 6
6
Salienz der Bedrohung durch Vergewaltigung: Einflüsse auf den Selbstwert von
Frauen und Männern
In diesem und den folgenden Kapiteln wende ich mich der Hypothese zu, daß der Selbstwert
und die emotionale Befindlichkeit von Frauen durch das Wissen um die latente Bedrohung durch
sexuelle Gewalt kausal beeinflußt werden. Besonders prägnant und plakativ hat Susan Brownmiller
(1975) diese Hypothese mit ihrer Formel von Vergewaltigung als "conscious process of
intimidation" formuliert, die ich im Einleitungskapitel zitierte. Etwas vorsichtiger, aber mit
gleichem Tenor, schrieben Weis und Borges (1973):
Rape operates as a social control mechanism to keep women in their 'place' or put them
there. The fear of rape, common to most women, socially controls them as it limits their
ability to move about freely. As such, it establishes and maintains the woman in a position
of subordination (S. 94).
Die bisher betrachteten Befunde stehen im Einklang mit dieser These. Wir haben gesehen, daß
Vergewaltigungsmythen mit traditionellen, patriarchalischen Überzeugungen einhergehen und
möglicherweise zum Vorkommen von Vergewaltigung beitragen. Insgesamt belegen die in den
Kapiteln 1 und 3 referierten korrelativen Studien, daß auf gesellschaftlicher Ebene ein
Zusammenhang zwischen Vergewaltigungsprävalenz und Geschlechterungleichheit besteht
(L. Baron & Straus, 1987; Sanday, 1981); dieser findet auf der individuellen Ebene seine
Entsprechung im Zusammenspiel von Einstellungen und Werthaltungen, die Vergewaltigung
begünstigen, mit solchen, die Frauen benachteiligen und geringschätzen (Burt, 1980; Costin, 1985;
Costin & Schwarz, 1987; Costin & Kaptanolu, 1993; Ward, 1995). Eine Studie von Riger und
Gordon (1981) belegt, daß auch Einschränkungen in der Bewegungsfreiheit von Frauen mit der
individuell wahrgenommenen Bedrohung kovariieren.
Wie ich bereits in der Einleitung andeutete, bleibt bei den bisher dargestellten Arbeiten die
Frage offen, welche Kausalrichtung den beobachteten Zusammenhängen zugrundeliegt. Trägt das
Vorkommen von sexueller Gewalt in einer Gesellschaft n wie Brownmiller (1975) und Weis und
Borges (1973) vermuten n ursächlich zur Benachteiligung von Frauen bei? Entspricht diesem
hypothetischen Einfluß auf der gesellschaftlichen Ebene ein kausaler Einfluß der Bedrohung durch
Vergewaltigung auf das individuelle subjektive Erleben? Sowohl auf der gesellschaftlichen als auch
auf der individuellen Ebene erscheinen mindestens zwei weitere Deutungen ebenfalls plausibel,
nämlich (a) die Annahme eines umgekehrten Einflusses und (b) die eines gleichsinnigen Einflusses
von Drittvariablen sowohl auf vergewaltigungsbezogene als auch auf die Geschlechterungleichheit
betreffende Variablen, ohne daß zwischen den letzteren beiden Variablengruppen eine direkte
Kausalbeziehung besteht (s. L. Baron & Straus, 1987; Bohner & Schwarz, 1996; Schwarz, 1987).
Nach der unter (a) formulierten Annahme könnte z.B. ein größeres Machtgefälle zwischen den
Geschlechtern zuungunsten der Frauen bewirken, daß Männer häufiger vergewaltigen, weil sie sich
Salienz von Vergewaltigung und Selbstwert 105
eher dazu berechtigt fühlen (s. L. Baron & Straus, 1987); auf individueller Ebene könnten
Verhaltens- oder Persönlichkeitsmerkmale von Frauen, die dem Geschlechtsstereotyp entsprechen
(z.B. geringes Durchsetzungsvermögen, Passivität), zu erhöhter subjektiver (und möglicherweise
objektiver) Bedrohung führen. Als Drittvariablen im Sinne von (b) kommen z.B. biologische
Unterschiede zwischen Männern und Frauen in Frage: Die größere Körperkraft von Männern und
andere anatomische Unterschiede zwischen den Geschlechtern könnten in der
Entwicklungsgeschichte der Menschen dazu beigetragen haben, daß Männer sowohl größere
gesellschaftliche Macht erlangten als Frauen als auch sexuelle Handlungen häufiger mit Gewalt
durchsetzten (s. Brownmiller, 1975).
Die im folgenden beschriebenen Analysen beziehen sich allein auf die Ebene des individuellen
Erlebens. Dabei wird sich zeigen, daß eine kausale Wirkung der Bedrohung durch Vergewaltigung
auf die Befindlichkeit und auf selbstbezogene Urteile von Frauen durchaus zu belegen ist. Dies
schließt selbstverständlich nicht aus, daß auch andere der oben angesprochenen Wirkungen
vorliegen können. Gerade mit Blick auf den größeren gesellschaftlichen Kontext erscheint eine
wechselseitige Bedingtheit von sexueller Gewalt und Geschlechterungleichheit plausibel (s. Bohner
& Schwarz, 1996). Ich kann jedoch im Rahmen dieser Arbeit nicht auf alle angedeuteten
Möglichkeiten eingehen und beschränke mich daher auf die Untersuchung der Einflußrichtung von
sexueller Gewalt auf selbstbezogene Urteile und die an diesem Einfluß beteiligten kognitiven
Prozesse.
Die beste Methode zur Aufklärung der Kausalrichtung des Zusammenhangs zwischen
Variablen wäre ein Experiment, in dem die vermutete Einflußvariable systematisch variiert und
Veränderungen in den anderen Variablen beobachtet werden (z.B. Rosenthal & Rosnow, 1984).
Aus naheliegenden Gründen erlaubt jedoch die Natur meiner Fragestellung keine direkten
experimentellen Prüfungen. Allerdings bietet die kognitive Sozialpsychologie ein alternatives
Verfahren an, um "kausale Wirkungen zu identifizieren, wenn es unmöglich ist, die interessierende
unabhängige Variable zu manipulieren" (Schwarz & Strack, 1981, S. 554). Dieser Ansatz der
Informationsaktivierung, der schon in dem Experiment über die Bereitschaft zu vergewaltigen von
Bohner, Reinhard und Kerschbaum (1995) herangezogen wurde (s. Kapitel 5), macht sich den
Umstand zunutze, daß Personen selten alle potentiell urteilsrelevanten Informationen abrufen, um
ein Urteil zu bilden. Vielmehr brechen Personen die Suche im Gedächtnis ab, sobald sie mit
subjektiv hinreichender Gewißheit ein Urteil bilden können (Bodenhausen & Wyer, 1987; Bohner,
Moskowitz & Chaiken, 1995). In ein Urteil fließen Informationen ein, die situationsunabhängig
chronisch verfügbar sind, und solche, die (z.B. aufgrund ihrer Augenfälligkeit in der Situation)
temporär zugänglich sind (Schwarz & Bless, 1992 a). Das Urteil hängt daher unter anderem davon
ab, welche Teilmenge der relevanten Information zum Zeitpunkt des Urteils am leichtesten kognitiv
zugänglich ist (zum Überblick s. Higgins, 1990).
Somit läßt sich die angenommene ursächliche Wirkung einer Variablen X untersuchen, indem
man ihre kognitive Zugänglichkeit kurz vor dem Zeitpunkt variiert, zu dem die nach der Hypothese
106
Kapitel 6
von ihr beeinflußten Variablen erfaßt werden. Dies kann geschehen, indem man Versuchspersonen
nach dem Zufall entweder einer Bedingung zuweist, in der sie dazu veranlaßt werden, über X
nachzudenken, oder aber einer Bedingung, in der sie nicht über X nachdenken. Falls ein kausaler
Einfluß von X vorliegt, der kognitiv vermittelt ist, sollte dieser bei erhöhter kognitiver
Zugänglichkeit von X ausgeprägter sein (s. Schwarz & Strack, 1981, für eine ausführlichere
Diskussion).
Diese Strategie ermöglicht es, den angenommenen kausalen Einfluß der Bedrohung durch
Vergewaltigung auf Wohlbefinden, Einstellungen, Selbstwahrnehmung und Verhalten von Frauen
zu untersuchen. Die soziale Realität sexueller Gewalt dürfte die genannten Aspekte beeinflussen,
sollte aber in ihrer temporären kognitiven Zugänglichkeit natürlichen Variationen unterworfen sein.
Folglich sollten Frauen, für die diese Bedrohung augenfällig (oder "salient") ist, da sie kurz zuvor
dazu angehalten wurden, darüber nachzudenken, weniger positive selbstbezogene Urteile abgeben
und sich weniger gut fühlen als Frauen, die nicht zum Nachdenken über Vergewaltigung veranlaßt
wurden. Dieser Zusammenhang sollte auch (oder sogar insbesondere) für Frauen gelten, die selbst
noch nie direkt sexueller Gewalt ausgesetzt waren. Die skizzierte Forschungsstrategie der
Informationsaktivierung wurde in bezug auf den Einfluß von Vergewaltigung bis heute in drei
Untersuchungen eingesetzt. In der ersten (Schwarz & Brand, 1983) wurde ein kausaler Einfluß
aufgezeigt; in den beiden weiteren (Bohner et al., 1993) wurde die Bedrohungshypothese gegen
alternative Erklärungen getestet und die Rolle der VMA bei der Verarbeitung von Information über
Vergewaltigung näher untersucht.
6.1 Eine erste experimentelle Überprüfung (Schwarz & Brand, 1983)
Ein erstes Experiment zum Einfluß der Salienz von Vergewaltigung auf selbstbezogene Urteile
wurde von Schwarz und Brand (1983) mit amerikanischen Studentinnen durchgeführt. Alle
Versuchsteilnehmerinnen füllten einen Persönlichkeitsfragebogen aus und lasen eine realistische
Schilderung einer Vergewaltigung. Um die Salienz von Vergewaltigung beim Ausfüllen des
Persönlichkeitsfragebogens zu manipulieren, variierten Schwarz und Brand die Reihenfolge der
beiden experimentellen Aufgaben: In der Experimentalbedingung mit Informationsaktivierung
wurde zu Beginn der Vergewaltigungstext gelesen, in der Kontrollbedingung ohne
Informationsaktivierung wurde zuerst der Fragebogen ausgefüllt.
Die beschriebene Vergewaltigung wurde angeblich auf dem Campus der Universität begangen,
an der die Versuchsteilnehmerinnen studierten. Der Text lautete folgendermaßen:
The police reported a rape case early this semester. Further inquiries with their source
yielded this story. The young woman, a sophomore at U. of I., was riding her bicycle
home from campus around 10:30 that evening. Ahead of her, on an otherwise deserted
street a man started to cross, so she slowed down. As she got closer she found she had to
stop because the man was now in her way. While asking her 'Hey baby, how you doing?'
Salienz von Vergewaltigung und Selbstwert 107
his friend came out of the bushes holding a small silver handgun. They ordered her off her
bike, which they threw aside. Both were tall and young, so when each grabbed an arm
firmly and they jammed the gun in her back, she knew it would be difficult to escape. She
could only protest by dragging her feet as they led her into the nearby park. Her verbal
protests were only answered with 'Shut up' or 'Don't look at us or you'll get it!'
accompanied with nudges of the gun into her back.
When they got to the dark pavilion in the park, they ripped off her clothes. They each
raped her on the rough picnic table, holding her down and covering her face with a
sweatshirt. They left her with threats of shooting her if she tried to leave the pavilion too
soon after they did (Schwarz & Brand, 1983, S. 72-73).
Die Studentinnen wurden unmittelbar nach dem Lesen dieses Textes gebeten anzugeben, wie
sie selbst in einer Situation wie der beschriebenen reagieren und mit wem sie darüber sprechen
würden. Danach wurde mit einer verkürzten Fassung von Costins "R scale" (Costin, 1985;
s. Kapitel 3) bei allen Vpn die Vergewaltigungsmythenakzeptanz erfaßt. Der
Persönlichkeitsfragebogen, den die Versuchspersonen je nach Versuchsbedingung entweder vor
oder nach dem Lesen des Vergewaltigungstextes ausfüllten, enthielt u.a. die abhängigen Variablen
Selbstwert, zwischenmenschliches Vertrauen und Einstellungen zu den Rechten und der Rolle von
Frauen.
Die Ergebnisse bestätigten im wesentlichen die Hypothesen von Schwarz und Brand (1983).
Frauen, die mit dem Vergewaltigungstext konfrontiert worden waren, berichteten in dem
Fragebogen geringeren Selbstwert, traditionellere Einstellungen zu den Rechten und der Rolle
von Frauen und geringeres Vertrauen in andere Menschen als Frauen, die den
Vergewaltigungstext noch nicht gelesen hatten. Insgesamt hatte die Konfrontation mit dem Thema
Vergewaltigung also zur Folge, daß Frauen sich selbst und zwischenmenschliche Beziehungen in
einem negativeren Licht sahen und traditionelle, d.h. für Frauen restriktive, Geschlechtsrollen eher
akzeptierten. Derartige Urteile und Einstellungen sind inkompatibel mit der Idee der Gleichstellung
der Geschlechter. Die Ergebnisse lassen sich also dahingehend interpretieren, daß bereits die
einmalige Konfrontation mit der Beschreibung einer Vergewaltigung auf Frauen im allgemeinen
einen einschüchternden Einfluß ausübt. Die Effekte weisen eine interessante Parallele zu den
Ergebnissen klinischer Untersuchungen auf, die zeigen, daß die posttraumatischen Reaktionen von
Frauen, die vergewaltigt wurden, einen Verlust an Selbstwert und Vertrauen zu anderen Menschen
einschließen (z. Überblick Koss, 1993).
Allerdings ließ diese erste experimentelle Arbeit noch eine Reihe von Fragen offen. Ein erster
wichtiger Punkt betrifft in zweierlei Hinsicht die Spezifität der Effekte: (a) Handelt es sich um
Wirkungen der Salienz von Vergewaltigung, die sich von Einflüssen der Salienz von Gewalt oder
Verbrechen im allgemeinen abgrenzen lassen? und (b) Sind die beobachteten Reaktionen spezifisch
für Frauen, oder wäre Ähnliches auch bei männlichen Versuchspersonen zu beobachten?
108
Kapitel 6
Eine weitere Frage bezieht sich auf die potentielle Moderatorwirkung der VMA. Aus den
bereits diskutierten Funktionen der VMA und der Annahme, daß solche überdauernden
Einstellungen zu Vergewaltigung im Sinne kognitiver Schemata die Enkodierung von Information
leiten, lassen sich hierzu Hypothesen formulieren. Beide offenen Fragen werden im folgenden
Abschnitt eingehender diskutiert.
6.2 Offene Fragen: Moderatorwirkung der VMA und Spezifität der Effekte
Schon Schwarz und Brand (1983) stellten Überlegungen zu einer potentiellen
Moderatorfunktion der VMA an. Sie nahmen an, daß ein negativer Einfluß der Salienz von
Vergewaltigung vor allem bei Frauen mit hoher VMA auftreten sollte: "[W]omen with strong
beliefs in what is often referred to as the 'myths of rape' ... might be more affected because they
assign more responsibility to the woman than do women with weak beliefs in these myths" (S. 72).
Schwarz und Brand erfaßten daher die VMA ihrer Versuchspersonen jeweils nach dem Lesen des
Vergewaltigungstextes und verglichen die Effekte der Salienz von Vergewaltigung zwischen
Personen mit niedriger und hoher VMA (auf der Basis einer Medianhalbierung der Stichprobe).29
Obwohl vor allem bei der abhängigen Variablen "Selbstwert" das Muster der Mittelwerte in die
Richtung eines stärkeren Einflusses der Salienzmanipulation bei hoher (versus niedriger) VMA
wies, zeigte sich keine signifikante Interaktion von Salienz und VMA auf irgendeiner der
abhängigen Variablen.
Trotz dieses Nullbefundes sollte einer potentiellen Moderatorwirkung der VMA weiter
nachgegangen werden. Nach unseren bisherigen Überlegungen zu den Funktionen von VM und
dem negativen korrelativen Zusammenhang zwischen VMA und der subjektiven Vulnerabilität
(s. Abschnitt 3.3.1.5) erscheint nämlich eine den Überlegungen von Schwarz und Brand (1983)
entgegengesetzte Hypothese mindestens ebenso plausibel: Hohe VMA impliziert die Überzeugung,
daß Frauen Vergewaltigung vermeiden können, solange sie bestimmten Regeln folgen, z.B. nachts
nicht allein auszugehen oder Männer nicht zu "provozieren". Außerdem beinhalten
Vergewaltigungsmythen ein Stereotyp des "typischen Opfers", was mit der Annahme einhergehen
mag, daß nur diejenigen Frauen gefährdet sind, die diesem Stereotyp entsprechen. Frauen mit hoher
VMA ordnen sich selbst vermutlich nicht dieser Kategorie potentieller Vergewaltigungsopfer zu
29
Ein methodisches Problem bei derartigen Moderatoranalysen ist der Zeitpunkt, zu dem die VMA erfaßt
wird. Würde man den Vpn die VMA-Skala zu Beginn des Experiments vorlegen, dann wäre der Versuchsplan
dadurch kontaminiert, daß allein durch das Ausfüllen der Skala in allen Bedingungen Information über
sexuelle Gewalt salient wäre. Ein Ausfüllen am Ende des Experiments, wie hier geschehen, läßt hingegen die
Möglichkeit offen, daß die Skalenwerte der VMA durch die Versuchsbedingungen beeinflußt werden und dann
keine wirklich unabhängige Variable mehr darstellen. Der Idealfall wäre dann gegeben, wenn man auf VMAWerte der Vpn zurückgreifen könnte, die längere Zeit vorher in einem anderen Kontext erhoben wurden, was
aber aus erhebungsökonomischen Gründen häufig nicht möglich ist. Das Vorgehen von Schwarz und Brand
(1983) stellt insofern einen guten Kompromiß dar, als auch die Vpn der Kontrollbedingung nach
Beantwortung der abhängigen Variablen, aber vor dem Ausfüllen der VMA-Skala den Vergewaltigungstext
lasen n etwaige Einflüsse des Textes auf die VMA-Werte sind dadurch konstantgehalten. Auch empirisch
zeigten sich keine Unterschiede in der VMA zwischen den Bedingungen.
Salienz von Vergewaltigung und Selbstwert 109
und beziehen Information über eine Vergewaltigung folglich mit geringerer Wahrscheinlichkeit auf
sich. Frauen mit gering ausgeprägter VMA sollten Vergewaltigung hingegen als realistische
Bedrohung für alle Frauen, einschließlich sich selbst, ansehen und eher geringe
Kontrollmöglichkeiten kognizieren. Wenn also die Akzeptanz von Vergewaltigungsmythen Frauen
dazu dient, sich von den Opfern sexueller Gewalt zu distanzieren, dann sollte sich die Konfrontation
mit einer konkreten Vergewaltigung gerade bei Frauen mit hoher VMA nicht in niedrigerem
Selbstwert etc. niederschlagen. Hingegen sollten Frauen mit niedriger VMA, die Vergewaltigung
als reale Bedrohung für alle Frauen (und somit auch sich selbst) betrachten, in ihrer
Selbstwertschätzung beeinträchtigt werden.
Da die Stichprobe von Schwarz und Brand (1983) ausschließlich aus Frauen bestand, blieb
ferner unklar, inwieweit die beobachteten Einflüsse spezifisch für Frauen waren bzw. auch bei
Männern aufgetreten wären. Nach der feministischen Hypothese, daß durch sexuelle Gewalt Frauen
eine untergeordnete Stellung in der Gesellschaft zugewiesen werden soll, wäre nämlich zu erwarten,
daß zumindest einige der von Schwarz und Brand beobachteten Effekte geschlechtsspezifisch sind.
Dies sollte vor allem für Einflüsse auf die abhängige Variable "Selbstwert" der Fall sein. Weniger
klar ist hingegen, ob differentielle Effekte bei den abhängigen Variablen "Vertrauen" und
"Einstellungen zu Frauenrechten" zu erwarten sind. Geringes interpersonelles Vertrauen und
patriarchalische Rollenvorstellungen sind wohl geschlechtsübergreifend mit dem Wertesystem einer
von Männern dominierten Kultur vereinbar (s. korrelative Befunde bei Burt, 1980) und könnten
daher durch die Aktivierung von Information über sexuelle Gewalt bei Frauen und Männern in
derselben Richtung beeinflußt werden.
Schließlich bietet sich für die von Schwarz und Brand (1983) gefundenen Einflüsse die
Alternativerklärung an, daß diese nicht auf die spezifische Wirkung von Vergewaltigung
zurückzuführen sind, sondern auf die Konfrontation mit Gewalt im allgemeinen. Eine
Untersuchung von Johnson und Tversky (1983) zeigte, daß die Beschäftigung mit negativ getöntem
Material wie z.B. Unfällen, Verbrechen und Naturkatastrophen die momentane Stimmung einer
Person beeinträchtigt. Negative Stimmung kann in der Folge ihrerseits einen unspezifischen
negativen Einfluß auf selbstbezogene Urteile ausüben (Schwarz, 1990). Es erscheint daher sinnvoll,
Einflüsse der Salienz von Vergewaltigung mit Effekten der Salienz anderer Formen von Gewalt zu
vergleichen, die nicht mit Vergewaltigung zusammenhängen.
Um diese Fragen zu klären, führte ich in Deutschland und in den U.S.A. je ein Experiment
durch (Bohner et al., 1993; s.a. Bohner & Schwarz, 1996; Weisbrod, 1991). Beide Studien bauen
auf dem Design von Schwarz und Brand (1983) auf. Es nahmen jeweils Frauen und Männer teil,
die nach dem Zufall einer von drei Bedingungen zugewiesen wurden: Ein Drittel der Vpn las einen
Text ohne Gewaltthematik, ein Drittel las die Schilderung einer Vergewaltigung, und ein weiteres
Drittel las die Schilderung eines Überfalls mit gefährlicher Körperverletzung auf ein männliches
Opfer. Durch die letztgenannte Bedingung sollte der Aspekt "Gewalt" salient gemacht werden,
110
Kapitel 6
ohne daß eine spezifische, an das Geschlecht gebundene Vulnerabilität thematisiert würde.30 Als
zentrale abhängige Variablen wurden der Selbstwert und die emotionale Befindlichkeit der
TeilnehmerInnen erfaßt.
6.3 Wie spezifisch ist der Einfluß der Salienz von Vergewaltigung? (Salienz-Experiment 1)
Das erste Experiment wurde in Mannheim in Zusammenarbeit mit Christina Weisbrod und
Norbert Schwarz durchgeführt (Bohner et al., 1993, Exp. 1). Es folgte einem 3x2x2-Versuchsplan
mit den Faktoren Salienzbedingung (keine Gewalt, Körperverletzung, Vergewaltigung),
Geschlecht und VMA (niedrig, hoch). Abhängige Variablen waren wie bei Schwarz und Brand
(1983) der Selbstwert, die emotionale Befindlichkeit, das Vertrauen in andere Menschen und die
normative Geschlechtsrollenorientierung. Ziel der Untersuchung war die Überprüfung der oben
formulierten Überlegungen zur Spezifität negativer Einflüsse von Information über Vergewaltigung
in bezug auf das Geschlecht der Versuchspersonen und im Vergleich zu Information über eine
andere Form der Gewalt.
6.3.1 Stichprobe und Vorgehen
An dem Experiment nahmen 85 Auszubildende teil (35 Frauen, 50 Männer), welche die Berufe
"technische Zeichnerin" oder "Industriemechaniker" erlernten. Die TeilnehmerInnen waren im
Mittel 18.5 Jahre alt. Sie füllten alle Versuchsmaterialien während des Berufsschulunterrichts in
Gruppensitzungen aus (n = 14 bis 25); dabei waren jeweils die Versuchsleiterin und eine Lehrkraft
anwesend. Die Versuchsleiterin stellte das Experiment als zwei unabhängige Untersuchungen zu
den Themen "Textverständnis" und "Validierung von Persönlichkeitsskalen" vor. Die
Glaubwürdigkeit dieser Cover-Story wurde durch die Verwendung sehr unterschiedlich gestalteter
Materialien in beiden Teilen des Experiments unterstützt; u.a. verwendeten wir die Briefköpfe
zweier verschiedener Universitäten. Tatsächlich diente die angebliche erste Untersuchung zur
Manipulation der Salienz von Vergewaltigung bzw. nicht-sexueller Gewalt. Als Teil der CoverStory lasen alle Versuchspersonen zunächst einen neutralen Text über ein Sportereignis und
beantworteten dazu einige Fragen. Dann folgte ein zweiter Text, der die experimentelle
Manipulation beinhaltete: Je nach Versuchsbedingung wurde ein Thema ohne Gewalt (ein Bericht
über Störche in einem Mannheimer Park), eine Vergewaltigung oder ein Überfall mit gefährlicher
Körperverletzung auf einen Mann beschrieben (s. Abb. 6.2). Die TeilnehmerInnen wurden nach
30
Es wurde auch eine vierte Versuchsbedingung realisiert, in der ein Text über einen Raubüberfall auf eine
Frau zu lesen war (weibliches Opfer / keine körperliche Gewalt). Allerdings berichteten im nachhinein
mehrere VersuchsteilnehmerInnen, daß ihnen auch in dieser Versuchsbedingung Gedanken über
Vergewaltigung in den Sinn gekommen waren. Dieser Befund illustriert, wie leicht für Frauen Gedanken an
sexuelle Gewalt aktiviert werden können. Da jedoch durch diese Konfundierung eine eindeutige Interpretation
dieser Stufe der unabhängigen Variablen erschwert wird, soll diese vierte Versuchsbedingung nicht weiter
diskutiert werden.
Salienz von Vergewaltigung und Selbstwert 111
dem Zufall einer dieser Bedingungen zugewiesen.31 Auch zu dem zweiten Text wurden einige
inhaltliche Fragen gestellt, um sicherzustellen, daß sich die TeilnehmerInnen damit
auseinandersetzten. Weitere unabhängige Variablen waren die VMA (niedrig versus hoch; s.u.) und
das Geschlecht der Versuchsperson.
Die angebliche zweite Untersuchung diente zur Erfassung der abhängigen Variablen (s.u.)
sowie der VMA. Um potentielle Einflüsse der Textvariation auf die VMA zu minimieren, legten
wir diese Skala ganz am Ende vor. (Eine Erhebung in einem anderen Kontext vor Beginn des
eigentlichen Experiments wäre vorzuziehen gewesen, war aber aus organisatorischen Gründen nicht
machbar; s.a. Fußnote 29). Nachdem die Versuchspersonen auch diese Fragen beantwortet hatten,
wurden sie zunächst schriftlich und nochmals eingehend mündlich befragt, wie sie die
"Untersuchungen" erlebt hatten, um herauszufinden, ob einzelne Versuchspersonen die Cover-Story
durchschaut hatten. Dies war nicht der Fall. Die Daten einer männlichen Versuchsperson waren
weitgehend unvollständig und wurden nicht ausgewertet, so daß die Analysen auf den Antworten
von 84 Personen beruhen.32
6.3.2 Materialien und abhängige Variablen
Die beiden Texte, mit denen die Augenfälligkeit von Vergewaltigung bzw. eines anderen
Gewaltverbrechens erhöht werden sollte, sind in Abbildung 6.2 dargestellt. Der Text über einen
gewalttätigen Überfall auf ein männliches Opfer sollte dazu dienen, Gewalt, nicht aber
Vergewaltigung, kognitiv zugänglich zu machen. In der Kontrollbedingung lasen die
Versuchspersonen einen Text von etwa gleicher Länge über das Brutverhalten der Störche in einem
Mannheimer Park. Alle Texte wurden als Artikel aus einer lokalen Tageszeitung eingeführt.
31
Die 85 Versuchspersonen bilden einen Teil der Stichprobe 1 (vgl. Tabelle 3.2). Die übrigen 28 Personen
dieser Stichprobe befanden sich in einer hier nicht referierten weiteren Versuchsbedingung (s. Fußnote 30).
32
Geringfügige Variationen in den berichteten Freiheitsgraden beruhen auf einzelnen fehlenden Werten.
112
Kapitel 6
__________________________________________________________________________________
Frau in Tiefgarage vergewaltigt!
Die 19 Jahre alte Andrea P. wurde am vergangenen Samstagnachmittag in der
Tiefgarage am Marktplatz auf brutale Weise von 2 Männern vergewaltigt. Frau
P. kam gegen 16.30 Uhr von einem Einkaufsbummel zurück und war auf dem
Weg zu ihrem Fahrzeug, das sie im zweiten Untergeschoß geparkt hatte. Als
sie bemerkte, daß zwei Männer sie verfolgten, war es schon viel zu spät, um
Hilfe herbeizuholen. Sie wurde von den beiden Männern in eine schlecht
beleuchtete Ecke gedrängt, und während einer der beiden Andrea P. mit
einem Klappmesser in Schach hielt, wurde sie von dem anderen brutal
vergewaltigt. Die Täter konnten bisher noch nicht gefaßt werden.
__________________________________________________________________________________
Mann in Tiefgarage zusammengeschlagen!
Der 19 Jahre alte Andreas P. wurde am vergangenen Samstagnachmittag in
der Tiefgarage am Marktplatz auf brutale Weise von fünf Jugendlichen
zusammengeschlagen. Herr P. kam gegen 16.30 Uhr von einem
Einkaufsbummel zurück und war auf dem Weg zu seinem Fahrzeug, das er im
zweiten Untergeschoß geparkt hatte. Als er bemerkte, daß ihn die
angetrunkenen Jugendlichen verfolgten, war es schon viel zu spät, um Hilfe
herbeizuholen. Er wurde von den Jugendlichen in eine schlecht beleuchtete
Ecke gedrängt, und während einer Andreas P. mit einem Klappmesser in
Schach hielt, wurde er von den anderen brutal zusammengeschlagen. Die
Täter konnten bisher noch nicht gefaßt werden.
__________________________________________________________________________________
Abbildung 6.2:
Szenarien einer Vergewaltigung (oben) und einer gefährlichen
Körperverletzung (unten) aus Bohner et al. (1993, Exp. 1)
Um die Induktion zu verstärken, beantworteten die TeilnehmerInnen zu jedem Text Fragen
nach dem Namen und Alter des Opfers, der Anzahl der Täter, der Tatwaffe und der geschätzten
jährlichen Anzahl der Vergewaltigungen (bzw. gefährlichen Körperverletzungen) in BadenWürttemberg. In der Kontrollbedingung wurden fünf Fragen zum Inhalt des neutralen Artikels über
die Störche gestellt.
Die abhängigen Variablen, die im zweiten Teil des Experiments erhoben wurden, umfaßten
folgende Skalen:
– Allgemeiner Selbstwert (bestehend aus den vier Items der "Global"-Subskala einer Skala
über "bereichsspezifische Selbstzufriedenheit", Hormuth & Lalli, 1988, und den vier Items
mit den höchsten Faktorladungen auf dem "general self-esteem"-Faktor einer deutschen
Salienz von Vergewaltigung und Selbstwert 113
Version der "revised feelings of inadequacy scale", Fleming & Watts, 198033).
Itembeispiele: "Ich kann stolz auf mich sein." — "Manchmal glaube ich, daß ich ein
wertloses Individuum bin." (umgepolt).
– Sozialer Selbstwert (bestehend aus den sieben Items mit den höchsten Faktorladungen auf
dem "social self-esteem"-Faktor einer deutschen Version der "revised feelings of
inadequacy scale", Fleming & Watts, 1980; s. Fußnote 33). Itembeispiel: "Ich fühle mich
den meisten Menschen, die ich kenne, unterlegen" (umgepolt).
– Zwischenmenschliches Vertrauen (fünf Items einer Skala von Amelang et al., 1984; s.a.
Abschnitt 3.3.1.3). Itembeispiel: "In dieser von Konkurrenzgedanken bestimmten Zeit
muß man wachsam sein, oder irgend jemand nutzt einen wahrscheinlich aus" (umgepolt).
– Einstellungen zu den Rechten und der Rolle von Frauen (die 20 Items der deutschen "Wscale"; Costin & Schwarz, 1987; s.a. Abschnitt 3.3.1.1). Itembeispiel: "In der Erziehung
der Kinder sollte im allgemeinen der Vater mehr Autorität haben als die Mutter".
– Stimmung (14 Adjektive einer Skala von Abele-Brehm & Brehm, 1986; z.B.
"unbeschwert", "gedrückt").
Die Items zu den ersten vier Skalen wurden in zufälliger Reihenfolge dargeboten; dann folgten die
14 Stimmungs-Adjektive.
Zum Abschluß beantworteten die Versuchspersonen die 20 Items der VMAS. Da es nicht
möglich war, die Versuchspersonen mehrmals zu befragen, wurde die VMAS ganz am Ende der
experimentellen Sitzung erhoben, um mögliche Einflüsse der Versuchsbedingungen auf die
Beantwortung der VMAS zu minimieren. Alle Items waren auf 7-Punkte-Skalen zu beantworten,
die von 1 ("vollkommen unzutreffend") bis 7 ("vollkommen zutreffend") reichten. In allen Skalen
kamen auch negativ gepolte Items vor, die vor der Berechnung der Analysen umgepolt wurden.
Berichtet wird als Skalenwert jeweils der Mittelwert aus den zugehörigen Items, ggf. nach
Umpolung, so daß auch die Skalenwerte einen Wertebereich von 1 bis 7 aufweisen. Höhere Werte
stehen jeweils für höheren Selbstwert, größeres Vertrauen, eine traditionellere Einstellung
gegenüber Frauen, bessere Stimmung und höhere VMA.
6.3.3 Bildung von Gruppen hoher versus niedriger VMA
Wie in den meisten früheren Untersuchungen (z.B. Costin, 1985; Costin & Schwarz, 1987; s.a.
Abschnitt 3.2.3) berichteten Männer (M = 3.42) höhere VMA als Frauen (M = 2.67), t(78) = 4.58,
p < .001. Geplante Kontraste zeigten außerdem, daß Personen, die den Vergewaltigungs-Text
gelesen hatten, tendenziell geringere VMA berichteten (M = 2.91) als Personen, die den neutralen
Text (M = 3.27) oder den Körperverletzungs-Text (M = 3.13) gelesen hatten, t(78) = 1.69, p < .10.
Um diese (wenn auch geringfügigen) Unterschiede zu berücksichtigen, berechneten wir Residuen
33
Nach einer Übersetzung von: Grabitz-Gniech, G. (o.J.). Bericht über eine Analyse von sieben
Persönlichkeitsfragebogen. Universität Mannheim: Fakultät für Sozialwissenschaften.
114
Kapitel 6
der VMA, die um die Einflüsse des Geschlechts und der Versuchsbedingung bereinigt waren, und
halbierten die Stichprobe am Median der residualisierten Werte. So entstanden Gruppen von
Personen mit niedriger VMA bzw. hoher VMA. Die VMA-Mittelwerte (basierend auf den
Rohwerten) dieser beiden Gruppen betrugen 3.31 bzw. 2.12 für die Frauen und 3.90 bzw. 2.87 für
die Männer.34
6.3.4 Vorgehen bei der Überprüfung der Hypothesen
In einem ersten Schritt verglichen wir für alle abhängigen Variablen die Mittelwerte der
Körperverletzungs-Bedingung mit denen der Kontrollbedingung, um potentielle Einflüsse der
Salienz "nichtsexueller" Gewalt aufzudecken. Soweit diese Analyse keine signifikanten Ergebnisse
zeigte, berechneten wir geplante Mittelwertvergleiche (Rosenthal & Rosnow, 1985) zur Testung
der spezifischen Hypothesen über den Einfluß der Salienz von Vergewaltigung. Hierzu wurden die
Mittelwerte der Vergewaltigungs-Bedingung jeweils mit der Kombination aus den Mittelwerten
der beiden anderen Bedingungen verglichen (Kontrastgewichte s. Tabelle 6.1).35 Wenn sich
Unterschiede zwischen Körperverletzung und der Kontrollbedingung zeigten, berechneten wir
außerdem separate Vergleiche der Vergewaltigungs-Bedingung und der Kontrollbedingung.
Haupteffekte und Interaktionen, die den Salienzfaktor nicht einschließen (also VMA, Geschlecht
und VMA x Geschlecht) entsprechen den Effekten in einer gewöhnlichen ANOVA; zur besseren
Vergleichbarkeit wird jedoch stets die t-Statistik berichtet.
34
Dieses Vorgehen entspricht vom statistischen Kalkül her der hier stets geübten Praxis, die
Medianhalbierung getrennt nach den Teilstichproben der Männer und Frauen vorzunehmen, kontrolliert aber
darüber hinaus den tendenziellen Einfluß der Versuchsbedingung.
35
Es soll schon hier angemerkt werden, daß die Werte der Körperverletzungs-Bedingung fast immer
zwischen denen der Kontrollbedingung und denen der Vergewaltigungs-Bedingung lagen, sich aber i.d.R.
nicht von denen der Kontrollbedingung unterschieden. Aus dieser Sicht stellen die geplanten
Mittelwertvergleiche einen konservativen Test der spezifischen Wirkung der Salienz von Vergewaltigung dar.
Salienz von Vergewaltigung und Selbstwert 115
Tabelle 6.1 Kontrastgewichte in Experiment 1 (KG = Kontrollgruppe; NSG = nicht-sexuelle
Gewalt salient; VER = Vergewaltigung salient; Vg. = Vergewaltigung; VMA =
Vergewaltigungsmythenakzeptanz). Nach Bohner et al. (1993), Table 2 (S. 567), ©
1993 by John Wiley & Sons Ltd.
niedrige VMA
Effekt
Geschlecht
Vg.-Salienz x VMA x
Geschlecht
Frauen
Vg.-Salienz x
Geschlecht
Vg.-Salienz x VMA
Vg.-Salienz
KG
hohe VMA
NSG
VER
+1
+1
-2
Männer
-1
-1
Frauen
+1
Männer
KG
NSG
VER
-1
-1
+2
+2
+1
+1
-2
+1
-2
+1
+1
-2
-1
-1
+2
-1
-1
+2
Frauen
+1
+1
-2
-1
-1
+2
Männer
+1
+1
-2
-1
-1
+2
Frauen
+1
+1
-2
+1
+1
-2
Männer
+1
+1
-2
+1
+1
-2
6.3.5 Ergebnisse
Skalenanalysen und Manipulationsüberprüfung. Reliabilitätsanalysen ergaben, daß die
abhängigen Variablen insgesamt befriedigende bis sehr gute Kennwerte der internen Konsistenz
aufwiesen (Cronbachs " zwischen .76 und .91). Eine Ausnahme bildete nur die Skala zum
interpersonellen Vertrauen mit " = .48. Die Antworten auf die "Fragen zum Textverständnis"
zeigten, daß die Vpn in allen Versuchsbedingungen den Inhalt des jeweiligen Textes beachtet hatten
und gut erinnerten (79 bis 100 % korrekte Erinnerung).
Einflüsse der Salienz nicht-sexueller Gewalt. Für die meisten abhängigen Variablen ergaben
sich keine Unterschiede zwischen der Kontrollbedingung und der Körperverletzungs-Bedingung.
Allein für die Stimmung trat eine marginale Interaktion zweiter Ordnung auf, t(71) = -1.73, p < .09.
Diese beruht darauf, daß der Text über Körperverletzung Frauen mit hoher VMA tendenziell
negativ beeinflußte, t(71) = 1.95, p < .06 (p > .24 für alle übrigen einfachen Effekte). Die
nachfolgenden Analysen zum Einfluß der Salienz von Vergewaltigung auf die Stimmung beziehen
sich daher auf den Vergleich zwischen der Vergewaltigungsbedingung und der Kontrollbedingung.
Für keine andere abhängige Variable zeigten sich Unterschiede zwischen der Körperverletzungsund der Kontrollbedingung, alle p > .19.
Einflüsse der Salienz von Vergewaltigung. Die Mittelwerte der abhängigen Variablen in den
einzelnen Versuchsbedingungen zeigt Tabelle 6.2.
116
Kapitel 6
Tabelle 6.2 Mittelwerte der abhängigen Variablen als Funktion der Salienzbedingung, der VMA
und des Geschlechts in Experiment 1 (KG = Kontrollgruppe; NSG = nicht-sexuelle
Gewalt salient; VER = Vergewaltigung salient; Vg. = Vergewaltigung; VMA =
Vergewaltigungsmythenakzeptanz). Nach Bohner et al. (1993), Table 3 (S. 568), ©
1993 by John Wiley & Sons Ltd.
niedrige VMA
Abh. Variable
Geschlecht
allgemeiner
Selbstwert
Frauen
sozialer Selbstwert
zwischenmenschlich
es Vertrauen
Einstellungen zu
Frauenrechten
Stimmung
KG
hohe VMA
NSG
VER
5.4
5.0
4.4
Männer
4.5
4.6
Frauen
5.0
Männer
KG
NSG
VER
5.1
4.7
5.3
4.9
5.5
4.8
5.9
4.6
3.9
3.9
3.4
4.9
4.1
4.1
4.1
4.6
4.3
4.8
Frauen
3.3
3.7
3.2
3.0
3.2
3.0
Männer
2.7
2.9
3.2
2.6
2.7
3.0
Frauen
2.7
2.3
2.3
3.0
2.9
2.8
Männer
3.0
3.0
3.1
3.8
3.8
3.8
Frauen
5.5
5.3
5.1
5.1
3.9
5.0
Männer
5.4
5.0
4.1
4.5
5.2
5.4
Anm.: Skalen von 1 bis 7; höhere Werte bedeuten höheren Selbstwert, traditionellere
Einstellungen zu Frauenrechten, größeres Vertrauen und bessere Stimmung.
Allgemeiner Selbstwert. Versuchspersonen mit hoher VMA berichteten insgesamt höheren
allgemeinen Selbstwert (M = 5.27) als Versuchspersonen mit niedriger VMA (M = 4.72), t(43.3)
= 2.23, p < .0436. Darüber hinaus zeigten sich signifikante Interaktionen von
Vergewaltigungssalienz und Geschlecht, t(49.0) = 2.40, p < .03, sowie von Vergewaltigungssalienz
und VMA, t(49.0) = 2.38, p < .03. Die Analyse einfacher Effekte innerhalb der Kombinationen aus
Geschlecht und VMA-Gruppe brachte für weibliche Vpn Ergebnisse, die mit der Annahme einer
"immunisierenden" Moderatorwirkung von VMA im Einklang stehen: Frauen mit niedriger VMA
berichteten geringeren allgemeinen Selbstwert, wenn Vergewaltigung salient (versus nicht salient)
war, t(11.6) = 2.74, p < .02; Frauen mit hoher VMA waren hingegen unbeeinflußt, t(6.7) = -1.22,
p > .26. Umgekehrt berichteten Männer mit hoher VMA höheren Selbstwert, wenn sie den
Vergewaltigungstext (versus einen anderen Text) gelesen hatten, t(21.4) = -2.35, p < .03; Männer
mit niedriger VMA blieben von dem Vergewaltigungstext unbeeinflußt, t(16.8) = -1.03, p > .32
(Mittelwerte s. Tabelle 6.2).
36
Separate Varianzschätzung wegen inhomogener Varianzen.
Salienz von Vergewaltigung und Selbstwert 117
Sozialer Selbstwert. In der Kontrastanalyse zeigte sich eine tendenzielle Interaktion zweiter
Ordnung, t(72) = 1.91, p < .07. Einzelvergleiche innerhalb der Kombinationen aus Geschlecht und
VMA-Gruppe ergaben, daß Frauen mit niedriger VMA geringeren sozialen Selbstwert berichteten,
wenn sie einen Text über Vergewaltigung (versus einen anderen Text) gelesen hatten, t(72) = 2.05,
p < .05, wohingegen Frauen mit hoher VMA einen gegenläufigen Effekt zeigten, t(72) = -2.14, p <
.04. Der soziale Selbstwert der männlichen Vpn blieb insgesamt unbeeinflußt, t(72) = -0.78, p > .43
(Mittelwerte s. Tabelle 6.2).
Zwischenmenschliches Vertrauen. Frauen gaben höheres Vertrauen in andere Menschen an
(M = 3.24) als Männer (M = 2.82), t(72) = 2.04, p < .05. Sonst traten auf dieser abhängigen
Variablen keine Effekte auf, alle übrigen p > .16.
Einstellungen zu den Rechten und der Rolle von Frauen. In Übereinstimmung mit früheren
Befunden kovariierten die Antworten auf die deutsche "W-scale" sowohl mit dem Geschlecht als
auch mit der VMA. Frauen berichteten insgesamt liberalere Einstellungen (M = 2.64; Skala von 1
= "liberal" bis 7 = "konservativ") als Männer (M = 3.43), t(72) = 4.40, p < .001. Versuchspersonen
mit niedriger VMA gaben liberalere Einstellungen an (M = 2.72) als Versuchspersonen mit hoher
VMA (M = 3.47), t(72) = 3.83, p < .001 (s.a. Abschnitt 3.3.1.1). Die Salienzmanipulation hatte auf
diese Antworten keinen Einfluß, alle p > .34.
Stimmung. Vergleiche zwischen der Vergewaltigungs-Bedingung und der Kontrollbedingung
ergaben eine Interaktion von Salienz und VMA, t(71) = 2.04, p < .05, und einen schwachen Trend
zu einer Interaktion zweiter Ordnung, t(71) = -1.61, p = .11. Nach Geschlecht getrennte Analysen
weisen darauf hin, daß die Interaktion zwischen Salienzbedingung und VMA allein auf den
Antworten der männlichen Vpn beruht, t(71) = 2.96, p < .005, (weibliche Vpn: t(71) = 0.27, ns).
Männer mit niedriger VMA, die den Vergewaltigungstext gelesen hatten, fühlten sich schlechter
als Männer mit niedriger VMA, die den neutralen Text gelesen hatten, t(71) = 2.42, p < .02; ein
gegenläufiger Trend zeigte sich für Männer mit hoher VMA, t(72) = -1.74, p < .09 (Mittelwerte
s. Tabelle 6.2).
6.3.6 Diskussion
Die Ergebnisse replizieren einen Teil der Befunde von Schwarz und Brand (1983) und
ermöglichen darüber hinaus Aussagen über die Spezifität der Effekte sowie über die
Moderatorwirkung der VMA. Hohe Salienz von Vergewaltigung beeinträchtigte den Selbstwert bei
Frauen mit niedriger VMA, wohingegen Frauen mit hoher VMA eher unbeeinflußt blieben und
sogar etwas höheren sozialen Selbstwert berichteten, nachdem sie einen Text über eine
Vergewaltigung gelesen hatten. Diese Einflüsse erwiesen sich als spezifisch für die Beschäftigung
mit sexueller Gewalt; vergleichbare Effekte der Salienz nicht-sexueller Gewalt beobachteten wir
nicht.
In diesem Datensatz ließ sich also n anders als bei Schwarz und Brand (1983) n eine
Moderatorwirkung der VMA nachweisen. Die Richtung dieses Einflusses spricht gegen die
118
Kapitel 6
Annahmen von Schwarz und Brand, daß aufgrund einer höheren Bereitschaft, das Opfer
abzuwerten, gerade Frauen mit hoher VMA beeinträchtigt sein sollten. Sie stützt im Gegenteil die
Hypothese, daß hohe VMA eine protektive Funktion erfüllt. Sie ermöglicht es Frauen offenbar, sich
von der Bedrohung durch Vergewaltigung zu distanzieren und entsprechende Einzelfallinformation
nicht auf sich selbst zu beziehen.
Darüber hinaus waren die Effekte auf den Selbstwert geschlechtsspezifisch: Männliche
Versuchspersonen zeigten sich durch das Lesen des Vergewaltigungstextes in ihrem Selbstwert
nicht beeinträchtigt; Männer, die Vergewaltigungsmythen eher akzeptierten, berichteten sogar
höheren Selbstwert und positivere Stimmung, wenn Vergewaltigung salient war. Dieser Befund ist
vereinbar mit der Annahme, daß sexuelle Gewalt zur Festigung der Ungleichheit der Geschlechter
zuungunsten der Frauen dient. Interessanterweise zeigten Männer, die nicht an
Vergewaltigungsmythen glauben, zwar eine negative Reaktion auf den Vergewaltigungstext, wenn
man die Skala der momentanen Stimmung betrachtet; dieser Effekt ist aber nicht von einem
entsprechenden Einfluß auf den Selbstwert begleitet.
Überraschenderweise zeigten sich keine Einflüsse der Salienzmanipulation auf den Skalen des
interpersonellen Vertrauens und der Einstellung zu Frauenrechten. Im Falle der Vertrauensskala
mag dieser negative Befund der geringen Reliabilität (" = .48) zuzurechnen sein. Die Einstellungen
zu Frauenrechten wurden hingegen reliabel erfaßt (" = .84), zeigten aber ein Ergebnismuster, das
dem von Schwarz und Brand (1983) berichteten nicht-signifikant entgegensteht.
6.4 Eine Replikation ausschließlich mit Frauen ohne eigene Gewalterfahrung (SalienzExperiment 2)
Um die Allgemeingültigkeit der in Experiment 1 gefundenen Zusammenhänge zu überprüfen,
führte ich gemeinsam mit Alexandra Barzvi und Paula Raymond ein Replikationsexperiment durch,
an dem Personen mit einem anderen Bildungsstand und kulturellen Hintergrund teilnahmen. Die
TeilnehmerInnen waren Studentinnen und Studenten an der New York University, die im Rahmen
einer Psychologie-Einführungsvorlesung Versuchspersonenstunden ableisteten.
In den beiden Vorläuferstudien (Experiment 1 und Schwarz & Brand, 1983) war ungeprüft
unterstellt worden, daß Einflüsse der Salienz von Vergewaltigung auf selbstbezogene Urteile nichtvergewaltigter Frauen untersucht würden. Allerdings legen Ergebnisse von Umfragestudien zur
Prävalenz sexueller Gewalt die Vermutung nahe, daß nicht wenige Teilnehmerinnen in der
Vergangenheit sexueller Gewalt von Männern ausgesetzt waren (Koss, 1988; s.a. Kapitel 3). Um
eine explizite Prüfung der Hypothese zu gewährleisten, daß die Bedrohung durch Vergewaltigung
auch Frauen beeinflußt, die selbst noch keine direkte Gewalt erlitten haben, erfaßten wir in diesem
Experiment frühere Gewalterfahrungen der Teilnehmerinnen. In die Analyse gingen nur die Daten
von Frauen ein, die angaben, noch nie Opfer versuchter oder vollendeter sexueller Übergriffe von
Männern gewesen zu sein.
Salienz von Vergewaltigung und Selbstwert 119
6.4.1 Stichprobe und Vorgehen
Die 84 weiblichen und 44 männlichen Versuchspersonen nahmen in Gruppensitzungen mit
zwei bis sieben Personen teil. Wiederum wurden die Salienzmanipulation einerseits und die
Erfassung der abhängigen Variablen sowie der VMA andererseits als voneinander unabhängige
Studien dargestellt. In einer angeblichen Untersuchung zum "Textverständnis" lasen die Vpn je
nach Versuchsbedingung einen von drei Texten, in denen ein neutrales Ereignis, eine
Vergewaltigung oder ein Überfall mit gefährlicher Körperverletzung auf einen Mann beschrieben
war. In einer darauffolgenden, angeblich unabhängigen Studie mit dem Titel "Feelings and
Opinions" wurden die abhängigen Variablen und die VMA erfaßt. Als Teil dieser "zweiten Studie"
füllten die weiblichen Vpn auch drei Fragen zu früheren Erfahrungen sexueller Gewalt aus (s.u.).
Ansonsten waren der Ablauf und die Materialien in allen relevanten Aspekten mit Experiment 1
vergleichbar.
6.4.2 Materialien und abhängige Variablen
Abbildung 6.3 zeigt die beiden gewaltbezogenen Texte. Der neutrale Text ist nicht abgebildet;
er bezog sich auf ein Modellbootrennen im New Yorker Central Park. Die Vpn beantworteten im
Anschluß an die Texte wieder jeweils einige Fragen zum "Textverständnis", um sicherzustellen,
daß sie sich mit dem jeweiligen Inhalt beschäftigten.
Folgende abhängigen Variablen wurden erfaßt:
– Allgemeiner Selbstwert (elf Items: Übersetzung der vier Items der "Global"-Subskala der
"bereichsspezifischen Selbstzufriedenheit", Hormuth & Lalli, 1988, und die sieben Items,
die am höchsten auf dem "general self-esteem"-Faktor der "revised feelings of inadequacy
scale" luden, Fleming & Watts, 1980).
– Sozialer Selbstwert (bestehend aus den neun Items mit den höchsten Faktorladungen auf
dem "social self-esteem"-Faktor der "revised feelings of inadequacy scale", Fleming &
Watts, 1980).
– Zwischenmenschliches Vertrauen (fünf Items aus Rosenberg, 1957). Itembeispiel:
"Human nature is fundamentally cooperative".
– Einstellungen zu den Rechten und der Rolle von Frauen (sechs Items; z.B. "I believe that
home and family should be a priority for women (versus men), taking precedence over
other activities".
–
Stimmung (sechs bipolare Adjektivskalen; z.B. "bad" - "good").
Die 6 Stimmungs-Adjektive wurden zuerst dargeboten; dann folgten die Items der übrigen Skalen
in zufälliger Reihenfolge. Zum Abschluß beantworteten die Versuchspersonen 15 Items einer leicht
modifizierten Version der Rape Myth Acceptance Scale von Burt (1980). Alle Items waren auf
Likert-Skalen von 1 ("do not agree at all") bis 7 ("completely agree") zu beantworten.
120
Kapitel 6
__________________________________________________________________________________
On Thursday, March 16, 1991, at approximately 3:20 p.m., Alicia B., twenty
years old, was raped in her own building at 42 Jones Street between Bleecker
and West 4th Street. A junior at Hunter College, she worked at Henry &
Davidson's as a paralegal. Hoping to acquire some experience before applying
for law school, she worked diligently and was given a number of important
responsibilities. On the day of March 16, Alicia walked the seven blocks from
her work place to her apartment in order to gather some case files that her
supervisor had requested. Upon turning the key and entering through the first
doorway of the small brownstone building, she was grabbed immediately by
a man who had been hiding behind the door. He threatened her with a knife
and forced her down the flight of stairs that led to the basement. He raped her
and immediately fled. The police are currently investigating a suspect, but
decline to reveal details.
__________________________________________________________________________________
On Thursday, March 16, 1991, at approximately 3:20 p.m., Andrew B., twenty
years old, was assaulted in his own building at 42 Jones Street between
Bleecker and West 4th Street. A junior at Hunter College, he worked at Henry
& Davidson's as a paralegal. Hoping to acquire some experience before
applying to law school, he worked diligently and was given a number of
important responsibilities. On the day of March 16, Andrew walked the seven
blocks from his work place to his apartment in order to gather some case files
that his supervisor had requested. He noticed two men loitering and drinking
on the sidewalk in front of his small brownstone building. Upon turning the
key and entering through the first doorway, he was grabbed immediately by
the two men, who had followed him to the door. One threatened him with a
knife and the other forced him down the flight of stairs that led to the
basement. Although they did not rob him, they beat him up until he lost
consciousness. The police are currently investigating suspects, but decline
to reveal details.
__________________________________________________________________________________
Abbildung 6.3:
Szenarien einer Vergewaltigung (oben) und einer gefährlichen
Körperverletzung (unten). Nach Bohner et al. (1993), Appendix B (S. 579),
© 1993 by John Wiley & Sons Ltd.
Schließlich wurden die weiblichen Vpn gebeten, drei Fragen zu früheren Gewalterfahrungen
zu beantworten, die wir ebenfalls von Burt (1980, S. 221) übernommen hatten:
n "Have you ever had anyone force sex on you against your will?" (no/yes);
n "Have you ever had anyone attempt to force sex on you, but unsuccessfully?" (no/yes);
n "Have you ever had sex with someone only because you were afraid physical force
would be used against you if you didn't go along?" (no/yes).
Wir definierten nicht-vergewaltigte Frauen in konservativer Weise als Frauen, die alle drei Fragen
mit "nein" beantworteten.
6.4.3 Bildung von Gruppen hoher versus niedriger VMA
Männer (M = 2.47) berichteten höhere VMA als Frauen (M = 2.07), t(83) = 2.23, p < .03. Beim
Salienz von Vergewaltigung und Selbstwert 121
Vergleich der Körperverletzungs- und der Kontrollbedingung zeigte sich eine annähernd
signifikante Interaktion von Geschlecht und Versuchsbedingung, t(83) = 1.93, p < .06, für die sich
keine inhaltliche Erklärung anbietet. Um dieses Datenmuster zu berücksichtigen, berechneten wir
Residuen der VMA-Werte, aus denen der Einfluß dieser spezifischen Interaktion auspartialisiert
war, und bildeten Gruppen niedriger versus hoher VMA durch Medianhalbierung der Stichprobe
auf der Grundlage dieser korrigierten Werte. Die Mittelwerte (basierend auf den Rohwerten der
RMAS) der Gruppen hoher und niedriger VMA waren 2.78 bzw. 1.42 für die Frauen und 3.02 bzw.
1.88 für die Männer.
6.4.4 Auswertung
Frühere Gewalterfahrungen. Fünfunddreißig Studentinnen (41.6 %) berichteten, daß sie
bereits Opfer versuchter (n = 19; 22.6%) oder vollendeter (n = 16; 19.0%) sexueller
Gewalthandlungen gewesen waren37; die Daten dieser Vpn gingen in die Analyse nicht mit ein.38
Die frühere Viktimisierung war von der Versuchsbedingung unabhängig, P2 (4, N = 84) = 5.12, p
> .27. Eine informelle Durchsicht der Daten ergab, daß sich die Antworten auf die abhängigen
Variablen zwischen Opfern vollendeter Gewalthandlungen (d.h. Frauen, die die erste oder dritte
Viktimisierungsfrage bejahten) und Opfern entsprechender Versuche (d.h. Frauen, die nur die
zweite Frage bejahten) oft klar unterschieden. Letztere berichteten z.B. relativ hohen Selbstwert,
nachdem sie den Vergewaltigungstext gelesen hatten, wohingegen erstere in dieser
Versuchsbedingung sehr niedrigen Selbstwert berichteten. Es schien daher nicht sinnvoll, die 35
"Opfer" als homogene Gruppe zu betrachten. Für einen sinnvollen statistischen Vergleich der
beiden Untergruppen miteinander und mit Frauen, die keine Gewalt erfahren hatten, hätten sich
jedoch zu kleine Zellenbesetzungen ergeben.
Weitere Ausschlußkriterien. Vier weitere Vpn äußerten den Verdacht, daß die angeblich
unabhängigen Experimente zusammenhingen; auch deren Daten wurden von der Auswertung
ausgeschlossen. Die endgültige Stichprobe bestand aus 46 Frauen und 43 Männern. Die
Auswertungsstrategie entsprach derjenigen in Experiment 1.
6.4.5
Ergebnisse
37
Diese Zahlen sind deutlich höher als die von Burt (1980) berichteten. Burt befragte in persönlichen
Interviews eine Zufallsstichprobe von Erwachsenen im Staat Minnesota und fand, daß 26.4% der (im Mittel
vierzigjährigen) befragten Frauen mindestens eine ihrer Viktimisierungsfragen mit "ja" beantworteten. Dieser
Unterschied dürfte zum Teil auf unterschiedlichen Erhebungsmethoden beruhen. Es ist anzunehmen, daß
Frauen im persönlichen Gespräch weniger bereit sind als in einem anonymen experimentellen Fragebogen,
über negative und potentiell belastende Erfahrungen zu berichten. Unsere Ergebnisse entsprechen andererseits
recht gut Befunden von Koss (1988), nach denen 39.3% der Frauen in einer Stichprobe amerikanischer
College-Studierender (N = 3,187; mittleres Alter 21.4 Jahre) nach ihrem 14. Lebensjahr Opfer versuchter oder
vollendeter sexueller Gewalt wurden.
38
Im Rahmen der ausführlichen postexperimentellen Aufklärung der Versuchspersonen wurde auch auf
individuelle Hilfs- und Beratungsangebote für Frauen hingewiesen, die sexuelle Gewalt erfahren haben.
122
Kapitel 6
Skalenanalysen und Manipulationsüberprüfung. Reliabilitätsanalysen ergaben in diesem
Experiment gute Kennwerte der internen Konsistenz für die meisten verwendeten Skalen
(allgemeiner Selbstwert: " = .89, sozialer Selbstwert: " = .83, Stimmung: " = .83, VMA: " = .86);
etwas niedriger fielen allerdings die Kennwerte der Skalen zum interpersonellen Vertrauen (" = .60)
und zu Frauenrechten (" = .63) aus. Die Antworten auf die "Fragen zum Textverständnis" zeigten
erneut, daß die Vpn in allen Versuchsbedingungen den Inhalt des jeweiligen Textes beachtet hatten
und gut erinnerten (80 bis 97 % korrekte Erinnerung).
Einflüsse nichtsexueller Gewalt. In dieser Stichprobe traten bei Vergleichen zwischen der
Körperverletzungs- und der Kontrollbedingung einige marginale bzw. signifikante Interaktionen
auf, und zwar bei beiden Selbstwert-Variablen, bei Einstellungen zu den Rechten von Frauen und
bei der Stimmung. Nachfolgende Einzelvergleiche zeigten zwar, daß Frauen von der Salienz
nichtsexueller Gewalt insgesamt unbeeinflußt waren, während bei Männern mit niedriger VMA ein
Effekt nichtsexueller Gewalt allein auf der Skala der momentanen Stimmung auftrat n im Sinne
einer Verbesserung der Stimmung. Wir nahmen dennoch davon Abstand, bei diesen abhängigen
Variablen Kontraste zu berechnen, in denen die Kontrollbedingung und die
Körperverletzungsbedingung zusammengefaßt werden. Stattdessen verglichen wir die
Vergewaltigungsbedingung direkt mit der Kontrollbedingung.
Einflüsse der Salienz von Vergewaltigung. Die Mittelwerte der zentralen abhängigen
Variablen in den einzelnen Versuchsbedingungen zeigt Tabelle 6.3.
Allgemeiner und sozialer Selbstwert. Obwohl das Mittelwertmuster dem des
Vorläuferexperiments ähnelt, zeigten sich keine signifikanten Effekte auf dem allgemeinen
Selbstwert. Auf dem sozialen Selbstwert fanden wir eine signifikante Interaktion der Salienz von
Vergewaltigung und der VMA, t(77) = 2.40, p < .02. Personen mit hoher VMA berichteten höheren
sozialen Selbstwert, wenn Vergewaltigung salient war (M = 4.02), als wenn kein Verbrechen salient
war (M = 3.23), t(77) = -2.03, p < .05; ein nicht-signifikant umgekehrtes Muster zeigte sich für
Personen mit niedriger VMA (M = 3.26 bzw. 3.75), t(77) = 1.35, ns.
Salienz von Vergewaltigung und Selbstwert 123
Tabelle 6.3 Mittelwerte der abhängigen Variablen als Funktion der Salienzbedingung, der VMA
und des Geschlechts in Experiment 2 (KG = Kontrollgruppe; NSG = nicht-sexuelle
Gewalt salient; VER = Vergewaltigung salient; Vg. = Vergewaltigung; VMA =
Vergewaltigungsmythenakzeptanz). Nach Bohner et al. (1993), Table 5 (S. 572), ©
1993 by John Wiley & Sons Ltd.
niedrige VMA
Abh. Variable
Geschlecht
allgemeiner
Selbstwert
Frauen
sozialer Selbstwert
zwischenmenschlich
es Vertrauen
Einstellungen zu
Frauenrechten
Stimmung
KG
hohe VMA
NSG
VER
5.4
5.0
4.6
Männer
4.8
5.5
Frauen
3.6
Männer
KG
NSG
VER
5.0
5.1
5.3
5.0
5.1
4.4
5.5
3.4
3.2
3.0
3.8
4.1
3.9
3.2
3.3
3.6
3.0
3.9
Frauen
2.9
3.6
3.7
3.4
3.5
4.2
Männer
3.5
3.6
3.2
3.4
3.3
3.1
Frauen
3.0
3.2
2.9
3.7
3.6
4.6
Männer
4.2
3.4
3.4
4.2
4.5
4.3
Frauen
5.5
4.9
4.7
4.4
4.8
5.1
Männer
4.8
6.0
4.6
5.0
4.3
5.9
Anm.: Skalen von 1 bis 7; höhere Werte bedeuten höheren Selbstwert, traditionellere
Einstellungen zu Frauenrechten, größeres Vertrauen und bessere Stimmung.
Auf der Skala zum zwischenmenschlichen Vertrauen zeigte sich eine überraschende
Interaktion von Versuchsbedingung und Geschlecht, t(77) = -2.08, p < .05. Frauen, die den
Vergewaltigungstext gelesen hatten, berichteten höheres Vertrauen (M = 3.92) als Frauen, die den
neutralen oder den Körperverletzungstext gelesen hatten (M = 3.13 bzw. 3.55), t(77) = -2.00, p <
.05; Männer hingegen reagierten nicht unterschiedlich auf die Texte (M = 3.19 bzw. 3.46 bzw.
3.41), t(77) = 0.91, ns.
Einstellungen zu Frauenrechten. Auch in dieser Studie waren die Einstellungen der Männer
zu Frauenrechten erwartungsgemäß konservativer (M = 3.99) als die entsprechenden Einstellungen
der Frauen (M = 3.44), t(77) = 2.97, p < .01. Außerdem zeigte sich ein starker Zusammenhang
dieser Einstellungen mit der VMA: Personen mit hoher VMA berichteten wesentlich konservativere
Einstellungen (M = 4.13) als Personen mit niedriger VMA (M = 3.29), t(77) = 4.74, p < .001.
Darüber hinaus ergaben Vergleiche zwischen Vergewaltigungs- und Kontrollbedingung
Interaktionen von Versuchsbedingung und VMA, t(77) = 2.35, p < .03, sowie von
Versuchsbedingung und Geschlecht, t(77) = -1.71, p < .10. In nachfolgenden Einzelvergleichen
124
Kapitel 6
zeigte sich, daß Frauen mit hoher VMA konservativere Einstellungen berichteten, wenn
Vergewaltigung salient war, als wenn kein Verbrechen salient war, t(77) = -2.08, p < .05; Männer
mit niedriger VMA berichteten hingegen tendenziell liberalere Einstellungen in der
Vergewaltigungsbedingung, t(77) = 1.93, p < .06. Für Frauen mit niedriger VMA und Männer mit
hoher VMA fanden wir keine signifikanten Effekte (Mittelwerte s. Tabelle 6.3).
Stimmung. Bei der momentanen Stimmung zeigte sich ein ähnliches Datenmuster wie beim
sozialen Selbstwert. Wir fanden eine signifikante Interaktion von Salienzbedingung und VMA,
t(77) = 2.83, p < .01. Versuchspersonen mit hoher VMA berichteten positivere Stimmung, wenn
Vergewaltigung salient war (M = 5.54), als wenn dies nicht der Fall war (M = 4.69), t(77) = -2.49,
p < .02; alle übrigen p > .14.
6.4.6 Diskussion
Obwohl sich bei den Selbstwertskalen und bei der Stimmung ähnliche Datenmuster zeigten
wie in Experiment 1, waren die Effekte schwächer und zum Teil nicht signifikant. Um einen
verläßlichen Gesamteindruck der Ergebnisse zu erhalten, führten wir deshalb für diese Variablen
Metaanalysen über beide Experimente durch. Hierzu verglichen wir zunächst die beiden
Experimente hinsichtlich der einfachen Effekte der Salienz von Vergewaltigung (versus
Kontrollbedingung und Körperverletzungsbedingung) innerhalb jeder der vier Kombinationen aus
Geschlecht und VMA (zur Methode s. Rosenthal & Rosnow, 1984, S. 369-376). Diese Analyse
zeigte, daß sich die Ergebnisse für die beiden Selbstwertskalen nicht zwischen den Experimenten
unterschieden (alle p > .12 für allgemeinen Selbstwert; alle p > .33 für sozialen Selbstwert).
Für beide Studien zusammen zeigte sich beim allgemeinen Selbstwert ein negativer Einfluß
der Salienz von Vergewaltigung bei Frauen mit niedriger VMA, z = -2.56, p < .02, und ein positiver
Einfluß bei Männern mit hoher VMA, z = 2.63, p < .01; alle übrigen p > .29. Beim sozialen
Selbstwert zeigte sich eine Tendenz zu einem negativen Einfluß der Salienz von Vergewaltigung
auf Frauen mit niedriger VMA, z = -1.85, p < .07, nicht aber Männer mit niedriger VMA, z = -0.41,
ns; einen positiven Einfluß hatte die Salienz von Vergewaltigung hingegen auf den sozialen
Selbstwert von Frauen und Männern mit hoher VMA, z = 2.51 bzw. 1.78, p < .02 bzw. .08.
Beim Vergleich zwischen beiden Studien hinsichtlich der momentanen Stimmung der Vpn
nach dem Lesen der Texte zogen wir die einfachen Effekte zwischen der Vergewaltigungs- und der
Kontrollbedingung heran (ohne die Körperverletzungsbedingung), da sich in Experiment 2 ein
schwer interpretierbarer Interaktionseffekt der Körperverletzungsbedingung gezeigt hatte. Auch
bezüglich dieser Effekte erwiesen sich die beiden Studien als homogen, alle p > .15. Das
Datenmuster entspricht etwa dem des sozialen Selbstwerts: Ein tendenzieller negativer Einfluß der
Salienz von Vergewaltigung zeigte sich allein für Frauen mit niedriger VMA, z = -1.71, p < .09,
nicht aber für Männer mit niedriger VMA, z = -0.98, ns; ein tendenziell bzw. signifikant positiver
Effekt trat hingegen für Frauen und Männer mit hoher VMA auf, z = 1.87 bzw. 2.60, p < .07 bzw.
.01.
Salienz von Vergewaltigung und Selbstwert 125
In der Zusammenschau zeigen die beiden Selbstwertskalen sowie die Skalen zur momentanen
Stimmung also ein konsistentes Bild über die beiden Studien hinweg. Die Ergebnisse stützen die
Annahme, daß sich n unabhängig vom kulturellen Hintergrund und selbst dann, wenn die
Stichprobe keine Frauen mit früheren Gewalterfahrungen enthält, n ein negativer Einfluß der
Auseinandersetzung mit sexueller Gewalt auf Frauen beschränkt, die opferfeindliche und
täterentlastende Stereotypen ablehnen.
Auf den übrigen abhängigen Variablen traten entweder keine oder widersprüchliche Effekte
auf. Die Skala zum zwischenmenschlichen Vertrauen zeigte in Experiment 1 keinen Einfluß der
Salienzmanipulation und in Experiment 2 einen unerwarteten positiven Effekt der Salienz von
Vergewaltigung auf Frauen. Es ist allerdings problematisch, daß in beiden Experimenten die Skalen
zum Vertrauen jeweils eine sehr geringe interne Konsistenz aufwiesen. Bei den Einstellungen
gegenüber Frauenrechten traten ebenfalls in Experiment 1 keine Effekte auf, in Experiment 2
hingegen zeigte sich für weibliche Vpn ein Muster, das dem Befund bei Schwarz und Brand (1983)
glich: Frauen mit hoher VMA berichteten nach der Konfrontation mit Vergewaltigung
konservativere Einstellungen zu Frauenrechten, Frauen mit niedriger VMA eher eine liberalere
Einstellung. (Schwarz, 1987, berichtete von ähnlichen Polarisierungseffekten in bezug auf den
Zusammenhang von VMA und Verantwortungszuschreibung nach der Variation der Salienz
traditioneller Geschlechtsrollen.)
6.5 Gesamtdiskussion und weiterführende Fragen
Trotz der Unterschiede im Bildungsstand und im kulturellen Hintergrund der
Versuchspersonen zeigten sich in beiden Experimenten ähnliche Einflüsse der Augenfälligkeit
sexueller Gewalt auf verschiedene Aspekte des Selbstwerts und die momentane Befindlichkeit. Die
Ergebnisse von Schwarz und Brand (1983) konnten in dieser Hinsicht repliziert werden, allerdings
nur für Frauen, die Vergewaltigungsmythen klar ablehnten. Diese Frauen berichteten geringeren
Selbstwert und negativere Stimmung, wenn für sie Information über Vergewaltigung kognitiv leicht
zugänglich war, im Vergleich zu Bedingungen, in denen keine Gewaltinformation oder Information
über nichtsexuelle Gewalt salient war. Frauen, die Vergewaltigungsmythen weniger deutlich
ablehnten, zeigten n je nachdem, welche abhängige Variable man betrachtet n entweder keinen
oder sogar einen positiven Einfluß der Vergewaltigungsinformation. Männer berichteten in den
Vergewaltigungsbedingungen keinen geringeren Selbstwert als in den übrigen Bedingungen,
Männer mit hoher VMA sogar höheren Selbstwert und positivere Stimmung.
Insgesamt zeigen die Ergebnisse unserer beiden Experimente somit, daß die Einflüsse von
Information über Vergewaltigung geschlechtsspezifisch sind, und daß bei der Aktivierung von
Information über ein anderes Gewaltdelikt keine vergleichbaren Effekte auftreten. Um hierzu noch
klarere Aussagen machen zu können, wäre es wünschenswert gewesen, auch Einflüsse eines nichtsexuellen Gewaltdelikts gegenüber einem weiblichen Opfer zu untersuchen. Allerdings zeigte ein
entsprechender Versuch in Experiment 1, daß dadurch sehr leicht eine "Mitaktivierung" von
126
Kapitel 6
Information über Vergewaltigung erfolgen kann, was die Interpretation erschwert. Dennoch sind
weitere Studien zu dieser Thematik sinnvoll, um die Einflüsse von Geschlecht des Opfers und
Sexualitätsaspekt der Gewalt klarer unterscheidbar zu machen.
Zweitens zeigte sich in beiden Stichproben eine Moderatorwirkung der Mythenakzeptanz:
Während Frauen mit hoher VMA sich als relativ "immun" hinsichtlich des negativen Einflusses von
Vergewaltigungsinformation erwiesen, reagierten Frauen mit geringer VMA mit reduziertem
Selbstwertgefühl. Bei Männern zeigte sich kein negativer Einfluß der Vergewaltigungsinformation,
bei Männern mit hoher VMA sogar ein umgekehrter Effekt (s.a. Bohner et al., 1993; Bohner &
Schwarz, 1996; Weisbrod, 1991).
Bezieht man diese Ergebnisse auf die These zurück, daß die Bedrohung durch Vergewaltigung
Frauen insgesamt beeinträchtigt und einschüchtert (Brownmiller, 1975; Weis & Borges, 1973),
so scheint eine Ausdifferenzierung dieser These erforderlich. Offensichtlich werden vor allem
diejenigen Frauen, die eine relativ realistische Sicht der Bedrohung durch sexuelle Gewalt haben,
negativ beeinflußt. Frauen hingegen, die sich opferfeindliche Mythen teilweise zu eigen machen,
scheinen ironischerweise immun zumindest gegen solche Aspekte der Bedrohung zu sein, die sich
auf Selbstwert- und Stimmungsskalen abbilden lassen.
Welche kognitiven Prozesse sind an diesen Ergebnissen der Verarbeitung von Information über
sexuelle Gewalt beteiligt? Ich habe in diesem Kapitel und in früheren Abschnitten dieser Arbeit
bereits einige Bestimmungsstücke einer prozeßorientierten Erklärung der beobachteten Phänomene
angedeutet. Bohner et al. (1993) schlugen vor, daß überdauernde Einstellungen zu Vergewaltigung,
wie wir sie mit der VMAS messen, bei der Interpretation von Information über sexuelle Gewalt als
kognitives Schema dienen:
If a woman's schema includes beliefs like "any woman can be raped", which indicate
low rape myth acceptance, she is more likely to perceive information about rape as a
potential threat to herself, and is negatively affected. If, however, a woman's schema
contains beliefs like "women who are raped are asking for it", indicative of high rape
myth acceptance, she should be likely to exclude [Hervorh. i. Orig.] herself from the
category of potential rape victims (cf. Schwarz & Bless, 1992 [a]). She may thus
interpret information about rape as a potential threat to other women, but not herself,
which by contrast may result in more positive self-esteem (S. 576).
Männer hingegen sollten sich nach dieser Überlegung aufgrund ihres biologischen Geschlechts
generell und unabhängig von ihrer überdauernden VMA aus der Kategorie der potentiellen Opfer
ausschließen und dadurch nicht beeinträchtigt werden. Diese Annahme kann allerdings nicht
erklären, warum Männer mit hoher VMA sogar höheren Selbstwert und positivere Befindlichkeit
berichteten, wenn sie einen Text über eine Vergewaltigung gelesen hatten. Hierzu boten Bohner et
al. (1993) zwei zusätzliche Überlegungen an, die auf spezifische Aspekte hoher VMA rekurrieren,
Salienz von Vergewaltigung und Selbstwert 127
nämlich die enge Definition einer "wirklichen" Vergewaltigung und den Mythos vom "abnormalen
Vergewaltiger":
It is possible that these men were less likely to perceive the act of rape as a despicable
crime, but rather as a "rightful" act of male dominance. Thus, identification with the
rapist may have resulted in more positive affect and self-esteem.
A different process assumption, however, may also account for the reactions of
male subjects high in RMA [= rape myth acceptance; G.B.], if we presume that these
men did [Hervorh. i. Orig.] perceive the rape they read about as a rape. Guided by their
"rape myth schema", they might have been particularly likely to categorize the rapist as
deviant. Perceiving themselves in contrast to "the abnormal rapist" might have led to
more positive judgments of self-esteem (S. 577).
Somit liegen tentative Erklärungen für die kognitiven Prozesse vor, die den differentiellen
Einfluß der Salienz von Vergewaltigung auf Frauen und Männer bzw. auf Personen mit niedriger
versus hoher VMA vermitteln könnten. Im folgenden Kapitel 7 versuche ich, insbesondere in bezug
auf die Einflüsse der Bedrohung durch Vergewaltigung auf Frauen differenziertere
Prozeßannahmen zu formulieren; empirische Evidenz für einige dieser Annahmen findet sich in
Kapitel 8. Die Überlegungen zu differentiellen Einflüssen auf Männer, die ebenfalls in Kapitel 7
elaboriert werden, habe ich bisher empirisch nicht weiter verfolgt; einige Möglichkeiten künftiger
Fragestellungen hierzu werden aber im abschließenden Kapitel 9 in Form eines Ausblicks
formuliert.
128
Kapitel 7
7
Vergewaltigungsmythen und Selbstkategorisierung: Ein Prozeßmodell
Bereits in Abschnitt 2.3.2 wurden vor dem Hintergrund der Theorie des Glaubens an eine
gerechte Welt sowohl geschlechtsübergreifende als auch geschlechtsspezifische Funktionen der
VMA diskutiert. In Verbindung mit dem Glauben an eine gerechte Welt besteht eine generelle
Motivation, die "ungerechten Verhältnisse", daß Frauen allein aufgrund ihres Geschlechts gefährdet
sind, verzerrt wahrzunehmen und zu repräsentieren. In einer gerechten Welt werden Frauen nicht
"grundlos" angegriffen, gedemütigt und vergewaltigt. Diese Motivation besteht im Prinzip
gleichermaßen für Männer und Frauen, weist aber interindividuelle Variation auf (s. Kapitel 3).
Für Frauen erfüllen VM außer der allgemeinen Möglichkeit, die Illusion von Gerechtigkeit
aufrechtzuerhalten, auch die Funktion des Selbstwertschutzes. Wenn es bestimmte Frauen gibt, die
durch ihr Verhalten oder ihren Charakter zu Opfern prädestiniert sind, dann impliziert dies nicht
nur relative Unverwundbarkeit für die "anderen" Frauen, sondern gibt Frauen, die sich dieser
Kategorie der "anderen Frauen" zurechnen, darüber hinaus die Möglichkeit, die eigene Person
aufzuwerten.
Für Männer läßt sich eine ähnliche Funktion insofern postulieren, als auch die Identifikation
mit einer durch das Geschlecht definierten Kategorie der Täter aversiv sein sollte. Wenn
Vergewaltigung aber im allgemeinen als entgleiste Sexualität interpretiert werden kann, zu der die
Opfer selbst beitragen, und die "wenigen" "wirklichen" Vergewaltigungen von Geistesgestörten
oder Psychopathen begangen werden, dann kann ein "normaler Mann" sich ebenfalls positiv von
der so eingegrenzten Kategorie der Täter abheben. Möglich ist bei Männern allerdings auch dann
ein Gewinn im Sinne der Selbstwerterhöhung, wenn sie Vergewaltigung realistisch sehen als Tat,
die von Männern gegen Frauen ausgeübt wird. Unabhängig von seiner individuellen Ausprägung
der VMA kann sich ein Mann immer schon auf der Grundlage seiner Geschlechtszugehörigkeit von
der Kategorie der potentiellen Opfer abgrenzen. Die Tatsache, daß Männer typischerweise nicht
Opfer sexueller Gewalt werden, illustriert für einen Mann darüber hinaus drastisch seine
Zugehörigkeit zu einer allgemein sozial dominanten Gruppe.
Diese Überlegungen möchte ich im folgenden wieder aufgreifen und auf der Grundlage der im
vorigen Kapitel dargestellten Befunde elaborieren. Aus den geschlechtsspezifischen Funktionen
des Selbstwertschutzes lassen sich spezifische Vorhersagen über die kognitiven Prozesse bei der
Verarbeitung von Information über sexuelle Gewalt und über die Reaktionen hierauf ableiten. Diese
Überlegungen werden im folgenden auf der Grundlage einer allgemeinen Theorie (sozialer)
Urteilsprozesse (Schwarz & Bless, 1992 a) sowie der Theorie der Selbstkategorisierung (Turner et
al., 1987) konkretisiert.
7.1 Assimilation und Kontrast im Urteil als Funktion von mentaler Inklusion versus
Exklusion
Vergewaltigungsmythen und Selbstkategorisierung: Ein Prozeßmodell 129
Soziale Urteile sind variabel und kontextabhängig (z.B. Kunda, 1990; Martin & Tesser, 1992).
Mit dem Inklusions-Exklusions-Modell haben Schwarz und Bless (1992 a) eine allgemeine Theorie
über Kontexteinflüsse auf (soziale) Urteile vorgestellt. Nach dieser Theorie erfordern Urteile über
soziale Sachverhalte die mentale Konstruktion des Urteilsgegenstandes sowie eines
Vergleichsstandards. In beide Repräsentationen fließen sowohl chronisch abrufbare Informationen
als auch temporär zugängliche Informationen ein. Wenn beispielsweise ein Urteil über Politiker der
CDU gefällt werden soll, wird praktisch jede/r Befragte chronisch verfügbare Information, etwa
über den gegenwärtigen Bundeskanzler, abrufen und zur Definition des Urteilsgegenstandes
heranziehen. Andere Information, etwa über wenig auffällige Politiker, wird hingegen nur dann
abrufbar sein, wenn sie (z.B. durch einen kurz zurückliegenden Bericht in den Medien) temporär
aktiviert wurde (s. Schwarz & Bless, 1992 b).
Abrufbare Information, die in die mentale Repräsentation des Urteilsgegenstandes
eingeschlossen wird (Inklusion), führt zu Assimilation des Urteils, d.h. zu positiveren Urteilen bei
Inklusion positiver Information bzw. negativeren Urteilen bei Inklusion negativer Information.
Solche Assimilationseffekte sind empirisch beobachtbar, wenn die Implikationen der temporär
abrufbaren Information extremer sind als die anderer Information, die ebenfalls in die Konstruktion
des Urteilsgegenstandes einfließt. Beispielsweise führte in einer Untersuchung von Schwarz und
Bless (1992 a, S.222-225) die Aktivierung von Information über die Parteizugehörigkeit des
damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker dazu, daß VersuchsteilnehmerInnen
positivere Urteile über Politiker der CDU abgaben als Versuchspersonen, die nicht an von
Weizsäckers Parteizugehörigkeit erinnert worden waren. Die Information über den (fast unabhängig
von der Parteipräferenz) positiv bewerteten von Weizsäcker, so die Erklärung, wurde (von den
Versuchspersonen, für die diese Information nicht ohnehin schon zugänglich war) in die temporäre
Repräsentation der Kategorie "Politiker der CDU" inkludiert; und diese Inklusion bewirkte eine
Assimilation des Urteils in positiver Richtung.
Abrufbare Information, die aus der Repräsentation des Urteilsgegenstandes ausgeschlossen
wird (Exklusion), aber potentiell urteilsrelevant ist, führt zu Kontrasteffekten, d.h. zu negativeren
Urteilen bei Exklusion positiver Information bzw. zu positiveren Urteilen bei Exklusion negativer
Information. Auch in diesem Falle gilt, daß Effekte nur beobachtbar sind, wenn die Implikationen
der temporär zugänglichen Information extremer sind als die anderer Information, die in der
temporären Repräsentation des Urteilsgegenstandes verbleibt (Schwarz & Bless, 1992 a).
Entsprechend beurteilten Versuchspersonen in einer anderen experimentellen Bedingung des
Experiments von Schwarz und Bless Politiker der CDU, nachdem Information über das Amt
Richard von Weizsäckers aktiviert worden war, das ihn "außerhalb der aktuellen Parteipolitik
stellt". In dieser Bedingung fiel die Beurteilung der Christdemokraten negativer aus als in der
Kontrollbedingung ohne Information über von Weizsäcker. In diesem Fall, so die Erklärung, wurde
die Information über von Weizsäcker aus der Repräsentation der "CDU-Politiker" exkludiert (und
somit auch von denjenigen Versuchspersonen, für die diese Information ohnehin zugänglich
130
Kapitel 7
gewesen wäre, nicht mehr zur Beurteilung der CDU-Politiker genutzt).
Darüber hinaus ist es möglich, daß die exkludierte Information nicht nur von der
Repräsentation des Urteilsgegenstandes "subtrahiert" wird, sondern außerdem in die Konstruktion
eines Vergleichsstandards oder Skalenankers inkludiert wird. Information über von Weizsäcker
würde somit zu einem positiveren Vergleichsstandard führen, was sich nicht nur auf Urteile über
CDU-Politiker, sondern auch auf Urteile über Politiker anderer Parteien auswirken sollte. In dem
Experiment von Schwarz und Bless wurde zur Prüfung dieser Möglichkeit auch ein Urteil über
Politiker der SPD erfaßt; dieses Urteil blieb jedoch von der Information über Richard von
Weizsäcker unbeeinflußt, was die Autoren veranlaßte, den Kontrast beim Urteilsgegenstand "CDUPolitiker" als reinen Subtraktionseffekt zu interpretieren. Meines Erachtens ist aber eine
Entscheidung zwischen Subtraktions- und Vergleichsstandard-Effekten hier dadurch erschwert, daß
Politiker der SPD in diesem Experiment generell positiver bewertet wurden als Politiker der CDU,
so daß ein eventueller Vergleichsstandard, der Information über von Weizsäcker beinhaltete, nicht
unbedingt evaluativ extremer war als der Urteilsgegenstand "Politiker der SPD".
Die Überlegungen zum Inklusions-Exklusions-Modell lassen sich auf selbstbezogene Urteile
übertragen. Auch für Informationen über die eigene Person gilt, daß nicht alle im Gedächtnis
gespeicherten Informationen in allen Situationen gleichermaßen abrufbar sind (zum Überblick
s. Kihlstrom & Klein, 1994) n Hazel Markus und Kolleginnen sprechen in diesem Zusammenhang
vom "dynamischen Selbstkonzept" (Markus & Wurf, 1987). "[T]he self-concept encompasses
within its scope a variety of self-conceptions n the good selves, the bad selves, the hoped-for
selves, the feared selves, the not-me selves, the ideal selves, the possible selves, the ought selves"
(Markus & Kunda, 1986, S. 859). Das Selbstkonzept in einem gegebenen Augenblick, das "working
self", bildet nach Markus und Kunda eine Teilmenge dieser Vielzahl von Selbstkonzepten.
Folgt man dieser Konzeption, so sollten auch Urteile, die die eigene Person betreffen,
Assimilations- und Kontrasteffekten unterliegen, je nachdem, welche Information temporär aktiviert
wurde, und ob diese Information in den Urteilsgegenstand "Selbst" (i.S. des "working self")
inkludiert oder aus diesem exkludiert (und ggf. als Vergleichsstandard genutzt) wird. Ich nehme
an, daß die Moderatorfunktion der VMA beim Einfluß temporär aktivierter Information über
Vergewaltigung auf selbstbezogene Urteile (s. Kapitel 6) durch derartige Inklusions- und
Exklusionsprozesse erklärt werden kann. Meine zentrale Hypothese besagt, daß die
Wahrscheinlichkeit der Inklusion versus Exklusion vergewaltigungsbezogener Information in das
aktuelle Selbstkonzept bzw. in relevante Vergleichsstandards durch VMA-abhängige Unterschiede
in den kognitiven Repräsentationen (a) der Kategorien "Vergewaltigungsopfer" / "Vergewaltiger"
und (b) des Selbst vermittelt ist.
7.2 VMA und Assimilation versus Kontrast in selbstbezogenen Urteilen
Personen mit hoher bzw. niedriger VMA sollten sich in der Breite ihrer Repräsentation der
Kategorie "potentielle Vergewaltigungsopfer" unterscheiden. Für Personen mit hoher VMA sollte
Vergewaltigungsmythen und Selbstkategorisierung: Ein Prozeßmodell 131
diese Kategorie eher eng und stereotyp definiert sein und z.B. junge, attraktive Frauen umfassen,
die sich Männern gegenüber "provozierend" verhalten und einen promisken Lebensstil haben. Für
Personen mit geringer VMA sollte diese Kategorie hingegen eher weit gefaßt sein und grundsätzlich
alle Frauen einschließen, da jede Frau n unabhängig von Alter, Verhalten etc. n Opfer einer
Vergewaltigung werden kann.
Welche Implikationen haben diese Unterschiede in der Kategorienbreite für den Einfluß der
temporären Zugänglichkeit von Information über Vergewaltigung auf selbstbezogene Urteile von
Frauen? Je breiter die Kategorie "potentielle Vergewaltigungsopfer" subjektiv definiert ist, desto
größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß auch die eigene Person als zur Gruppe der potentiellen Opfer
zugehörig gesehen wird. Der Aspekt des Bedroht-Seins durch sexuelle Gewalt wird somit zu einem
Merkmal des Selbst, das wie andere kognitive Repräsentationen situativen Variationen in der
kognitiven Zugänglichkeit unterworfen ist. Temporär zugängliche Information über
Vergewaltigung sollte dazu führen, daß dieser Aspekt bei Urteilen über die eigene Person in den
Urteilsgegenstand, d.h. das aktuelle Selbstkonzept, eingeschlossen wird. Eine Frau mit niedriger
VMA sieht sich selbst also nach der Aktivierung von Vergewaltigungsinformation eher auch als
potentielles Opfer. Da Menschen in fast allen Kontexten ihr Selbst überwiegend positiv beurteilen
(s. z. Überblick Banaji & Prentice, 1994), ist anzunehmen, daß die affektiven Implikationen der
vergewaltigungsbezogenen Information für eine Frau mit niedriger VMA weitaus negativer sind
als die der anderen (großenteils positiven) Bestandteile ihres temporären Selbstkonzepts. Somit tritt
ein Assimilationseffekt auf, d.h. in diesem Fall eine Verschiebung des Urteils in negativer Richtung.
Bei enger Definition der Kategorie "potentielle Vergewaltigungsopfer", wie hohe VMA sie
impliziert, sollte eine Frau hingegen temporär zugängliche Information über Vergewaltigung nicht
in den Urteilsgegenstand "Selbst" einschließen. Je nachdem, ob die Information zur Konstruktion
eines Vergleichsstandards ("andere Frauen") herangezogen wird oder nicht, ist analog zur oben
ausgeführten Überlegung entweder ein Kontrasteffekt, also eine Verschiebung des Urteils in
positiver Richtung, oder kein ausgeprägter Effekt zu erwarten. Ein Kontrasteffekt sollte n die
Inklusion der Vergewaltigungs-Information in einen Vergleichsstandard vorausgesetzt n
insbesondere dann auftreten, wenn das selbstbezogene Urteil explizit komparativ ist, also z.B.,
wenn die eigene Person im Vergleich zu anderen Frauen beurteilt werden soll.
Zusätzlich zu Unterschieden in der subjektiven Kategorienbreite sind zwischen Frauen mit
niedriger versus hoher VMA auch Unterschiede in der Bewertung der sozialen Kategorie
"potentielle Opfer" zu erwarten. Bei hoher Salienz von Vergewaltigung werden je nach Ausprägung
der VMA also unterschiedlich bewertete Konzepte über "potentielle Opfer" aktiviert. Da Personen
im allgemeinen bestrebt sind, durch soziale Selbstkategorisierungen ein positives Selbstbild
aufrechtzuerhalten (z.B. Turner et al., 1987), dürften diese Bewertungsunterschiede die
angesprochenen Tendenzen der Inklusion versus Exklusion vergewaltigungsbezogener Information
motivational verstärken. Wenn Frauen mit hoher VMA Vergewaltigungsopfer eher negativ
bewerten, sollte dies eine Identifikation mit diesen zusätzlich erschweren; wenn Frauen mit
132
Kapitel 7
niedriger VMA Vergewaltigungsopfer eher positiv (oder zumindest neutral) bewerten, sollte dies
hingegen eine Identifikation mit diesen zusätzlich erleichtern (oder zumindest nicht behindern).
Welche Implikationen haben die diskutierten Kategorisierungsprozesse bei Männern? Generell
sollte bei Männern n unabhängig von der Ausprägung der VMA n eine Inklusion der Information
über das Opfer in das temporär aktivierte Selbstkonzept ausbleiben, da Männer typischerweise
nicht Opfer einer Vergewaltigung werden können. Diese Annahme steht, wie bereits ausgeführt,
im Einklang mit dem Befund, daß negative Einflüsse der Salienz von Vergewaltigung auf die
Selbstbewertung von Männern ausblieben. Das Schicksal der vergewaltigten Frau kann aber zur
Konstruktion eines Vergleichsstandards genutzt werden, was zunächst für alle Männer bei
Konfrontation mit Vergewaltigung positivere Bewertungen der eigenen Person erwarten ließe.
Jedoch berichteten nur Männer mit hoher VMA erhöhten Selbstwert, wenn sie von einer
Vergewaltigung gelesen hatten, nicht aber Männer mit niedriger VMA. Bei diesem Unterschied
könnte die Repräsentation der Kategorie "Vergewaltiger" eine vermittelnde Rolle spielen. Wie
Bohner et al. (1993) anmerkten, ist es möglich, daß Männer mit hoher VMA das Geschehen im
Bericht über eine Vergewaltigung überhaupt nicht als Vergewaltigung interpretieren, sondern
vielmehr als legitime Demonstration männlicher Macht über Frauen (Check & Malamuth, 1983,
1985). Die anschließende Inklusion dieses Aspekts männlicher Dominanz könnte via Assimilation
zu einem positiveren temporären Selbstkonzept führen, mit dem auch positivere Gestimmtheit
einhergeht. Allerdings lassen die Texte, die in den Experimenten von Bohner et al. verwendet
wurden (s. Abb. 6.2 und 6.3), nur geringen Spielraum für eine derart positive Interpretation des
Täterverhaltens, so daß diese Erklärung nicht sehr plausibel erscheint. Als Alternativerklärung
bietet sich die Annahme an, daß Männer mit hoher VMA das Geschehen durchaus als
Gewaltverbrechen interpretierten, den Vergewaltiger aber in Übereinstimmung mit dem Mythos
des "geistesgestörten Täters" als deviant wahrnahmen. Entsprechend könnte die (negative) Figur
des Täters in die Konstruktion eines Vergleichsstandards für die Bewertung der eigenen Person
eingehen und via Kontrast zu einem positiveren Urteil beitragen (s. Bohner et al., 1993, S. 577).
Bei Männern mit niedriger VMA sollte generell eher die Tendenz bestehen, den Täter negativ
zu bewerten. Gleichzeitig ist Inklusion dieses negativen Aspekts der männlichen Rolle ins
temporäre Selbstkonzept möglich, da Männer mit niedriger VMA wohl eher als Männer mit hoher
VMA der Überzeugung sind, daß "alle Männer potentielle Vergewaltiger" sein können. Bei
Männern mit niedriger VMA wirken also die Kontrastierung zum Opfer und die Assimilation des
negativen Täterbildes in entgegengesetzter Richtung, was insgesamt dazu führen könnte, daß n wie
in den Experimenten von Bohner et al. (1993) n ein beobachtbarer Netto-Effekt ausbleibt.
7.3 Interindividuelle Unterschiede in der Selbstkategorisierung und VMA
Die bisherigen Betrachtungen bezogen sich auf VMA-abhängige Unterschiede in der
Repräsentation der Kategorien "Vergewaltigungsopfer" bzw. "Vergewaltiger" und deren
Implikationen für das aktuelle Selbstkonzept und dessen Bewertung. Eine weitere Determinante von
Vergewaltigungsmythen und Selbstkategorisierung: Ein Prozeßmodell 133
Assimilation und Kontrast in den Selbstwert-Urteilen betrifft spezifische chronische Unterschiede
in der Selbstrepräsentation, die n so meine Hypothese n ebenfalls mit der Ausprägung der VMA
kovariieren sollten.
Nach der Theorie der Selbstkategorisierung (Turner et al., 1987) können sich Personen als
Mitglieder sozialer Kategorien variabler Breite und Inklusivität definieren und wahrnehmen. Einen
Pol des Kontinuums sozialer Kategorisierung bildet die personale Identität, d.h. die Identifikation
der eigenen Person als individuelle, unverwechselbare Persönlichkeit. Den Gegenpol hierzu würde
eine soziale Identität maximaler Inklusivität bilden, z.B. die Identifikation als "menschliches
Wesen". Dazwischen liegen weniger inklusive Ebenen der Selbstkategorisierung, die sich
prinzipiell auf alle sozialen Kategorien beziehen können, denen eine Person subjektiv angehört, z.B.
"Frau", "Psychologin", "Sportfan" oder "Motorradfahrer". Welche Ebene der sozialen
Kategorisierung jeweils dominiert, hängt von ihrer situativen Salienz ab; beispielsweise wird die
Kategorie "Geschlecht" in einem komparativen Kontext, in dem Männer und Frauen vorkommen,
soziale Urteile eher beeinflussen, als wenn ausschließlich Angehörige desselben Geschlechts
anwesend sind (z.B. Taylor, Fiske, Etcoff & Ruderman, 1978; z. Überblick s. Turner et al., 1987,
Kapitel 6).
Folge der Selbstkategorisierung auf einer bestimmten sozialen Ebene ist, daß eine Person nicht
in erster Linie als Individuum handelt, urteilt und wahrnimmt, sondern vielmehr als austauschbares
Mitglied der entsprechenden Gruppe, ohne diesen Aspekt notwendigerweise bewußt zu
reflektieren. "The individual can internalize and take on the character of the social whole n not just
in behaviour but in respect of their psychology, their self-identity" (Turner et al., 1987, S. 204).
Dieser Prozeß wird als Depersonalisierung bezeichnet n nicht im Sinne eines Identitätsverlustes,
sondern im Sinne einer "Transformation der Identität" (S. 204). Eine Frau, die sich selbst auf der
Ebene ihrer Geschlechtszugehörigkeit kategorisiert, sollte demnach Information über sexuelle
Gewalt gegen eine andere Frau auch eher auf sich selbst "als Frau" beziehen. Eine Frau hingegen,
für die die personale Identität oder eine andere soziale Identität als die des Frau-Seins salient ist,
sollte dies mit geringerer Wahrscheinlichkeit tun. Entsprechend sollte ein Mann, der sich selbst auf
der Ebene des Geschlechts "als Mann" kategorisiert, Information über sexuelle Gewalt auf die
Vergleichsgruppe der Frauen insgesamt beziehen und diese bei selbstbezogenen Urteilen eher als
Vergleichsstandard heranziehen als ein Mann, für den eine andere soziale Identität bzw. die
personale Identität salient ist.
Neben der situativen Salienz sozialer Kategorien können auch relativ überdauernde
interindividuelle Unterschiede im motivationalen Spannungsfeld zwischen dem Streben nach
sozialer Assimilierung versus Differenzierung (Brewer, 1991) die bevorzugte Ebene der
Selbstkategorisierung beeinflussen (Luhtanen & Crocker, 1991, 1992). Eine Quelle für
Unterschiede in der chronischen Selbstkategorisierung liegt in zentralen Einstellungen und Werten
des Individuums (Pratkanis & Greenwald, 1989). So sollten Frauen, die feministische Einstellungen
vertreten, soziale Information generell eher auf einer geschlechtsbezogenen Intergruppen-Ebene
134
Kapitel 7
verarbeiten als Frauen, denen feministische Positionen unwichtig sind.39 Diese IntergruppenOrientierung sollte auch für selbstbezogene Urteile gelten.
Da VMA positiv mit patriarchalischen Rollenmustern und negativ mit feministischen
Einstellungen korreliert ist (s. Abschnitt 3.3.1.1), folgt aus dem Gesagten die Hypothese, daß
Frauen mit niedriger VMA soziale Urteile im allgemeinen und selbstbezogene Urteile im
besonderen eher anhand einer geschlechtsbezogenen sozialen Kategorisierung der involvierten
Personen (einschließlich sich selbst) bilden als Frauen mit hoher VMA. Diese überdauernde
Tendenz zur sozialen Selbstkategorisierung als Mitglied der Kategorie "Frauen" dürfte bei Frauen
mit niedriger VMA die oben diskutierte Assimilation von Information über Vergewaltigung in ihr
aktuelles Selbstkonzept noch verstärken. Bei Frauen mit hoher VMA ist hingegen die soziale
Selbstkategorisierung auf der Grundlage des Geschlechts generell weniger wahrscheinlich. An
diesem Punkt erscheinen zwei Alternativen plausibel: Entweder trägt bei hoher VMA die geringere
chronische Salienz der Geschlechtskategorie dazu bei, daß eine Vergewaltigung als
interpersonelles Geschehen zwischen Täter und Opfer interpretiert wird n dann sollten Einflüsse
auf den Selbswert ausbleiben n; oder die Information über Vergewaltigung macht hier n im
Gegensatz zu niedriger VMA n eine andere Ebene der Kategorisierung als die des Geschlechts
salient, nämlich die Unterscheidung zwischen "potentiellen Opfern" und "anderen Frauen" und
begünstigt eine Selbstkategorisierung in die letztere Kategorie. Dann kann durch den sozialen
Vergleich mit der Kategorie der potentiellen Opfer ein Kontrasteffekt in den Selbstwert-Urteilen
entstehen. (Letzteres wäre mit der beobachteten Tendenz der Männer mit hoher VMA vergleichbar,
sich nach dem Lesen eines Vergewaltigungs-Textes positiver zu beurteilen; Bohner et al., 1993.)
Anders als bei Frauen könnte bei Männern hohe VMA (und nicht niedrige VMA) mit einer
chronischen Selbstkategorisierung auf der Grundlage des Geschlechts verbunden sein. Einige
Arbeiten belegen, daß bei Männern hohe VMA mit der Selbstzuschreibung eines distinkt
maskulinen Rollenbildes einhergeht: In einer Studie von Bunting und Reeves (1983) zeigte sich ein
Zusammenhang zwischen der Akzeptanz von Vergewaltigungsmythen und Werten einer "MachoSkala", die eine traditionell maskuline Geschlechtsrollenorientierung erfaßt; Quackenbush (1989)
berichtet, daß Männer, die nach dem BSRI (Bem, 1974) als "maskulin geschlechtstypisiert"
klassifiziert wurden (d.h. sich deutlich mehr stereotyp maskuline als stereotyp feminine
Eigenschaften zuschrieben), Vergewaltigungsmythen stärker zustimmten als Männer, die nach dem
BSRI als "androgyn" eingestuft wurden (d.h. sich sowohl maskuline als auch feminine
39
Man könnte argumentieren, daß entgegen dieser Überlegung auch "nicht-feministische" weibliche
Identitäten vergleichbare Einflüsse auf die Informationsverarbeitung ausüben. Allerdings schließen m.E.
andere mit dem Geschlecht assoziierte Identitäten in geringerem Maße Solidarität und Zusammengehörigkeit
mit allen Frauen ein und implizieren auch in geringerem Maße eine geschlechtsbezogene IntergruppenPerspektive.
Vergewaltigungsmythen und Selbstkategorisierung: Ein Prozeßmodell 135
Eigenschaften in hoher Ausprägung zuschrieben).40 Demnach wäre die oben angedeutete Erklärung
für Kontrasteffekte als Folge der sozialen Kategorisierung "als Mann" und des sozialen Vergleichs
mit der von sexueller Gewalt betroffenen Gruppe "der Frauen" bei hoher VMA wahrscheinlicher
als bei niedriger VMA.
7.4 Zusammenfassung des Modells und daraus ableitbare Hypothesen
Nachfolgend wird der Verlauf der Informationsverarbeitung bei der Konfrontation mit einem
Fall sexueller Gewalt ("Mann vergewaltigt Frau") idealtypisch jeweils für Männer und Frauen mit
niedriger bzw. hoher VMA zusammenfassend dargestellt. Die dichotome Unterteilung in "niedrige"
und "hohe" VMA dient dabei allein der Übersichtlichkeit der Darstellung. Tatsächlich nehme ich
an, daß die Wahrscheinlichkeit der angesprochenen Kategorisierungs- und Vergleichsprozesse mit
Unterschieden in der VMA graduell kovariiert.
(a) Frauen, niedrige VMA:
Hohe chronische Zugänglichkeit der sozialen Kategorie "Geschlecht"; Interpretation des
Geschehens als geschlechtsbezogenes Intergruppenverhalten, d.h. als Extrembeispiel dafür, wie
Männer i.a. Frauen i.a. behandeln; Inklusion der salienten, für die Eigengruppe "Frauen" negativen
Information (Opferstatus) in das temporäre (soziale) Selbst;
n> Selbstwerturteil wird via Assimilation negativer.
(b) Frauen, hohe VMA:
Geringe chronische Zugänglichkeit der sozialen Kategorie "Geschlecht"; Interpretation des
Geschehens als primär interpersonelles Verhalten; Exklusion der negativen Information aus dem
temporären Selbst;
n> Selbstwerturteil bleibt unbeeinflußt;
oder
Aktivierung der Kategorie "potentielle Opfer"; Interpretation des Geschehens als Beispiel für
Folgen des Fehlverhaltens von Frauen dieser "outgroup"; Exklusion dieser negativen Information
aus dem temporären Selbst;
n> Selbstwerturteil bleibt unbeeinflußt;
möglicherweise zusätzlich
40
In Quackenbushs Studie verhielten sich außerdem Männer, die nach dem BSRI als "undifferenziert"
eingestuft wurden, d.h. sich weder ausgeprägt maskuline noch ausgeprägt feminine Eigenschaften zuschrieben,
ähnlich wie die maskulinen Männer. Dieser Befund verweist darauf, daß möglicherweise das Fehlen
femininer Eigenschaften stärker zu einer opferfeindlichen Ideologie beiträgt als die Dominanz maskuliner
Eigenschaften.
136
Kapitel 7
Inklusion der negativen Information über "potentielle Opfer" in einen Vergleichsstandard "andere
Frauen";
n> Selbstwerturteil wird via Kontrast positiver.
(c) Männer, niedrige VMA:
Interpretation des Geschehens als geschlechtsbezogenes Intergruppenverhalten, d.h. als
Extrembeispiel dafür, wie Männer i.a. Frauen i.a. behandeln; keine Inklusion der salienten, für die
Fremdgruppe "Frauen" negativen Information (Opferstatus) in das temporäre (soziale) Selbst; evtl.
Inklusion derselben Information in einen Vergleichsstandard "Frauen"; gleichzeitig Inklusion der
ebenfalls salienten, für die Eigengruppe "Männer" negativen Information (Täterstatus) in das
temporäre (soziale) Selbst;
n> Tendenzen zu Assimilation und Kontrast halten sich die Waage;
Selbstwerturteil bleibt unbeeinflußt.
(d) Männer, hohe VMA:
Interpretation des Geschehens als (möglicherweise subjektiv legitimes) geschlechtsbezogenes
Intergruppenverhalten; keine Inklusion der salienten, für die Fremdgruppe "Frauen" negativen
Information (Opferstatus) in das temporäre (soziale) Selbst, aber Inklusion derselben Information
in einen Vergleichsstandard "Frauen"; letzteres evtl. verstärkt durch hohe chronische
Zugänglichkeit der Kategorie "Geschlecht" ("Macho-Selbst");
n> Selbstwerturteil wird via Kontrast positiver;
oder
Interpretation des Täterverhaltens als Beispiel für das deviante Verhalten einer bestimmten
"outgroup" von Männern; Exklusion dieser negativen Information aus dem temporären (sozialen)
Selbst; Inklusion derselben Information in die Konstruktion eines Vergleichsstandards "gestörte
Vergewaltiger";
n> Selbstwerturteil wird via Kontrast positiver.
Aus dem Gesagten lassen sich verschiedene Hypothesen in bezug auf die angesprochenen
Kategorisierungsprozesse ableiten. Bisher habe ich drei dieser Hypothesen empirisch überprüft. Der
Fokus lag dabei auf der Untersuchung der Informationsverarbeitung von Frauen. Diese Hypothesen
zu Teilprozessen sind unten aufgelistet. Im folgenden Kapitel 8 berichte ich über die empirischen
Untersuchungen zu den Hypothesen 1 bis 3. Im abschließenden Kapitel 9 skizziere ich neben einem
Rückblick auf die bisher durchgeführten Studien auch einen Ausblick auf künftige Untersuchungen,
mit denen Hypothese 4 getestet werden soll.
Hypothesen zu Teilprozessen der Informationsverarbeitung
1. (a) Frauen mit hoher VMA besitzen eine engere kategoriale Repräsentation des Konzepts
Vergewaltigungsmythen und Selbstkategorisierung: Ein Prozeßmodell 137
2.
3.
4.
"potentielle Vergewaltigungsopfer" und schätzen "potentielle Opfer" und "typische Frauen"
folglich als einander weniger ähnlich ein, als Frauen mit niedriger VMA dies tun.
(b) Für Männer ist dieser Zusammenhang geringer ausgeprägt oder überhaupt nicht vorhanden,
da hohe VMA mit einer generellen Abwertung von Frauen und einer Verwischung der
Kategorien "potentielle Opfer" und "typische Frauen" einhergeht.
Frauen mit niedriger VMA nehmen eher eine Selbstkategorisierung als "Frau" vor, bewerten
diese sozialen Kategorie positiver und schreiben ihr höhere Bedeutsamkeit für ihr
Selbstkonzept zu, als Frauen mit hoher VMA dies tun.
Frauen mit niedriger VMA nutzen darüber hinaus auch bei sozialen Urteilen, die keinen
expliziten Selbstbezug aufweisen, die soziale Kategorie "Geschlecht" eher als Frauen mit hoher
VMA.
Die in Kapitel 6 berichteten Unterschiede im Einfluß der Konfrontation mit Information über
sexuelle Gewalt auf den Selbstwert von Frauen mit niedriger versus hoher VMA verwischen
sich, wenn die Effekte chronischer Unterschiede in der Selbstkategorisierung durch starke
situative Einflüsse (z.B. Empathie-Instruktionen oder Selbstkategorisierungs-Aufgaben)
überschrieben werden.
138
Kapitel 8
8
Prüfung aus dem Modell abgeleiteter Hypothesen zu Kategorisierungsprozessen
In den folgenden Abschnitten werden die ersten drei Hypothesen zu Teilprozessen des
Modells, die am Ende des Kapitels 7 aufgelistet sind, einer empirischen Überprüfung unterzogen.
Dabei geht es zunächst (Abschnitt 8.1) um eine Serie von drei Untersuchungen, in denen Urteile
über die wahrgenommene Ähnlichkeit zwischen potentiellen Vergewaltigungsopfern und Frauen
im allgemeinen erfragt wurden (s.a. Effler, Linke, Schmelcher & Bohner, 1996; Reinhard, Bohner
& Wänke, 1994; Sturm, Bohner, Kaffanke & Ayata, 1995). In Abschnitt 8.2 berichte ich dann über
erste Erfahrungen mit einer deutschsprachigen "Skala des kollektiven Selbstwerts in bezug auf das
eigene Geschlecht", die evaluative Aspekte der Selbstkategorisierung auf der Ebene des
Geschlechts mißt, und über Zusammenhänge der entsprechenden Skalenwerte mit der VMA bei
Frauen und Männern (s.a. Effler et al., 1996; Sturm & Bohner, 1996). In Abschnitt 8.3 folgt
schließlich der Bericht über ein erstes Experiment, in dem bei weiblichen Versuchspersonen die
spontane Nutzung der Kategorie "Geschlecht" in Abhängigkeit von der VMA untersucht wurde,
und zwar bei sozialen Urteilen, die weder einen Selbstbezug noch einen Bezug zur Thematik
"sexuelle Gewalt" aufweisen (s.a. Bohner, Sturm, Ayata, Effler & Litters, 1996).
8.1 VMA und Kategorisierung: Wahrgenommene Ähnlichkeit zwischen "potentiellen
Opfern" und "Frauen im allgemeinen" sowie "potentiellen Tätern" und "Männern
im allgemeinen"
Wenn mit Unterschieden in der VMA, wie in Kapitel 7 ausgeführt, Unterschiede in der
subjektiven Breite der Kategorie "Vergewaltigungsopfer" einhergehen, dann sollte auch die
wahrgenommene Ähnlichkeit zwischen "potentiellen Vergewaltigungsopfern" und "Frauen im
allgemeinen" von der VMA abhängen. Insbesondere Frauen mit hoher VMA sollten potentiellen
Vergewaltigungsopfern eher distinkte Merkmale zuschreiben und folglich geringe Ähnlichkeit
zwischen "Opfern" und "Frauen" wahrnehmen. Für Frauen, die Vergewaltigungsmythen nicht
zustimmen, sollte hingegen die Kategorie "potentielle Opfer" eher deckungsgleich mit der
Kategorie "Frauen" sein, was hoch ausgeprägte Ähnlichkeitsurteile erwarten läßt. Bei Männern
sollten entsprechende Unterschiede in geringerer Ausprägung oder überhaupt nicht auftreten, da
hohe VMA hier mit einer generell negativen Bewertung von Frauen einhergeht (z.B. Burt, 1980),
was eine relative Angleichung der beiden Konzepte impliziert.
In drei Experimenten ("Ähnlichkeits-Experimente" 1 bis 3) wurden diese Zusammenhänge
überprüft. In allen drei Experimenten wurde die wahrgenommene Ähnlichkeit durch Ratingskalen
erfaßt; zusätzlich wurden analoge Ähnlichkeitsurteile über "Männer" und "potentielle
Vergewaltiger" erhoben (Effler et al., 1996; Reinhard et al., 1994; Sturm et al., 1995). In
Ähnlichkeits-Experiment 2 wurde darüber hinaus versucht, durch die Erhebung frei generierter
Merkmalslisten Einblick in die kognitiven Repräsentationen zu gewinnen, die möglichen
Unterschieden in den Ähnlichkeitsurteilen zugrundeliegen könnten (Sturm et al., 1995) .
Prüfung von Hypothesen zu Kategorisierungsprozessen
139
8.1.1
Evidenz für VMA-abhängige Kategorisierungsprozesse: Drei Experimente zu
Ähnlichkeitsurteilen
In diesem Abschnitt werden zunächst die Befunde zum Zusammenhang von VMA mit
expliziten Urteilen über die Ähnlichkeit von "Opfern" und "Frauen" sowie "Tätern" und "Männern"
vorgestellt. Im folgenden Abschnitt 8.1.2 gehe ich dann anhand weiterer Ergebnisse aus dem
Ähnlichkeits-Experiment 2 der Frage nach Unterschieden in den Merkmalen nach, die
Versuchspersonen heranziehen, um die entsprechenden Konzepte zu beschreiben.
8.1.1.1 Ähnlichkeits-Experiment 1
Um erste Hinweise auf die Gültigkeit der Hypothese zu erhalten, daß Frauen mit niedriger
VMA höhere Ähnlichkeit zwischen potentiellen Opfern und Frauen im allgemeinen wahrnehmen,
als Frauen mit hoher VMA dies tun, während entsprechende Unterschiede bei Männern schwächer
sind oder ausbleiben, führte ich gemeinsam mit Marc-André Reinhard und Michaela Wänke ein
Laborexperiment durch (s.a. Reinhard et al., 1994). Versuchspersonen waren 88 Studierende der
Universität Heidelberg (Stichprobe 5; 44 Frauen und 44 Männer), die zur Teilnahme an einer
Untersuchung über "die Wahrnehmung von Gruppen" angeworben worden waren.
Vorgehen und Versuchsplan
Jede Versuchsperson erhielt einen Fragebogen, in dem zunächst vergleichende
Ähnlichkeitsurteile über verschiedene "Gruppen" abgefragt wurden, darunter an erster Stelle das
für unsere Fragestellung zentrale Urteil über "potentielle Vergewaltigungsopfer" und "Frauen im
allgemeinen", danach ein Urteil über "potentielle Vergewaltiger" und "Männer im allgemeinen"
(jeweils Skalen von 1, "überhaupt nicht ähnlich", bis 9, "sehr ähnlich"). Am Ende des
Fragebogens stand die 10-Item-Kurzfassung der VMAS. Das Geschlecht der Versuchspersonen
und die VMA dienten als zentrale unabhängige Variablen. Darüber hinaus wurde eine
experimentelle Variation der Fragerichtung eingeführt: Jeweils die Hälfte der Versuchspersonen
wurde instruiert, an "Frauen im allgemeinen" zu denken und diese mit "potentiellen
Vergewaltigungsopfern" zu vergleichen, bzw. an "potentielle Vergewaltigungsopfer" zu denken und
diese mit "Frauen im allgemeinen" zu vergleichen. In entsprechender Weise wurde auch die Frage
nach "potentiellen Vergewaltigern" und "Männern im allgemeinen" variiert. Den Wortlaut der
Fragen zeigt Tabelle 8.1.
140
Kapitel 8
Tabelle 8.1 Variation der Vergleichsrichtung in den Ähnlichkeitsexperimenten 1 und 3
Vergleichsrichtung "allgemein n> spezifisch":
W enn Sie einm al an Frauen im allgemeinen denken:
Sind Sie der Meinung, daß Frauen im allgem einen potentiellen Vergewaltigungsopfern sehr
ähnlich sind, oder sind Sie der Meinung, daß Frauen im allgem einen potentiellen
Vergewaltigungsopfern überhaupt nicht ähnlich sind?
Frauen im allgem einen sind.......
potentiellen
1
Vergewaltigungsopfern
überhaupt nicht ähnlich
2
3
4
5
6
7
8
9
potentiellen
Vergewaltigungsopfern
sehr ähnlich
W enn Sie einm al an M änner im allgem einen denken:
Sind Sie der Meinung, daß Männer im allgem einen potentiellen Vergewaltigern sehr ähnlich sind,
oder sind Sie der Meinung, daß Männer im allgem einen potentiellen Vergewaltigern überhaupt
nicht ähnlich sind?
Männer im allgem einen sind.......
potentiellen
1
Vergewaltigern
überhaupt nicht ähnlich
2
3
4
5
6
7
8
9
potentiellen
Vergewaltigern
sehr ähnlich
Vergleichsrichtung "spezifisch n> allgem ein":
W enn Sie einm al an potentielle Vergew altigungsopfer denken:
Sind Sie der Meinung, daß potentielle Vergewaltigungsopfer Frauen im allgem einen sehr ähnlich
sind, oder sind Sie der Meinung, daß potentielle Vergewaltigungsopfer Frauen im allgem einen
überhaupt nicht ähnlich sind?
potentielle Vergewaltigungsopfer sind.......
Frauen im
1
allgem einen
überhaupt nicht ähnlich
2
3
4
5
6
7
8
9
Frauen im
allgem einen
sehr ähnlich
W enn Sie einm al an potentielle Vergew altiger denken:
Sind Sie der Meinung, daß potentielle Vergewaltiger Männern im allgem einen sehr ähnlich sind,
oder sind Sie der Meinung, daß potentielle Vergewaltiger Männern im allgem einen überhaupt nicht
ähnlich sind?
potentielle Vergewaltiger sind.......
Männern im
1
allgem einen
überhaupt nicht ähnlich
2
3
4
5
6
7
8
9
Männern im
allgem einen
sehr ähnlich
Diese Variation der Fragen erschien sinnvoll, weil sich in der Literatur zu Vergleichsurteilen
die Richtung des Vergleichs (A mit B versus B mit A) als bedeutsame Einflußgröße erwiesen hat
(s. zum Überblick Wänke, 1993). Im "feature-matching model" (Tversky, 1977) wird dasjenige
Element eines Vergleichs, von dem eine Person ausgeht, als "Subjekt" bezeichnet (also A beim
Vergleich von A mit B), und das Element, "mit dem" verglichen wird, als "Referent". Weisen zwei
Prüfung von Hypothesen zu Kategorisierungsprozessen
141
zu vergleichende Objekte sowohl übereinstimmende als auch distinkte Merkmale auf, so
determinieren die distinkten Merkmale des Subjekts das Urteil stärker als die distinkten Merkmale
des Referenten.
Nehmen wir an, daß n unabhängig von zu erwartenden VMA- und geschlechtsabhängigen
Unterschieden n die meisten Merkmale "potentieller Vergewaltigungsopfer" non-distinkt sind, sich
also in der Repräsentation von "Frauen im allgemeinen" ebenfalls finden, während letztere
Repräsentation insgesamt eine größere Anzahl von Merkmalen enthält und darunter eine Vielzahl,
die für die Kategorie "potentielle Opfer" nicht charakteristisch sind, so ist zu erwarten, daß die
Vergleichsrichtung "Opfer n> Frauen" generell zu höheren Ähnlichkeitsurteilen führt als der
umgekehrte Vergleich "Frauen n> Opfer" (Tversky, 1977). In Übereinstimmung mit dieser
Überlegung stehen Befunde von Rosch (1975), wonach spezifische Exemplare jeweils als ihrem
Prototyp ähnlicher eingeschätzt werden als umgekehrt der Prototyp dem entsprechenden Exemplar.
Um die subjektive Vergleichsrichtung und entsprechende Variationen im Urteil nicht dem Zufall
zu überlassen, gaben wir je nach Versuchsbedingung explizit beide Richtungen vor.
Zur Prüfung der zentralen Hypothese, nämlich der Vorhersage einer spezifischen Interaktion
von VMA und Geschlecht, sowie der Zusatzannahme eines Haupteffekts der Vergleichsrichtung,
wurden die Ähnlichkeitsurteile einer 2x2x2-faktoriellen Varianzanalyse mit den Faktoren
Geschlecht, VMA (niedrig, hoch) und Vergleichsrichtung (spezifisch n> allgemein, allgemein
n> spezifisch) unterzogen. Um Geschlechtsunterschiede in der VMA zu berücksichtigen, wurden
zur Bildung der VMA-Faktorstufen die Teilstichproben der Frauen und Männer am jeweiligen
Median der VMA-Werte ihrer Geschlechtsgruppe (Frauen: 2.45; Männer: 2.95) halbiert.
Ergebnisse und Diskussion
Auf dem Ähnlichkeitsurteil über "potentielle Opfer" und "Frauen" zeigte sich wie vorhergesagt
sowohl ein Haupteffekt der Vergleichsrichtung, F(1,79)41 = 9.23, p < .01, als auch eine Interaktion
von VMA und Geschlecht, F(1,79) = 4.46, p < .04; alle übrigen F < 1. Entsprechend den
Annahmen des "feature matching"-Modells wurden "Frauen" und "Opfer" generell als wesentlich
ähnlicher beurteilt, wenn die Kategorie "Opfer" als Subjekt des Vergleichs diente (M = 6.59), als
wenn die Kategorie "Frauen" als Subjekt des Vergleichs diente (M = 4.56). Wichtiger für unsere
Fragestellung ist jedoch die davon unabhängige Interaktion von VMA und Geschlecht: Wie
vorhergesagt beurteilten Frauen mit niedriger VMA die beiden Kategorien als ähnlicher (M = 6.19)
im Vergleich zu Frauen mit hoher VMA (M = 4.87), wenn auch der entsprechende Einzelvergleich
das konventionelle Signifikanzniveau verfehlte, t(83) = 1.50, p < .07, einseitig. Für Männer zeigte
sich überraschenderweise nicht nur eine Abschwächung dieses Effekts, sondern eine signifikante
Umkehrung: Männer mit hoher VMA beurteilten die beiden Kategorien als ähnlicher (M = 6.59)
im Vergleich zu Männern mit niedriger VMA (M = 4.71), t(83) = -2.11, p < .04, zweiseitig.
41
Gültige n = 87 wegen eines fehlenden Wertes.
142
Kapitel 8
Auf dem Ähnlichkeitsurteil über "potentielle Täter" und "Männer" zeigte sich ebenfalls ein
signifikanter Haupteffekt der Vergleichsrichtung, F(1,80) = 12.83, p < .001. Dieser ist jedoch im
Zusammenhang mit einer Interaktion von Geschlecht und Vergleichsrichtung zu betrachten,
F(1,80) = 4.84, p < .04. Weibliche Versuchspersonen beurteilten Männer und Täter als signifikant
ähnlicher, wenn sie Täter mit Männern verglichen (M = 6.59), als wenn sie Männer mit Tätern
verglichen (M = 3.36), t(84) = 4.41, p < .001; wohingegen die entsprechende Differenz bei
männlichen Versuchspersonen wesentlich geringer ausfiel (MT->M = 5.36; MM->T = 4.64), t(84) =
0.99, ns. Auch ein Zusammenhang zwischen VMA und dem Ähnlichkeitsurteil über "Täter" und
"Männer" war allein bei den weiblichen Versuchspersonen nachzuweisen (MVMA niedrig = 6.19;
MVMA hoch = 3.87), t(84) = 2.99, p < .01, nicht aber bei den männlichen Versuchspersonen
(MVMA niedrig = 4.82; MVMA hoch = 5.18), t(84) = -0.47, ns; F(1,80) = 3.66, p < .06 für die Interaktion.
Insgesamt entsprechen die Ergebnisse dieses Experiments für die weiblichen Teilnehmerinnen
den Vorhersagen, die aus dem im vorigen Kapitel formulierten Modell abgeleitet wurden.
Studentinnen mit niedriger VMA beurteilten im Vergleich zu Studentinnen mit hoher VMA sowohl
"Frauen" und "Opfer" als auch "Männer" und "Täter" als einander ähnlicher, wenn auch der Einfluß
der VMA beim ersten dieser Urteile keine statistische Signifikanz erreichte. Überraschend ist, daß
sich für männliche Versuchsteilnehmer bei dem Urteil über "Opfer" und "Frauen" ein signifikant
gegenläufiger Zusammenhang mit der VMA zeigte. Die niedrigeren Ähnlichkeitsurteile bei
Männern mit niedriger VMA sind vielleicht darauf zurückzuführen, daß die zur Urteilsbildung
herangezogene Repräsentation von "potentiellen Opfern" bei diesen Männern zwar keine
mythenkonsistenten, aber doch andere distinkte Merkmale enthält, die zu einer Differenzierung
zwischen diesem Konzept und der Repräsentation von "Frauen im allgemeinen" führen. So könnte
z.B. bei Männern mit niedriger VMA die Annahme, daß "potentielle Opfer", nicht aber "Frauen im
allgemeinen", die Merkmale "schwach" oder "unsicher" aufweisen, zu niedrigen
Ähnlichkeitsurteilen beitragen, ohne daß dadurch eine negative Bewertung der Opfer oder eine
Schuldzuweisung an die Opfer impliziert wäre.
Schließlich zeigte sich in diesem Experiment ein starker Einfluß der Vergleichsrichtung im
Sinne des "feature-matching"-Modells (Tversky, 1977), und zwar generell beim Urteil über "Opfer"
und "Frauen" und moderiert vom Geschlecht der urteilenden Personen beim Urteil über "Täter" und
"Männer". Die Instruktion, zunächst über "potentielle Opfer" bzw. "potentielle Vergewaltiger"
nachzudenken und diese mit "Frauen im allgemeinen" bzw. "Männern im allgemeinen" zu
vergleichen, führte im Vergleich zu der umgekehrten Instruktion zu einer dramatischen Erhöhung
der wahrgenommenen Ähnlichkeit, bei weiblichen Teilnehmerinnen jeweils in einer
Größenordnung von zwei bis drei Skaleneinheiten. Während die Variation der Fragerichtung in
dieser und den folgenden Studien allein zu Kontrollzwecken diente, bietet sich eine solche
Variation aufgrund der starken Effekte, die sie offenbar bewirken kann, in künftigen Studien auch
als methodisches Instrument zur temporären Beeinflussung von Kategorisierungsprozessen an. Ich
komme in Kapitel 9 auf diese Möglichkeit zurück.
Prüfung von Hypothesen zu Kategorisierungsprozessen
143
8.1.1.2 Ähnlichkeits-Experiment 2
In einem weiteren Experiment ging ich gemeinsam mit Sabine Sturm, Katja Kaffanke und
Bilgin Ayata (s.a. Sturm et al., 1995) der Frage nach, ob sich mit einer größeren Stichprobe
weiblicher Versuchspersonen der vorhergesagte Effekt der VMA auf die Ähnlichkeitsurteile über
"Frauen" und "potentielle Opfer", der sich im ersten Experiment nur angedeutet hatte, würde
statistisch absichern lassen. Darüber hinaus erhoben wir in dieser Studie auch subjektive Inhalte der
zu vergleichenden Konzepte anhand von offen zu beantwortenden Merkmalslisten; hierzu mehr in
Abschnitt 8.1.2.
Stichprobe, Vorgehen und Design
Versuchsteilnehmerinnen waren 62 Mannheimer Studentinnen (Stichprobe 8). Sie alle füllten
einen Fragebogen aus, der folgende Teile enthielt: Offene Fragen nach den typischen Merkmalen,
die nach der Einschätzung der Teilnehmerinnen "potentielle Vergewaltigungsopfer", "potentielle
Vergewaltiger", "Frauen im allgemeinen", "Männer im allgemeinen" sowie das Konzept
"Vergewaltigung" charakterisierten; die 10-Item-Version der VMAS; und Fragen nach der
Ähnlichkeit von "potentiellen Vergewaltigungsopfern" und "Frauen im allgemeinen" sowie
"potentiellen Vergewaltigern" und "Männern im allgemeinen" (jeweils Skalen von 1, "vollkommen
unähnlich", bis 7, "vollkommen ähnlich"). Auch in dieser Untersuchung wurde die
Vergleichsrichtung variiert; allerdings weniger explizit als in Experiment 1, nämlich nur durch die
Vertauschung der Reihenfolge, in der die zu vergleichenden Konzepte in der Frageformulierung
vorkamen ("Wie ähnlich sind potentielle Vergewaltigungsopfer und Frauen im allgemeinen?"
versus "Wie ähnlich sind Frauen im allgemeinen und potentielle Vergewaltigungsopfer?"). Darüber
hinaus wurde auf zwei Stufen die Reihenfolge variiert, in der die Versuchspersonen über Merkmale
der einzelnen Kategorien nachdachten, nämlich entweder zuerst über "Frauen" und "Männer",
später über "Opfer" und "Täter", oder umgekehrt.42
Gruppen hoher bzw. niedriger VMA wurden auf der Grundlage einer Medianhalbierung der
Stichprobe definiert; wie bei den Frauen in Experiment 1 lag der Median der VMA bei 2.45. Die
Ähnlichkeitsurteile wurden 2x2x2-faktoriellen Varianzanalysen mit den Faktoren VMA (niedrig,
hoch), Fragerichtung (spezifisch n> allgemein, allgemein n> spezifisch) und Reihenfolge
(spezifische Konzepte zuerst bearbeitet, allgemeine Konzepte zuerst bearbeitet) unterzogen.
Ergebnisse und Diskussion
Bei der Beurteilung der Ähnlichkeit von "Frauen" und "potentiellen Opfern" zeigte sich als
einzig signifikanter Effekt der vorhergesagte Haupteffekt der VMA, F(1,54) = 4.30, p < .04.
Hypothesengemäß beurteilten Frauen mit hoher VMA die beiden Konzepte als weniger ähnlich
42
Mehr Einzelheiten zu dieser Reihenfolgevariation, die in bezug auf die Ähnlichkeitsurteile keine Effekte
hatte, sind in Abschnitt 8.1.2 beschrieben.
144
Kapitel 8
(M = 4.68), als Frauen mit niedriger VMA dies taten (M = 5.61). Damit konnte das Muster aus dem
vorigen Experiment repliziert werden. Signifikante Einflüsse der Reihenfolge, in der die
Teilnehmerinnen über die Konzepte "Frauen" und "potentielle Opfer" nachgedacht hatten, blieben
aus; ebenso traten in diesem Experiment keine Effekte der Fragerichtung auf, alle F < 1. Letzteres
ist wohl darauf zurückzuführen, daß die Variation der Fragerichtung wesentlich schwächer war als
in der vorausgegangenen Studie, und daß durch das Ausfüllen der Merkmalslisten vor der Abgabe
der Ähnlichkeitsurteile eine größere Teilmenge der potentiell verfügbaren Merkmale beider zu
vergleichenden Konzepte bereits aktiviert war.
Bei dem Ähnlichkeitsurteil über "potentielle Täter" und "Männer" zeigte sich in dieser
Untersuchung kein signifikanter Einfluß der VMA, F < 1, obwohl die Mittelwerte in dieselbe
Richtung wiesen wie in Experiment 1 (MVMA niedrig = 4.00; MVMA hoch = 3.77). Auch sonst traten bei
diesem Urteil keine signifikanten Effekte auf, alle p > .10.
Die Vorhersagen, die sich aus Annahmen über VMA-abhängige Unterschiede in der
Kategorisierung von Frauen und potentiellen Vergewaltigungsopfern ableiteten, wurden in diesem
Experiment also signifikant bestätigt. Der negative Zusammenhang zwischen VMA und der
wahrgenommenen Ähnlichkeit zwischen Frauen im allgemeinen und potentiellen Opfern von
Vergewaltigung zeigte sich unabhängig von Variationen der Fragerichtung und der Reihenfolge,
in der die Vpn über die verschiedenen Personenkonzepte nachgedacht hatten.
8.1.1.3 Ähnlichkeits-Experiment 3
Ziel eines dritten Experiments, das ich gemeinsam mit Dagmar Effler, Beate Linke und Jürgen
Schmelcher durchführte (Bohner, Effler et al., 1995), war es zu prüfen, ob die Interaktion von
Geschlecht und VMA aus dem ersten Ähnlichkeitsexperiment replizieren würde. Zusätzlich wurden
in diesem Experiment Aspekte der Selbstkategorisierung in bezug auf das eigene Geschlecht erfaßt
(s.a. Effler et al., 1996); über diesen Teil der Studie wird in Abschnitt 8.2 berichtet.
Stichprobe, Vorgehen und Design
In diesem Experiment beurteilten 78 männliche und 79 weibliche Versuchspersonen
(Stichprobe 9) die Ähnlichkeit von "potentiellen Vergewaltigungsopfern" und "Frauen im
allgemeinen" sowie "potentiellen Vergewaltigern" und "Männern im allgemeinen" (jeweils Skalen
von 1, "überhaupt nicht ähnlich", bis 9, "sehr ähnlich"; s. Tab. 8.1), nachdem sie eine Skala zur
Erfassung des kollektiven Selbstwerts ausgefüllt hatten (s. Abschnitt 8.2). Nach den
Ähnlichkeitsurteilen bearbeiteten die TeilnehmerInnen noch eine Skala zum allgemeinen Selbstwert
(Hormuth & Lalli, 1988), eine Skala zur Erfassung von Antworttendenzen in Richtung sozialer
Erwünschtheit (Schmidt, 1980) sowie die 10-Item-Version der VMAS.
Wir variierten wiederum die in den Ähnlichkeitsfragen vorgegebene Vergleichsrichtung;
diesmal in derselben Weise wie im Ähnlichkeitsexperiment 1. Die Ähnlichkeitsurteile wurden einer
Prüfung von Hypothesen zu Kategorisierungsprozessen
145
2x2x2-faktoriellen ANOVA mit den Faktoren VMA (niedrig, hoch), Geschlecht und
Vergleichsrichtung (spezifisch n> allgemein, allgemein n> spezifisch) unterzogen. Die
Medianwerte der VMA, auf deren Grundlage Gruppen mit niedriger und hoher VMA gebildet
wurden, lagen in dieser Untersuchung bei 2.90 für die Frauen und bei 3.30 für die Männer.
Ergebnisse
Die Ergebnisse zum Vergleich von Frauen und Opfern replizieren im wesentlichen die Befunde
aus dem ersten Experiment zur wahrgenommenen Ähnlichkeit. Es zeigte sich sowohl ein
tendenzieller Haupteffekt der Fragerichtung, F(1,148)43 = 3.82, p < .06, als auch eine tendenzielle
Interaktion von Geschlecht und VMA, F(1,148) = 3.38, p < .07. Wiederum tendierten Personen,
die Opfer mit Frauen verglichen, zu höheren Ähnlichkeitsurteilen (M = 6.16) als Personen, die
Frauen mit Opfern verglichen (M = 5.49). Wiederum beurteilten Frauen mit niedriger VMA die
beiden Konzepte als etwas ähnlicher (M = 6.18) im Vergleich zu Frauen mit hoher VMA (M =
5.56), während sich dieses Muster für Männer umkehrte (M = 5.49 bzw. 6.11), ohne daß jedoch die
entsprechenden Einzelvergleiche Signifikanz erreichten, beide p > .10.
Bei der Ähnlichkeitsfrage in bezug auf "potentielle Vergewaltiger" und "Männer im
allgemeinen" konnte die Interaktion von Geschlecht und VMA, die sich auf diesem Urteil in
Experiment 1 angedeutet hatte, nicht repliziert werden, F < 1, obwohl das Mittelwertmuster in
dieselbe Richtung wies (M = 5.35 bzw. 4.97 für Frauen mit niedriger bzw. hoher VMA; M = 5.10
bzw. 5.13 für Männer mit niedriger bzw. hoher VMA).
8.1.1.4 Zusammenfassung der Ergebnisse zu Ähnlichkeitsurteilen über "Frauen" und
"Opfer" bzw. "Männer" und "Täter" aus drei Experimenten
Die Zusammenschau der Mittelwerte in Tabelle 8.2 zeigt, daß die Richtung der
Mittelwertunterschiede bei den Ähnlichkeitsurteilen in bezug auf "Opfer" und "Frauen" über drei
Experimente hinweg konsistent ist, wenn auch die Einzelergebnisse nicht immer das konventionelle
Signifikanzniveau erreichen. Kombiniert man die Daten über die drei Studien hinweg auf der Basis
der einseitigen Irrtumswahrscheinlichkeiten (Rosenthal, 1984), so ergibt diese Metaanalyse für
Frauen einen gewichteten z-Wert von 2.79, p < .01, 0 = .21; für Männer z = 2.11, p < .05, 0 = .19.
Diese Daten deuten also darauf hin, daß für Männer und Frauen jeweils etwa gleichgroße
Unterschiede in entgegengesetzter Richtung vorliegen.
43
Gültiges N = 156 wegen eines fehlenden Wertes.
146
Kapitel 8
Tabelle 8.2 Mittelwerte der Ähnlichkeitsurteile über "potentielle Opfer" und "Frauen im
allgemeinen" aus drei Experimenten
Geschlecht
der Vp
VMA
weiblich
männlich
niedrig
hoch
Kontrast
Exp. 1b
6.19
4.87
Exp. 2c
5.61
Exp. 3b
6.18
Anm.:
a
niedrig
hoch
t(83) = 1.50
4.71
6.59
4.68
t(60) = 2.23*
(n.e.)
(n.e.)
5.56
t(152) = 1.33
5.49
6.11
Kontrasta
t(83) = -2.11*
t(152) = -1.26
a
A-priori Kontrast zwischen VMA-niedrig und VMA-hoch innerhalb des entsprechenden
Geschlechts, im Rahmen eines Designs Geschlecht x VMA.
b
Skala von 1, "überhaupt nicht ähnlich", bis 9, "sehr ähnlich".
c
Skala von 1, "vollkommen unähnlich", bis 7, "vollkommen ähnlich".
* p < .05; n.e. = nicht erhoben.
Betrachtet man daneben die Korrelationen zwischen VMA und dem Ähnlichkeitsurteil, so
zeigt sich für die weiblichen Versuchspersonen ein vergleichbares Ergebnis: Die Korrelationen
betragen in den drei Stichproben r(42) = -.11, r(60) = -.33 und r(76) = -.22; dies ergibt
zusammengefaßt eine gewichtete Effektgröße von r = .23, z = 3.15, p < .001, einseitig. Für die
männlichen Versuchspersonen sind die korrelativen Resultate jedoch schwächer: Die Koeffizienten
betragen hier r(41) = .24 und r(74) = .06; dies ergibt eine gewichtete Effektgröße von r = .13, z =
1.35, p < .10, einseitig.
Bei den weiblichen Versuchspersonen entspricht die Richtung der gefundenen Unterschiede
unserer Vorhersage: Frauen mit niedriger VMA nehmen größere Ähnlichkeit zwischen potentiellen
Vergewaltigungsopfern und Frauen im allgemeinen wahr, als Frauen mit hoher VMA dies tun.
Weiter war vorhergesagt, daß dieser Unterschied bei männlichen Versuchspersonen abgeschwächt
auftreten würde. Eine Umkehrung, wie sie sich in den Ergebnissen andeutet, war nicht
vorhergesagt; allerdings sollte dieser Befund bei den Männern insbesondere im Lichte der
schwachen korrelativen Befunde noch mit Vorsicht interpretiert werden.
Die höheren Ähnlichkeitsurteile der Männer mit hoher VMA könnten, wie schon erwähnt,
darin begründet sein, daß diese Männer eine generell negative Bewertung der Fremdgruppe der
Frauen vornehmen und n da sie diese Gruppe möglicherweise als eher unwichtig betrachten n
weniger zwischen Subtypen differenzieren. Eine solche Tendenz könnte durch eine höhere
Identifikation mit der Eigengruppe der Männer noch im Sinne eines "outgroup homogeneity effect"
verstärkt werden (Ostrom & Sedikides, 1992; s.a. Abschnitt 8.2).
Männer mit niedriger VMA hingegen fällen ihre relativ niedrigen Ähnlichkeitsurteile
möglicherweise durchaus auf der Grundlage von wahrgenommenen Unterschieden zwischen
potentiellen Opfern und Frauen, wobei diese Unterschiede aber nicht konsistent mit
Vergewaltigungsmythen sind. In Frage kämen etwa Unterschiede in den Situationen, denen
Prüfung von Hypothesen zu Kategorisierungsprozessen
147
"potentielle Opfer" im Gegensatz zu "Frauen im allgemeinen" aus der Sicht der Urteilenden
typischerweise ausgesetzt sind, oder stärker verhaltensbezogene Definitionen der Unterschiede
zwischen "Opfern" und "Frauen", die jedoch keine Schuldzuweisung an die Opfer implizieren.
Leider existieren für männliche Befragte noch keine Daten, die eine Überprüfung dieser
Möglichkeiten zuließen. Von den weiblichen Versuchsteilnehmerinnen des
Ähnlichkeitsexperiments 2 liegen jedoch Auswertungen offener Merkmalslisten vor, die im
folgenden Abschnitt mit der VMA und den bisher berichteten Ähnlichkeitsurteilen in Beziehung
gesetzt werden.
Ein Zusammenhang zwischen der Ausprägung der VMA und Ähnlichkeitsurteilen über
"potentielle Täter" und "Männer" schließlich zeigte sich allein bei weiblichen Teilnehmerinnen,
aber auch dieser Effekt scheint ausgesprochen gering. Analysen entsprechend den oben berichteten
ergaben einen schwachen Effekt (0 = .11) der VMA bei weiblichen Vpn, z = 1.96, p < .03, und
keinen signifikanten Effekt der VMA bei männlichen Vpn, z = 0.27, ns. Das Ausbleiben eines
entsprechenden Zusammenhanges bei den männlichen Versuchspersonen stützt nicht die in
Kapitel 7 formulierte Annahme, daß von der VMA abhängigen unterschiedlichen Reaktionen von
Männern auf Vergewaltigungstexte durch unterschiedliche Kategorisierungen der Täter vermittelt
seien.
8.1.2
Offene Beschreibung der Kategorien "potentielle Opfer" und "Frauen im
allgemeinen" in Ähnlichkeits-Experiment 2
Um über die indirekte Evidenz der Ähnlichkeitsurteile hinaus einen Einblick in die
Zusammenhänge zwischen VMA und kognitiven Repräsentationen der Kategorien "Frauen" und
"Opfer" (sowie "Täter" und "Männer") zu erhalten, ließen wir die Versuchsteilnehmerinnen in
Ähnlichkeitsexperiment 2 entsprechende Merkmalslisten generieren. Sie wurden aufgefordert, ohne
Zeitbegrenzung in annähernd freiem Antwortformat diejenigen Merkmale aufzulisten, die nach
ihrer Meinung "potentielle Opfer von Vergewaltigung", "potentielle Vergewaltiger" sowie "Frauen
im allgemeinen" und "Männer im allgemeinen" kennzeichneten. Hierzu standen ihnen elf
vorgedruckte Kästchen zur Verfügung. Es wurde den Teilnehmerinnen explizit freigestellt, zum
Konzept "potentielle Opfer" keine Merkmale zu generieren, wenn es ihrer Meinung nach nicht
zutreffe, daß bestimmte Frauen eher in Gefahr seien als andere, Opfer sexueller Gewalt zu werden.
Entsprechende Instruktionen wurden auch für das Konzept "potentielle Täter" gegeben.44
Die Reihenfolge der Merkmalslisten wurde variiert: Die Hälfte der Vpn listete zunächst
typische Merkmale der "spezifischen" Kategorien (Opfer, Täter), dann der "allgemeinen"
Kategorien (Frauen, Männer) auf; für die andere Hälfte war diese Reihenfolge umgekehrt.
44
Nur eine Teilnehmerin ließ die entsprechenden Merkmalslisten ganz offen; einige andere füllten zwar
Kästchen aus, schlossen aber den Hinweis ein, daß im Grunde jede Frau Opfer einer Vergewaltigung werden
könne (s.u. Ergebnisse).
148
Kapitel 8
Dazwischen erfolgte jeweils die Beantwortung der VMAS; eine ebenfalls offene Auflistung von
Merkmalen des Konzepts "Vergewaltigung" sowie die Ähnlichkeitsurteile (über die oben berichtet
wurde) bildeten das Ende des Fragebogens.
Nach einer ersten gründlichen Durchsicht der Antwortprotokolle wurden zunächst vier
Oberkategorien mit insgesamt 20 Unterkategorien sowie eine Restkategorie gebildet, in die sich die
einzelnen aufgelisteten Merkmale sinnvoll einordnen ließen. Bei den Oberkategorien handelte es
sich um (1) Persönlichkeitsmerkmale / Eigenschaften / allgemeine Verhaltensweisen; (2) soziale
Beziehungen / sozio-ökonomische Bedingungen; (3) Aussagen zu sexueller Gewalt /
Vergewaltigung; (4) Aussagen über potentielle Betroffenheit bzw. Täterschaft. Das vollständige
Kategoriensystem ist im Anhang dargestellt. Zwei unabhängige Beurteilerinnen, die blind für die
Versuchsbedingung und den VMA-Wert der Teilnehmerinnen waren und an der Generierung der
Kategorien nicht mitgewirkt hatten, erzielten bei einer Zuordnung der Einzelaussagen zu
Unterkategorien gute bis perfekte Übereinstimmungswerte (Koeffizienten im Bereich zwischen .80
und 1.00).45
Über die inhaltliche Kategorisierung hinaus wurde jedes genannte Persönlichkeitsmerkmal
(Oberkategorie 1) nach der darin ausgedrückten Zuschreibung des Aspekts "Macht versus
Machtlosigkeit" sowie der ausgedrückten "Bewertung" und "Empathie" beurteilt. Diese drei
Dimensionen weisen einen theoretischen Bezug zum Inhalt von VM auf (s. Kapitel 2 und
Abschnitt 3.3.2): In Übereinstimmung mit den Befunden zur Verantwortungszuschreibung sollten
Personen mit niedriger VMA "Opfern" weniger und "Tätern" mehr Macht zuschreiben als Personen
mit hoher VMA. Umgekehrte Zusammenhänge sind hingegen für die Aspekte der Bewertung und
der Empathie zu erwarten. Außerdem sollten sich nach den in Kapitel 7 vorgestellten Überlegungen
zur bevorzugten Selbstkategorisierung bei den weiblichen Versuchsteilnehmerinnen auch in bezug
auf das Konzept "Frauen im allgemeinen" Unterschiede zeigen, nämlich bei niedriger (im Vergleich
zu hoher) VMA positivere Bewertungen und größere Empathie.
Für jede der drei Dimensionen konnten Werte von n1 (Machtlosigkeit thematisiert bzw.
negative Valenz bzw. Mangel an Empathie), 0 (keine Machtthematik bzw. neutral in bezug auf
Valenz bzw. Empathie) oder +1 (hohe Ausprägung von Macht thematisiert bzw. positive Valenz
bzw. Empathie ausgedrückt) vergeben werden. Auch diese Beurteilungen wurden von zwei
unabhängigen Beurteilerinnen vorgenommen, wobei die Übereinstimmungswerte für den Aspekt
"Macht" zufriedenstellend bis sehr gut ausfielen (Werte zwischen r = .56 für das Konzept "Männer"
und r = .93 für das Konzept "potentielle Opfer"); für den Aspekt "Bewertung" mäßig bis
zufriedenstellend (zwischen r = .32 für "Männer" bis r = .76 für "potentielle Opfer"); und für den
Aspekt "Empathie" eher mäßig (zwischen r = .36 für "potentielle Opfer" und r = .47 für "potentielle
45
Es wurden jeweils Korrelationen zwischen den beiden Beurteilerinnen für die relativen Anteile der
Nennungen einer Teilnehmerin in einer bestimmten Kategorie an der Gesamtzahl der Nennungen dieser
Teilnehmerin berechnet.
Prüfung von Hypothesen zu Kategorisierungsprozessen
149
Vergewaltiger").46 In die Analysen gingen jeweils die über Beurteilerinnen und Aussagen je
Versuchsperson und erfragtem Konzept gemittelten Werte ein.
8.1.2.1 Nennungshäufigkeit bestimmter Inhalte
Die 62 Teilnehmerinnen generierten im Mittel 7.10 Einzelaussagen zum Konzept "Frauen" und
4.11 Einzelaussagen zum Konzept "potentielle Opfer" sowie 6.23 Aussagen über "Männer" und
4.65 Aussagen über "potentielle Täter". Diese Zahlen bestätigen die Vermutung, daß zu den
allgemeinen Konzepten reichhaltigere Repräsentationen abrufbar sind als zu den spezifischeren
Konzepten; sie sind auch kompatibel mit der Interpretation der Einflüsse der Vergleichsrichtung,
die sich in den Experimenten 1 und 3 gezeigt hatten, im Sinne eines Vergleichs von spezifischeren
Subtypen mit einem allgemeineren Prototyp (s. Rosch, 1975; Tversky, 1977). Der Unterschied in
der Anzahl ist ausgeprägter für den Vergleich zwischen "Frauen" und "Opfern" als für den
Vergleich zwischen "Männern" und "Tätern", F(1,54) = 18.42, p < .001, obwohl auch jeder der
beiden Einzelvergleiche hochsignifikant ist, jeweils p < .001. Signifikante Effekte der VMA auf die
Anzahl der aufgelisteten Merkmale traten nicht auf.
Die jeweilige Anzahl der Nennungen variierte stark (zwischen 0 und 11 für jedes der
vorgegebenen Konzepte), war aber zwischen den vier Personenkonzepten jeweils paarweise hoch
korreliert (alle r > .54), was darauf schließen läßt, daß unabhängig von der VMA interindividuelle
Unterschiede in der Tendenz bestehen, viel oder wenig zu schreiben. Um in der Datenanalyse in
bezug auf die Inhalte der Merkmalslisten vergleichbare Werte zu erhalten, wurde daher je
Teilnehmerin der prozentuale Anteil der Nennungen in einer gegebenen Kategorie an der
Gesamtzahl der Nennungen dieser Teilnehmerin berechnet und im Rahmen eines 2x2-faktoriellen
Versuchsplans mit den Faktoren VMA (niedrig, hoch) und Reihenfolge (allgemeine Konzepte
zuerst, spezifische Konzepte zuerst) varianzanalytisch ausgewertet. Zum direkten Vergleich
zwischen Konzepten (z.B. "Opfer" versus "Frauen") wurden die jeweiligen Konzepte als Stufen
eines zusätzlichen zweistufigen Meßwiederholungsfaktors einbezogen.
Eine erschöpfende Darstellung der Ergebnisse soll hier nicht erfolgen. Ich beschränke mich
im folgenden auf den Bericht einiger deskriptiver Daten sowie der Effekte der VMA.47 Ein Ziel
dieser explorativen Analysen war es, Hinweise auf mögliche Mediatoren des Zusammenhangs
zwischen der VMA und den direkten Ähnlichkeitsurteilen in bezug auf die Konzepte "Frauen" und
"potentielle Opfer" zu erhalten.
Die fünf insgesamt am häufigsten benutzten Kategorien zur Beschreibung von "Frauen im
46
Jeweils Korrelationen zwischen Beurteilerinnen über Versuchspersonen hinweg für die mittleren
"Macht"-, "Valenz"-, bzw. "Empathie"-Werte der Aussagen einer Versuchsperson.
47
Effekte der Reihenfolge traten nur vereinzelt auf und waren kaum sinnvoll interpretierbar.
150
Kapitel 8
allgemeinen" waren
2.1: "Gleichberechtigung / Geschlechterverhältnis auf gesellschaftlicher Ebene" (18%),
1.2: "Sensibilität / Gefühle / HärtenWeichheit" (12%),
2.2: "Sozio-ökonomische Situation etc." (11%),
1.1: "Psychische Stabilität vs. Labilität usw." (10%) und
1.4: "Intro- / Extraversion" (8%).
Für "potentielle Opfer" ergab sich eine etwas andere Rangfolge:
1.1: "Psychische Stabilität vs. Labilität usw." (22%),
1.8: "Physische Erscheinung" (19%),
4.1: "Potentiell jede Frau" (16%),
3.2: "Vergewaltigungsrelevante Verhaltensweisen" (11%) und
1.4: "Intro- / Extraversion (10%).
Im Vergleich zwischen den Konzepten "Frauen" und "Opfer" unterscheiden sich alle o.a.
Kategorienhäufigkeiten signifikant bei p < .01 mit Ausnahme der Kategorien 1.4 und 2.2 (Wert für
"Opfer: 9%), jeweils F < 1. Ein Unterschied besteht auch insgesamt in bezug auf die
Oberkategorie 2. "Frauen" wurden wesentlich häufiger mit Bezug auf soziale Beziehungen und
sozio-ökonomische Bedingungen beschrieben (M = 29%) als Opfer (M = 11%), F(1,56)48 = 19.27,
p < .001. Beispielhafte Nennungen sind hier in bezug auf "Frauen": "das schwache Geschlecht",
"Mutterrolle", "noch nicht gleichberechtigt"; in bezug auf "Opfer": "Alleinlebende", "meist aus
sozial niederer Schicht", "Bardame".
Einige signifikante Kovariationen der Häufigkeiten in den einzelnen Kategorien mit der
VMA waren festzustellen; sie sind wegen der großen Anzahl von Kategorien und entsprechend
vielen univariaten Tests aber mit Vorsicht zu interpretieren: Zur Beschreibung von "Frauen"
bezogen sich Teilnehmerinnen mit hoher VMA häufiger auf "Sensibilität / Gefühle" (Kategorie 1.2,
Beispiele: "gefühlvoll", "zärtlich", "weich"; M = 17%), als Teilnehmerinnen mit niedriger VMA
dies taten (M = 7%), F(1,57) = 5.80, p < .02. Dieser Befund steht im Einklang mit dem starken
negativen Zusammenhang zwischen der VMA und traditionellen Vorstellungen von der Rolle der
Frau (z.B. Burt, 1980; Costin & Schwarz, 1987; s. Abschnitt 3.3.1.1).
Zwei interessante VMA-abhängige Unterschiede zeigten sich in der Beschreibung "potentieller
Opfer". Die Kategorien "physische Erscheinung" wurde von Teilnehmerinnen mit hoher VMA
tendenziell öfter genannt (Kategorie 1.8, Beispiele: "gutes Aussehen", "sexuell aufreizende
Kleidung", "kurzer Rock", "körperlich unterlegen"; MVMA niedrig = 24%; MVMA hoch = 41%), F(1,43) =
3.02, p < .10. In Übereinstimmung mit den zentralen Inhalten von Vergewaltigungsmythen nannten
Teilnehmerinnen mit hoher VMA auch wesentlich häufiger (M = 18%) als Teilnehmerinnen mit
niedriger VMA (M = 5%) "riskante Verhaltensweisen" (Kategorie 3.2, Beispiele: "trampen",
48
Variationen in den Freiheitsgraden wegen fehlender Werte bei Vpn, die bei einem der zu vergleichenden
Personenkonzepte überhaupt keine Merkmale niedergeschrieben hatten.
Prüfung von Hypothesen zu Kategorisierungsprozessen
151
"nachts allein auf der Straße", "angetrunkene Partygängerin"), F(1,57) = 8.64, p < .01.
Zur Beschreibung des Konzepts "Männer im allgemeinen" wurden vor allem die folgenden
fünf Kategorien herangezogen: 1.6: "Macht / Dominanz" (12%), 1.3: "Soziale Orientierung /
Leistungsorientierung" (11%), 2.3: "Soziale und sexuelle Beziehungen" (10%), 1.1: "Psychische
Stabilität versus Labilität etc." (10%) und 2.1: "Gleichberechtigung / Geschlechterverhältnis" (9%).
Teilnehmerinnen mit niedriger VMA nannten seltener soziale Beziehungen / sozio-ökonomische
Bedingungen (Oberkategorie 2; M = 14%), als Teilnehmerinnen mit hoher VMA (M = 37%) dies
taten, F(1,57) = 16.73, p < .001. Dieser Unterschied ist vor allem zurückzuführen auf die
Subkategorie 2.2: "sozio-ökonomische Aspekte" (Beispiele: "Berufsleben/Karriere", "der Ernährer",
"die besseren Chefs"; hohe VMA: M = 9%; niedrige VMA: M = 1%), F(1,57) = 12.47, p < .01, und
die Subkategorie 2.1: "Gleichberechtigung etc." (Beispiele: "das 'starke' Geschlecht"; "halten das
Patriarchat aufrecht"; hohe VMA: M = 13%; niedrige VMA: M = 5%), F(1,57) = 5.20, p < .03.
Teilnehmerinnen mit niedriger VMA nahmen bei der Beschreibung von "Männern im allgemeinen"
hingegen häufiger Bezug auf den Aspekt "Macht / Dominanz" (Kategorie 1.6, Beispiele:
"Überlegenheitsgetue", "machtlüstern", "beherrschend", "Machos"; M = 15%) als Teilnehmerinnen
mit hoher VMA (M = 9%), F(1,57) = 4.18, p < .05.
Bei der Charakterisierung "potentieller Vergewaltiger" dominierten die Kategorien 2.3:
"Soziale und sexuelle Beziehungen" (21%), 2.4: "Kindheit / Sozialisation / Traumatisierung /
psychische Störungen" (17%), 1.1: "Psychische Stabilität versus Labilität etc." (11%), 2.2: "Sozioökonomische Situation etc." (9%) und 1.7: "Sexualität / Triebhaftigkeit" (7%). Die Vielzahl der
Nennungen in den Kategorien 2.4 und 1.7 (Beispiele: "hormonell gestörter Sexualtrieb", "sexuell
verklemmt"; "gestörte Persönlichkeit"), die zur Beschreibung der übrigen Personenkonzepte
praktisch überhaupt nicht genutzt wurden, spricht allgemein für die Akzeptanz des Mythos vom
"gestörten Vergewaltiger" und für eine Bereitschaft, das Verhalten von sexuellen Gewalttätern
durch den Hinweis auf problematische Sozialisationsbedingungen (vereinzelt auch durch den
Hinweis auf die Verantwortung einer Frau: "dominante Mutter") zu entschuldigen. Allerdings
zeigten sich in bezug auf die bevorzugten Beschreibungskategorien hier keine Unterschiede
zwischen Teilnehmerinnen mit niedriger und hoher VMA, alle p > .13.
Einen deutlichen Zusammenhang mit der Ausprägung der VMA weisen n nicht überraschend
n die Inhalte der Merkmalslisten zum Konzept "Vergewaltigung" auf. Hier dominierten insgesamt
die Kategorien 3.8: "allgemeine Merkmale / allgemeine Definitionen" (30%), 3.1: "Situative
Aspekte" (20%) und 3.7: "Täter-Opfer-Beziehung" (10%). Signifikante Unterschiede in
Abhängigkeit von der VMA zeigten sich bei Kategorie 3.7: Teilnehmerinnen mit niedriger VMA
nannten als typisches Merkmal einer Vergewaltigung häufiger (M = 15%) soziale Beziehungen
zwischen Täter und Opfer, als Teilnehmerinnen mit hoher VMA (M = 5%) dies taten, F(1,57) =
5.35, p < .03. Dies verweist auf eine realistischere Sicht des Problems bei niedriger VMA, denn in
der Tat besteht in der Mehrzahl der Vergewaltigungsfälle eine Bekanntschaft oder Beziehung
zwischen Täter und Opfer (z.B. Koss et al., 1987; z. Überblick s. Parrot & Bechhofer, 1991; Ward,
152
Kapitel 8
1995). Ebenfalls häufiger führten Teilnehmerinnen mit niedriger VMA (M = 10%) im Vergleich
zu Teilnehmerinnen mit hoher VMA (M = 2%) die gesellschaftliche Dimension sexueller Gewalt
an (Kategorie 3.9), F(1,57) = 6.70, p < .02. Schließlich zeigte sich, daß Personen mit niedriger
(versus hoher) VMA tendenziell häufiger explizit erwähnten, daß potentiell alle Frauen Opfer einer
Vergewaltigung werden könnten (Kategorie 4.1) bzw. potentiell alle Männer Täter sein könnten
(Kategorie 4.2). Derartige Aussagen wurden zum Teil unter "Vergewaltigung" und zum Teil unter
den Personenkonzepten zu "Tätern" und "Opfern" aufgelistet, und zwar insgesamt von 58% der
Teilnehmerinnen mit niedriger VMA und von 35% der Teilnehmerinnen mit hoher VMA, F(1,58) =
3.13, p < .09.
Die meisten VMA-abhängigen qualitativen Unterschiede bei den Personenkonzepten sind vor
dem Hintergrund der Inhalte von Vergewaltigungsmythen plausibel. Allerdings sind Vergleiche
allein auf der Grundlage der Kategorienhäufigkeiten insofern problematisch, als sich innerhalb
derselben Kategorie Aussagen unterschiedlicher Valenz befinden können. Deshalb lohnt sich
zusätzlich ein Blick auf die auf evaluativen Aspekte der offenen Merkmalslisten, die durch externe
Ratings über die Aspekte "Macht", "Bewertung" und "Empathie" erfaßt worden waren.
8.1.2.2 Ausprägungen der Aspekte "Macht", "Bewertung" und "Empathie"
Die Mittelwerte der Fremdbeurteilungen zu den Aspekten "Macht", "Bewertung" und
"Empathie" sowie die Ergebnisse von Mittelwertvergleichen49 zeigt im Überblick Tabelle 8.3.
Betrachtet man zunächst die Ergebnisse für die Gesamtstichprobe, so zeigen sich folgende
Unterschiede zwischen den zu beschreibenden Konzepten: Die Merkmalslisten zu "Frauen" und
"Männern" wiesen insgesamt positivere Bewertungen auf (M = +0.11 bzw. +0.02) als die
Merkmalslisten zu "Opfern" und "Tätern" (M = -0.56 bzw. -0.64), alle p < .001. Interessanterweise
wurden "potentielle Opfer" nicht weniger negativ bewertet als "potentielle Täter", p > .21. Der
Aspekt "Macht" war in den Beschreibungen der beiden männlichen Personenkonzepte höher
ausgeprägt (MMänner = +0.48, MTäter = +0.06) als in den entsprechenden Beschreibungen der
weiblichen Konzepte (MFrauen = -0.13, MOpfer = -0.50); darüber hinaus wurden "potentielle Täter" als
weniger mächtig im Vergleich zu "Männern" und "potentielle Opfer" als weniger mächtig im
Vergleich zu "Frauen" beschrieben, alle p < .001. Überraschenderweise wurde in den
Beschreibungen "potentieller Täter" etwas höhere Empathie ausgedrückt (M = +0.07) als in den
Beschreibungen "potentieller Opfer" (M = -0.05), p < .05, während die höchste Empathie in den
Beschreibungen von "Frauen" (+0.24) und die niedrigste in den Beschreibungen von "Männern"
(-0.14) zum Ausdruck kam, p < .001 für den Vergleich der letzteren beiden Ratings.
49
Gestützt auf Varianzanalysen mit Meßwiederholung über alle möglichen Paare von jeweils zwei zu
vergleichenden Ratings (z.B. "Macht Männer" versus "Macht Täter" oder "Empathie Frauen" versus
"Empathie Opfer") mit VMA (medianhalbiert) und Reihenfolge als "between-subjects"-Faktoren.
Prüfung von Hypothesen zu Kategorisierungsprozessen
153
154
Kapitel 8
Tabelle 8.3 Mittelwerte der Fremdratings zu frei generierten Merkmalslisten über "Frauen im
allgemeinen" (F), "Männer im allgemeinen" (M), "potentielle
Vergewaltigungsopfer" (O) und "potentielle Vergewaltiger" (T) (Stichprobe 8)
Rating /
Konzept
Macht
Bewertung
Empathie
Gesamtstichprob
ea
niedrige VMAb
hohe VMAb
Diff.c
F
–0.13b
–0.08
–0.18
M
+0.48a
+0.44
+0.52
O
–0.50c
–0.62
–0.37
T
+0.06b
+0.19
–0.07
F
+0.11a
+0.19
+0.03
M
+0.02a
–0.15
+0.19
O
–0.56b
–0.61
–0.50
T
–0.64b
–0.57
–0.70
F
+0.24a
+0.25
+0.22
M
–0.14c
–0.23
–0.06
*
O
–0.05c
+0.05
–0.16
*
T
+0.07b
–0.09
+0.23
***
†
**
Anm.: Wertebereich jeweils von –1 bis +1.
a
N = 62; Werte zu derselben Variablen, die verschiedene Subskripte aufweisen,
unterscheiden sich bei p < .05.
b
jeweils n = 31.
c
Haupteffekt zwischen niedriger und hoher VMA aus univariaten ANOVAs.
*** p < .001; ** p < .01; * p < .05; † p < .10.
Ein differenzierteres Bild ergibt sich jedoch, wenn man zusätzlich die Unterschiede zwischen
Teilnehmerinnen mit niedriger und hoher VMA betrachtet. Signifikante Einzelvergleiche zwischen
diesen beiden Gruppen sind in der rechten Spalte der Tabelle 8.3 markiert. Teilnehmerinnen mit
hoher VMA schrieben "potentiellen Tätern" tendenziell geringere Macht zu (M = -0.07), als
Teilnehmerinnen mit niedriger VMA dies taten (M = +0.19). Beim Vergleich zwischen den
Konzepten "Täter" und "Opfer" zeigt eine signifikante Interaktion zwischen VMA und dem
Meßwiederholungsfaktor, F(1,58) = 4.49, p < .04, daß Personen mit hoher VMA ein geringeres
Machtgefälle zwischen beiden ausdrückten (MTäter = -0.07, MOpfer = -0.37) als Personen mit niedriger
VMA (MTäter = +0.19, MOpfer = -0.62). Das gleiche gilt für den Vergleich zwischen "Frauen" und
"Opfern", F(1,58) = 4.13, p < .05. Der letztere Befund weist in eine andere Richtung als die oben
berichtete Kovariation von VMA und den Ähnlichkeitsurteilen: Obwohl Teilnehmerinnen mit hoher
VMA in den direkten Urteilen geringere Ähnlichkeit zwischen "Opfern" und "Frauen" bekundeten,
schienen sie in den offenen Antworten ein kleineres Machtgefälle (MFrauen = -0.18, MOpfer = -0.37)
zwischen diesen beiden Personenkonzepten auszudrücken als Teilnehmerinnen mit niedriger VMA
Prüfung von Hypothesen zu Kategorisierungsprozessen
155
(MFrauen = -0.08, MOpfer = -0.62).
Die Mittelwerte des entsprechenden Interaktionsmusters für Bewertung weisen nichtsignifikant (p > .10) in dieselbe Richtung. Signifikante Interaktionen mit der VMA finden sich hier
für die Vergleiche "Frauen" versus "Männer", F(1,58) = 10.32, sowie "Männer" versus "Täter",
F(1,58) = 11.31, jeweils p < .01: Teilnehmerinnen mit niedriger VMA beschrieben "Frauen" (M =
+0.19) wesentlich positiver als "Männer" (M = -0.15), wohingegen sich dieses Muster für
Teilnehmerinnen mit hoher VMA umkehrte (M = +0.03 bzw. +0.19). Die Differenz in der
Bewertung von "Tätern" im Vergleich zu "Männern" ist erwartungsgemäß bei Teilnehmerinnen mit
hoher VMA (M = -0.70 versus +0.19) ausgeprägter als bei Teilnehmerinnen mit niedriger VMA
(M = -0.57 versus -0.15); dies entspricht der Tendenz in den direkten Ähnlichkeitsurteilen in diesem
Experiment und den Ergebnissen der beiden weiteren Ähnlichkeitsexperimente (s. Abschn. 8.1.1).
Ein Blick auf die Einzelvergleiche in der rechten Spalte der Tabelle 8.3 zeigt, daß beide
Interaktionen vor allem dadurch zustandekommen, daß Teilnehmerinnen mit hoher VMA "Männer"
positiver beurteilten (M = +0.19), als Teilnehmerinnen mit niedriger VMA dies taten (M = -0.15).
Für den Aspekt der Empathie zeigten sich n trotz der geringen Reliabilität dieser Ratings n
die deutlichsten Unterschiede in Abhängigkeit von der VMA. Versuchspersonen mit niedriger
VMA beschrieben sowohl "Männer" (M = -0.23) als auch "Täter" (M = -0.09) mit weniger
Empathie, als Vpn mit hoher VMA dies taten (M = -0.06 bzw. +0.23). Für den Vergleich zwischen
den Konzepten "Männer" und "Täter" trat entsprechend allein ein klarer Haupteffekt der VMA auf,
F(1,58) = 16.92, p < .001, jedoch keine Interaktion mit dem Meßwiederholungsfaktor, p > .14. Vpn
mit niedriger VMA zeigten aber in den Beschreibungen von "Opfern" größere Empathie (M =
+0.05) als Vpn mit hoher VMA (M = -0.16). Die Beschreibungen der Konzepte "Männer" und
"Frauen" unterscheiden sich bei Teilnehmerinnen mit niedriger VMA stärker hinsichtlich der
ausgedrückten Empathie (M = -0.23 versus +0.25) als bei Teilnehmerinnen mit hoher VMA (M =
-0.06 versus +0.22), F(1,58) = 4.45, p < .04, für die Interaktion zwischen VMA und dem
Meßwiederholungsfaktor. Ein tendenziell umgekehrtes Muster zeigte sich beim Vergleich der
Konzepte "Frauen" und "Opfer", F(1,58) = 3.25, p < .08; Teilnehmerinnen mit niedriger VMA
zeigten hier geringere Unterschiede im Ausdruck von Empathie (M = +0.25 bzw. +0.05) als
Teilnehmerinnen mit hoher VMA (M = +0.22 bzw. -0.16). Beim Vergleich zwischen "Opfern" und
"Tätern" zeigte sich schließlich wiederum eine Interaktion zwischen der VMA und dem
Meßwiederholungsfaktor, F(1,58) = 19.70, p < .001, die sogar auf einer Umkehrung der
Unterschiede in der ausgedrückten Empathie beruht: Vpn mit hoher VMA brachten für "Täter"
(M = +0.23) wesentlich höhere Empathie zum Ausdruck als für "Opfer" (M = -0.16), Vpn mit
niedriger VMA umgekehrt höhere Empathie für "Opfer" (M = +0.05) als für "Täter" (M = -0.09).
Insgesamt lassen sich also in bezug auf die Aspekte "Macht", "Bewertung" und "Empathie",
die durch Fremdratings erfaßt wurden, deutlichere Unterschiede zwischen Personen mit niedriger
und hoher VMA erkennen, als wenn man allein die Inhaltskategorien der aufgelisteten Merkmale
betrachtet. Die meisten dieser Unterschiede stehen im Einklang mit den vorgestellten Überlegungen
156
Kapitel 8
zum Inhalt und zur Funktion von Vergewaltigungsmythen. Insbesondere die Tendenz der Vpn, bei
höherer VMA mehr Empathie mit "potentiellen Tätern" und weniger Empathie mit "potentiellen
Opfern" auszudrücken, ist in diesem Sinne zu interpretieren. Der positive Zusammenhang zwischen
der Bewertung von "Männern" und der VMA, sowie die starke evaluative Differenzierung zwischen
"Männern" und "Frauen" zugunsten der Frauen, die bei Teilnehmerinnen mit niedriger VMA
festzustellen war, ist außerdem kompatibel mit der in Kapitel 7 vorgestellten Hypothese, daß Frauen
mit niedriger VMA sich stärker auf der Ebene des Geschlechts kategorisieren. Eine solche
chronische Tendenz zur sozialen Selbstkategorisierung sollte nach der Theorie der sozialen Identität
und der Theorie der Selbstkategorisierung bewirken, daß Männer eher als Angehörige einer
"outgroup" gesehen und generell abgewertet werden (Tajfel & Turner, 1979; Turner et al., 1987).
8.1.2.3 Sind VMA-abhängige Unterschiede in den Ähnlichkeitsurteilen durch
Unterschiede in den offenen Beschreibungen vermittelt?
Um zu prüfen, ob und inwieweit die VMA-abhängigen Unterschiede in den direkten
Ähnlichkeitsurteilen in bezug auf "Frauen" und "Opfer" (s. Abschn. 8.1.1.2) durch Unterschiede
in den inhaltlichen Merkmalen vermittelt sind, welche die Vpn auflisteten, oder auch durch
Unterschiede in den Aspekten "Macht", "Bewertung" und "Empathie", wurden explorative
Mediatoranalysen durchgeführt. Dabei wurde zunächst eine Regression mit dem Ähnlichkeitsurteil
als Kriteriumsvariable und der VMA als Prädiktorvariable berechnet, und danach wurden in einem
zweiten Schritt einer hierarchischen Analyse als potentielle Mediatoren diejenigen Variablen
aufgenommen, bei denen sich in den Inhaltsanalysen der offenen Merkmalslisten signifikante oder
tendenzielle Zusammenhänge mit der VMA gezeigt hatten. Von einem Mediatoreffekt kann dann
gesprochen werden, wenn sich neben signifikanten Beziehungen zwischen Hauptprädiktor (in
diesem Fall VMA) und Kriterium (in diesem Fall den Ähnlichkeitsurteilen) sowie jeder dieser
beiden Variablen und den potentiellen Mediatoren eine substantielle Reduktion des
Regressionskoeffizienten $ für den Hauptprädiktor im Vergleich zwischen dem zweiten und dem
ersten Schritt der Analyse zeigen läßt (R. M. Baron & Kenny, 1986).
Drei derartige Analysen mit jeweils mehreren potentiellen Mediatorvariablen wurden
durchgeführt: Eine erste mit den relativen Häufigkeiten der Nennungen in einzelnen Kategorien,
die mit der VMA signifikant kovariierten ("Frauen" 1.2, "Opfer" 1.8 und 3.2, "Männer" 1.6, 2.1 und
2.2 sowie zusammengefaßt die Kategorien 4.1 und 4.2, unabhängig davon, in welcher Liste sie
auftauchten; vgl. Anhang), ergab keinen Rückgang des Koeffizienten $ (ohne potentielle
Mediatoren: $ = -.33, mit potentiellen Mediatoren: $ = -.39). Keiner der Einzelprädiktoren trug
darüber hinaus signifikant zur Vorhersage der wahrgenommenen Ähnlichkeit zwischen "Opfern"
und "Frauen" bei, alle p > .24. In eine zweite Analyse wurden die potentiell relevanten Variablen
im Hinblick auf die Aspekte "Macht", "Bewertung" und "Empathie" einbezogen ("Täter"-Macht,
"Männer"-Bewertung, "Männer"-Empathie, "Opfer"-Empathie und "Täter"-Empathie, vgl.
Tabelle 8.3, letzte Spalte). Auch in dieser Analyse ließ sich keine Mediatorwirkung dieser Variablen
Prüfung von Hypothesen zu Kategorisierungsprozessen
157
feststellen; das Beta für VMA blieb zwischen dem ersten und zweiten Schritt der Analyse praktisch
unverändert, $ = -.33 bzw. -.31. Zusätzlich zur VMA erwiesen sich hier die Aspekte "Täter"Macht, $ = -.23, p < .09, und "Männer"-Bewertung, $ = -.30, p < .07, als annähernd signifikante
Prädiktoren des Ähnlichkeitsurteils über "Frauen" und "Opfer": Je geringer die Macht, die
potentiellen Vergewaltigern zugeschrieben wurde, und je negativer das Konzept von Männern im
allgemeinen, als desto ähnlicher wurden "Frauen" und "potentielle Opfer einer Vergewaltigung"
beurteilt. In eine dritte Analyse gingen schließlich Differenzwerte aus den Aspekten "Macht",
"Bewertung" und "Empathie" zwischen je zwei Konzepten ein, sofern sich in den oben dargestellten
Varianzanalysen signifikante Interaktionen des entsprechenden Meßwiederholungsfaktors mit der
VMA gezeigt hatten. Auch diese Analyse ergab keinen Hinweis auf eine Mediatorwirkung, $ = -.33
bzw. -.31 für VMA ohne bzw. mit potentiellen Mediatoren.
8.1.3 Diskussion der Befunde zu Ähnlichkeitsurteilen
Im ganzen entsprechen die Ergebnisse der Ähnlichkeits-Experimente den Vorhersagen. Frauen,
die Vergewaltigungsmythen eher zustimmten, beurteilen "potentielle Vergewaltigungsopfer" und
"Frauen im allgemeinen" als einander relativ unähnlich, wohingegen Frauen, die
Vergewaltigungsmythen klar ablehnten, höhere Ähnlichkeit zwischen diesen beiden Konzepten
angaben. Dieser Zusammenhang war mäßig hoch ausgeprägt, aber replizierbar. Ein schwächerer,
aber ebenfalls signifikanter Zusammenhang zeigte sich bei weiblichen Teilnehmerinen zwischen
der VMA und der wahrgenommenen Ähnlichkeit von "potentiellen Vergewaltigern und "Männern
im allgemeinen".
Bei männlichen Teilnehmern war ein Zusammenhang zwischen der VMA und der
wahrgenommenen Ähnlichkeit von "Opfern" und "Frauen" nicht erwartet worden; in den Daten
deutete sich sogar eine Umkehrung des Musters im Vergleich zum Ergebnis bei den Frauen an.
Allerdings sollten noch weitere Daten von männlichen Probanden erhoben werden, um zu prüfen,
inwieweit hinter dieser Umkehrung ein verläßlicher Befund steht. Die männlichen Teilnehmer
beurteilten auch die Ähnlichkeit zwischen "Tätern" und "Männern" nicht unterschiedlich in
Abhängigkeit von ihrer VMA; letzteres spricht gegen die Hypothese, daß die in Kapitel 6
berichteten positiven Einflüsse der Salienz von Vergewaltigung auf den Selbstwert der männlichen
Vpn mit hoher VMA durch Unterschiede in der Tendenz zustandekamen, sich selbst mit einem
distinkt negativen Täterkonzept zu vergleichen.
Der Versuch, in dem Ähnlichkeits-Experiment 2 auf der Grundlage von offenen
Merkmalslisten die Art der Repräsentationen aufzudecken, welche die bei Frauen gefundenen
Zusammenhänge zwischen der VMA und den Ähnlichkeitsurteilen vermitteln könnten, lieferte zwar
eine interessante Möglichkeit der Validierung der VMAS im Hinblick auf differentielle
Repräsentationen über potentielle Täter und Opfer, war aber in bezug auf die Mediatoranalysen
wenig ergiebig. Es ist somit möglich, daß die beobachteten Unterschiede in den
Ähnlichkeitsurteilen weniger auf den Abruf differentieller Merkmale zurückzuführen sind, sondern
158
Kapitel 8
sich vielmehr aus abstrakteren Überzeugungen herleiten (wie etwa der allgemeinen Überzeugung,
daß alle Frauen von sexueller Gewalt potentiell betroffen sind und beeinträchtigt werden).
Bei der Betrachtung der offenen Antworten mag überraschen, daß selbst Personen mit niedriger
VMA in ihren offenen Antworten noch stark zwischen "Opfern" und "Frauen" zuungunsten der
Opfer differenzierten, etwa hinsichtlich der ausgedrückten Bewertung und Empathie.
Möglicherweise wurden hier durch den "within-subjects"-Versuchsplan Unterschiede überzeichnet:
TeilnehmerInnen, die durch die Vorgabe entsprechender Listen explizit aufgefordert werden,
zwischen "potentiellen Opfern" und "Frauen im allgemeinen" zu differenzieren, werden
zwangsläufig Unterschiede kommunizieren, sofern sie in ihrer Rolle als Versuchsperson nicht die
allgemeinen Konversationsnormen verletzen wollen (Grice, 1975; s.a. Bless et al., 1993) n "wenn
die Versuchsleiterin nach beiden Konzepten getrennt fragt, wird sie auch unterschiedliche
Antworten erwarten". Trotz dieser Einschränkungen bieten offene Antwortformate eine sinnvolle
Ergänzung zu standardisierten Skalen; weniger problematisch wäre es sicherlich, in künftigen
Studien die Repräsentationen unterschiedlicher Konzepte "between-subjects" zu erheben.
Schließlich zeigte sich in den Ähnlichkeits-Experimenten 1 und 3, in denen die
Vergleichsrichtung sehr explizit variiert worden war, daß allein durch diese Variation erhebliche
Unterschiede in den Ähnlichkeitsurteilen induziert werden konnten. Wenn die simple Instruktion,
an "potentielle Opfer" zu denken und diese mit "Frauen im allgemeinen" zu vergleichen, gegenüber
der umgekehrten Instruktion bei den VersuchsteilnehmerInnen zur Inferenz größerer Ähnlichkeit
führt, dann bietet sich diese experimentelle Variation der Vergleichsrichtung als mögliche
Intervention an, um eine negative Diskriminierung der Opfer sexueller Gewalt zu reduzieren.
Wichtig erscheint hierbei aber, daß den Personen, die das Ähnlichkeitsurteil vornehmen, auch
positive Merkmale "potentieller Opfer", also des "Referenten" des Vergleichs, in den Sinn kommen.
Im gegenteiligen Fall könnte eine subjektive Angleichung der beiden Konzepte nämlich dazu
führen, daß nicht etwa potentielle Vergewaltigungsopfer positiver gesehen werden, sondern
stattdessen Frauen im allgemeinen negativer (s. Wänke, 1993, Exp. 3).
8.2 VMA und Selbstkategorisierung auf der Grundlage des Geschlechts
Die eher geringfügigen Unterschiede in den offen erhobenen Merkmalslisten und die
mangelnde Evidenz für eine vermittelnde Funktion entsprechender Inhalte legen die Möglichkeit
nahe, daß sich Unterschiede in der VMA weniger in unterschiedlichen Repräsentationen von Opfern
und Tätern widerspiegeln, sondern in stärkerem Maße mit Unterschieden in der chronischen
Zugänglichkeit der Kategorie "Geschlecht" für die Selbstkategorisierung einhergehen. Auch diese
Möglichkeit wurde bereits am Ende von Kapitel 7 formuliert; sie soll im folgenden empirisch
überprüft werden.
Die zweite Hypothese, die aus dem in Kapitel 7 formulierten Modell abgeleitet wurde, besagt,
daß Frauen mit geringerer Mythenakzeptanz eher dazu neigen, sich selbst auf der Grundlage ihrer
Geschlechtszugehörigkeit zu kategorisieren. Die soziale Identität "Frau" sollte folglich bei niedriger
Prüfung von Hypothesen zu Kategorisierungsprozessen
159
VMA als für das eigene Selbstkonzept bedeutsamer eingeschätzt und positiver bewertet werden
sowie chronisch leichter zugänglich sein als bei hoher VMA. Bei Männern wurde ein gegenläufiger
Zusammenhang vorhergesagt, da hohe VMA bei Männern mit einer ausgeprägten "MachoIdentität" (Bunting & Reeves, 1983) und eher mit einer Abwertung der gesamten Fremdgruppe der
Frauen einhergeht (Burt, 1980). In diesem Abschnitt berichte ich über eine Untersuchung, die erste
Hinweise auf die Gültigkeit dieser Annahmen gibt. Dabei kam eine Skala zum Einsatz, die
verschiedene Aspekte der Selbstkategorisierung als Frau bzw. Mann abbildet; diese Skala soll
zunächst vorgestellt werden.
8.2.1
Kollektiver Selbstwert: Eine Skala zur Erfassung evaluativer Aspekte der sozialen
Identität als Frau bzw. Mann
Seit kurzem liegt mit der "Collective Self-Esteem (CSE)"-Skala (Luhtanen & Crocker, 1991,
1992) für den englischsprachigen Raum eine Skala vor, die individuelle Unterschiede in der
Ausprägung des "kollektiven Selbstwerts"50, d.h. der evaluativen Aspekte der sozialen Identität (i.S.
Tajfels, 1981) erfaßt. Um die angenommenen Zusammenhänge zwischen VMA und sozialer
Identität zu prüfen, konstruierten wir eine deutsche Fassung dieser Skala, die spezifisch den
"kollektiven Selbstwert in bezug auf das eigene Geschlecht" (KSW-G) messen soll (Effler et al.,
1996; Sturm & Bohner, 1996; vgl. Wagner & Zick, 1993).
Die aus 16 Items bestehende CSE-Skala enthält vier Subskalen mit je vier Items, die sich auf
die folgenden Aspekte beziehen:
(1) die Bewertung der eigenen Person in bezug auf die Gruppen, denen man angehört
(Subskala "membership self-esteem", Itembeispiel: "I am a worthy member of the social
groups I belong to");
(2) die persönliche Bewertung der eigenen Gruppen (Subskala "private collective selfesteem", Itembeispiel: "I feel good about the social groups I belong to");
(3) die angenommene Bewertung der eigenen Gruppen durch andere (Subskala "public
collective self-esteem", Itembeispiel: "Overall, my social groups are considered good by
others");
(4) die Bedeutsamkeit der Gruppen, denen man angehört, für die eigene Identität (Subskala
"importance to identity", Itembeispiel: "Overall, my group memberships have little to do
with how I feel about myself").
Diese allgemeine Form der CSE-Skala wird mit einer Instruktion vorgelegt, die sich auf die
50
Luhtanen und Crocker (1992, S. 302-303)) sprechen in Anlehnung an die Begriffsbildung in der U.S.amerikanischen Literatur von "collective self-esteem", um evaluative Aspekte der sozialen Identität im Sinne
Tajfels zu bezeichnen, da die Bezeichnung "social self-esteem" bereits mit einer anderen Bedeutung belegt
ist (s. z.B. Fleming & Watts, 1980; s.a. Abschnitte 6.3 und 6.4). Um die Begriffsverwirrung nicht zu steigern,
behalte ich diese zugegebenermaßen suboptimale Bezeichnung auch im Deutschen bei und spreche von
"kollektivem Selbstwert" (aber weiterhin von "sozialer Identität").
160
Kapitel 8
wichtigsten zugeschriebenen Gruppenzugehörigkeiten bezieht: "We are all members of different
social groups or social categories. Some of such social groups or categories pertain to gender, race,
religion, nationality, ethnicity, and socioeconomic class. We would like you to consider your
memberships in those particular groups or categories ..." (Luhtanen & Crocker, 1992, S. 305,
Hervorh. i. Orig.). Daneben schlagen die Autorinnen der Skala aber vor, bei Fragestellungen in
bezug auf bestimmte Gruppen die Instruktionen spezifischer zu formulieren und die Items
sinngemäß zu modifizieren (S. 305). Sie selbst setzten eine spezifisch formulierte Version ein, um
bei U.S.-amerikanischen College-Studierenden Aspekte der Zugehörigkeit zur eigenen ethnischen
Gruppe zu erforschen (Crocker, Luhtanen, Blaine & Broadnax, 1994). In dieser Version wurden
die allgemeinen Wendungen wie "the social groups I belong to" durch Ausdrücke wie "the race I
belong to" ersetzt (Crocker et al., 1994, S. 506).
Die amerikanische "CSE scale" hat sich hinsichtlich ihrer Reliabilität und Validität gut
bewährt. Die vier Subskalen bilden separate Faktoren, die paarweise positiv miteinander korreliert
sind; die internen Konsistenzen der Subskalen liegen im Bereich von " = .71 bis .86, die interne
Konsistenz der Gesamtskala zwischen " = .85 und .88. Die Test-Retest-Reliabilität über sechs
Wochen wird für die Gesamtskala mit rtt = .68 angegeben, für die Subskalen etwas niedriger (rtt =
.58 bis .68) (Luhtanen & Crocker, 1992). Mit verschiedenen Maßen des allgemeinen (persönlichen)
Selbstwerts (Rosenberg, 1965; Coopersmith, 1967; Janis & Field, 1959) ist die CSE-Skala
mittelhoch korreliert; Luhtanen und Crocker berichten für die Gesamtskala Korrelationen in der
Größenordnung von .3 bis .4 und zumeist niedrigere Koeffizienten für die einzelnen Subskalen (die
höchsten für "private collective self-esteem": r = .41 bis .48; die niedrigsten für "importance to
identity": r = .08 bis .14). Die CSE-Skala erfaßt also offenbar Aspekte der Selbstbewertung, die mit
traditionellen Indikatoren des Selbstwerts zwar eindeutig zusammenhängen, von diesen aber nicht
vollständig abgebildet werden. Schließlich erwies sich die Skala als unabhängig von
Antworttendenzen in Richtung sozialer Erwünschtheit (Crowne & Marlowe, 1964).
Eine deutsche Fassung der CSE-Skala wurde erstmals in einer Diplomarbeit von Weidekamp
und Rose vorgestellt (zitiert in Wagner & Zick, 1993). Diese deutsche Übersetzung der allgemeinen
Version der Skala diente bei der Formulierung unserer spezifisch geschlechtsbezogenen Items als
Anregung.51 Ähnlich wie in der "ethnischen Version" von Crocker et al. (1994) haben wir alle
Formulierungen, die sich auf "soziale Gruppen" beziehen, durch Wendungen ersetzt, die die Gruppe
der Frauen bzw. der Männer betreffen. Tabelle 8.4 zeigt die Items der so entstandenen KSW-G.
Jedes Item ist auf einer 7-Punkte-Skala zu beantworten, die von 1 ("vollkommen unzutreffend") bis
7 ("vollkommen zutreffend") reicht. In einer Hauptkomponentenanalyse replizierte für die KSW-G
die vierfaktorielle Struktur der Originalskala; die interne Konsistenz lag mit " = .77 für die
Gesamtskala und Werten von .65 bis .78 für die vier Subskalen (in Tabelle 8.4 bezeichnet mit
51
Ulrich Wagner gebührt Dank für die Überlassung der deutschen Items und für Informationen über
unveröffentlichte Analysen.
Prüfung von Hypothesen zu Kategorisierungsprozessen
161
"Zugehörigkeit", "Privat", "Öffentlich" und "Identität") in demselben Bereich wie die von Wagner
und Zick (1993) berichteten Koeffizienten und etwas niedriger als die Werte der amerikanischen
Originalskala (für Details s. Sturm & Bohner, 1996).
Tabelle 8.4 Deutsche Adaptation der Kollektiven Selbstwert-Skala von Luhtanen und Crocker
(1992), bezogen auf das eigene Geschlecht (KSW-G)
Item
Subskala
1.
Ich bin ein würdiges Mitglied der Gruppe der Frauen (Männer).
Zugehörigkeit
*2.
Häufig bedauere ich, zur Gruppe der Frauen (Männer) zu
gehören.
Privat
3.
Im großen und ganzen werden wir Frauen (Männer) positiv
bewertet.
Öffentlich
*4.
Im großen und ganzen hat die Tatsache, daß ich eine Frau
(ein Mann) bin, wenig damit zu tun, wie ich mich selbst sehe.
Identität
*5.
Ich glaube, daß ich der Gruppe der Frauen (Männer) nicht viel
zu bieten habe.
Zugehörigkeit
6.
Im allgemeinen bin ich froh, der Gruppe der Frauen (Männer)
anzugehören.
Privat
*7.
Die meisten Leute halten uns Frauen (Männer) als Gruppe für
weniger effektiv als die Gruppe der Männer (Frauen).
Öffentlich
8.
Die Tatsache, daß ich eine Frau (ein Mann) bin, spiegelt sehr
gut wider, wer ich bin.
Identität
9.
Innerhalb der Gruppe der Frauen (Männer) bin ich ein
kooperatives Mitglied.
Zugehörigkeit
*10.
Im großen und ganzen glaube ich, daß wir Frauen (Männer)
als Gruppe wenig wert sind.
Privat
11.
Im allgemeinen werden wir Frauen (Männer) von anderen
respektiert.
Öffentlich
*12.
Daß ich eine Frau (ein Mann) bin, ist unwichtig für meine
Vorstellung davon, was für eine Person ich bin.
Identität
*13.
Ich fühle mich häufig als ein nutzloses Mitglied der Gruppe der
Frauen (Männer).
Zugehörigkeit
14.
Ich selbst habe im allgemeinen eine gute Meinung von uns
Frauen (Männern).
Privat
*15.
Im allgemeinen denken andere, daß wir Frauen (Männer) als
Gruppe nichts wert sind.
Öffentlich
16.
Im allgemeinen ist mein Selbstbild wesentlich durch meine
Geschlechtszugehörigkeit bestimmt.
Identität
Anm.: Items mit * sind umzupolen. Die Numerierung entspricht der Reihenfolge im Fragebogen,
die von Luhtanen und Crocker (1992) übernommen wurde.
162
Kapitel 8
Hinweise auf die Validität der KSW-G liefern Ergebnisse aus einer Stichprobe von 227
Mannheimer Studierenden (124 Frauen, 103 Männer; Stichproben 9 und 13 kombiniert) zu
Korrelationen mit einer Skala des persönlichen Selbstwerts (BSZ-global; Hormuth & Lalli, 1988):
Für die Gesamtskala betrug die Korrelation52 r = .26, p < .001; für "Zugehörigkeit" r = .35, p <
.001; für "Privat" r = .15, p < .05; für "Öffentlich" r = .23, p < .01; und für "Identität" r = .01, ns.53
Diese Werte sind wie erwartet positiv, fallen aber etwas niedriger aus als die von Luhtanen und
Crocker (1992) berichteten Korrelationen. Besonders unbefriedigend ist die Nullkorrelation der
Subskala "Identität". Möglicherweise lassen sich diese Abweichungen mit Besonderheiten der
Stichprobe und / oder dem spezifischen Inhalt der Skala erklären. Es könnte sein, daß die
Bewertung und Identifikation mit der eigenen Geschlechtsgruppe für Studierende tatsächlich in
geringerem Maße zur Selbstdefinition beiträgt als für andere Gruppen der Bevölkerung, die
stärkerem Rollendruck unterliegen. Allerdings fanden auch Luhtanen und Crocker kaum höhere
Korrelationen zwischen ihrer "Importance to identity"-Subskala und Skalen des persönlichen
Selbstwerts. In jedem Fall sollte die Skala in Zukunft auch an anders zusammengesetzten
Stichproben weiter überprüft werden.
Eine Teilstichprobe (N = 70, 45 Frauen, 25 Männer; Stichprobe 13) füllte außerdem die
deutsche Neosexismus-Skala aus (Tougas et al., 1995; s. Abschnitt 3.3.1.1). In den Korrelationen
zwischen der KSW-G und der Neosexismus-Skala zeigten sich erwartungsgemäß
geschlechtsabhängige Unterschiede: Für Frauen waren die Subskalen "Zugehörigkeit" und "Privat"
signifikant negativ mit Neosexismus korreliert (r = -.31 bzw. -.34, jeweils p < .05), während sich
für Männer keine signifikanten Zusammenhänge zeigten. Je positiver Frauen also ihre Zugehörigeit
zur Gruppe der Frauen und diese Gruppe selbst bewerteten, desto stärker lehnten sie auch
unterschwellig sexistische Einstellungen zuungunsten von Frauen ab.
8.2.2
Zusammenhänge zwischen der VMA und dem kollektiven Selbstwert als Frau bzw.
Mann
Zur Prüfung der angenommenen Zusammenhänge zwischen dem geschlechtsbezogenen
kollektiven Selbstwert und der Akzeptanz von Vergewaltigungsmythen füllten die erwähnten 227
Studierenden neben der KSW-G auch die VMAS54 aus. Auf der Grundlage der in Kapitel 7
52
N = 227 für alle genannten Koeffizienten.
53
Signifikante Geschlechtsunterschiede in der Höhe der Korrelationen traten nicht auf, wenn auch die
Koeffizienten für die Männer teilweise tendenziell höher waren. Ein stärkerer Zusammenhang für Männer
wäre auch nicht verwunderlich, wenn man annimmt, daß die positive Identifikation mit einer gesellschaftlich
dominanten Gruppe insgesamt lohnender ist als die positive Identifikation mit einer sozialen "Minderheit".
54
Der größte Teil der VersuchsteilnehmerInnen (Stichprobe 9; N = 157) füllte die 10-Item-Kurzfassung
der VMAS im Rahmen einer Laborsitzung aus, die übrigen TeilnehmerInnen (Stichprobe 13; N = 70)
bearbeiteten die Langversion der VMAS zu Beginn einer Lehrveranstaltung im Hörsaal. Für die in diesem
Abschnitt berichteten Analysen wurden beide Teilstichproben kombiniert und zur Berechnung der VMAWerte nur die 10 Items der Kurzfassung herangezogen. Diese waren in Stichprobe 13 mit den Werten der
Prüfung von Hypothesen zu Kategorisierungsprozessen
163
formulierten Hypothese 2 erwarteten wir für weibliche Teilnehmerinnen einen negativen
Zusammenhang zwischen der Akzeptanz von Vergewaltigungsmythen und den KSW-G-Subskalen
"Zugehörigkeit", "Privat" und "Identität": Wenn Frauen mit niedriger VMA sich im Vergleich zu
Frauen mit hoher VMA eher und häufiger "als Frau" kategorisieren, dann sollten sie ihre
Zugehörigkeit zu dieser sozialen Kategorie positiver beurteilen, die Gruppe selbst positiver
bewerten und sie für ihr Selbstkonzept als bedeutsamer einschätzen. Für die "Öffentlich"-Subskala
sollte sich hingegen ein positiver Zusammenhang mit VMA zeigen, denn eine Tendenz zur
Selbstkategorisierung "als Frau" (die für Teilnehmerinnen mit niedriger VMA zu erwarten ist) sollte
auch mit einem erhöhten Bewußtsein der negativen Diskriminierung dieser Gruppe einhergehen
(Gurin & Markus, 1989). Für letzteres sprechen auch die klaren negativen Korrelationen der VMA
mit antisexistischen Einstellungen sowie die positiven Korrelationen der VMA mit traditionellen
Rollenorientierungen (s. Abschn. 3.3.1.1; Burt, 1980; Costin & Kaptanolu, 1993; Costin &
Schwarz, 1987).
Für die männlichen Teilnehmer erwarteten wir hingegen durchgängig einen positiven
Zusammenhang zwischen VMA und den Subskalen der KSW-G. Tabelle 8.6 zeigt die
entsprechenden Korrelationen für Männer und Frauen sowie Tests auf Korrelationsunterschiede in
Abhängigkeit vom Geschlecht.
Tabelle 8.6 Korrelationen zwischen VMA und den Subskalen der KSW-G und
Korrelationsunterschiede zwischen Frauen und Männern (Stichproben 9 und 13
kombiniert)
Stichprobe
Subskala
Gesamt
(N = 227)
Frauen
(N = 124)
Männer
(N = 103)
z (Differenz)
Zugehörigkeit
–.09
–.20*
+.14
2.54*
Privat
–.01
–.12
+.33***
3.43***
Öffentlich
+.26***
+.24**
+.11
n0.99
Identität
+.02
–.05
+.16
1.56
Gesamtskala
+.07
–.05
+.27**
2.42*
Anm.: * p < .05; ** p < .01; *** p < .001; alle Werte zweiseitig.
Insgesamt zeigten sich schwache Zusammenhänge im Sinne der Hypothesen. Bei Frauen
kovariierte wie vorhergesagt die wahrgenommene Zugehörigkeit zu ihrer Geschlechtsgruppe
negativ mit der VMA, während sich die ebenfalls vorhergesagten negativen Zusammenhänge der
Langversion zu r(68) = .94 korreliert.
164
Kapitel 8
VMA mit der privaten Bewertung der Geschlechtsgruppe bzw. mit deren wahrgenommener
Bedeutsamkeit für die eigene Identität statistisch nicht absichern ließen. Außerdem sahen Frauen
wie vorhergesagt die öffentliche Beurteilung ihrer Eigengruppe umso negativer, je geringer ihre
VMA ausgeprägt war. Bei Männern zeigte sich hingegen wie erwartet durchweg eine eher positive
Beziehung zwischen KSW-G und VMA; allerdings wird bei Betrachtung der einzelnen Subskalen
nur der Zusammenhang zwischen der privaten Bewertung der eigenen Geschlechtsgruppe und der
VMA signifikant. Darüber hinaus unterscheiden sich die Koeffizienten zwischen den
Teilstichproben der Frauen und Männer in bezug auf die Subskalen "Privat" und "Zugehörigkeit"
sowie im Hinblick auf die Gesamtskala signifikant voneinander.
Über diese hypothesenbezogenen Befunde hinaus lieferten explorative Analysen der
Skalenmittelwerte interessante Ergebnisse. So zeigten sich signifikante Geschlechtsunterschiede
auf drei der vier Subskalen sowie ein Trend zu einem Geschlechtsunterschied auf der vierten (s.
Tabelle 8.7).
Prüfung von Hypothesen zu Kategorisierungsprozessen
165
Tabelle 8.7 Mittelwerte der Subskalen der KSW-G, getrennt nach Geschlecht
(Stichproben 9 und 13 kombiniert)
Stichprobe
Subskala
Frauen
(N = 124)
Männer
(N = 103)
Vergleich F-M
t (225) =
Zugehörigkeit
5.55
5.28
2.14*
Privat
5.87
5.07
5.89***
Öffentlich
4.20
4.87
n5.29***
Identität
4.22
3.88
1.83 (p < .07)
Gesamtskala
4.96
4.77
1.93 (p < .06)
Anm.: * p < .05; *** p < .001; alle Werte zweiseitig.
Frauen berichteten höheren kollektiven Selbstwert als Männer auf den Subskalen
Zugehörigkeit, Privat und Identität, aber niedrigeren öffentlichen kollektiven Selbstwert als
Männer (s. Tab. 8.7). Diese Unterschiede zeigen eine interessante Parallele zu Befunden von
Crocker et al. (1994), die den kollektiven Selbstwert in bezug auf die eigene ethnische Gruppe
untersuchten. In der Studie von Crocker und MitarbeiterInnen zeigte sich hinsichtlich des
Vergleichs zwischen der Mehrheitsgruppe der Weißen und der Minderheitsgruppe der Schwarzen
ein identisches Muster der Mittelwerte wie in der hier beschriebenen Untersuchung für den
Vergleich zwischen Frauen und Männern: Schwarze Studierende berichteten relativ zu Weißen
Studierenden höhere Werte auf den Subskalen "membership esteem", "private collective selfesteem" und "importance to identity", aber drastisch niedrigere Werte auf der Subskala "public
collective self-esteem". Diese Parallelität der Ergebnisse verweist darauf, daß die Angehörigen
sozial und strukturell benachteiligter Gruppen die identitätsstiftenden Aspekte ihrer
Gruppenzugehörigkeit stärker betonen als die Angehörigen sozial dominanter Gruppen. Die
Nutzung der Gruppenidentität als mögliche Quelle positiven Selbstwerts wird aber offenbar erkauft
durch ein erhöhtes Gewahrwerden negativer Diskriminierung der Eigengruppe durch die
gesellschaftlich dominante Gruppe (s.a. Gurin & Markus, 1989); die resultierende Ambivalenz der
sozialen Identität birgt somit ein Potential für kognitive und motivationale Konflikte.
Analysiert man die Werte unserer ProbandInnen auf den KSW-G-Subskalen weiter für
Gruppen niedriger und hoher VMA (Median Frauen: 2.80; Median Männer: 3.40), so zeigt sich, daß
die Diskrepanzen zwischen dem Wert der Öffentlich-Subskala und den übrigen Subskalen bei
Frauen mit niedriger VMA noch ausgeprägter sind (Mittelwerte: Zugehörigkeit 5.75, Privat 5.99,
Öffentlich 4.01, Identität 4.21) als bei Frauen mit hoher VMA (Mittelwerte: Zugehörigkeit 5.34,
Privat 5.74, Öffentlich 4.40, Identität 4.23), wohingegen bei Männern mit einer höheren
Ausprägung der VMA generell höhere Ausprägungen aller Subskalenwerte einhergehen
166
Kapitel 8
(Mittelwerte bei niedriger VMA: Zugehörigkeit 5.09, Privat 4.75, Öffentlich 4.72, Identität 3.62;
Mittelwerte bei hoher VMA: Zugehörigkeit 5.47, Privat 5.39, Öffentlich 5.01, Identität 4.13). In
einer Varianzanalyse mit Meßwiederholung wird entsprechend die Interaktion von Geschlecht,
VMA und einem geplanten Kontrast zwischen der Öffentlich-Subskala und den übrigen drei
Subskalen signifikant, t(223) = 2.10, p < .04. Tests auf die einfache Interaktion zwischen VMA und
dem genannten Kontrast ergeben einen signifikanten Wert innerhalb der Frauen, t(122) = 3.25, p <
.01, nicht aber innerhalb der Männer, t(101) = 0.11, ns.
Niedrige Vergewaltigungsmythenakzeptanz scheint also bei Frauen mit einer eher
ambivalenten kollektiven Identität als Frau verknüpft zu sein, bei Männern hingegen mit einer
insgesamt niedrigeren, aber in sich konsistenten Ausprägung der verschiedenen Aspekte des
geschlechtsbezogenen kollektiven Selbstwerts. Bei Personen mit hoher
Vergewaltigungsmythenakzeptanz scheinen die genannten Geschlechtsunterschiede weniger
gravierend, aber auch hier besteht bei Frauen eine gewisse Ambivalenz der kollektiven
Selbstaspekte, während bei Männern alle vier Aspekte konsistent hoch ausgeprägt sind.55
Insgesamt stützen die Korrelationen zwischen VMA und den KSW-G-Subskalen
"Zugehörigkeit" und "Öffentlich" n wenn auch nur schwach n die Hypothese, daß bei Frauen mit
einer niedrigeren VMA eine positivere Ausprägung der kollektiven Identität als Frau einhergeht,
gleichzeitig aber auch ein geschärftes Bewußtsein für die Diskriminierung der eigenen Gruppe.
Entgegen den Vorhersagen zeigte sich kein signifikanter Zusammenhang zwischen der VMA und
den KSW-Subskalen "Privat" und "Identität". Die Schwäche der Zusammenhänge mag damit
zusammenhängen, daß je nach Ausprägung der VMA möglicherweise qualitativ unterschiedliche
Konzepte von "Frausein" abgerufen werden. Wenn Frauen mit hoher VMA bei der Beantwortung
der KSW-G-Items eher an traditionelle Definitionen der Frauenrolle denken, könnten ähnlich hohe
Beurteilungen der Gruppe und vergleichbare Werte der Bedeutung der Gruppe für die Identität
resultieren wie bei niedriger VMA, was insgesamt die Beträge der entsprechenden Korrelationen
reduzieren sollte. Gegen diese Überlegung sprechen Daten aus einer Untersuchung von Gurin und
Markus (1989), nach denen Frauen mit traditioneller Rollenorientierung im Vergleich zu Frauen
mit nicht-traditioneller Rollenorientierung angeben, wesentlich seltener über ihr Frausein
nachzudenken, und ihr Schicksal weniger mit dem anderer Frauen verbunden sehen
(s.a. Henderson-King & Stewart, 1994).
Eine andere Erklärung für die recht schwachen Zusammenhänge mag in der Zusammensetzung
der Stichprobe liegen. Vielleicht würden sich deutlichere Zusammenhänge in Stichproben zeigen,
in denen eine größere Variabilität der VMA gegeben ist. Für künftige Studien würde es sich auch
anbieten, die intern konsistentere Langversion der VMAS einzusetzen. Zum Abschluß dieses
Kapitels soll noch über eine Untersuchung berichtet werden, in der Zusammenhänge der VMA und
55
Entspechend zeigten sich auch tendenziell höhere Interkorrelationen der KSW-G-Subskalen für Männer
als für Frauen (für Details s. Sturm & Bohner, 1996).
Prüfung von Hypothesen zu Kategorisierungsprozessen
167
der sozialen Kategorisierung nach dem Geschlecht nicht in bezug auf das Selbst, sondern in bezug
auf soziale Urteile über andere Personen untersucht wurde.
8.3 VMA bei Frauen und die spontane Nutzung der Kategorie "Geschlecht" in der
Urteilsbildung über Personen
In Kapitel 7 wurde die Annahme formuliert, daß für Frauen mit niedriger VMA die soziale
Kategorie "Geschlecht" chronisch leichter zugänglich sein sollte als für Frauen mit hoher VMA.
Damit kompatible Befunde hatten sich in der oben berichteten Studie in bezug auf die evaluativen
Aspekte der sozialen Identität als Frau gezeigt. Aus dieser Annahme lassen sich aber weitergehende
Vorhersagen ableiten, die sich weder direkt auf selbstbezogene Urteile beziehen noch auf Urteile
im direkten Zusammenhang mit der Thematik "sexuelle Gewalt". So ist anzunehmen, daß Frauen
mit niedriger VMA, die stärker feministische Einstellungen vertreten und weniger traditionelle
Geschlechtsrollen befürworten (s. Abschnitt 3.3.1.1; s.a Ward, 1995), soziale Information generell
eher in Beziehung zur Geschlechterdimension verarbeiten als Frauen mit hoher VMA,
vorausgesetzt, daß die Kategorie "Geschlecht" für die in Frage stehenden Urteile überhaupt
potentiell anwendbar ist. Als Alternative zu dieser Hypothese ließe sich die weniger generelle
Annahme formulieren, daß Unterschiede im sozialen Urteil in Abhängigkeit von der VMA allein
in Situationen auftreten, in denen sexuelle Gewalt von Männern gegen Frauen salient ist.
Um diese alternativen Hypothesen gegeneinander zu testen, führte ich gemeinsam mit
Kolleginnen ein Experiment durch (Bohner, Sturm, Ayata, Effler & Litters, 1996). Darin beurteilten
weibliche Versuchspersonen Paare von Zielpersonen, die entweder aus zwei Frauen ("Frau-FrauPaar") oder aus einem Mann und einer Frau bestanden ("Mann-Frau-Paar"), jeweils im Hinblick
auf die Ähnlichkeit der beiden Zielpersonen. Zum Zeitpunkt dieser Urteile war für die
Versuchspersonen das Thema "sexuelle Gewalt" entweder nicht salient oder aufgrund eines vorher
gelesenen Textes salient. Aus der Annahme einer generell höheren Zugänglichkeit der Kategorie
"Geschlecht" bei niedriger als bei hoher VMA ergibt sich die Hypothese, daß Frauen mit niedriger
VMA Mann-Frau-Paare im Vergleich zu Frau-Frau-Paaren als unähnlicher einstufen sollten, und
daß dieser Unterschied deutlicher ausfallen sollte als bei Frauen mit hoher VMA. Dieses Muster
sollte unabhängig von der Salienz sexueller Gewalt auftreten. Falls jedoch Einflüsse der VMA auf
die Verarbeitung sozialer Information auf solche situativen Kontexte beschränkt sind, in denen
Gewalt von Männern gegen Frauen salient ist, sollte das beschriebene Muster allein in der
Reihenfolgebedingung auftreten, in der die Versuchspersonen vorher einen Text über sexuelle
Gewalt gelesen haben.
8.3.1
Methode
Stichprobe und Vorgehen
Einundfünfzig Benutzerinnen einer öffentlichen Bibliothek (Frauen aus Stichprobe 12;
168
Kapitel 8
s. Abschnitte 3.3.2.2 und 4.3; mittleres Alter 29.6 Jahre) wurden für zwei angeblich unabhängige
Studien angeworben. Die Untersuchung, in der die hier interessierenden abhängigen Variablen
erhoben wurden, trug den Titel "Erinnerung an personenbezogene Information". In ihr wurden drei
Ähnlichkeitsurteile in bezug auf eine männliche und zwei weibliche Zielpersonen verlangt; diese
Urteile bilden die zentralen abhängigen Variablen. In der anderen Studie, die den Titel
"Textverständnis" trug, ging es vornehmlich um den Einfluß verschiedener Situations- und
Textmerkmale auf die Interpretation eines Vergewaltigungs-Szenarios; diese Studie wurde bereits
in den Abschnitten 3.3.2.2 und 4.3 ausführlich dargestellt. Für die augenblickliche Fragestellung
ist jedoch allein entscheidend, daß alle Versuchspersonen einen Text über eine Vergewaltigung
lasen und danach die Langversion der VMAS ausfüllten. Um die Salienz des Themas "sexuelle
Gewalt" zu manipulieren, variierten wir per Zufallszuweisung die Reihenfolge, in der die
Versuchspersonen an den beiden Studien teilnahmen: Für Versuchspersonen, die zuerst an der
Studie "Erinnerung an personenbezogene Information" teilnahmen, war sexuelle Gewalt zum
Zeitpunkt der Ähnlichkeitsurteile nicht salient, wohingegen für Versuchspersonen, die zuerst an der
Studie zum "Textverständnis" teilgenommen hatten, sexuelle Gewalt hoch salient war. Die
Versuchspersonen wurden außerdem auf der Grundlage ihrer VMA-Werte in Gruppen niedriger
bzw. hoher VMA eingeteilt. Dieses Vorgehen resultierte in einem 2x2-faktoriellen Versuchsplan
mit den Faktoren Salienz von Vergewaltigung (niedrig, hoch) und VMA (niedrig, hoch).
Material
In der "Erinnerungs"-Studie wurden drei Zielpersonen knapp schriftlich vorgestellt; auf je einer
separaten Seite standen Name, Beruf, sechs Eigenschaften (z.B. "kontaktfreudig", "hilfsbereit") und
zwei Hobbies einer Person. Die ersten beiden Zielpersonen hatten weibliche Vornamen, die dritte
einen männlichen Vornamen. Die übrige Information war so gestaltet, daß die Anzahl ähnlicher und
unähnlicher Merkmale für alle drei möglichen Paare von Zielpersonen jeweils etwa gleich groß war.
Außer den Vornamen enthielten weder die Personenbeschreibungen noch die Instruktionen
irgendeinen Hinweis auf die Geschlechtszugehörigkeit der Zielpersonen oder das Thema
"Geschlecht". Die Teilnehmerinnen wurden einfach gebeten, die Personeninformation aufmerksam
zu lesen, da ihnen später einige Gedächtnisfragen hierzu gestellt werden würden.
Nach dem Lesen der Personeninformation gaben die Versuchspersonen auf Ratingskalen an,
als wie ähnlich sie jedes der drei möglichen Paare von Zielpersonen beurteilten (z.B. "Wie ähnlich
sind sich Anita Kraus und Barbara Schäfer?"; Skala von 1, "überhaupt nicht ähnlich", bis 7, "sehr
ähnlich"). Eine spontane Nutzung der Kategorie "Geschlecht" sollte sich in relativ höheren
Ähnlichkeitsurteilen für das "Frau-Frau-Paar" und in relativ geringeren Ähnlichkeitsurteilen für die
"Frau-Mann-Paare" niederschlagen.
8.3.2 Ergebnisse
Die interne Konsistenz der VMA-Skala war auch für die hier untersuchte Teilstichprobe der
Prüfung von Hypothesen zu Kategorisierungsprozessen
169
Frauen gut (" = .80). Die VMA-Werte reichten von 1.10 bis 4.05; der Median betrug 1.90. Die
VMA-Werte waren unabhängig von der Reihenfolge der beiden Experimente, t(49) = 0.39, ns.
Zur Bewertung der zentralen Hypothesen wurden die beiden "Frau-Mann"-Urteile gemittelt
und zusammen mit dem "Frau-Frau"-Urteil einer 2x2x2-faktoriellen Varianzanalyse (ANOVA) mit
den "between-subjects"-Faktoren Salienz von Vergewaltigung (niedrig, hoch), VMA (niedrig, hoch)
und dem "within-subjects"-Faktor Art des Urteils (Frau-Mann, Frau-Frau) unterzogen. Diese
ANOVA ergab einen signifikanten Haupteffekt für die Art des Urteils, F(1,45)56 = 7.18, p < .02,
und die vorhergesagte signifikante Interaktion der Faktoren VMA und Art des Urteils, F(1,45) =
4.06, p < .05. Die zugehörigen Mittelwerte zeigt Tabelle 8.8. Der letztere Effekt war unabhängig
von dem Faktor Salienz von Vergewaltigung; F < 1 für die Interaktion zweiter Ordnung und alle
übrigen Effekte.
T-Tests für abhängige Messungen innerhalb jeder der beiden VMA-Gruppen zeigten, daß die
Interaktion auf Unterschieden in den Urteilen der Teilnehmerinnen mit niedriger VMA beruhte:
Diese beurteilten die Frau-Mann-Paare als signifikant weniger ähnlich im Vergleich zu dem FrauFrau-Paar, t(24) = -4.09, p < .001, wohingegen Teilnehmerinnen mit hoher VMA die beiden Arten
von Paaren hinsichtlich ihrer Ähnlichkeit nicht unterschiedlich beurteilten t(23) = -0.49, ns
(Mittelwerte s. Tabelle 8.8).
Tabelle 8.8 Mittelwerte der Ähnlichkeitsurteile über zwei weibliche Zielpersonen versus eine
weibliche und eine männliche Zielperson in Abhängigkeit von der VMA (Frauen aus
Stichprobe 12)
VMA
Zusammensetzung des Zielpaares
Zwei Frauen
Frau und Mann
niedrig (n = 25)
3.88
2.96
hoch (n = 24)
3.79
3.65
Anm.: Ratings von 1, "überhaupt nicht ähnlich", bis 7, "sehr ähnlich".
Daten kollabiert über die Stufen des Faktors "Salienz von Vergewaltigung".
8.3.3 Diskussion
Die Ergebnisse zeigen, daß Frauen, die Vergewaltigungsmythen klar ablehnen, bei Urteilen
über andere Personen spontan eher auf der Grundlage des Geschlechts urteilen als Frauen, die
Vergewaltigungsmythen weniger klar ablehnen. Frauen mit niedriger VMA, nicht aber Frauen mit
hoher VMA, beurteilten eine männliche und eine weibliche Zielperson als weniger ähnlich im
Vergleich zu zwei weiblichen Zielpersonen. Interessanterweise zeigten sich diese Unterschiede in
56
Wegen fehlender Antworten beträgt die Anzahl gültiger Fälle 49.
170
Kapitel 8
einer Aufgabe ohne jeden Selbstbezug, in der auch die Kategorie "Geschlecht" in keiner Weise
explizit angesprochen wurde. Darüber hinaus erwiesen sich diese Unterschiede im Urteil zwischen
Frauen mit niedriger versus hoher VMA als unabhängig von der situativen Salienz von
Vergewaltigung.
Dieses Datenmuster stützt die Hypothese, daß niedrige Ausprägungen der VMA mit einer
höheren chronischen Verfügbarkeit der Kategorie "Geschlecht" einhergehen. Diese erhöhte
Zugänglichkeit dürfte eine Selbstkategorisierung auf der Ebene des Geschlechts erleichtern und
damit zum beobachteten negativen Einfluß von Vergewaltigungsinformation auf den Selbstwert
der Frauen mit niedriger VMA (Bohner et al., 1993) beitragen.
Neuere Arbeiten zu Kontexteffekten auf die Selbstkategorisierung zeigen, daß die relative
Betonung des kollektiven versus individuellen Selbst von dem Bewußtsein einer Person beeinflußt
wird, daß ihre Gruppe (als Gruppe) von anderen in besonderer Weise behandelt wird (Simon,
Pantaleo, & Mummendey, 1995). Insofern geringe VMA bei Frauen ein derartiges "Bewußtsein
besonderer Behandlung der Eigengruppe" beinhaltet n und die oben berichteten Daten zum
kollektiven Selbstwert legen dies nahe n, liefern unsere Ergebnisse einen ersten Hinweis darauf,
daß die Betonung des kollektiven Selbst sich nicht allein in Urteilen über die eigene Person
niederschlägt, sondern sich auch auf andere soziale Urteile überträgt, auf welche die betroffene
Selbst-Kategorie anwendbar ist.
8.4 Zusammenfassung der Befunde zu Kategorisierungsprozessen
Kapitel 8 war der Überprüfung von Hypothesen zu Kategorisierungsprozessen gewidmet, die
aus dem in Kapitel 7 formulierten Modell abgeleitet worden waren. Dieses Modell sollte erklären,
wie die VMA den Einfluß der Salienz von Vergewaltigung auf den Selbstwert von Männern und
Frauen moderiert. In Hypothese 1 war vorhergesagt worden, daß die Akzeptanz von
Vergewaltigungsmythen bei Frauen mit der wahrgenommenen Ähnlichkeit von "Opfern" und
"Frauen" negativ kovariiere, während ein solcher Zusammenhang bei Männern nicht vorzufinden
sei. Diese Vorhersagen wurden in drei Experimenten weitgehend gestützt. Allerdings konnte noch
keine Evidenz dafür beigebracht werden, daß die Unterschiede in den Ähnlichkeitsurteilen durch
VMA-abhängige differentielle Merkmalsrepräsentationen vermittelt sein könnten, obwohl Belege
für unterschiedliche Repräsentationen je nach Ausprägung der VMA durchaus gefunden wurden.
Zusätzlich ergaben sich interessante Hinweise auf die Möglichkeit, durch Variationen der
Vergleichsrichtung die Ausprägung von Ähnlichkeitsurteilen und möglicherweise auch
Bewertungen in bezug auf Vergewaltigungsopfer zu beeinflussen (s. Tversky, 1977; Wänke, 1993).
Eine korrelative Studie lieferte eine schwache, aber signifikante Bestätigung der Hypothese 2:
Frauen mit niedriger VMA beurteilten ihre Zugehörigkeit zur Gruppe der Frauen positiver, als
Frauen mit hoher VMA dies taten. Entsprechende negative Korrelationen der VMA mit der
Bewertung der Gruppe der Frauen und mit der subjektiven Bedeutsamkeit dieser Gruppe für die
eigene Identität konnten statistisch nicht abgesichert werden. Zusätzlich zeigte sich
Prüfung von Hypothesen zu Kategorisierungsprozessen
171
erwartungsgemäß, daß Frauen mit niedriger VMA die Bewertung der Gruppe der Frauen durch die
Gruppe der Männer negativer sehen als Frauen mit hoher VMA. Zusammengenommen implizieren
diese Befunde eine höhere Ambivalenz der Selbstkategorisierung als Frau bei niedriger als bei
hoher VMA. Diese Ambivalenz der sozialen Identität in bezug auf das Geschlecht scheint bei
Frauen auch generell höher zu sein als bei Männern. Letzteres könnte einen Spezialfall der
Implikationen sozialer Identität im Vergleich zwischen dominanten und nicht-dominanten sozialen
Gruppen darstellen (Crocker et al., 1994; Sturm & Bohner, 1996).
Schließlich fand auch Hypothese 3, die sich auf allgemeinere Wirkungen der bevorzugten
Ebene der Selbstkategorisierung bezog, in einem Experiment Unterstützung. Es konnte gezeigt
werden, daß Frauen mit niedriger VMA bei Ähnlichkeitsurteilen in bezug auf ihnen völlig
unbekannte Personen spontan eher das Geschlecht dieser Personen als Urteilskriterium nutzten, als
Frauen mit hoher VMA dies taten. Weiter zeigte sich, daß dieser Effekt von der relativen Salienz
sexueller Gewalt unabhängig war. Diese Ergebnisse sprechen somit für die Möglichkeit, daß bei
Frauen mit niedriger VMA die soziale Kategorie "Geschlecht" chronisch zugänglich ist (s. Bargh,
Bond, Lombardi & Tota, 1986; Higgins, 1990) und keiner Voraktivierung durch Information über
Vergewaltigung (oder auch nur über "mildere" Konflikte auf einer geschlechtsbezogenen InterGruppen-Ebene) bedarf, um soziale Urteile zu beeinflussen.
Während die Untersuchungen, über die ich in diesem Kapitel berichtet habe, im wesentlichen
die Hypothesen stützen und eine Reihe von möglichen Teilprozessen erhellen, die den Einfluß von
Information über Vergewaltigung auf selbstbezogene Urteile vermitteln könnten, steht eine
umfassende Überprüfung des gesamten in Kapitel 7 formulierten Modells noch aus. Einen nächsten
Schritt in diese Richtung könnte die experimentelle Untersuchung von Interventionen bilden,
welche die angenommenen Kategorisierungs- und Vergleichsprozesse direkt beeinflussen. Am
Ende des Kapitels 7 wurden in Hypothese 4 die Möglichkeiten angesprochen, chronische, von der
VMA abhängige Tendenzen in der Selbstkategorisierung durch die Induktion von Empathie mit
dem Opfer einer Vergewaltigung oder durch experimentelle Variationen der aktuellen
Selbstkategorisierung abzuschwächen bzw. zu verstärken. Konkretere Überlegungen zu
entsprechenden Versuchsplänen folgen im abschließenden Kapitel 9. Zunächst werden darin aber
rückblickend die Überlegungen und Befunde dieser Arbeit in ihrer Gesamtheit diskutiert.
172
9
Kapitel 9
Schlußfolgerungen und Ausblick
9.1 Zusammenfassung und Diskussion der berichteten Befunde
Ausgangspunkt dieser Arbeit war die allgemeine These, daß das Vorkommen sexueller Gewalt
von Männern gegen Frauen das Erleben und Verhalten auch der Personen beeinflußt, die nicht
direkt von dieser Gewalt betroffen sind, und zu einer Stabilisierung der Ungleichheit der
Geschlechter beiträgt (Brownmiller, 1975; Griffin, 1979). In Kapitel 1 wurden korrelative Daten
referiert, die mit dieser These im Einklang stehen. So lassen sich korrelative Zusammenhänge
zwischen Geschlechterungleichheit und Vergewaltigungsprävalenz auf der gesellschaftlichen Ebene
ebenso belegen wie solche zwischen der Furcht vor Vergewaltigung und
Verhaltenseinschränkungen auf der individuellen Ebene; andere Forschungsergebnisse zeigen
Zusammenhänge auf zwischen der Befürwortung traditioneller Geschlechtsrollen und
Überzeugungen, die sexuelle Gewalt rechtfertigen (s. z. Überblick Bohner & Schwarz, 1996).
Ein Ziel dieser Arbeit war es, über einen korrelativen Ansatz hinauszugehen und mit den
Methoden der experimentellen Sozialpsychologie auf der Ebene der Individuen den angenommenen
kausalen Einfluß der Bedrohung durch sexuelle Gewalt auf das Befinden und den Selbstwert von
Frauen zu untersuchen. Dabei wurde dem Konstrukt der Vergewaltigungsmythenakzeptanz (VMA;
Burt, 1980) ein zentraler Stellenwert eingeräumt. In Kapitel 2 wurden Vergewaltigungsmythen
(VM) definiert als deskriptive oder präskriptive Überzeugungen über Vergewaltigung, die dazu
dienen, sexuelle Gewalt von Männern gegen Frauen zu leugnen, zu verharmlosen oder zu
rechtfertigen. Ein Vorschlag von Martha Burt (1991), inhaltlich vier Typen von frauenbezogenen
VM und zwei Typen von männerbezogenen VM zu differenzieren, wurde vorgestellt und diskutiert.
Diese Typen beinhalten die Auffassungen, daß "richtige" Vergewaltigungen nicht oder nur selten
vorkämen, Vergewaltigung "eigentlich harmlos" sei, Frauen sich angeblich wünschten, vergewaltigt
zu werden, und schließlich, daß Frauen, die vergewaltigt werden, solche Behandlung aufgrund
eigenen Fehlverhaltens oder charakterlicher Minderwertigkeit verdient hätten. Die beiden
männerbezogenen Typen besagen, daß die meisten Vergewaltiger psychisch gestört seien und daß
Männer im allgemeinen ihr Sexualverhalten nicht steuern könnten. Es wurde gezeigt, daß derartige
Auffassungen in der Bevölkerung weit verbreitet sind und für die betroffenen Frauen nachteilige
Folgen im Sinne einer "sekundären Viktimisierung" haben. Für diejenigen Personen, die VM
bejahen, können diese Überzeugungen hingegen verschiedene motivationale und kognitive
Funktionen erfüllen.
Hierbei wurde zwischen allgemeinen und geschlechtsspezifischen Funktionen unterschieden.
Allgemein können VM dazu dienen, die Überzeugung aufrechtzuerhalten, daß wir in einer
"gerechten Welt" leben, in der niemand unschuldig Opfer von Gewalt wird (s. Lerner, 1980). Eine
geschlechtsspezifische Funktion der VM auf seiten der Frauen betrifft die Angstabwehr: Frauen,
die überzeugt sind, daß vergewaltigte Frauen durch Fehlverhalten zu ihrer Viktimisierung
beigetragen haben oder daß nur Frauen mit schlechtem Charakter in Gefahr sind, vergewaltigt zu
Schlußfolgerungen und Ausblick
173
werden, sollten ihre eigene Gefährdung geringer einschätzen und die Bedrohung für kontrollierbar
halten. Darüber hinaus können sie sich im sozialen Vergleich mit der angeblich distinkten Gruppe
der potentiellen Opfer positiv absetzen. Für Männer bieten VM die Möglichkeit, eventuelle
Schuldgefühle abzuwehren, die entstehen könnten durch die Identifikation — qua
Geschlechtszugehörigkeit — mit der Gruppe von Personen, die sexuelle Gewalt ausübt. Auch bei
Männern wird durch das Akzeptieren von VM ein positiver sozialer Vergleich ermöglicht, nämlich
mit der angeblich distinkten Gruppe der Männer, die vergewaltigen. Aber auch individuelle
Tendenzen von Männern, sexuelle Gewalt auszuüben (Malamuth, 1981), können mit Hilfe von VM
rationalisiert und "neutralisiert" werden (Sykes & Matza, 1957).
Neben den genannten motivationalen erfüllen Vergewaltigungsmythen auch kognitive
Funktionen. VM wurden als kognitive Schemata charakterisiert, die es einer Person erlauben, die
Informationsverarbeitung zu vereinfachen, indem sie von Einzelfallinformation abstrahiert, und auf
der Grundlage von Erwartungen über die in einer konkreten Situation gegebene Information
hinauszugehen (Bruner, 1957). Dabei wurde angenommen, daß VM verschiedene Schema-Typen
umfassen, die bei der Interpretation von Information ineinandergreifen, nämlich "scripts" (Schank
& Abelson, 1977), personenbezogene Stereotypen, Heuristiken über Kausalität und Verschulden
sowie evaluative Einstellungen.
Die am häufigsten eingesetzten Skalen zur Erfassung von VMA, die "Rape Myth Acceptance
Scale" (RMAS; Burt, 1980) und die "Attitudes Toward Rape Scale" (ATR; Feild, 1978) wurden
vorgestellt und diskutiert. Im dritten Kapitel nahm dann die Beschreibung der Entwicklung und
Validierung einer deutschsprachigen VMA-Skala breiten Raum ein. Bei dieser Skala, der VMAS,
handelt es sich um eine Weiterentwicklung eines Instruments von Costin und Schwarz (1987), das
seinerseits auf der ATR aufbaut. Skalenanalysen sowie korrelative Validierungsstudien zeigten, daß
die VMAS eine unidimensionale, intern konsistente Skala bildet, die es erlaubt, Überzeugungen
zum Themenbereich "Vergewaltigung" ökonomisch zu erfassen. Neben der 20-Item-Version der
VMAS wurde auch eine Kurzform aus zehn Items erprobt und vorgestellt.
Es zeigte sich, daß Männer Vergewaltigungsmythen wesentlich stärker bejahen als Frauen,
wenn auch in den meist studentischen Stichproben die Mittelwerte insgesamt im Bereich der
Ablehnung von VM lagen. Übereinstimmend mit den theoretisch zu erwartenden Zusammenhängen
fanden sich für männliche und weibliche Befragte positive Korrelationen der VMAS-Werte mit
konservativen Einstellungen zu Frauenrechten und dem Glauben an eine "gerechte Welt" sowie eine
negative Korrelation mit dem Vertrauen in andere Menschen. Mehrere Studien mit weiblichen
Probandinnen ergaben negative Korrelationen mit dem subjektiv angenommenen Risiko, Opfer
sexueller Gewalt zu werden, und mit der Bereitschaft, sich im Falle eines Angriffs gegen einen
Mann zu verteidigen. Bei Männern war die VMAS erwartungsgemäß positiv korreliert mit der
selbstberichteten Bereitschaft, sexuelle Gewalt auszuüben. Schließlich erwies sich die VMAS als
unkorreliert mit einer Tendenz, sozial erwünschte Antworten zu geben.
Die angenommene Schema-Funktion von VM wurde in mehreren Untersuchungen zur
174
Kapitel 9
Verantwortungszuschreibung in bezug auf konkret vorgegebene Vergewaltigungen bestätigt. Dabei
zeigte sich hypothesengemäß, daß höhere VMAS-Werte mit der Zuschreibung größerer
Verantwortung an die Frau und geringerer Verantwortung an den Täter einhergingen, und daß
dieser Zusammenhang ausgeprägter war, wenn die Fallinformation mythenkonsistent
interpretierbare Details enthielt.
Im vierten Kapitel wurde auf Zusammenhänge der VMA mit einem speziellen Aspekt der
Sprache eingegangen, durch den sich auf subtile Weise Verantwortungszuschreibungen ausdrücken
lassen, nämlich der Verwendung des grammatikalischen Passivs. Durch das Passiv, so die Annahme
verschiedener SprachforscherInnen, wird der Täter in den Hintergrund, das Opfer in den
Vordergrund des Diskurses gerückt, was eine analoge Verschiebung der Verantwortungsattribution
bewirken könne (z.B. Penelope, 1990; Weisgerber, 1963). In einem ersten Experiment zu dieser
Frage wurde Versuchspersonen die Aufgabe gestellt, eine Vergewaltigung zu beschreiben, deren
filmische Darstellung sie vorher in einer Videoaufnahme gesehen hatten. In Übereinstimmung mit
archivarischen Analysen aus dem englischsprachigen Raum (Henley et al., 1993; Lamb, 1991)
zeigte sich, daß die Versuchspersonen bei der Beschreibung der Handlungen des Täters bei der
Vergewaltigung im Vergleich zur Darstellung anderer Aspekte aus demselben Ereigniskontext
relativ häufiger Passivkonstruktionen benutzten. Erstmals konnte gezeigt werden, daß die Tendenz,
das Passiv, aber auch andere "distanzierende" Wendungen wie Nominalisierung und indirekte
Umschreibungen des Geschehens einzusetzen, mit der VMA der VerfasserInnen positiv und mit
der Verantwortungszuschreibung an den Täter negativ korreliert war — zumindest bei einem Fall,
der mythenkonsistente Details enthielt. Auch in einem zweiten Experiment, in dem den Vpn Texte
über Vergewaltigung vorlagen, tendierten Personen mit hoher (im Vergleich zu niedriger) VMA
stärker dazu, diesen Texten distanzierende, d.h. nominale oder umschreibende, Überschriften zu
geben. Es wäre im Licht dieser Befunde wünschenswert, diesen Forschungsansatz
weiterzuverfolgen, um ein nonreaktives Verfahren zur Erfassung interindividueller Unterschiede
in der Verantwortungszuschreibung im Bereich sexueller Gewalt zu entwickeln.
Die Kapitel 5 und 6 standen im Zeichen der Methode der Informationsaktivierung, eines
Verfahrens, das es erlaubt, kausale Wirkungen von Variablen zu identifizieren, die sich der direkten
experimentellen Manipulation entziehen (s. Schwarz & Strack, 1981). In Kapitel 5 wurde dieses
Verfahren vor dem Hintergrund der Neutralisationstheorie devianten Verhaltens (Sykes & Matza,
1957) erstmals zur Klärung der Kausalrichtung eingesetzt, die bei Männern dem Zusammenhang
der VMA mit der Bereitschaft, selbst sexuelle Gewalt gegen Frauen auszuüben, zugrundeliegen
könnte. Es zeigte sich in Übereinstimmung mit der Annahme einer auf zukünftiges Verhalten
wirkenden Neutralisationsfunktion der VMA (Burt, 1978), daß der positive Zusammenhang
zwischen VMA und der Bereitschaft zu vergewaltigen ausgeprägter war, wenn männliche
Versuchspersonen zunächst durch die Vorlage der VMAS dazu angehalten worden waren, über ihre
Einstellungen zu Vergewaltigung nachzudenken, und dann Fragen zu ihrer Verhaltensbereitschaft
beantworteten, als wenn die Beantwortung dieser beiden Fragenkomplexe in umgekehrter
Schlußfolgerungen und Ausblick
175
Reihenfolge vonstatten ging.
Dieser Befund könnte einen wichtigen Ansatzpunkt für die Prävention sexueller Gewalt bieten.
Wenn opferfeindliche Einstellungen, die sich in VM ausdrücken, kausal auf die
Verhaltensbereitschaft wirken, dann sollte es möglich sein, durch gezielte Interventionen, die eine
Änderung dieser Einstellungen bewirken, letztlich auch die Bereitschaft von Männern zu ändern,
sexuelle Gewalt auszuüben. Zur Evaluation des Einflusses verschiedenster
Interventionsmaßnahmen auf die Änderung der Akzeptanz von Vergewaltigungsmythen liegen
einige Studien vor. Eine von Flores und Hartlaub (1995) durchgeführte Metaanalyse solcher
Untersuchungen brachte den wenig überraschenden Befund, daß "Anti-Mythen-Interventionen",
die sich über mehrere Sitzungen erstrecken, wie etwa Seminare zur Sexualität des Menschen, im
Vergleich zu einmal stattfindenden Informationsveranstaltungen größere Wirkung bei der
Reduktion der VMA entfalten (Cohens d = 0.48 versus ca. 0.30). Bemerkenswert ist aber, daß schon
einmalige Interventionen wie halbstündige Informationsvideos offenbar durchaus positive Effekte
bewirken, wenn auch insgesamt bei den von Flores und Hartlaub analysierten Studien die Effekte
recht kurzlebig waren (das mittlere d lag bei 0.71 bei unmittelbarem Nachtest, bei 0.29 nach ein bis
drei Wochen und bei 0.11, ns, nach vier bis sechs Wochen; Flores & Hartlaub, 1995, S. 7). Bei den
in der Literatur vorfindbaren Interventionsstudien wurde jedoch meist ohne explizites theoretisches
Konzept vorgegangen. Nachdem die sozialpsychologische Forschung über persuasive
Kommunikation in den letzten Jahren große Fortschritte darin gemacht hat, die Bedingungen
dauerhafter Einstellungsänderungen zu identifizieren (zum Überblick s. Eagly & Chaiken, 1993),
könnte eine Ausrichtung von Interventionen an diesen Erkenntnissen sicher zu noch tragfähigeren
Ergebnissen führen.
Im sechsten Kapitel wurde wiederum die Methode der Informationsaktivierung eingesetzt,
diesmal aber mit dem Ziel, die zentrale Frage nach dem Einfluß der gesellschaftlichen Realität
sexueller Gewalt auf den Selbstwert und die Befindlichkeit von Frauen und Männern zu
untersuchen. Diese Arbeiten schlossen sich an erste Evidenz aus einem Experiment von Schwarz
und Brand (1983) an, die zeigten, daß Frauen, für die durch das Lesen eines Textes über eine
Vergewaltigung die Thematik sexueller Gewalt salient war, in ihrem Selbstwert und ihrer
Befindlichkeit beeinträchtigt wurden. In zwei Folgeexperimenten konnte gezeigt werden, daß dieser
Effekt spezifisch für Vergewaltigung (im Vergleich zu einem nichtsexuellen Gewaltdelikt mit
einem männlichen Opfer) auftritt, und nur bei Frauen, nicht aber bei Männern nachzuweisen ist.
Darüber hinaus erwies sich die Vergewaltigungsmythenakzeptanz der Versuchspersonen als
bedeutsame Moderatorvariable in bezug auf die Effekte auf den Selbstwert: Der negative Effekt
zeigte sich ausschließlich bei Frauen mit niedriger VMA, während Frauen mit hoher VMA gegen
ihn "immun" zu sein scheinen. Männern mit hoher VMA berichteten höhere Selbstwertschätzung,
wenn sie über eine Vergewaltigung gelesen hatten, während Männer mit niedriger VMA eher
unbeeinflußt blieben.
Auf der Grundlage dieser Befunde sowie der theoretischen Überlegungen und der Erkenntnisse
176
Kapitel 9
aus korrelativen Studien zur Funktion von Vergewaltigungsmythen wurde in Kapitel 7 ein Modell
formuliert, das die Verarbeitung von Information über Vergewaltigung als Funktion der VMA und
des Geschlechts betrachtet. Dieses Modell verbindet Annahmen aus dem Inklusions-ExklusionsModell der sozialen Urteilsbildung (Schwarz & Bless, 1992 a) mit Überlegungen der Theorie der
Selbstkategorisierung (Turner et al., 1987). Die zentralen Annahmen besagen, daß mit
unterschiedlichen Ausprägungen der VMA Unterschiede einhergehen in (a) den kognitiven
Repräsentationen sowie der subjektiven Bewertung der Konzepte "potentielle
Vergewaltigungsopfer" und "potentielle Vergewaltiger" und (b) der Tendenz, sich selbst auf der
Grundlage des Geschlechts zu kategorisieren.
Für Frauen mit niedriger VMA wurde angenommen, daß die größere Überschneidung der
Repräsentationen von "Opfern" und "Frauen" im Zusammenspiel mit einer hohen chronischen
Zugänglichkeit der sozialen Identität "Frau" eher zu einem Einschluß des Aspektes der Bedrohung
durch sexuelle Gewalt in das "working self-concept" (Markus & Kunda, 1986) führt und den
Selbstwert negativ beeinflußt. Für Frauen mit hoher VMA wurde hingegen vorhergesagt, daß deren
Repräsentation "potentieller Opfer" als eher distinkte Kategorie zusammen mit geringerer
chronischer Zugänglichkeit der sozialen Identität "Frau" dazu führt, daß der Aspekt der Bedrohung
aus dem aktuellen Selbstkonzept exkludiert und möglicherweise in eine negativ bewertete
Vergleichskategorie "potentielle Opfer" eingeschlossen wird. Entsprechend sollten Einflüsse auf
den Selbstwert ausbleiben oder sogar positive Effekte auftreten.
Für Männer mit niedriger VMA wurden zwei gegenläufige Effekte vorhergesagt, nämlich zum
einen qua Geschlechtszugehörigkeit die Nicht-Inklusion der negativen Information über die
Bedrohung von Frauen in das temporäre Selbst und Inklusion derselben Information in eine
Vergleichskategorie "Frauen" (was zu positiven Kontrasteffekten im Selbstwert beitragen sollte),
zum anderen die Inklusion der negativen Information über die Täterschaft von Männern in das
temporäre soziale Selbst (was zu negativen Assimilationseffekten führen sollte). Insgesamt sollten
bei Männern mit niedriger VMA somit nach der Konfrontation mit sexueller Gewalt nur
geringfügige Änderungen im Selbstwert auftreten. Für Männer mit hoher VMA wurde insgesamt
ein positiver Kontrasteffekt vorhergesagt, der ebenfalls durch Nicht-Inklusion des
Bedrohungsaspekts in das temporäre Selbst und die Inklusion dieses Aspekts in einen
Vergleichsstandard "Frauen" bedingt sein sollte; zusätzlich sollten Männer mit hoher VMA den
Täter eher einer devianten, negativ bewerteten Vergleichsgruppe zuordnen. Beide Einflüsse würden
in diesem Fall gleichsinnig zu einem positiven Vergleichseffekt beitragen.
In Kapitel 8 wurden Arbeiten vorgestellt, mit denen die in diesem Modell angenommenen
Zusammenhänge zwischen der VMA und Prozessen der Kategorisierung von Opfern und Tätern
sowie der eigenen Person überprüft wurden. In Übereinstimmung mit den Hypothesen des Modells
beurteilten in drei "Ähnlichkeits-Experimenten" weibliche Vpn die Ähnlichkeit zwischen
"potentiellen Vergewaltigungsopfern" und "Frauen im allgemeinen" als umso größer, je niedriger
ihre VMA ausgeprägt war. Ein analoger, aber schwächerer Effekt zeigte sich für die
Schlußfolgerungen und Ausblick
177
wahrgenommene Ähnlichkeit der Konzepte "potentielle Vergewaltiger" und "Männer im
allgemeinen". Bei männlichen Vpn war der Zusammenhang zwischen der VMA und den
Ähnlichkeitsurteilen nicht, wie angenommen, schwächer, sondern kehrte sich für den Vergleich von
"Opfern" und "Frauen" tendenziell um. Möglicherweise impliziert hohe VMA bei Männern eine
so starke Abwertung von Frauen insgesamt, daß diese Männer wenig motiviert sind, überhaupt bei
Urteilen über Frauen zwischen verschiedenen Subtypen zu differenzieren.
Die offene Erhebung von Merkmalslisten zu den Konzepten "Frauen im allgemeinen",
"potentielle Vergewaltigungsopfer", "Männer im allgemeinen" und "potentielle Vergewaltiger"
brachte zusätzliche Erkenntnisse zur inhaltlichen Validität der VMA. Jedoch konnte nicht
nachgewiesen werden, daß die Unterschiede in diesen Inhalten den Effekt der VMA auf die direkten
Ähnlichkeitsurteile vermitteln. Letzteres mag auf den eingesetzten Versuchsplan zurückzuführen
sein, bei dem die verschiedenen Konzepte "innerhalb Vpn" verglichen wurden, was auch bei
Personen mit niedriger VMA dazu geführt haben mag, Unterschiede etwa zwiscehn "Frauen" und
"potentiellen Opfern" zu betonen. Hier erscheinen weitere Untersuchungen angezeigt, in denen die
Merkmalserhebungen "zwischen Vpn" variiert werden sollten.
Zusätzlich zu den vorhergesagten Unterschieden in Abhängigkeit von der VMA wurden die
Ähnlichkeitssurteile von einer Variation in der Fragerichtung beeinflußt (s. Tversky, 1977; Wänke,
1993). Personen, die "potentielle Opfer" mit "Frauen" (bzw. "potentielle Vergewaltiger" mit
"Männern") verglichen, beurteilten die Ähnlichkeit der zu vergleichenden Konzepte als deutlich
höher im Vergleich zu Personen, die "Frauen" mit "potentiellen Opfern" (bzw. "Männer" mit
"potentiellen Vergewaltigern") verglichen. Auch dieser Einfluß war stärker für weibliche Befragte
als für männliche Befragte. Zum Einsatz solcher Reihenfolgevariation als methodisches Instrument
in möglichen Folgestudien wird in Abschnitt 9.2 noch mehr zu sagen sein.
Eine weitere Untersuchung bezog sich auf die Hypothesen, daß Frauen mit niedriger VMA sich
eher auf der Grundlage ihrer Geschlechtszugehörigkeit selbst kategorisieren, ihre
Geschlechtszugehörigkeit positiver bewerten und dieser sozialen Kategorie innerhalb ihres
Selbstkonzepts größere Bedeutung beimessen als Frauen mit hoher VMA. Um diese
Zusammenhänge zu erforschen, wurde auf der Grundlage einer englischsprachigen Skala (Luhtanen
& Crocker, 1992) eine Skala des "kollektiven Selbstwerts in bezug auf das eigene Geschlecht"
(KSW-G) entwickelt, und deren Subskalen "Bewertung der Zugehörigkeit", "private Bewertung der
Gruppe", "öffentliche Bewertung der Gruppe" und "Bedeutung für die Identität" mit den Werten
der VMAS korreliert. Bei Frauen zeigte sich ein signifikant negativer Zusammenhang zwischen der
VMA und der Bewertung der Zugehörigkeit zur Gruppe der Frauen; entsprechende negative
Korrelationen mit der privaten Bewertung dieser Gruppe und deren wahrgenommener Bedeutung
für die eigene Identität waren nicht signifikant. Die Bewertung der eigenen Geschlechtsgruppe
durch andere wurde hingegen von Frauen umso negativer beurteilt, je niedriger ihre VMA war. Bei
Männern zeigten sich erwartungsgemäß durchgängig positive Zusammenhänge zwischen der VMA
und den Werten der Subskalen der KSW-G.
178
Kapitel 9
Für die weitere Forschung erscheint an diesen Daten besonders der Aspekt interessant, daß bei
Frauen mit geringer VMA eine starke Ambivalenz der sozialen Identität als Frau insofern besteht,
als mit einer positiven Einschätzung der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe, der Gruppe selbst und
deren Bedeutsamkeit für das eigene Selbstkonzept eine negative Sicht der Bewertung der eigenen
Gruppe durch andere einhergeht. Parallele Befunde berichten Crocker und MitarbeiterInnen (1994)
in bezug auf den kollektiven Selbstwert ethnischer Minderheiten in den Vereinigten Staaten von
Amerika. Es dürfte lohnend sein, die kognitiven Folgen dieser Einstellungs-Ambivalenz näher zu
untersuchen. Einige Arbeiten zur Ambivalenz von Einstellungen legen nahe, daß ambivalente
Einstellungen eher instabil und stärker kontextabhängig sind (z.B. Bargh, Chaiken, Govender &
Pratto, 1992). Dieser Befund scheint mit der hier berichteten stärkeren "Anfälligkeit" der
Selbstwerturteile von Frauen mit niedriger (versus hoher) VMA gegenüber negativen Einflüssen
der Salienz sexueller Gewalt kompatibel. Der Grad der Ambivalenz selbstbezogener Einstellungen
käme also als weitere relevante Variable in Frage, die in das in Kapitel 7 berichtete Modell
integriert werden könnte. Andererseits belegen neuere Arbeiten von Jonas und MitarbeiterInnen,
daß bei ambivalenten Einstellungen eine größere Einstellungs-Verhaltens-Konsistenz bestehen kann
als bei Einstellungen, die geringe Ambivalenz aufweisen (Jonas, Diehl, Brömer & Weber, 1996;
vgl. aber Eagly & Chaiken, 1993, Chapter 3). Dies wird damit begründet, daß Ambivalenz zu einer
intensiveren kognitiven Auseinandersetzung mit dem Einstellungsgegenstand anregt. Auch diese
Überlegungen könnten in bezug auf die Einstellung zur eigenen Geschlechtsgruppe weiterverfolgt
werden. Demnach sollten Frauen mit niedriger VMA, vermittelt durch ihre größere Ambivalenz in
bezug auf die soziale Identität "Frau", häufiger und intensiver über diese soziale Kategorie
nachdenken; letzteres könnte eine wichtige Voraussetzungen für Handeln in Richtung auf eine
Veränderung der Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern darstellen.
In dem letzten in Kapitel 8 berichteten Experiment wurde schließlich eine noch allgemeinere
Hypothese zu dem bei Frauen vermuteten Zusammenhang zwischen der VMA und der chronischen
Zugänglichkeit der sozialen Kategorie "Geschlecht" überprüft. Weibliche Versuchspersonen sollten
Paare von männlichen und weiblichen oder zwei weiblichen Zielpersonen hinsichtlich ihrer
Ähnlichkeit beurteilen. Dabei zeigte sich hypothesengemäß, daß die Urteile der Teilnehmerinnen
mit niedriger VMA wesentlich stärker vom Geschlecht der Zielpersonen beeinflußt wurden als die
der Teilnehmerinnen mit hoher VMA. Dieser Effekt war unabhängig davon, ob durch die vorherige
Lektüre eines Textes das Thema sexuelle Gewalt salient gemacht worden war oder nicht.
Zu einer vierten Hypothese, die aus dem in Kapitel 7 vorgestellten Modell abgeleitet wurde,
liegen noch keine Untersuchungen vor. Diese Hypothese besagt, daß die angenommene
Moderatorwirkung der VMA hinsichtlich des Einflusses von Information über Vergewaltigung auf
den Selbstwert von Frauen "kurzgeschlossen" werden kann, indem man die theoretisch relevanten
Prozesse der Selbstkategorisierung direkt experimentell beeinflußt. Im folgenden Abschnitt dieser
Arbeit wird daher ein kurzer Ausblick auf geplante zukünftige Studien gegeben, in denen diese
Annahme überprüft werden soll.
Schlußfolgerungen und Ausblick
179
9.2 Ausblick auf zukünftige Studien
Die bisherigen Befunde brachten eine weitgehende Unterstützung der Annahmen über
Kategorisierungsprozesse, die in dem Urteilsmodell in Kapitel 7 vorgestellt wurden. Ein
umfassender Test dieser Prozeßannahmen im Zusammenhang mit den Einflüssen der Salienz
sexueller Gewalt steht aber noch aus. Die am Ende des Kapitels 7 als Hypothese 4 vorgestellte
Überlegung, daß die angenommenen chronischen, VMA-abhängigen Unterschiede in InklusionsExklusions-Prozessen durch starke situative Einflüsse überschrieben werden können (s.a. Bohner
& Schwarz, 1996), verweist auf verschiedene Möglichkeiten, indirekte Evidenz für die
angenommenen Prozesse zu erhalten.
Insbesondere sollte es möglich sein, bei Frauen mit hoher VMA den angenommenen
Exklusionsprozeß bei der Konfrontation mit der Bedrohung durch Vergewaltigung durch situative
Variationen zu verstärken oder abzuschwächen. So sollte die Exklusion des Bedrohungsaspekts aus
dem temporären sozialen Selbst erschwert werden, wenn in einer Situation Ähnlichkeiten i.w.S.
zwischen einer von sexueller Gewalt betroffenen Frau und der urteilenden Person betont werden;
die Exklusion sollte jedoch erleichtert werden, wenn aufgrund situativer Einflüsse Unterschiede
i.w.S. im Fokus der Aufmerksamkeit stehen. Im folgenden werden vier Möglichkeiten skizziert,
durch experimentelle Variationen Ähnlichkeiten versus Unterschiede zu betonen, nämlich die
Variation der Kategorisierung des Opfers, die Variation der Vergleichsrichtung,
Selbstkategorisierungs-Aufgaben sowie Empathie-Instruktionen.
9.2.1 Variation der Kategorisierung des Opfers, Variation der Vergleichsrichtung
Ein Versuch der direkten Variation der Ähnlichkeit zwischen Opfer und Versuchsperson war
in der Diplomarbeit von Sabine Sturm (1994) erfolgt. In dieser Arbeit wurden analog dem
Versuchsplan bei Bohner et al. (1993; s. Kapitel 6) deutsche Berufsschülerinnen mit einem Text
über eine Vergewaltigung oder mit einem neutralen Text konfrontiert. Die wesentliche Neuerung
bestand darin, durch eine direkte Variation der Ähnlichkeit des Opfers der geschilderten
Vergewaltigung mit der Vp (hohe versus niedrige Ähnlichkeit) die in Kapitel 7 skizzierten
Kategorisierungsprozesse zu erleichtern bzw. zu erschweren. Für Frauen mit hoher
Mythenakzeptanz wurde erwartet, daß größere Ähnlichkeit die angenommene Kontrastierung zu
dem Opfer der Vergewaltigung erschwert und die Identifikation begünstigt, was sich u.a. in
geringerem Selbstwert und größerer wahrgenommener Vulnerabilität hinsichtlich Vergewaltigung
zeigen sollte. Dagegen sollte sich die Variation der wahrgenommenen Ähnlichkeit des
Vergewaltigungsopfers auf Frauen mit niedriger Mythenakzeptanz nicht signifikant auswirken, da
diese Personengruppe generell (d.h. auch bei geringer Ähnlichkeit auf der persönlichen Ebene) eher
eine Inklusion des potentiellen Opferstatus in ihr temporäres Selbstkonzept vornehmen sollte.
Leider erwies sich die Operationalisierung der Ähnlichkeit als problematisch. Geringe
Ähnlichkeit wurde durch die Beschreibung einer Frau hergestellt, die etwa zehn Jahre älter war als
die Vpn, allein lebte und im Berufsleben stand; hohe Ähnlichkeit durch die Beschreibung einer mit
180
Kapitel 9
den Vpn etwa gleichaltrigen Frau in der Berufsausbildung, die (wie die meisten Vpn) bei ihren
Eltern wohnte. Die Beschreibung einer dieser Frauen wurde auch in Kontrollbedingungen (ohne
irgendeinen Hinweis auf Vergewaltigung) vorgelegt. Es zeigte sich unabhängig von der
Informationsaktivierung, daß Frauen, die die Beschreibung der ähnlichen Zielperson gelesen
hatten, höheren Selbstwert berichteten als Frauen, die mit der unähnlichen Zielperson konfrontiert
worden waren. Weitere Effekte der experimentellen Faktoren blieben aus. Ich führe dieses
unerwartete Ergebnis darauf zurück, daß die unähnliche Zielperson für die Vpn eine Art
Vorbildcharakter hatte (älter, selbständiger, bereits vom Elternhaus abgelöst) und bei der
Selbstbeurteilung als positiver Vergleichsanker diente. Dadurch wurde ein potentieller Einfluß der
Salienz von Vergewaltigung überdeckt.
Ein anderes Problem mit direkten Variationen der Ähnlichkeit besteht darin, daß durch die
Vorgabe verschiedener Personen als Vergewaltigungsopfer neben der Ähnlichkeit zu den Vpn
auch immer weitere Aspekte zwischen den Versuchsbedingungen variieren. Um diese
Konfundierung zu umgehen, erscheint es daher sinnvoller, allen Vpn dieselbe Beschreibung des
Opfers vorzulegen und die vermuteten Inklusions-Exklusions-Prozesse direkt experimentell zu
beeinflussen.
In einem geplanten Experiment sollen weibliche Vpn nach Zufall einer von zwei Bedingungen
zugewiesen werden. In beiden Versuchsbedingungen lesen die Vpn die Beschreibung einer
weiblichen Zielperson, über die verschiedene Informationen gegeben werden, z.B. über Alter,
Beruf, Wohnort, Freizeitbeschäftigungen usw.. Je nach Versuchsbedingung werden durch
anschließende Fragen über die Zielperson entweder Unterschiede oder Gemeinsamkeiten zwischen
Zielperson und Versuchsperson hervorgehoben. Zum Beispiel könnte bei Vpn aus dem
Mannheimer Raum als Wohnort der Zielperson Karlsruhe genannt werden. Dann wird entweder
nach der Stadt oder nach dem Bundesland gefragt, in dem die Zielperson lebt. Im ersten Fall betont
die Antwort auf diese Frage einen Unterschied zwischen Zielperson und Vp, im zweiten Fall eine
Gemeinsamkeit. Der Vorteil eines solchen Vorgehens besteht darin, daß identische
Personenbeschreibungen vorgelegt werden können, wodurch eine Konfundierung von Effekten, die
durch den Prozeß der Kategorisierung zustandekommen, und Einflüssen objektiver Merkmale der
Zielperson vermeiden wird.
Als zentrale abhängige Variable wird die subjektive Wahrscheinlichkeit erfaßt, mit der die
Zielperson Opfer einer Vergewaltigung werden könnte. Weitere Fragen über wahrgenommene
Ähnlichkeit zur eigenen Person und Sympathie dienen zur Überprüfung der Wirksamkeit der
Kategorisierungsannahme. Um die Frage nach einer möglichen Vergewaltigung nicht zu
augenfällig zu machen, sollen weitere Wahrscheinlichkeitsfragen gestellt werden (z.B.
Wahrscheinlichkeit, einen Verkehrsunfall zu haben, das Studium erfolgreich abzuschließen etc.).
Am Ende des Experiments füllen die Vpn die VMA-Skala aus (s. Kapitel 3).
Nach dem Urteilsmodell aus Kapitel 7 ergeben sich folgende Hypothesen:
1. Frauen mit hoher VMA schätzen nach Fragen, die Unterschiede zwischen der Zielperson
Schlußfolgerungen und Ausblick
181
und ihnen selbst betonen, die subjektive Wahrscheinlichkeit, daß die Zielperson
vergewaltigt wird, höher ein als nach Fragen, die Gemeinsamkeiten zwischen der
Zielperson und ihnen selbst betonen.
2. Bei Frauen mit niedriger VMA ist die Schätzung der Wahrscheinlichkeit, daß die
Zielperson vergewaltigt wird, von der Art der Fragen über die Zielperson unabhängig.
Statistisch wird also eine spezifische Interaktion von VMA und der Fragevariation
vorhergesagt. Der Versuchsplan erlaubt die Vorgabe mehrerer Zielpersonen und eine Variation der
Kategorisierungsfragen "innerhalb Vpn". Dadurch können die Hypothesen mit hoher Teststärke
überprüft werden. (Explorativ kann zusätzlich zu den genannten abhängigen Variablen die
subjektive Wahrscheinlichkeit, selbst Opfer einer Vergewaltigung zu werden, und eine Schätzung
der Häufigkeit von Vergewaltigungen — z.B. in Baden-Württemberg in einem gegebenen Jahr —
erhoben werden.)
Eine Bestätigung der Hypothesen brächte einen direkten Beleg für die Annahme, daß
Kategorisierungsprozesse im Zusammenspiel mit der überdauernden VMA bei Urteilen über die
Wahrscheinlichkeit einer Vergewaltigung eine wichtige Rolle spielen. Das vorhergesagte
Datenmuster würde nahelegen, daß bei hoher VMA allein die subjektive Ähnlichkeit
(Unterschiedlichkeit) einer anderen Frau mit der eigenen Person die Wahrnehmung dieser Frau als
potentielles Vergewaltigungsopfer erschwert (erleichtert).
In einem Nachfolgeexperiment sollen dann Urteile über die eigene Person im Vordergrund
stehen. Weibliche Vpn werden nach Zufall einer der drei folgenden Gruppen zugewiesen:
Kontrollbedingung; Vergewaltigung salient + Exklusion erschwert; Vergewaltigung salient +
Exklusion erleichtert. In der Kontrollbedingung lesen die Vpn wie in früheren Studien (Bohner et
al., 1993; s. Kapitel 6) einen neutralen Text ohne Gewaltthematik. In den beiden "Vergewaltigung
salient"-Bedingungen lesen die Vpn die Beschreibung einer Vergewaltigung; in beiden Fällen wird
vorher Information über die Person gegeben, die in dem späteren Text als das Opfer der
Vergewaltigung identifiziert wird. Analog zum Vorgehen in dem oben skizzierten Experiment
werden Fragen über diese Person gestellt, durch deren Beantwortung entweder Ähnlichkeiten oder
Unterschiede zwischen der Zielperson und der Versuchsperson hervorgehoben werden. Dadurch
soll die mentale Exklusion der Bedrohung durch Vergewaltigung aus dem temporären
Selbstkonzept erschwert (bei Ähnlichkeit) bzw. erleichtert werden (bei Unähnlichkeit).
Als zentrale abhängige Variablen werden in Anlehnung an Bohner et al. (1993) und Sturm
(1994) Urteile über den Selbstwert, die emotionale Befindlichkeit und die Wahrscheinlichkeit der
eigenen Viktimisierung erfaßt. Abschließend füllen die Vpn wiederum die VMA-Skala aus.
Folgende Hypothesen lassen sich formulieren:
1. Frauen mit niedriger VMA berichten geringeren Selbstwert und negativere Befindlichkeit,
wenn sie einen Text über Vergewaltigung gelesen haben, als wenn sie einen neutralen Text
gelesen haben.
2. Die Art der Fragen über die Zielperson haben auf Frauen mit niedriger VMA keinen
182
Kapitel 9
Einfluß.
3. Frauen mit hoher VMA berichten geringeren Selbstwert und negativere Befindlichkeit,
wenn sie einen Text über Vergewaltigung gelesen haben und durch die Art der Fragen
Ähnlichkeiten zwischen dem Opfer und ihnen selbst betont wurden, als wenn sie einen
neutralen Text gelesen haben oder einen Text über Vergewaltigung und durch die Art der
Fragen Unterschiede zwischen dem Opfer und ihnen selbst betont wurden.
Das vorhergesagte Ergebnismuster für Selbstwert und emotionale Befindlichkeit wird in Tabelle
9.1 veranschaulicht.
Tabelle 9.1 Vorhergesagtes Ergebnismuster für Selbstwert und emotionale Befindlichkeit in
Abhängigkeit von der VMA, der Textbedingung und den Vorlauffragen über eine
Zielperson, die später als Opfer identifiziert wird
Text- und Fragebedingung
neutraler Text
Vergewaltigung +
Ähnlichkeiten
betont
Vergewaltigung +
Unterschiede
betont
niedrig
hoch
niedrig
niedrig
hoch
hoch
niedrig
hoch
VMA
Insgesamt wird also erwartet, daß in den Vergleichen zwischen neutralem Text und
"Vergewaltigung + Unterschiede" das in Kapitel 6 beschriebene Befundmuster aus Bohner et al.
(1993) repliziert, daß aber in der Bedingung "Vergewaltigung + Ähnlichkeiten" die beobachteten
Unterschiede zwischen Frauen mit hoher und niedriger VMA verschwinden. Die Vorhersagen für
die subjektive Wahrscheinlichkeit der eigenen Viktimisierung sind ähnlich; allerdings wird
zusätzlich zum oben dargestellten Interaktionsmuster erwartet, daß schon in der Kontrollbedingung
Frauen mit hoher VMA niedrigere Schätzungen abgeben als Frauen mit niedriger VMA (Sturm,
1994; Tabone et al., 1992; s. Abschnitt 3.3.1.5). Dieser Unterschied sollte in der Bedingung
"Vergewaltigung + Ähnlichkeiten" abgeschwächt sein.
Analog zum soeben beschriebenen Versuchsplan könnte ein Experiment realisiert werden, das
sich die in Kapitel 8 berichteten starken Effekte der Vergleichsrichtung zunutze macht. Es hat sich
gezeigt, daß weibliche Vpn, die "potentielle Vergewaltigungsopfer" mit "Frauen im allgemeinen"
vergleichen, höhere Ähnlichkeitsurteile abgeben als Vpn, die "Frauen im allgemeinen" mit
"potentiellen Vergewaltigungsopfern" vergleichen. Es wäre interessant, statt der Vorlauffragen über
die Frau, die später als Vergewaltigungsopfer identifiziert wird, vorab Ähnlichkeitsfragen über
"Frauen" und "potentielle Opfer" zu stellen. Auch deren Einfluß auf die temporären
Repräsentationen der Vpn könnte zur Betonung von Ähnlichkeiten zwischen allen Frauen (in der
Bedingung "Opfer" -> "Frauen") oder zur Betonung der Existenz unterscheidbarer Subtypen von
Frauen (in der Bedingung "Frauen" -> "Opfer") führen und Einflüsse der temporären Salienz von
Schlußfolgerungen und Ausblick
183
Vergewaltigung auf den Selbstwert in vergleichbarer Weise moderieren wie in Tabelle 9.1
angedeutet.
9.2.2 Selbstkategorisierungs-Aufgaben
Auch der angenommene Einfluß der Selbstkategorisierung auf die Verarbeitung von
Information über sexuelle Gewalt soll in einem geplanten Experiment direkt überprüft werden.
Dabei kann auf eine bereits durchgeführte Voruntersuchung zurückgegriffen werden, in der es
gelang, die Ebene der Selbstkategorisierung experimentell zu variieren (s.a. Simon et al., 1995). Die
Teilnehmerinnen wurden entweder aufgefordert, sich selbst als "einzigartige Person" (individuelle
Selbstkategorisierung) oder aber als "Frau" im Vergleich zu Männern zu beschreiben (soziale
Selbstkategorisierung). Die Wirksamkeit dieser experimentellen Manipulation erwies sich u.a.
darin, daß die individuelle Selbstbeschreibung zu geringerer wahrgenommener Ähnlichkeit
zwischen der eigenen Person und Frauen im allgemeinen führte, während die Selbstbeschreibung
"als Frau" zu größerer wahrgenommener Ähnlichkeit zwischen der eigenen Person und Frauen im
allgemeinen führte. Darüber hinaus schätzten Frauen, die sich sozial kategorisierten, die
Ähnlichkeit zwischen der eigenen Person und dem Opfer einer beschriebenen Vergewaltigung
signifikant größer ein als die Teilnehmerinnen, die sich individuell kategorisierten.
In einem geplanten Folgeexperiment soll eine spezifische Wechselwirkung von
Selbstkategorisierung und Ausprägung der VMA hinsichtlich der Verarbeitung von
Vergewaltigungsinformation überprüft werden. Während die Art der induzierten
Selbstkategorisierung bei Frauen mit niedriger VMA den Einfluß der Salienz von Vergewaltigung
nicht moderieren sollte, da diese Frauen sich nach dem vorgestellten Urteilsmodell chronisch eher
auf der Ebene des Geschlechts kategorisieren sollten, ist bei Frauen mit hoher VMA eine
Moderatorwirkung zu erwarten: Die experimentelle Aktivierung der sozialen Selbstkategorisierung
als Frau führt dazu, daß die zwischengeschlechtliche Intergruppenebene kognitiv zugänglich und
für die Verarbeitung der Vergewaltigungsinformationen genutzt wird. In dieser Bedingung sollten
sich also auch bei hoher VMA negative Auswirkungen von Vergewaltigungsinformationen auf den
Selbstwert von Frauen zeigen, was bislang nur bei niedriger VMA zu beobachten war.
In dem Experiment werden weibliche Vpn aufgefordert, sich — wie in der oben beschriebenen
Voruntersuchung — entweder sozial oder individuell zu kategorisieren (s.o.). Anschließend
beschäftigt sich die eine Hälfte der Teilnehmerinnen mit einem Vergewaltigungstext, die andere
Hälfte erhält einen neutralen Text ohne Gewaltproblematik. Nach der Erhebung der abhängigen
Variablen füllen die Teilnehmerinnen abschließend die deutsche VMA-Skala aus.
Es resultiert ein 2x2x2-faktorieller Versuchsplan mit den Faktoren Selbstkategorisierung
(individuell versus sozial), Informationsaktivierung (Vergewaltigung salient versus nicht salient)
und VMA (niedrig versus hoch). Als zentrale abhängige Variablen werden in Anlehnung an Bohner
et al. (1993) sowie Sturm (1994) Urteile über den Selbstwert, die emotionale Befindlichkeit und die
subjektive Wahrscheinlichkeit der eigenen Viktimisierung erfaßt.
184
Kapitel 9
Folgende Hypothesen werden formuliert:
1. Frauen mit niedriger VMA berichten geringeren Selbstwert und negativere Befindlichkeit,
wenn sie einen Text über Vergewaltigung gelesen haben, als wenn sie einen neutralen Text
gelesen haben.
2. Die Art der vorausgegangenen Selbstkategorisierung hat auf Frauen mit niedriger VMA
keinen Einfluß.
3. Frauen mit hoher VMA berichten geringeren Selbstwert und negativere Befindlichkeit,
wenn sie einen Text über Vergewaltigung gelesen haben und vorher über sich selbst als
Mitglied der Gruppe der Frauen nachgedacht haben (soziale Selbstkategorisierung) als
wenn sie einen neutralen Text gelesen haben oder vorher über sich selbst als einzigartiges
Individuum nachgedacht haben (individuelle Selbstkategorisierung).
Das vorhergesagte Ergebnismuster zeigt Tabelle 9.2.
Tabelle 9.2 Vorhergesagtes Ergebnismuster für Selbstwert und emotionale Befindlichkeit in
Abhängigkeit von der VMA, der Textbedingung und der Selbstkategorisierung
Textbedingung
neutral
Selbstkategorisier
ung
VMA
Vergewaltigung
individuell
sozial
individuell
sozial
niedrig
hoch
hoch
niedrig
niedrig
hoch
hoch
hoch
hoch
niedrig
Es wird also erwartet, daß unter Bedingungen individueller Selbstkategorisierung das
Befundmuster aus Bohner et al. (1993; s. Kapitel 6) repliziert, daß aber unter Bedingungen sozialer
Selbstkategorisierung die beobachteten Unterschiede zwischen Frauen mit hoher und niedriger
VMA verschwinden. Die Vorhersagen für die subjektive Wahrscheinlichkeit der eigenen
Viktimisierung sind ähnlich; allerdings wird zusätzlich zum oben dargestellten Interaktionsmuster
erwartet, daß schon in der Kontrollbedingung Frauen mit hoher VMA niedrigere Schätzungen
abgeben als Frauen mit niedriger VMA (Sturm, 1994; Tabone et al., 1992). Dieser Unterschied
sollte in der Bedingung "Vergewaltigung + soziale Selbstkategorisierung" abgeschwächt sein.
Möglich wäre aber auch, daß schon allein die soziale Selbstkategorisierung, auch ohne Salienz
sexueller Gewalt, bei Frauen mit hoher VMA zu einer erhöhten Risikowahrnehmung führt.
Letzteres wäre ein starker Beleg für die zentrale Rolle der Selbstkategorisierung in der sozialen
Urteilsbildung (s. Turner et al., 1987).
9.2.3 Empathie-Instruktion
Eine Folge der bei Frauen mit hoher VMA angenommenen Exklusion des Bedrohungsaspekts
Schlußfolgerungen und Ausblick
185
aus dem temporären Selbstkonzept ist deren geringere Bereitschaft, sich im Falle eines Angriffs
gegen einen Mann zur Wehr zu setzen (s. Abschnitt 3.3.1.6). Verschiedene Strategien der
Selbstbehauptung und der Selbstverteidigung haben sich jedoch als für Frauen durchaus machbar
und effektiv erwiesen (Bart, 1981; Bart & O'Brian, 1985). Obwohl also hohe VMA Frauen eine
Illusion der Kontrolle über die Bedrohung durch sexuelle Gewalt vermittelt, könnte die mit ihr
einhergehende geringere Bereitschaft, sich aktiv zu wehren oder auch nur mit erfolgversprechenden
Strategien vertraut zu machen, objektiv dazu beitragen, das Viktimisierungsrisiko dieser Frauen zu
erhöhen. Auch unter dem Gesichtspunkt der Prävention sexueller Gewalt ist es also durchaus
wünschenswert, Interventionen zu erproben, die — wie die unter 9.2.1 und 9.2.2 dargestellten
experimentellen Variationen — die angenommenen Exklusionsprozesse unterbinden.
Eine Strategie, die vielleicht etwas weniger klare Prozeßanalysen ermöglicht als die bisher
vorgestellten, aber möglicherweise stärkere Effekte bewirkt, ist die Induktion von Empathie. Es
wäre sinnvoll zu prüfen, wie sich experimentell induzierte Empathie mit einer vergewaltigten Frau
auf die subjektive Risikoeinschätzung und die Bereitschaft weiblicher Versuchspersonen auswirkt,
Strategien der Gegenwehr zu erlernen und einzusetzen. Untersuchungen zur Beurteilung von
Opfern außerhalb des Kontextes sexueller Gewalt legen nahe, daß die Übernahme der Perspektive
des Opfers verhindern kann, daß das Opfer abgewertet wird, was sonst häufig zu beobachten ist.
Dabei wird angenommen, daß die Wahrnehmung eines "gemeinsamen Schicksals" für diesen Effekt
verantwortlich ist (z. Überblick s. Lerner, 1980).
In einem geplanten Experiment lesen weibliche Vpn die Schilderung einer Vergewaltigung
unter Instruktionen, die entweder hohe Empathie (die Perspektive des Opfers einzunehmen) oder
geringe Empathie erzeugen sollen (die Perspektive einer Beobachterin einzunehmen). Als zweite
unabhängige Variable wird die Ausprägung der VMA (niedrig, hoch) berücksichtigt. Zentrale
abhängige Variablen sollen neben Fragen zur wahrgenommenen Ähnlichkeit, zur subjektiven
Risikoeinschätzung und zum Selbstwert auch verhaltensnahe Maße sein, z.B. die Bereitschaft, bei
direkter Bedrohung aktive Gegenwehr einzusetzen oder an einem Selbstverteidigungskurs
teilzunehmen. Folgende Hypothesen sollen getestet werden:
1. Wenn die Vpn instruiert wurden, die Beobachterinnen-Perspektive einzunehmen,
berichten Vpn mit hoher VMA höheren Selbstwert, ein geringeres subjektives Risiko,
geringere Ähnlichkeit mit dem Opfer und geringere Bereitschaft zu aktiver Gegenwehr
und Prävention als Vpn mit niedriger VMA.
2. Diese Unterschiede zwischen Vpn mit hoher und niedriger VMA sind geringer oder
aufgehoben, wenn die Vpn instruiert wurden, die Opferperspektive einzunehmen.
Da die Empathie-Instruktionen sicherlich stärkere Effekte haben werden als die bisher
eingesetzten bzw. geplanten experimentellen Variationen, muß durch eine Vorauswahl
sichergestellt werden, daß keine Frauen an diesem Experiment teilnehmen, die selbst schon Opfer
sexueller Gewalt waren.
186
Kapitel 9
9.3 Schlußbemerkungen
Die geplanten Untersuchungen, die in den vorangegangenen Abschnitten skizziert wurden,
sollen dazu beitragen, das vorgestellte Modell der Informationsverarbeitung in bezug auf sexuelle
Gewalt weiter zu überprüfen und ggf. auszudifferenzieren. Dieses Modell und die bisher darauf
bezogenen empirischen Arbeiten legen die pessimistische Schlußfolgerung nahe, daß Frauen
offenbar die Wahl zwischen zwei wenig tröstlichen Alternativen haben (s.a. Bohner & Schwarz,
1996). Sie können entweder restriktive, traditionelle Geschlechtsrollen verinnerlichen und die
weiblichen Opfer sexueller Gewalt für ihr Schicksal selbst verantwortlich machen, um eine Illusion
der Kontrolle in bezug auf die eigene Bedrohung aufrechtzuerhalten. Oder sie können traditionelle
Geschlechtsrollen ablehnen und stattdessen die ambivalente soziale Identität einer gesellschaftlich
benachteiligten Gruppe bewußt akzeptieren, um den Preis, durch die wiederholte Konfrontation mit
Beispielen sexueller Gewalt gegen Frauen (oder auch nur weniger extremen Formen deren
alltäglicher Benachteiligung) in ihrem Selbstwert und ihrer Befindlichkeit beeinträchtigt zu werden.
Allerdings gibt es Gründe, diese pessimistische Note, mit der das Kapitel von Bohner und
Schwarz (1996) endet, zu relativieren. Denn die angesprochene Ambivalenz, die bei Frauen mit
einer sozialen Selbstkategorisierung auf der Grundlage ihres Geschlechts einhergeht, scheint die
Chance zu bieten, Diskriminierung eher zu erkennen und systematischer zu verarbeiten (s.a. Jonas
et al., 1996). Und nur eine bewußte Auseinandersetzung mit der Problematik der gesellschaftlichen
Ungleichheit der Geschlechter kann langfristig helfen, diese zu überwinden. Es bleibt zu wünschen,
daß auch diese Schrift einen bescheidenen Beitrag zu diesem Ziel leistet.
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N.J.: Erlbaum.
196
Anhang
Anhang A:
Die VMAS
Sie finden nachfolgend eine Reihe von Aussagen zum Thema
Vergewaltigung. Bitte lesen Sie jede dieser Aussagen genau durch und
geben Sie dann an, wie stark Sie jeder dieser Aussagen zustimmen.
Beantworten Sie bitte jede Aussage, indem Sie eine Zahl von 1 bis 7
ankreuzen. Das Ankreuzen einer 1 bedeutet, daß Sie der betreffenden
Aussage überhaupt nicht zustimmen, eine 7 dagegen bedeutet, daß Sie ihr
völlig zustimmen.
___________________________________________________________________
1.
Um Männer vor ungerechtfertigten Vorwürfen zu schützen, sollte man bei
Vergewaltigungsklagen nur möglichst schwerwiegende Beweise zulassen.
stimme überhaupt 1
2
3
4
5
6
7
stimme völlig zu
nicht zu
___________________________________________________________________
2.
Bei einer Vergewaltigung ist niemals das Opfer Ursache des Verbrechens.
stimme überhaupt 1
2
3
4
5
6
7
stimme völlig zu
nicht zu
___________________________________________________________________
3.
Die meisten Frauen, die behaupten, sie seien von einem Bekannten
vergewaltigt worden, haben vermutlich zuerst eingewilligt und es sich nachher
anders überlegt.
stimme überhaupt 1
2
3
4
5
6
7
stimme völlig zu
nicht zu
___________________________________________________________________
4.
Frauen werden durch die traditionellen Geschlechtsrollen in unserer
Gesellschaft zu Vergewaltigungsopfern gemacht.
stimme überhaupt 1
2
3
4
5
6
7
stimme völlig zu
nicht zu
___________________________________________________________________
5.
Wenn ein Beischlaf durch finanzielle Drohungen erzwungen wird (z.B. wenn
eine Angestellte mit dem Verlust ihres Arbeitsplatzes bedroht wird, falls sie sich
weigert, mit ihrem Chef zu schlafen), sollte das rechtlich wie die Androhung
körperlicher Gewalt behandelt werden.
stimme überhaupt 1
2
3
4
5
6
7
stimme völlig zu
nicht zu
___________________________________________________________________
Anhang
6.
197
Die meisten Anzeigen wegen Vergewaltigung sind unbegründet.
stimme überhaupt 1
2
3
4
5
6
7
stimme völlig zu
nicht zu
___________________________________________________________________
7.
Im allgemeinen sind die Opfer einer Vergewaltigung durch ihr provokatives
Verhalten eher dafür verantwortlich, was mit ihnen geschieht, als die Opfer
anderer Verbrechen.
stimme überhaupt 1
2
3
4
5
6
7
stimme völlig zu
nicht zu
___________________________________________________________________
8.
In einer Ehe kann es keine Vergewaltigung durch den Ehemann geben, da die
Einwilligung zum Beischlaf ein ständiger Bestandteil des Eheversprechens ist
und nicht zurückgenommen werden kann.
stimme überhaupt 1
2
3
4
5
6
7
stimme völlig zu
nicht zu
___________________________________________________________________
9.
Die meisten Vergewaltiger haben einen ausgeprägten Sexualtrieb.
stimme überhaupt 1
2
3
4
5
6
7
stimme völlig zu
nicht zu
___________________________________________________________________
10. Eigentlich wünschen sich viele Frauen, vergewaltigt zu werden.
stimme überhaupt 1
2
3
4
5
6
7
stimme völlig zu
nicht zu
___________________________________________________________________
11. Das grundlegende Motiv eines Vergewaltigers besteht nicht so sehr in der
sexuellen Befriedigung, sondern in der Demütigung des Opfers.
stimme überhaupt 1
2
3
4
5
6
7
stimme völlig zu
nicht zu
___________________________________________________________________
12. Keine gesunde erwachsene Frau, die sich energisch zur Wehr setzt, kann von
einem unbewaffneten Mann vergewaltigt werden.
stimme überhaupt 1
2
3
4
5
6
7
stimme völlig zu
nicht zu
___________________________________________________________________
13. Oft fordern Frauen eine Vergewaltigung durch ihre äußere Erscheinung oder
ihr Verhalten heraus.
stimme überhaupt 1
2
3
4
5
6
7
stimme völlig zu
nicht zu
___________________________________________________________________
198
Anhang
14. In einer Gerichtsverhandlung wegen Vergewaltigung sollte es der Verteidigung
nicht erlaubt sein, das sexuelle Vorleben des mutmaßlichen Opfers zur
Sprache zu bringen.
stimme überhaupt 1
2
3
4
5
6
7
stimme völlig zu
nicht zu
___________________________________________________________________
15. Wenn eine Anzeige wegen Vergewaltigung erst zwei Tage nach der Tat erfolgt,
handelt es sich vermutlich nicht um eine Vergewaltigung.
stimme überhaupt 1
2
3
4
5
6
7
stimme völlig zu
nicht zu
___________________________________________________________________
16. Eine vergewaltigte Frau ist ein unschuldiges Opfer und trägt keine
Verantwortung.
stimme überhaupt 1
2
3
4
5
6
7
stimme völlig zu
nicht zu
___________________________________________________________________
17. Jede Frau, die einen Mann "anmacht", ohne die geweckten Wünsche zu
erfüllen, legt es geradezu darauf an, vergewaltigt zu werden.
stimme überhaupt 1
2
3
4
5
6
7
stimme völlig zu
nicht zu
___________________________________________________________________
18. Eine Frau sollte dafür verantwortlich sein, ihrer eigenen Vergewaltigung
vorzubeugen.
stimme überhaupt 1
2
3
4
5
6
7
stimme völlig zu
nicht zu
___________________________________________________________________
19. Im Grunde kann jede Frau Opfer einer Vergewaltigung werden.
stimme überhaupt 1
2
3
4
5
6
7
stimme völlig zu
nicht zu
___________________________________________________________________
20. Wenn eine Frau vergewaltigt wird, kann sie sich ebensogut entspannen und
das Ganze genießen.
stimme überhaupt 1
2
3
4
5
6
7
stimme völlig zu
nicht zu
___________________________________________________________________
Anhang
Anhang B:
1.
1.1
1.2
1.3
1.4
1.5
1.6
1.7
1.8
1.9
2.
2.1
2.2
2.3
2.4
3.
3.1
3.2
3.3
3.4
3.5
3.6
3.7
3.8
3.9
199
Kategoriensystem zur Auswertung der Merkmalslisten im ÄhnlichkeitsExperiment 2
(s. Abschnitt 8.1.2)
Persönlichkeitsmerkmale (Traits) / Eigenschaften, allgemeine Verhaltensweisen
Psychische Stabilität / Stärke / Selbstvertrauen / Selbstsicherheit /
Entscheidungssicherheit
Psychische Labilität / Schwäche / allgemeine Unsicherheit / Entscheidungsunsicherheit
Sensibilität / Umgang mit eigenen Gefühlen / Härte - Weichheit
Soziale Orientierung / Leistungsorientierung / Egozentrismus - Altruismus
Extravertiertheit vs. Introvertiertheit / allgemeines soziales Kontaktverhalten /
Umgangsformen
Aggression und Gewaltneigung
Macht / Dominanz / Überlegenheit vs. Ohnmacht / Unterordnung /
Anpassungsbereitschaft
Sexualität / Triebhaftigkeit
physische Erscheinung: Attraktivität / körperliche Stärke - Schwäche / biologische
Merkmale
sonstige Persönlichkeitsmerkmale
Soziale Beziehungen und sozio-ökonomische Rahmenbedingungen
Gleichberechtigung / Geschlechterverhältnis auf gesellschaftlicher Ebene
Sozio-ökonomische und berufliche Situation / Bildung / Milieu / Aussagen über
demographische Merkmale
Soziale und sexuelle Beziehungen / Partnerschaft / Familie
Kindheit / Sozialisation / Traumatisierung / psychische Störungen
Aussagen zu sexueller Gewalt / Vergewaltigung
Situative Aspekte von Sexueller Gewalt/Vergewaltigung (Ort / Uhrzeit / Drogen)
Vergewaltigungsrelevante Verhaltensweisen (Opfer)
Vergewaltigungsrelevante Verhaltensweisen (Täter)
Erleben der Vergewaltigung (Opfer)
Erleben der Vergewaltigung (Täter)
langfristige Folgen von Vergewaltigung (Opfer)
Täter-Opfer-Beziehung
allgemeine Merkmale von Vergewaltigung, die sich nicht explizit auf Täter bzw. Opfer
beziehen bzw. zuordnen lassen / allgemeine Definitionen sexueller Gewalt
Gesellschaftliche Dimension von sexueller Gewalt / gesellschaftlicher Umgang mit
Tätern und Opfern
4.
4.1
4.2
Aussagen über potentielle Betroffenheit/Täterschaft hinsichtlich sexueller Gewalt
Aussagen, daß potentiell jede Frau Opfer werden kann
Aussagen, daß potentiell jeder Mann Täter werden kann
5.
5.0
Restkategorie
unverständliche Aussagen; Aussagen, die sich nicht auf die Fragestellung beziehen, etc.
200
Abkürzungen
Anhang C:
Verzeichnis der verwendeten Abkürzungen
"
ANOVA
ARBS
ARMS
ARVS
ASA
ATR
B
BSRI
BWL
Bzv
Exp.
GGW
GWAL
RMAS
Konsistenzkoeffizient Alpha (Cronbach, 1951)
Varianzanalyse
"Attribution of Rape Blame Scale" (Resick & Jackson, 1981)
"Acceptance of Rape Myth Scale" (Gilmartin-Zena, 1987, 1988)
"Attitudes Toward Rape Victim Scale" (s. Ward, 1995, S. 60-61)
"Attraction to Sexual Aggression" scale (Malamuth, 1989a, 1989b)
"Attitudes Toward Rape" scale (Feild, 1978)
unstandardisierter Regressionskoeffizient
"Bem Sex Role Inventory" (Bem, 1974)
Betriebswirtschaftslehre
Bereitschaft zu vergewaltigen
Experiment
Glaube an eine gerechte Welt (s. Lerner, 1980)
Skala "Allgemeiner Gerechte-Welt-Glaube" (Dalbert, Montada & Schmidt,
1987)
keine Angabe
Konfidenzintervall
Skala "Kollektiver Selbstwert in bezug auf das eigene Geschlecht" (Luhtanen
& Crocker, 1992; Sturm & Bohner, 1996)
"Rape Myth Acceptance Scale" (Burt, 1980)
rsp
SE
VM
VMA
VMAS
Vp(n)
semipartialer Korrelationskoeffizient
soziale Erwünschtheit
Vergewaltigungsmythen
Vergewaltigungsmythenakzeptanz
Deutsche VMA-Skala (Costin & Schwarz, 1987; s. Kapitel 3)
Versuchsperson(en)
k.A.
KI
KSW-G