Der gesundheitspolitische Kommentar DIPL.-POL EKKEHARD RUEBSAM-SIMON Der „außerordentliche Ärztetag“ in Berlin als Wegscheide oder: Wer vertritt die Ärzte? Es macht keinen Sinn, auf jemanden einzuschlagen, der vor Schwäche kaum noch gehen kann. Die diversen „Abrechnungen“ und kritischen Analysen an der KBV sind eigentlich überflüssig, da jeder, der sehen kann, bemerkt, wie wenig Präsenz und Kraft die oberste politische Struktur der verfassten Ärzteschaft noch hat. Das ist selbst gemacht und beschreibt einen Zustand, den ich schon vor 15 Jahren als zunehmende ärztliche „Politikunfähigkeit“ beschrieben hatte. Das inzwischen offenbare Elend der politischen Ärzteschaft lässt sich in einigen wenigen Punkten kondensieren: 1. Solidarität unter Ärzten ist immer noch ein Fremdwort, jeder kämpft für sich alleine und am liebsten noch gegen alle. 2. Die meisten Häuptlinge der Ärzte haben zumeist ein gewaltiges Ego, das oft im erstaunlichen Gegensatz zur berufspolitischen und politischen und ökonomischen Kenntnis steht. 3. Die Fähigkeit, in systemischen Gesamtzusammenhängen zu denken, ist zu schwach ausgeprägt, die meisten Führungsfiguren denken bevorzugt in ihren individuellen Schablonen (für den Fachverband, für die Gruppe, für einzelne Ziele und so weiter). 4. Ärzte insgesamt neigen zum autoritativen Gestus - die Sozialisation im Elternhaus und/oder Klinik führt leider zur Neigung, Konflikte nach Gutsherrenart zu lösen. 5. Strategische/taktische Fähigkeiten, die in Führungspositionen selbstverständlich sind, werden nicht systematisch eingeübt, und häufig auch für überflüssig gehalten. 6. Ärzte neigen leider dazu, ideologische Schaukämpfe aufzuführen anstatt nach pragmatischen Lösungen zu suchen - Ärztetage sind so ein wunderbarer Unterhaltungsort, wenn man das goutieren kann. 7. Die Fähigkeit, sich mit anderen zu strategischen Bündnissen zusammenzuschließen, ist aufgrund der Tendenz zum Recht-Haben, und der Überzeugung, selbst in Besitz irgendeiner Wahrheit zu sein, viel zu schwach ausgebildet. 8. Die ärztliche Berufspolitik ist inzwischen hoffnungslos veraltet und bildet die Wirklichkeit von 2016 nicht mehr ab. Die 3. Revolution der Informationsgesellschaft rauscht an den Ärzten vorbei, wie die Kämpfe um die elektronische Gesundheitskarte nachdrücklich zeigen. Zugegeben, das ist alles sehr holzschnittartig vereinfacht, aber das ist manchmal notwendig nur so kommt man zu Konsequenzen. 1 Die Dauerkämpfe in der Führungsspitze der KBV werden von zwei insuffizienten Kombattanten geführt. Sie haben, im Verein mit den Kämpfen in der Vertreterversammlung, inzwischen zur völligen Lähmung der Organisation geführt. Politiker, die sich berufsmäßig mit dieser Struktur befassen, verhalten sich inzwischen so, als ob sie ein ungezogenes Kind erziehen müssten (nach Verweigerung von Gesprächen wurden diese wieder aufgenommen). Das BMG schickt die Aufsicht und erhebt Strafanzeige gegen Köhler usw. Das alles führt zu der Frage, welche Rolle die ärztlichen Vertretungen eigentlich noch spielen. Die Kassenärztlichen Vereinigungen hatten schon immer ein Janusgesicht. Sie waren Disziplinarorgan des Staates und gleichzeitig selbst ernannte Interessenvertreter der Ärzte. Das hat früher ganz gut funktioniert, da die Ärzteschaft wesentlich einheitlicher aufgetreten ist und die Regularien des Systems weniger würgegriffartig ausgebildet waren. Es kam noch dazu, dass die Achtung vor den Ärzten bei den Politikern deutlich ausgeprägter war und dass die führenden Köpfe der Ärzte auf einer wesentlich breiteren Basis standen als heute. Durch die ständigen „Reformbemühungen“ der Politiker wurde die eine Seite des Janusgesichtes, nämlich die der Kontrolle und Disziplinierung immer weiter entwickelt, während die andere Seite, die der Interessenvertretung, systematisch geschwächt wurde. Das war und ist so gewollt, man benötigt die Kassenärztlichen Vereinigungen eigentlich nur noch dazu, die Vorgaben des Sozialgesetzbuches in der ärztlichen Basis durchzusetzen. Bisher ist der Politik noch kein besseres System eingefallen, die Ärzte zu disziplinieren. Das ist für sie notwendig, da die Strukturen unseres Gesundheitssystems zunehmend dysfunktional geworden sind und nur noch durch massive Gängelung aufrechterhalten werden können. Es ist eine Frage der Zeit, wann diese Strukturmerkmale zum völligen Versagen des Systems führen, da auch Ärzte nicht beliebig manipulierbar sind. Die Tatsache, dass viele junge Ärzte das System der Versorgung verlassen, weil sie sich dort nicht mehr wohl fühlen, ist ein Menetekel an der Wand. Das gilt sowohl für den ambulanten als auch für den Klinikbereich - in beiden Teilsystemen nehmen der Reibungsverlust und die Dysfunktionalität der Maschinerie zu. Ursache der Reibungsverluste ist in beiden Systemen vor allem Geldmangel. Selbst wenn die angeblich vorhandenen ökonomischen Reserven durch Fehlversorgung alle gehoben werden könnten – was in vielen Fällen gar nicht geht ohne das Gesamtsystem massiv zu verändern – selbst dann fehlt das Geld. Gravierend ist es insbesondere im stationären Sektor, da dort traditionell die Kommunen und Länder, die die Krankenhäuser in Bezug auf die Struktur mit Investitionen ausstatten sollten, völlig versagen, oder anders formuliert: Sie zahlen die festgelegten Investitionen einfach nicht. Das Ergebnis ist ein wilder Dschungel von Quersubventionierungen aus allen möglichen Geldtöpfen, und dennoch reicht es nicht. Wenn wir auf die andere Spitzenorganisation der Ärzte schauen, die Bundesärztekammer, so ist die Situation ebenso wenig erfreulich. Im Gegensatz zur alten Reichsärztekammer, die zentralistisch organisiert war, ist die Bundesärztekammer eine Arbeitsgemeinschaft der Länderkammern - eine fragile und durch die wechselnden Stärken der einzelnen Kammern 2 bedingte föderalistische Struktur. Der Grundfehler der Struktur wird dadurch „kompensiert“, dass die Stimmgewichte der einzelnen Kammern künstlich angeglichen werden, so dass z. B. die Ärztekammer Hamburg oder Bremen bei vielen Entscheidungen das gleiche Gewicht hat wie eine Kammer Baden-Württemberg oder Bayern. Die Chefetage dieser Organisation muss also ständig die Interessen der verschiedenen Kammern equilibrieren, um nicht vom Pferd zu fallen. Führungsstruktur sieht anders aus. Das Kunststück besteht darin, dass der Präsident der Bundesärztekammer durch seine Person und seine Aura versuchen muss, dieses störrische Pferd zu disziplinieren. Die Bundesärztekammer ist traditionell durch angestellte Ärzte dominiert, im Vorstand sind ca. 60% angestellte Ärzte. Die Niedergelassenen, die in den einzelnen Kammern oft das Übergewicht haben, können sich aufgrund ihrer Zerstrittenheit nicht durchsetzen und insofern werden die meisten Kammern nicht von niedergelassenen Ärzten präsidiert. In Baden-Württemberg hat sich das schon teilweise geändert, hier gibt es noch zusätzlich vier relativ mächtige Bezirksärztekammern, von denen zwei von Niedergelassenen geführt werden, ebenso wie die Landesärztekammer BW. Wenn man das ganze juristische Beiwerk einmal weglässt und sich auf die ökonomische Kernfunktion der BÄK konzentriert, nämlich auf die Entwicklung der GOÄ, erleben wir zur Zeit eine Mischung aus Dilettantismus und Unkenntnis. Der Verantwortliche für die GOÄ, Windhorst, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit von der Thematik intellektuell überfordert und politisch von heilloser Naivität. Das Promoten der neuen GOÄ ist unterirdisch. Die ideologische Aufladung der GOÄ zum „Kern“ der Freiberuflichkeit ist überzogen, es ist nichts weiter als eine staatlich festgelegte Gebührenordnung, wie es auch andere Freiberufler haben. Auch die endlose Diskussion über Einzelleistungsvergütungen oder Komplexierungen geht am wesentlichen vorbei. Angemessen finanzierte Komplexe können sinnvoll sein. Eine Mischung von verschiedenen Zahlungsalgorithmen existiert in vielen Ländern. Viel wichtiger ist die ökonomische Essenz der Gebührenordnung. Selbst in der Schweiz macht sich die Regierung Gedanken über die existente Einzelleistungsvergütungssystematik, sie verführt zur medizinisch nicht gerechtfertigten Agglomeration von Leistungen und nicht selten zur Überteuerung. Die sogenannte Kontrolle durch den Patienten existiert de facto nicht, da er die Preise medizinischer Leistungen nicht beurteilen kann. Dass der Staat wegen der Beihilfe immer ein gewichtiges Wörtchen bei der GOÄ mitreden wird, ist keine Neuigkeit und wird auch diesmal so sein. Rechenalgorithmen müssen also klar dargestellt werden, damit die vollmundige Behauptung, die GOÄ sei betriebswirtschaftlich kalkuliert, überprüft werden kann. Wenn nicht, kann man die Diskussion beenden, da dann dasselbe passiert wie beim unsäglichen EBM: Man kaufte für etliche Millionen in der Schweiz Tarmed ein (in der Schweiz gilt, wie bemerkt, ein vollständiges Einzelleistungsvergütungssystem, das auf betriebswirtschaftlicher Basis gerechnet wurde), dann „überträgt“ man es auf das deutsche Sachleistungssystem und dann vergisst man die Betriebswirtschaftslehre und macht irgendwie „politische“ Preise. 3 Sowohl KBV als auch Bundesärztekammer (BÄK) sind in ihrer Existenz bedroht. Es gibt in allen Fraktionen des Parlaments, insbesondere aber bei SPD und Grünen, Politiker, die die Daseinsberechtigung der Kassenärztlichen Vereinigungen grundsätzlich in Frage stellen. Man sollte nicht so sicher sein, dass nicht am Ende des Tages eine Auflösung dieser superbürokratischen Strukturen schnell möglich ist. Die Hemmschwelle der Politiker, bei der Selbstverwaltung der Ärzte massiv einzugreifen ist deutlich gesunken. Die Vorgänge in der KV Berlin und in der KBV haben hier sicherlich einen erheblichen Beitrag geleistet, passt das doch alles in die gängige Vorurteilspropaganda über die „Ärzte-Mafia“. Der BÄK drohen von anderer Seite politisches Ungemach: Es gibt eine massive politische Agenda auf Europa-Ebene alle verkammerten Strukturen in Deutschland auf den Prüfstand zu stellen. Sowohl die Industrie- und Handelskammern als auch die Ärztekammern und Anwaltskammern werden als wettbewerbswidrig angesehen. In einem großen europäischen Wirtschaftsmarkt soll Gleichheit bestehen. Der von drei Ärztekammern erzwungene außerordentliche Ärztetag am 23.1.2016 in Berlin zur Gestaltung der neuen GOÄ wird ein gutes Stück weit über die Existenzberechtigung der BÄK entscheiden. Die von den Kritikern vorgetragenen Argumente sind weitgehend stichhaltig und sollten zu einer Zeitenwende der Entscheidungsstruktur in den Kammern führen – weg von der reinen Vorstandsherrschaft. Das deutsche Gesundheitswesen ist so komplex, dass viel Expertise und vor allem die systemische Gesamtbetrachtung erfordert ist. Freiberuflichkeit ist von wirtschaftlicher Freiheit begleitet – und das heißt angemessene, durch keinerlei Tricks budgetierte oder reduzierte, zu festen betriebswirtschaftlich kalkulierten Preisen bezahlte medizinische Arbeit. Und zwar im stationären und ambulanten Sektor. Von dieser Situation sind wir weit entfernt. Im ambulanten Bereich haben wir bei der selektivvertraglichen Versorgung erste, wesentliche Schritte in die richtige Richtung getan. Was heißt das alles für die berufspolitische Agenda in Deutschland? Solange die Ärzteschaft die staatsnahe Selbstverwaltung favorisiert, sollte von den politisch Agierenden eine Doppelstrategie gefahren werden: Mitarbeit in der Selbstverwaltung aber gleichzeitig Aufbau von konkurrenzfähigen Parallelstrukturen. Es muss jederzeit möglich sein, eine Versorgung der Bevölkerung zu organisieren entweder staatsnahe oder unabhängig davon. Was in Baden-Württemberg mit den Selektivverträgen passiert ist genau das – Aufbau einer Parallelwelt. Leider gestatten es die politischen Rahmenbedingungen noch nicht, eine vollständige Abkoppelung vom GKV-System zu machen, langfristig ist das aber sinnvoll. Dann müssten die Krankenkassen aber zu privatwirtschaftlich geführten Unternehmen transformiert werden – was ihrem zentralen Versicherungscharakter nicht schlecht ansteht. Die großen, politisch bedeutenden ärztlichen Verbände sollten zusammenrücken und zügig schrittweise gemeinsame Schnittmengen politischer Inhalte zur Bewahrung ärztlicher Freiberuflichkeit definieren - es gibt davon eine ganze Menge. Wesentlich ist vor allem der fachübergreifende Aspekt: Wer glaubt, allein – z. B. nur Hausarzt- oder Facharztinteressen vertreten zu können, irrt gewaltig. Eine Schwächung der Ärzte insgesamt ist die Folge und 4 der so implementierte Gegensatz ist ein bequemer Hebel für die, die eine Politik gegen die Ärzte machen wollen. Der nächste Schritt ist dann der Aufbau einer stringenten Führungsstruktur. Hinter definierten Zielen sollten gemeinsam konsentierte Maßnahmen stehen. Ohne sie wird es nicht gehen, da sonst das ewige Einerlei des hahnenhaften Dauerstreits ärztlicher Protagonisten weitergeht. Diese neue Führung sollte mit Ärzten und Experten besetzt werden, die entsprechend komplex politisch denken können und die zusätzlich politische Pragmatiker sind. Die erbitterten Diskussionen über die „wahrhaft richtige“ Idee, wie Direktabrechnung oder individuellen Systemausstieg von Ärzten oder die Dauerdiskussionen auf Ärztetagen über den dritten Spiegelstrich in einem Antrag gehören sicher nicht zur Lösung des Dilemmas der robusten Vertretung von ärztlichen Interessen. Alle politisch denkenden Ärzte sollten, wenn es dazu kommen sollte, diese Entwicklungen unterstützen und zur Zusammenarbeit – auch über ideologische Grenzen hinweg – fähig werden und dazu bereit sein. Ohne diese Bereitschaft wird auch der anstehende außerordentliche Ärztetag eine weitere Etappe auf dem Weg in die Bedeutungslosigkeit ärztlicher Interessen werden. 5
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