Predigt über Epheser 1,4-5: Erwählt und vorherbestimmt

Evang.-ref. Kirchgemeinde St. Gallen C
Kirchkreis Linsebühl
Predigt über Epheser 1,4-5: Erwählt und vorherbestimmt
Linsebühl, 9. August 2015; von Pfr. Stefan Lippuner
(Himmlische Segnungen I)
Epheser 1,3-14 (Bibeltext für die ganze Predigtreihe)
Gepriesen sei Gott, der Vater unseres Herrn
Jesus Christus, der uns in den Himmeln gesegnet hat mit allem geistlichen Segen durch
Christus.
Denn in ihm hat er uns erwählt vor der Erschaffung der Welt, damit wir heilig und untadelig leben vor Gott. Er hat uns aus Liebe im Voraus
dazu bestimmt, seine Söhne und Töchter zu
werden durch Jesus Christus und nach seinem
gnädigen Willen zu ihm zu gelangen, zum Lob
seiner herrlichen Gnade, mit der er uns beschenkt hat in seinem geliebten Sohn.
In ihm haben wir die Erlösung durch sein Blut,
die Vergebung der Sünden nach dem Reichtum seiner Gnade. Durch sie hat er uns mit aller
Weisheit und Einsicht reich beschenkt und hat
uns das Geheimnis seines Willens kundgetan,
das darin besteht, in ihm sein Wohlgefallen für
alle sichtbar zu machen.
Er hat beschlossen, die Fülle der Zeiten heraufzuführen und in Christus alles zusammenzufassen, alles, was im Himmel und auf Erden ist.
Durch ihn sind wir auch als Erben vorherbestimmt und eingesetzt nach dem Plan dessen,
der alles so verwirklicht, wie er es in seinem
Willen beschliesst. Wir sind zum Lob seiner
Herrlichkeit bestimmt, die wir schon lange unsere Hoffnung auf Christus gesetzt haben.
Durch ihn habt auch ihr das Wort der Wahrheit
gehört, das Evangelium von eurer Rettung.
Durch ihn habt ihr das Siegel des verheissenen
Heiligen Geistes empfangen, als ihr den Glauben annahmt. Der Geist ist der erste Anteil des
Erbes, das wir erhalten sollen, der Erlösung,
durch die wir Gottes Eigentum werden, zum
Lob seiner Herrlichkeit.
5. Mose 7,6-9 (Aus dem Alten Testament über die Erwählung des Volkes Israel)
Denn du bist ein Volk, das dem Herrn, deinem
Gott, heilig ist. Dich hat der Herr, dein Gott,
ausgewählt, damit du unter allen Völkern, die
auf der Erde leben, das Volk wirst, das ihm persönlich gehört.
Nicht weil ihr zahlreicher als die anderen Völker
wäret, hat euch der Herr ins Herz geschlossen
und ausgewählt; ihr seid ja das kleinste unter
allen Völkern. Sondern weil der Herr euch liebt
und weil er auf den Schwur achtet, den er euren
Vätern geleistet hat, deshalb hat der Herr euch
mit starker Hand herausgeführt und euch aus
dem Sklavenhaus freigekauft, aus der Hand
des Pharao, des Königs von Ägypten.
So sollst du erkennen, dass der Herr, dein Gott,
Gott ist. Er ist der treue Gott; noch nach tausend Generationen achtet er auf den Bund und
erweist denen seine Gnade, die ihn lieben und
auf seine Gebote achten.
1. Petrus 2,9-10 (Aus dem Neuen Testament über die Erwählung der Christusgläubigen)
Ihr aber seid ein auserwähltes Geschlecht, eine
königliche Priesterschaft, ein heiliger Stamm,
ein Volk, das sein besonderes Eigentum
wurde, damit ihr die grossen Taten dessen verkündet, der euch aus der Finsternis in sein
wunderbares Licht gerufen hat.
Einst wart ihr kein Volk, jetzt aber seid ihr Gottes Volk; einst gab es für euch kein Erbarmen,
jetzt aber habt ihr Erbarmen gefunden.
2
"Gepriesen sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns in den Himmeln gesegnet hat mit allem geistlichen Segen durch Christus."
Liebe Gemeinde.
Himmlische Segnungen, geistlicher Segen aus der Himmelswelt, aus der Dimension Gottes
wird uns im ersten Kapitel des Epheserbriefes zugesprochen; dafür ist der Apostel Paulus
dankbar und preist Gott. – Und dann nennt er gleich als erstes eine Segnung, die für uns nicht
nur eine wunderbare Zusage ist, sondern zugleich auch (gelinde gesagt) ein schwerer Brocken: "Denn in ihm hat er uns erwählt vor der Erschaffung der Welt, damit wir heilig und
untadelig leben vor Gott. Er hat uns aus Liebe im Voraus dazu bestimmt, seine Söhne und
Töchter zu werden durch Jesus Christus und nach seinem gnädigen Willen zu ihm zu gelangen, zum Lob seiner herrlichen Gnade, mit der er uns beschenkt hat in seinem geliebten
Sohn."
Es geht in diesen Worten um die Erwählung und die Vorherbestimmung, Prädestination, beileibe keine einfache und zugleich sehr umstrittene Thematik. Grosse Schwierigkeiten bereitet
dabei insbesondere die Frage: Wie lässt sich die biblische Lehre von der Auserwählung und
der Vorherbestimmung der Menschen zum Heil in Einklang bringen mit den ebenfalls biblischen Lehren von der unparteiischen Gerechtigkeit Gottes, vom freien Willen des Menschen
und von der menschlichen Verantwortung? Wirklich alles andere als einfach.
Interessanterweise haben wir allerdings erst in der Moderne oder genauer: seit der Aufklärung
im 17. Jahrhundert und dem damit verbundenen humanistischen Denken solch grosse Probleme und Mühen mit Erwählung und Vorherbestimmung. In biblischen Zeiten und auch im
ersten Jahrtausend der Christenheit war dies viel weniger der Fall. – Vielleicht müssen wir
uns halt doch demütig und zugleich ehrfurchtsvoll eingestehen, dass wir mit unserer menschlichen Vernunft doch nicht alles erklären und verstehen können und dass Gott, der Schöpfer
und Herr des Universums, doch grösser ist als unser aufgeklärter Verstand und letztlich über
uns Menschen steht.
Dies als Vorbemerkung. Ich werde Ihnen jedenfalls in meiner Predigt heute keine fertigen und
umfassenden Antworten liefern können. Denn auch wenn ich mich schon öfters intensiver mit
dieser Thematik von Erwählung und Prädestination befasst habe, so habe ich doch immer
noch manche unbeantworteten Fragen, und einiges bleibt für mich unverständlich und unfassbar.
Darum möchte ich in der kurzen Zeit, die mir zur Verfügung steht, einfach versuchen, ein paar
Spuren von Antworten nachzuzeichnen. Und ich möchte zugleich versuchen, nicht nur auf
der distanzierten intellektuellen Ebene zu bleiben, sondern auch herauszufinden, was unser
Bibeltext auf der existentiellen Ebene, also für uns persönlich bedeuten könnte.
Eine erste Feststellung: Es fällt auf, dass in der Bibel eine grosse Einseitigkeit im Blick auf die
Erwählung herrscht. Es wird nämlich fast nur positiv davon gesprochen, dass Gott Menschen
erwählt hat, zu ihm zu gehören, sein Volk zu bilden, und dass er sie zum Heil vorherbestimmt
hat; die Gläubigen danken Gott dafür, dass sie von ihm erwählt worden sind. – Aber von der
Kehrseite der Medaille, dass Gott auch Menschen bewusst und ausdrücklich nicht erwählt
und zum Voraus für das Verderben bestimmt haben könnte, davon ist in der Bibel nicht oder
höchstens am Rand die Rede. Nur ganz wenige Stellen (allen voran Römer 9) können in
diese Richtung verstanden werden.
Wir können also sagen, dass die Bibel zum allergrössten Teil die Lehre der sog. einfachen
Prädestination vertritt: Gott hat all diejenigen auserwählt und vorherbestimmt, die zu ihm gehören sollen. Punkt. Darüber hinaus wird nicht gefragt und nichts gesagt – oder nur, dass es
letztlich Gottes erklärter Wille ist, dass alle Menschen zur Erkenntnis der Wahrheit kommen
und gerettet werden [1. Timotheus 2,4] und dass keiner verloren geht [2. Petrus 3,9].
Ich glaube deshalb, dass grundsätzlich alle Menschen (und zwar schon vor ihrer Erschaffung)
dazu bestimmt sind, das Heil, die Gemeinschaft mit Gott, das ewige Leben zu erhalten und
zu erfahren. Alle sind grundsätzlich erwählt und vorherbestimmt.
3
Eine andere Frage ist jedoch, ob alle Menschen diese ihre Bestimmung tatsächlich auch für
sich annehmen. Leider gibt es immer noch viele Menschen, die das Heil, für das sie eigentlich
erwählt sind, und die Gotteskindschaft, für die sie eigentlich bestimmt sind, nicht annehmen
wollen, nicht für sich persönlich im Glauben in Anspruch nehmen wollen. Und dann haben sie
natürlich nichts davon. Es sieht dann zwar danach aus, als ob sie nicht erwählt wären, doch
in Wirklichkeit wollten sie einfach ihre Erwählung und Bestimmung nicht annehmen. (Vermutlich ist in diesem Sinn auch das Wort von Jesus zu verstehen: "Viele sind berufen, wenige
aber auserwählt" [Matthäus 22,14].) Die Vorherbestimmung durch Gott hebt den freien Willen
des Menschen, Gott anzunehmen oder abzulehnen, nicht einfach auf.
Im Unterschied zu dieser Lehre von der einfachen Prädestination hat diejenige von der doppelten Prädestination, wie sie vor allem von Johannes Calvin herausgearbeitet wurde, keine
oder nur ganz wenige biblische Anhaltspunkte. Diese Lehre besagt nämlich, dass Gott in
seiner Souveränität nicht nur die einen Menschen auserwählt und zum ewigen Heil vorherbestimmt hat, sondern dass er umgekehrt die anderen Menschen, ebenfalls zum Voraus und in
seiner unhinterfragbaren Souveränität, nicht ausgewählt und zum ewigen Verderben bestimmt hat.
Eine solche negative Prädestination kann zwar als logische Fortführung der positiven Prädestinationslehre gesehen werden, sie entspricht aber nicht der biblischen Botschaft. Darum:
Halten wir uns doch an die einfache Prädestination der Bibel und zerbrechen uns nicht den
Kopf darüber, was wohl mit dem Nachbarn oder dem Menschen im fernen Asien ist, sondern
freuen wir uns einfach darüber, dass Gott uns erwählt hat. Denn wenn wir im Glauben zu ihm
gekommen sind, dann sind wir offensichtlich von ihm erwählt, und dafür dürfen wir von Herzen
dankbar sein.
Wir dürfen wissen: Gott hat gerade uns, Gott hat gerade mich gemeint und gewollt, nicht nur
alle anderen, sondern auch und gerade mich. Ich bin kein Nobody, ich bin nicht einfach ein
Rädchen im Uhrwerk der Welt, ich bin nicht einfach nur eine Nummer, nein, ich bin ein geliebtes Kind Gottes, sein Sohn bzw. seine Tochter (was das bedeutet, darüber werde ich dann
in der dritten Folge meiner Reihe predigen). – Ich bin erwählt. Diese Gewissheit gibt mir ein
starkes Selbstwertgefühl.
Betrachten wir nun, nach diesen Gedanken zum wohl schwierigsten Punkt unserer Thematik,
ein paar weitere Aspekte von Erwählung und Prädestination.
Eine wichtige Frage ist diejenige nach der Grundlage der Erwählung. Was sind die Gründe
dafür, dass Gott Menschen, dass Gott uns erwählt hat? Nach welchen Kriterien ist dies geschehen? – Im Text aus 5. Mose 7, den wir in der Lesung gehört haben, finden wir eine klare
Antwort dazu. Da sagt Gott im Blick auf die Erwählung des Gottesvolkes Israel: "Nicht weil ihr
zahlreicher als die anderen Völker wäret, hat euch der Herr ins Herz geschlossen und ausgewählt; ihr seid ja das kleinste unter allen Völkern. Sondern weil der Herr euch liebt" [5. Mose
7,7f.].
Es waren also nicht irgendwelche Vorzüge der Israeliten, die Gott dazu veranlasst haben,
sich ihnen zuzuwenden und sie auszuwählen (sie hatten nämlich keine Vorzüge), sondern
die Erwählung geschah allein aufgrund von Gottes freier Liebe zu ihnen. – Und das Gleiche
gilt auch für die Erwählung von anderen Menschen, für unsere Erwählung: Sie geschah nicht
wegen irgendwelcher Vorzüge, besonderer Eigenschaften oder aussergewöhnlicher Leistungen unsererseits; wir haben uns Gottes Erwählung nicht verdient. Das ging gar nicht, denn
Gott hat uns schon vor Erschaffung der Welt erwählt, das heisst: noch bevor wir überhaupt
existierten und irgendetwas vorweisen konnten. Die Grundlage für unsere Erwählung liegt
einzig und allein in Gott selber, in seiner Liebe zu seinen Geschöpfen.
Wie ich schon gesagt habe: Gott will, dass alle Menschen zu ihm kommen, mit ihm Gemeinschaft haben, bei ihm Rettung und Heil finden; denn er liebt alle Menschen masslos. Aber
eben: Nicht alle Menschen wollen diese Liebe Gottes empfangen und auch erwidern, um so
konkret zu seinen Erwählten zu gehören.
4
Die Grundlage der Erwählung ist also die Liebe Gottes. Und diese Liebe hat Gott endgültig
bezeugt in seinem Sohn Jesus Christus. So lesen wir im 1. Johannesbrief: "Darin ist die Liebe
Gottes zu uns offenbar geworden, dass Gott seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt hat,
damit wir durch ihn leben" [1. Johannes 4,9]. Und darum schrieb Paulus in Epheser 1: "Denn
in ihm (in Christus) hat er uns erwählt vor der Erschaffung der Welt." – Das ist die Grundlage.
Fragen wir nun nach dem Ziel der Erwählung und Vorherbestimmung. Dazu gibt es mehrere
Antworten. Einerseits sind wir grundlegend erwählt zum Heil, wie es im 1. Thessalonicherbrief
heisst (1. Thessalonicher 2,13). Oder wie wir es in unserem Epheser-Text lesen: "Er hat uns
aus Liebe im Voraus dazu bestimmt, seine Söhne und Töchter zu werden", also zu einer ganz
innigen Beziehung mit Gott. Wir sind auch bestimmt oder berufen zum ewigen Leben, so
nachzulesen in Apostelgeschichte 13 [Vers 48] und in 1. Timotheus 6,12.
Andererseits zielt die Erwählung nach diversen Bibelstellen auch auf eine spezifische Beauftragung. So haben wir zum Beispiel in der zweiten Lesung aus dem 1. Petrusbrief gehört: "Ihr
seid ein auserwähltes Geschlecht (…), das sein besonderes Eigentum wurde, damit ihr die
grossen Taten dessen verkündet, der euch aus der Finsternis in sein wunderbares Licht gerufen hat" [1. Petrus 2,9]. Oder wieder in unserem Epheser-Text: "In ihm hat er uns erwählt,
damit wir heilig und untadelig leben vor Gott." Und in seiner Abschiedsrede vor seinem Kreuzestod sagte Jesus: "Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und euch
dazu bestimmt, dass ihr hingeht und Frucht tragt und dass eure Frucht bleibe" [Johannes
15,16]. – Diese und weitere biblische Erwählungs-Beauftragungen geben doch unserem Leben eine grosse Würde und einen tiefen Sinn.
Schliesslich noch ein letzter Gedanke, der mir selber geholfen hat besser zu verstehen, wie
der souveräne Erwählungswille Gottes, der auf keine menschlichen Vorzüge und Vorleistungen achtet, zusammengeht mit dem freien Willen des Menschen, der eben nicht wie eine
Marionette funktioniert, sondern sich auch gegen Gottes Willen und Erwählung entscheiden
kann.
Gemäss dem Neuen Testament hängt die Erwählung immer mit Jesus Christus und dem
Glauben an Jesus Christus zusammen. Nur wer durch den Glauben zu Jesus Christus gekommen ist, gehört zum "auserwählten Geschlecht". Auserwählt vor der Erschaffung der Welt
ist darum eigentlich nicht der einzelne Mensch, sondern die christliche Gemeinde als der Leib
Christi. Deshalb wird in der Regel von den Erwählten in der Mehrzahl gesprochen, nicht in
der Einzahl. – Erwählt ist also die Gemeinde; der Einzelne gehört nur insofern zu den Erwählten, als er aus seinem eigenen Entschluss heraus durch den Glauben zu einem Teil dieser
christlichen Gemeinde wird. Eine interessante Überlegung.
Liebe Gemeinde. Es ist mir bewusst, dass ich vieles von dieser schwierigen Thematik der
Erwählung und der Prädestination jetzt nicht ansprechen konnte und dass wahrscheinlich
weiterhin manche Fragen offenbleiben. Ich hoffe aber, dass ich mit meinen Ausführungen uns
allen doch etwas weiterhelfen konnte im Verständnis dieser biblischen Lehre. ‒ Wichtig ist
mir zum Schluss, dass wir erkennen: Es geht bei dieser ganzen Sache im Grunde genommen
gar nicht um dogmatische Fragen und Diskussionen, sondern um himmlische Segnungen
Gottes. Es geht darum, dass wir uns bewusst werden, wie Gott uns durch Jesus Christus
gesegnet hat und in welchen Stand wir durch den Glauben an Jesus Christus versetzt worden
sind: Wir gehören zu den auserwählten Kindern Gottes, denn Gott hat uns schon vor aller Zeit
gekannt und mit seiner unendlichen Liebe geliebt.
Dafür sollen auch wir von Herzen dankbar sein und unseren grossen und barmherzigen Gott
loben. "Gepriesen sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns in den Himmeln
gesegnet hat mit allem geistlichen Segen durch Christus. Denn in ihm hat er uns erwählt vor
der Erschaffung der Welt, damit wir heilig und untadelig leben vor Gott. Er hat uns aus Liebe
im Voraus dazu bestimmt, seine Söhne und Töchter zu werden durch Jesus Christus."
AMEN