OLG Dresden, Beschluss vom 07.07.2015

OLG Dresden, Beschluss vom 07.07.2015 - Verg 3/15
Eine Vertragsanpassungsklausel ist nur dann eine hinreichende Grundlage für eine
Auftragserweiterung ohne Durchführung eines neuen Vergabeverfahrens, wenn sie
eindeutig erkennen lässt, unter welchen Umständen der Vertrag wann und wie
geändert werden kann.
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OLG Dresden, Beschluss vom 07.07.2015 - Verg 3/15
vorhergehend: VK Sachsen, 27.04.2015 - 1/SVK/012-15
In Sachen …
wegen Nachprüfungsantrag
hat der Vergabesenat des Oberlandesgerichts Dresden durch Vorsitzenden Richter
am Oberlandesgericht ###, Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht ### und
Richterin am Oberlandesgericht ### aufgrund der mündlichen Verhandlung vom
30.06.2015
beschlossen:
1. Die sofortige Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss der
1. Vergabekammer des Freistaates Sachsen vom 27.04.2015 - 1/SVK/12-15 - wird
zurückgewiesen.
2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen
Kosten der Beigeladenen (die diese selbst trägt) hat der Antragsgegner zu tragen.
3. Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf bis zu 25.000,00 Euro
festgesetzt.
Gründe
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Antragsgegner berechtigt ist, die Beigeladene
mit Leistungen zum Betrieb einer Aufnahmeeinrichtung für Asylbewerber in ### zu
beauftragen, ohne dafür zuvor ein wettbewerbliches Verfahren durchgeführt zu
haben. Die Antragstellerin, die ein eigenes Interesse an der Erbringung dieser
Leistungen geltend macht, verneint ein solches Recht; der Antragsgegner nimmt es
in Anspruch, weil er meint, die Beauftragung der Beigeladenen erfolge auf der
Grundlage eines mit ihr bereits 2014 geschlossenen Vertrages, der mit dem Standort
in ### lediglich einen erweiterten Anwendungsbereich erhalte.
Tatsächlich haben Antragsgegner und Beigeladene zum 01.06.2014 nach
vorangegangenem Vergabeverfahren, an dem sich seinerzeit auch die
Antragstellerin beteiligt hatte, einen Vertrag "zum Betrieb der im Freistaat Sachsen
errichteten Aufnahmeeinrichtung nach § 44 AsylVfG" auf einer Liegenschaft in ###
mit einer Laufzeit von vier Jahren und einer Verlängerungsmöglichkeit um zweimal
jeweils ein weiteres Jahr geschlossen. Der Vertrag sieht in § 3 Abs. 4 vor, dass der
Antragsgegner sich vorbehalte, "zusätzliche geeignete Unterbringungskapazitäten im
Freistaat auch außerhalb der Liegenschaft bereit zu stellen." Für diesen Fall
berechtigt der Vertrag den Antragsgegner, vom Betreiber eine entsprechende
Erweiterung seiner Leistungen zu verlangen; umgekehrt trifft der Vertrag "für die
Inanspruchnahme der Option nach § 3 Abs. 4 Betreibervertrag" eine ergänzende
Entgeltregelung zu Gunsten des Betreibers.
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Bereits in dem 2013/2014 durchgeführten Vergabeverfahren hatte der Antragsgegner
angekündigt, die Unterbringungskapazität in der Aufnahmeeinrichtung schrittweise
von ursprünglich 520 auf 900 Plätze zu erhöhen. Außerdem wurden im Verlauf
dieses Auswahlverfahrens weitere Unterbringungsplätze am Standort ###, also
außerhalb von ###, in die Vergabe einbezogen. Auf Bieternachfragen, auch seitens
der Antragstellerin, hatte der Antragsgegner dabei angegeben, dass er die
Außenstelle ### als zusätzliche geeignete Unterbringungskapazität im Sinne von § 3
Abs. 4 Betreibervertrag ansehe; die Antragstellerin hatte das hingenommen. Der
Antragsgegner zieht daraus den Schluss, die Antragstellerin sei unter diesen
Umständen mit Einwendungen gegen eine nochmalige Ausweitung der
Unterbringungsplätze, wie sie in ### anstehe, verfahrensrechtlich wie materiellrechtlich ausgeschlossen.
Die Vergabekammer hat sich dem auf den Nachprüfungsantrag der Antragstellerin
mit dem angefochtenen Beschluss nicht angeschlossen und festgestellt, dass die
Antragstellerin durch die beabsichtigte Beauftragung der Beigeladenen mit
Leistungen des Betriebs der Erstaufnahmeeinrichtung am Standort ###, ###straße,
aufgrund des mit der Beigeladenen geschlossenen Betreibervertrages und außerhalb
eines wettbewerblichen Verfahrens in ihren Rechten verletzt werde.
Dagegen hat der Antragsgegner in zulässiger Weise sofortige Beschwerde erhoben
und beantragt, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und den
Nachprüfungsantrag zurückzuweisen. Die Antragstellerin ist dem mit dem Antrag
entgegengetreten, die Beschwerde zurückzuweisen. Wegen der Einzelheiten der
jeweiligen Begründung wird auf die angegriffene Entscheidung und den
vorgetragenen Inhalt der im Beschwerdeverfahren gewechselten Schriftsätze Bezug
genommen.
Die Beschwerde ist unbegründet. Denn die Vergabekammer hat den
Nachprüfungsantrag mit zutreffenden Erwägungen, auf die verwiesen wird, als
zulässig und begründet angesehen. Der Senat teilt die Auffassung der Kammer,
dass der zwischen dem Antragsgegner und der Beigeladenen 2014 geschlossene
Betreibervertrag es im Ergebnis nicht rechtfertigt, die vorgesehene Erweiterung der
Unterbringungskapazitäten am Standort ### vorzunehmen, ohne dafür ein
wettbewerbliches Verfahren durchzuführen.
Dabei verkennt der Senat nicht, dass der vorgenannte Vertrag zwischen dem
Antragsgegner und der Beigeladenen wirksam zu Stande gekommen sein wird und
die darin enthaltene Optionsklausel (§ 3 Abs. 4) deshalb unmittelbar einer
vergaberechtlichen Nachprüfung nicht mehr zugänglich ist. Darum geht es im
vorliegenden Fall aber nicht. Denn Gegenstand dieses Nachprüfungsverfahrens ist
nicht die vertragliche Wirksamkeit der Optionsklausel als solcher, sondern die Frage,
ob die Beschaffung von Betreiberleistungen am Standort ### durch den
Antragsgegner ohne wettbewerbliches Verfahren durch die Erweiterungsklauseln des
vorhandenen Vertrages erfasst und gedeckt ist. Diese Frage ist, in Übereinstimmung
mit der Rechtsauffassung der Vergabekammer, zu verneinen.
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Die Antragstellerin ist schon verfahrensrechtlich mit ihrem Nachprüfungsbegehren
nicht etwa präkludiert. Denn auch wer als Bieter eine in ihrem Anwendungsbereich
gegebenenfalls zweifelhafte Optionsklausel in einem früheren Verfahren
hingenommen hat (etwa auch deshalb, weil bereits das Eintreten eines späteren
Optionsfalls offen gewesen sein mag), ist nicht gehindert, dass nochmalige
Gebrauchmachen von dieser Option aus Anlass einer neuerlichen öffentlichen
Leistungsvergabe nachprüfen zu lassen, und dies mit Erfolg, wenn die Option eine
vergabeverfahrensfreie Beschaffung zusätzlicher Leistungen durch den öffentlichen
Auftraggeber nicht zu rechtfertigen vermag. So liegt der Fall hier.
Denn die beabsichtigte Vergabe von Betreiberleistungen an einem zusätzlichen
Standort in ### mit einer Unterbringungskapazität von bis zu 350 Plätzen stellt eine
wesentliche Änderung des ursprünglich vorgesehenen Leistungsumfangs dar,
welche ohne erneutes wettbewerbliches Verfahren keine hinreichende
vergaberechtliche Grundlage hätte. § 3 Abs. 4 des Betreibervertrages von 2014
könnte seinem Wortlaut nach sogar dafür sprechen, dass die Option auf
Erweiterungen der Unterbringungskapazität "außerhalb der Liegenschaft" einen
gewissen räumlichen Bezug zum Standort ### voraussetze. Einer solchen
Auslegung sind der Antragsgegner und der Vertreter der Beigeladenen in der
mündlichen Verhandlung vor dem Senat zwar entgegengetreten. Sie haben sich
übereinstimmend
darauf
berufen,
dass
nach
ihrem
gemeinsamen
Vertragsverständnis, welches auch der damaligen Ausschreibung zu Grunde
gelegen habe, selbst bei einer Vervielfachung der Asylbewerberzahlen zusätzliche
Unterbringungsaußenstellen an beliebigen Standorten innerhalb des Freistaates
Sachsen von der Optionsklausel erfasst sein sollten. Aber gerade wenn man dies
unterstellt, verliert die Klausel jegliche fassbare Begrenzung zum Umfang der
gegebenenfalls zusätzlich zu beschaffenden Leistungen. Der Antragsgegner hat
zwar das Recht, nach dem ursprünglichen Vertrag ihrer Art nach bestimmte
Leistungen gegen ein vorab geregeltes Entgelt vom Betreiber abzufordern. In
welchem Umfang und an welchem Ort diese Leistungen zu erbringen wären, ist aber
- das liegt in der Natur des Beschaffungsgegenstands - in keiner Weise vorhersehbar.
Demgegenüber muss grundsätzlich bereits die ursprüngliche Ausschreibung
eindeutig erkennen lassen, unter welchen Umständen der abzuschließende Vertrag
wann und wie geändert werden kann; damit sind dem Umfang nach theoretisch
unbegrenzte Ausweitungen der Leistungsmenge, zumal bei unbekanntem
Leistungsort, kein tauglicher Gegenstand von Erweiterungsklauseln, auf die zur
Rechtfertigung einer späteren Auftragsvergabe ohne wettbewerbliches Verfahren
zurückgegriffen werden könnte. Stellt sich aber damit eine Beschaffung von
Leistungen, wie hier in ###, als wesentliche Änderung des Gegenstands eines
öffentlichen Auftrags während seiner Geltungsdauer heraus, so ist diese
Beschaffung, ungeachtet einer vertraglich vorgesehenen Möglichkeit der
Leistungsausweitung, als Neuvergabe anzusehen, erfordert mithin auch und gerade
verfahrensrechtlich die Einhaltung der vergaberechtlichen Auswahlvorschriften.
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Dem Senat steht durchaus vor Augen, dass dies den Antragsgegner, bei
unkalkulierbaren Schwankungen von Asylbewerber- und Flüchtlingszahlen, vor
zusätzliche Herausforderungen stellt. Dem kann, worauf auch die Vergabekammer
bereits hingewiesen hat, für gewisse Übergangszeiträume durch die Interimsvergabe
von Leistungen Rechnung getragen werden. Die langfristige Leistungsbeschaffung
über etliche Jahre hinweg durch Einschaltung privater Betreiber von zusätzlichen
Unterbringungsstandorten mit nennenswerten Unterbringungskapazitäten ist aber
ohne ein geordnetes Vergabeverfahren rechtlich nicht statthaft. Insbesondere lässt
sich
der
gesetzlich
geforderte
Bieterwettbewerb
für
umfangreiche
Kapazitätsausweitungen an bisher nicht betroffenen Standorten nicht durch eine
Optionsklausel der hier in Rede stehenden Art ausschalten.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 120 Abs. 2 GWB i.V.m. § 78 GWB, der
festgesetzte Verfahrenswert aus § 50 Abs. 2 GKG, wobei der Senat von einem
Mindestauftragswert von mehr als dem Doppelten des vergaberechtlichen
Schwellenwerts ausgeht.
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