Die Predigt von Weihbischof Georgens im Wortlaut

Beauftragung zum Lektorat und Akolythat 2016
Les.: 1 Petr 1,17-21
Ev.: Mk 14,3-9
„Lasst sie gewähren!“ hat Schwester Sigmunda May unter den Holzschnitt
geschrieben, den ich in meiner Wohnung aufgehängt habe. Die Künstlerin
hat in diesem Bild die Szene aus dem Evangelium dargestellt: Eine Frau
gießt wohlriechendes Salböl über dem Haupt Jesu aus. Jesus sitzt am Boden. Die Frau steht auf den Zehenspitzen und beugt sich über ihn. Mit ihrer Gestalt hüllt sie Jesus gleichsam ein. Ihre Körperhaltung drückt ihre
Leidenschaft aus, mit der sie Jesus umgibt: von den Zehenspitzen auf der
einen bis zum herabfallenden langen Haar auf der anderen Seite. Dieser
Schwarz-Weiß-Holzschnitt fasziniert mich seit dem Tag, als ich ihn mir
vor etlichen Jahren im Atelier von Schwester Sigmunda May als Geschenk
aussuchen durfte.
„Lasst sie gewähren!“ Oder mit den Worten, die wir im Evangelium gehört
haben: „Hört auf! Warum lasst ihr sie nicht in Ruhe?“ (Mk 14,6). Jesus
spricht so zu den Jüngern, die durch das Verhalten der fremden Frau völlig von der Rolle sind. Sie ist ihnen lästig, sie haben kein Verständnis
für die Frau, die in ihre Männergesellschaft einbricht und über Jesu Haar
echtes, kostbares Nardenöl ausgießt: „Wozu diese Verschwendung? Man hätte
das Öl um mehr als 300 Denare verkaufen und das Geld den Armen geben können“ (14,5). Das Öl aus der Alabasterflasche, es ist ein Brautgeschenk,
das Kostbarste, das sie besitzt, wahrscheinlich für viele, viele Auftritte gedacht. Diese Flasche gießt sie über dem Haupt Jesu aus. Das wirkt
schon ein wenig hilflos und unvernünftig, auch viel zu spontan und
überschwänglich. Vor allem: Es ist nicht mehr rückgängig zu machen! Aber
was muss es Jesus gut getan haben! „Sie hat ein gutes Werk an mir getan.
Denn die Armen habt ihr immer bei euch, und ihr könnt ihnen Gutes tun, so
oft ihr wollt, mich aber habt ihr nicht immer“ (14,7).
Wo noch einmal in den Evangelien spricht Jesus so von sich? Wo noch einmal stellt er sich selber, mit seinen eigenen Bedürfnissen so unbefangen
denen gegenüber, zu denen er gesandt ist? Wo noch einmal nimmt er sich
wichtiger als sie? Die Frau gibt ihm, was ihm die Jünger offenbar nicht
geben können. Die haben ständig die große gemeinsame Sache vor Augen,
aber sie haben noch nicht begriffen, dass es Jesus um gar keine Sache,
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sondern um den Menschen geht. Sie zerbrechen sich den Kopf über die Armen
– und übersehen dabei den einzigen Armen, der es jetzt nötig hätte, wahrgenommen zu werden. „Sie hat getan, was sie konnte, Sie hat im Voraus
meinen Leib für das Begräbnis gesalbt … Lasst sie gewähren!“ Jesus fühlt
sich in seiner Not von dieser Frau verstanden, das hilft ihm das Unverständnis der Jünger zu ertragen.
Und noch ein Wort, das im Evangelium seinesgleichen sucht: „Amen, ich sage euch: Überall auf der Welt, wo das Evangelium verkündet wird, wird man
sich an diese Frau erinnern und erzählen, was sie getan hat“ (14,9). Jesus stiftet ein „Gedächtnis“ dieser namenlosen Frau, das weltweit Geltung
haben soll. „Tut dies zu meinem Gedächtnis“, wird er bei der Feier des
Abendmahles sagen. Wir kommen diesem Auftrag nach, wenn wir die Eucharistie zu seinem Gedächtnis feiern. Halten wir auch das Gedenken an diese
Frau in Ehren, die Jesus, den Christus, in dieser leidenschaftlichen Geste gesalbt hat!
Durch diese Frau, die Jesus gesalbt hat, durfte Jesus sich als den Gesalbten Gottes erfahren – hautnah, wirklich, sakramental: „Der Geist des
Herrn ruht auf mir, denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt,
damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe…“ (Lk 4,18). Salbung ist
keine steife Prozedur zur Bestellung von israelitischen Königen, mittelalterlichen Kaisern und heutigen Oberhirten. Salbung ist etwas, das überschwänglich und zärtlich aus den Tiefen Gottes hervorbricht, so wie bei
dieser Frau. Salbung meint das überschwängliche Wohlwollen, mit dem der
Vater Jesus im Heiligen Geist überschüttet hat: „Du bist mein geliebter
Sohn, an dir habe ich Gefallen gefunden“ (Mk 1,11).
Man muss diese Frau anschauen, um zu begreifen, wer Gott ist. Was Gott an
ihm tut, erfährt Jesus durch das Tun einer Frau. In ihrer Zuwendung begegnet er Gottes Zuwendung, in ihrem Erbarmen erfährt er Gottes Erbarmen,
in ihrer Liebe Gottes Liebe. Jesus versteht dieses Zeichen. Er empfängt
dieses Sakrament. Es wird ihm zur Heiligen Ölung.
Exegeten beschäftigen sich mit der Frage: Wo soll man den Anfang der Passionsgeschichte setzen? Bei der Verhaftung Jesu, beim Entschluss seiner
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Gegner, ihn zu töten, beim Einzug nach Jerusalem, bei der Vorhersage seines Leidens?
Für mich ist die Geschichte von der Salbung Jesu in Bethanien, im Haus
Simons des Aussätzigen wie ein Eingangsportal zur Passionsgeschichte. Jesus, der Gesalbte Gottes, wird von einer Frau gesalbt – im Hinblick auf
sein Leiden und seinen Tod. Was am Ostermorgen den drei Frauen, die mit
kostbarem Salböl unterwegs sind, verwehrt ist – sie finden ja das Grab
leer, denn Jesus ist auferstanden – hier geschieht es: die zärtliche Salbung.
In zwei Tagen treten wir mit der Feier des Palmsonntag in die Hl. Woche
ein. Mögen wir mit dem Gedächtnis des Leidens und der Auferstehung Jesu
die Erinnerung an diese Frau in Ehren halten – bis er kommt in Herrlichkeit. Amen.