Guzzoni (48716) p. / 20.32015 Ute Guzzoni / Michiko Yoneda (Übers. und Hg.) Zwischen zwei Wellen VERLAG KARL ALBER A Guzzoni (48716) p. / 20.32015 300 Haiku, in denen Wasser in all seinen Erscheinungsformen zur Sprache kommt, haben – das ist das Besondere an diesem Buch – eine deutsche und eine japanische Philosophieprofessorin gemeinsam ausgewählt und übersetzt. Unter anderem haben sie sich dazu im Laufe der Arbeit vier Wochen lang in ein Dorf in der Yoshino-Gegend südlich von Kyoto zurückgezogen und dort jedes Haiku, oft Zeichen für Zeichen, Wort für Wort, durchgesprochen. Aber nicht nur das thematische Band von Tautropfen, Regen und Schnee über Bach, Fluss, Teich, See und Meer bis zu Nebel und Wolken war für die Auswahl bestimmend. Es ging auch darum zu versuchen, die Einfachheit und Knappheit des japanischen Originals, aber auch die Stimmung eines jeden Haiku in die deutsche Sprache zu übertragen. Immer wieder erstaunlich dabei war, wie ein geringes Ding, ein geringfügiges Ereignis bzw. eine flüchtige Ich-Erfahrung, in 17 Silben verdichtet, Bezüge zwischen der Welt und dem Ding, zwischen Stille und Klang, Raum und Ort, Nichts und Etwas zu evozieren vermag. Der Anhang gibt Hinweise zur Auswahl und Art der Übertragung sowie zur Form der Haiku. Ergänzt ist die frühere Ausgabe um Ute Guzzonis Aufsatz »›Ein Vogel ruft, der Berg wird noch stiller‹. Die Dinge und das Unsichtbare – die Haiku-Dichtung und Heidegger«. Die Herausgeberinnen: Ute Guzzoni, geb. 1934, lehrte als Professorin an der Universität Freiburg i. Br. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt im Verlag Karl Alber: Unter anderem: die Dinge (2008), Gegensätze, Gegenspiele (2009), Der andere Heidegger (2009), erstaunlich und fremd (2012), Im Raum der Gelassenheit: die Innigkeit der Gegensätze (2014), Nichts (2014). Michiko Yoneda, emeritierte Professorin für Philosophie an der Kanazawa-Seiryô Universität in Japan. Promotion 1983 in Freiburg i. Br. Verschiedene Veröffentlichungen zu Martin Heideggers Denken, zur Seinsfrage und Seinsgeschichte. Übersetzung ins Japanische: Ute Guzzoni, Wohnen und Wandern, 2002. Sie lebt heute zurückgezogen in der Gegend von Yoshino. Guzzoni (48716) p. / 20.32015 Zwischen zwei Wellen 300 Haiku zu Flüssen und Nebel und Meer … Ausgewählt und übertragen von Ute Guzzoni und Michiko Yoneda Verlag Karl Alber Freiburg / München Guzzoni (48716) p. / 20.32015 Dies ist eine veränderte und erweiterte Neuausgabe des im Jahr 2006 im Parerga Verlag erschienenen Buches »Weiße Tautropfen. 300 Haiku zu Flüssen und Nebel und Meer …«. Photographien von Ute Guzzoni ® MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen www.fsc.org FSC® C083411 © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2015 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise GmbH, Trier Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN 978-3-495-48716-7 Guzzoni (48716) p. / 20.32015 Inhalt Ute Guzzoni »›Ein Vogel ruft, der Berg wird noch stiller‹. Die Dinge und das Unsichtbare – die Haiku-Dichtung und Heidegger« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 300 Haiku Ute Guzzoni Zur Auswahl und Übertragung . . . . . . . . . . . . . 147 Michiko Yoneda Einige Notizen zur Form der Haiku . . . . . . . . . . . 152 Liste der Dichter und Dichterinnen . . . . . . . . . . . 157 Quellennachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 5 Guzzoni (48716) p. / 20.32015 Guzzoni (48716) p. / 20.32015 »Ein Vogel ruft, der Berg wird noch stiller« Die Dinge und das Unsichtbare – die Haiku-Dichtung und Heidegger 1 »Blau sieht so aus wie der Himmel.« »Ein Vogel ruft, der Berg wird noch stiller.« Die Erfahrung, die sich in diesem Satz und in vielen Haiku ausspricht, scheint mir der Einsicht oder Intuition verwandt zu sein, die Heideggers Gedanken über das Verhältnis von Dingen und Welt prägt. Diese Verwandtschaft oder Entsprechung will ich in den folgenden Überlegungen sichtbar machen. Der Blick auf das Verhältnis von Dingen und Welt bei Heidegger kann gewisse Grundlinien der Haiku-Dichtung verdeutlichen, und umgekehrt ist jenes Denken durch eine Einsicht in das, was in einem Haiku geschieht, verständlicher zu machen. 2 Heideggers Denken hat bekanntlich schon früh eine bemerkenswerte Anziehungskraft auf ostasiatische, insbesondere zen-buddhistisch ausgerichtete Philosophen ausgeübt. Er selbst hat wiederholt auf die Wichtigkeit eines zukünftigen Gesprächs des abendländischen mit dem ostasiatischen Denken hingewiesen. In der Aufsatzsammlung Unterwegs Dieser Text ist in leicht veränderter Fassung zuerst erschienen im Band »Komparative Ästhetik: Künste und ästhetische Erfahrungen zwischen Asien und Europa«, herausgegeben von Rolf Elberfeld und Günter Wohlfart, Köln 2000, S. 249–264. Zu meinem Verständnis der Haiku vgl. auch das Buch »Nichts. Philosophische Skizzen«, Freiburg / München 2014. 2 Daß ich beides aufeinander beziehe, besagt jedoch nicht, daß meine Überlegungen zwischen dem westlichen und ostasiatischen Erfahren und Denken angesiedelt wären. Ich gehe eindeutig von unserer, der abendländischen Situation aus, auch wenn ich sie in bestimmten ihrer Grundzüge kritisch befrage. 1 7 Guzzoni (48716) p. / 20.32015 zur Sprache veröffentlichte er einen Text, den er Gespräch mit einem Japaner nannte und der deutlich zeigt, welchen Wert er einer Auseinandersetzung mit jener ganz anderen Denkweise beigemessen hat. Und an anderer Stelle betont er, daß unser Denken »nicht mehr in seiner abendländischen Vereinzelung verbleiben« könne. 3 Allerdings ist Heidegger bei solchen Bemerkungen immer sehr vorsichtig gewesen, weil er sich der Gefahr der gegenseitigen Vereinnahmung und damit Verfälschung der Denkansätze bewußt war. Ich denke, es ist nicht zu übersehen, daß zwischen beiden auch sehr grundsätzliche Unterschiede bestehen. Z. B. geht es Heidegger, wie der abendländischen Tradition insgesamt, um die ontologische Wahrheit von Welt und Dingen, – und nicht um die Erfahrung des selbstlosen Selbst, eine das Selbst in seinem Innersten verändernde, es erleuchtende Einsicht. Heidegger hat jedoch einen wichtigen Schritt über den metaphysischen Ansatz des abendländischen Denkens hinaus getan, der sein Denken für Grunderfahrungen des fernöstlichen Denkens geöffnet hat. Es bleibt eine bemerkens- und bedenkenswerte Tatsache, daß sich innerhalb des zeitgenössischen Philosophierens eine Denkerfahrung Bahn bricht, die bis zu einem gewissen Grad einer Grundeinsicht z. B. des zenbuddhistischen Wissens analog zu sein scheint, – analog, nicht gleich, weil eben auf ganz anderen Prämissen aufbauend und anderen Intentionen entsprechend. Vermutlich ist für uns heute beides gleich notwendig: in einem ersten Schritt die sich hier zeigenden verblüffenden Entsprechungen im Weltverhältnis herauszuarbeiten und in einem zweiten dann zu fragen, wo gleichwohl die entscheidenden Differenzen liegen und wo dementsprechend ein für beide Gesprächsteilnehmer fruchtbarer Ansatz zur Kommunikation aufzugreifen wäre. 3 8 Hölderlins Erde und Himmel, GA Bd. 4, S. 177. Guzzoni (48716) p. / 20.32015 Im Folgenden beschränke ich mich auf einen kleinen Ausschnitt jenes ersten Schrittes, indem ich gewisse Entsprechungen zwischen dem Denken des späteren Heidegger und der stark durch den Zen-Buddhismus geprägten Haiku-Dichtung aufzeige, wobei sich der Vergleich auf ein einziges, allerdings zentrales Motiv konzentriert. Im Blick zu behalten ist freilich, daß Philosophie und Dichtung unterschiedliche Weisen des Sagens sind, auch wenn ich auf diesen Unterschied nicht näher Bezug nehmen will. Eine weitere Schwierigkeit mag darin liegen, daß ich in diesem Zusammenhang die Haiku-Dichtung bewußt als eine Einheit behandle, wohl wissend, daß sie im Laufe der über sechshundert Jahre, seit es sie gibt – die von mir herangezogenen Beispiele reichen von den Anfängen bis in die Gegenwart – beträchtliche Wandlungen durchgemacht hat. Die ersten Anfänge gehen in das 13. Jahrhundert zurück, als sich das Haiku in der Form der Anfangsstrophe eines von verschiedenen Dichtern gemeinsam verfaßten Kettengedichts zu entfalten und in der Folge zu verselbständigen begann. Seine Blütezeit war im 15. und 16. Jahrhundert, es ist aber bis heute in Japan überaus beliebt. Das Haiku besteht fast durchweg aus drei Zeilen mit respektive 5,7,5 Silben und enthält – jedenfalls in der traditionellen Form – stets ein in irgendeiner Weise die Jahreszeiten anzeigendes Wort (kigo). Damit gehört es immer, auch wo es z. B. von häuslichen Dingen handelt, in irgendeiner Weise in einen Naturzusammenhang. 4 Andere Merkmale sind u. a. das sogenannte »Schneidewort« (kireji) oder die konstitutiven Pausen. Ich gehe hier jedoch nicht auf die poetische Form des Haiku ein, wozu mir auch, schon aus sprachlichen Gründen, die Kompetenz fehlen würde. Da ich nicht Japanisch spreche, habe ich auf Übersetzungen – vor allem ins Deutsche, aber auch ins Englische und Italienische – zurückgreifen müssen. Nur in sehr wenigen Einzelfällen hatte ich den japanischen Originaltext zur Verfügung, so daß ich die Übersetzung mit Japanern besprechen konnte. Wo es möglich war, habe ich verschiedene Übersetzungen verglichen, jeweils aber nur eine als Quelle angegeben. Meistens habe ich von meinem 4 9 Guzzoni (48716) p. / 20.32015 300 Haiku Guzzoni (48716) p. / 20.32015 Guzzoni (48716) p. / 20.32015 春の海終日のたりのたり哉 haru no umi hinemosu notari notari kana Das Meer im Frühling. Ruhiger Wellengang den ganzen Tag … Buson ひと日終へあやめの水に手を洗ふ hitohi ohe ayame no mizu ni te wo arafu Vollendet das Tagwerk – ich wasche meine Hände im See, bei den Schwertlilien. Sosei 狼の声そろふなり雪のくれ ôkami no koe sorofu nari yuki no kure Nächtlicher Schneefall – Rufe von Vogelschwärmen. Jôsô 31 Guzzoni (48716) p. / 20.32015 畑うつやうごかぬ雲もなくなりぬ hata utsu ya ugokanu kumo mo nakunarinu Der Pflug geht übers Feld – sogar die reglosen Wolken haben sich verzogen. Buson 五月雨も仕舞ひのはらりはらりかな samidare mo shimahi no harari harari kana Unaufhörlich der Sommerregen. Es tropft und tropft und tropft. Issa 垂氷照り日輪氷る虚空かな taruhi teri nichirin kôru kokû kana Glänzende Eiszapfen. Ein gefrorener Sonnenball. Leere. Nichio 32 Guzzoni (48716) p. / 20.32015 結ぶより早歯にひびく泉かな musubu yori haya ha ni hibiku izumi kana Frisches Quellwasser – eisig kalt zwischen den Zähnen … Bashô 雨晴れて蓮に真如の月夜哉 ame harete hasu ni shinnyo no tsukiyo kana Es hat aufgeklart. – Auf den Lotosblättern die unverbrüchliche Wahrheit des Vollmonds. Seishû (Todesgedicht) 朝露に翅をたたみて蝶ねむる asatsuyu ni hane wo tatamite chô nemuru Benetzt vom Morgentau schläft der Schmetterling mit gefalteten Flügeln. Haruko 33 Guzzoni (48716) p. / 20.32015 76 Guzzoni (48716) p. / 20.32015 77 Guzzoni (48716) p. / 20.32015 78 Guzzoni (48716) p. / 20.32015 山姥の水櫛使ふ滴りか yamanba no mizukushi tsukafu shitatari ka Tropft es, weil die Berghexe ihre nassen Haare kämmt? Benio 暁のひややかな雲流れけり akatsuki no hiyayakana kumo nagare keri Morgendämmerung – die kühlen Wolken haben sich verzogen. Shiki 山の温泉や裸の上の天の川 yama no yu ya hadaka no ue no ama no gawa Ein heißes Bad am Berg – über meinem nackten Körper die Milchstraße. Shiki 79
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