Der Mythos Konzernzentrale - IfB Management

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Wirtschaft
F R A N K F U RT E R A L LG E M E I N E Z E I T U N G
Europlatz Frankfurt
DER BETRIEBSWIRT
Integration braucht Flexibilität
Der Mythos Konzernzentrale
Von Holger Schmieding
Jahr wird Deutschland
Imehrnnachdiesem
Schätzungen etwa 500 000
Zuwanderer aufnehmen als am
Sie werden als Zeichen
von Leistung und
Erfolg bewundert, aber
auch als Ort der
Machtkämpfe und
Bürokratie misstrauisch
beäugt. Haben Konzernzentralen in Zeiten der
digitalen Vernetzung
und der Globalisierung
noch einen Sinn?
Von Markus Menz,
Sven Kunisch und
David J. Collis
ast jeder kennt sie: die DeutscheBank-Türme in Frankfurt, die
BMW-Zentrale im markanten VierZylinder-Hochhaus in München oder das
herrschaftliche Siemens-Hauptquartier
am Münchener Wittelsbacherplatz. Sie
alle sind Wahrzeichen für ihre Unternehmen. Und nicht nur traditionsreiche Banken und Industrieunternehmen, auch die
Stars des Internetzeitalters bauen medienwirksam gigantische Zentralen: „Googleplex“ oder „Apple Circle“ setzen den globalen Anspruch einstiger Garagen-Startups wirkungsvoll in Szene. Immer wieder
finden solche Konzernzentralen in der
Wirtschaftswelt, aber auch in der breiten
Öffentlichkeit Beachtung.
Dabei blicken die meisten Menschen
mit gemischten Gefühlen auf die prächtigen Hauptquartiere: Zur Bewunderung
des Machtzentrums, in dem Weichen für
die Zukunft gestellt und über Karrieren
entscheiden wird, gesellt sich eine instinktive Skepsis gegenüber der Zusammenballung einer vermeintlich lähmenden Bürokratie oder dem Austragungsort brutaler
Rangordnungskämpfe. Dieser Ambivalenz liegen vielfach Vorurteile zugrunde:
Denn um kaum eine andere Organisationseinheit ranken sich so viele Mythen
wie um die Konzernzentrale.
Vor allem drei weitverbreitete Meinungen tauchen immer wieder auf. Erstens:
Die Konzernzentrale wird als unnützer
„Overhead“ gesehen – als Wasserkopf,
der geringen Nutzen, aber hohe Gemeinkosten verursacht, die von dem Unternehmen wiederum zusätzlich zu erwirtschaften sind. Dazu gehört auch das Bild von
der Konzernzentrale als Bürokratiemonster, dessen Daseinszweck vor allem darin
zu bestehen scheint, die operativen Einheiten von der Arbeit abzuhalten. Bei Mitarbeitern außerhalb der Zentrale gehören
deshalb Spott und Hohn über die Verwaltung traditionell zum guten Ton.
Daraus abgeleitet, besagt ein weiteres
Vorurteil, dass kleine Konzernzentralen
besser sind als große. Die pauschale Forderung, Unternehmen sollten ihre Zentralen „abspecken“, ist eine der meistgelesenen Aussagen in der Presse. „Unternehmen haben noch immer zu viele Köpfe in
der Zentrale“ beklagte etwa der „Economist“ 2008, um sechs Jahre später – nur
wenig hatte sich offenbar geändert – nachzulegen: „Konzernzentralen haben Gewicht angesetzt und müssen wieder abnehmen.“
Zu diesen beiden Vorurteilen kommt
als drittes Element die meist als selbstverständlich vorausgesetzte Annahme, jedes
Unternehmen habe genau eine Heimat,
nämlich die Zentrale. Vielfach wird mit
ihr ein physischer Ort, oft ein repräsentatives Gebäude verbunden, in dem das Topmanagement des Unternehmens sitzt.
Die eingangs genannten Beispiele zeigen
dies exemplarisch.
Doch wie viel Wahrheit steckt hinter
all diesen Aussagen? Ein Blick auf die Forschung der vergangenen 50 Jahre fördert
eine Fülle von Erkenntnissen über Rolle
und Bedeutung der Konzernzentrale zutage, die manches Vorurteil erschüttern,
gleichzeitig aber noch wichtige Lücken
zeigen. Um dem auf den Grund zu gehen,
ist es notwendig, auf die drei Dimensionen der Konzernzentrale einzugehen: das
„Warum“, also Daseinszweck und strategische Dimension der Zentrale; das „Wie“,
also die Frage nach der organisatorischen
Gestaltung, das ist die strukturelle Dimension; und schließlich das „Wo“, also Standort und geographische Dimension. Es
wird sich zeigen, dass alle drei Aspekte
miteinander verbunden sind.
Warum gibt es überhaupt ein Hauptquartier? Die „raison d’être“ ist zweifelsfrei die Kernfrage in der Forschung zur
Konzernzentrale. In der Vielzahl von Aufgaben und Funktionen, die diskutiert werden, lassen sich zwei grundlegende Rollen unterscheiden: Erstens erfüllt die Zentrale eine administrative Rolle. Gerade
ökonomische Theorien stellen sie ins Zentrum: Hierzu gehört die Erfüllung von gesetzlichen oder regulatorischen Aufgaben, die jedes Unternehmen erfüllen
muss, etwa Konzernrechnung und Compliance. Ferner zählt dazu das Schaffen interner Anreizsysteme und entsprechend
die Kontrolle der verschiedenen operativen Einheiten des Unternehmens.
Während sich die Kosten der Konzernzentralen, sei es für Mitarbeiter, Infrastruktur oder die Gebäude, relativ verläss-
Jahresbeginn erwartet. Damit wird sich
unsere Wohnbevölkerung um etwa 0,6
Prozent erhöhen. Wenn wir die Weichen der Wirtschaftspolitik richtig stellen, könnten wir einen Teil unseres demographischen Problems für das kommende Jahrzehnt lösen. Wenn wir uns
allerdings weigern, unsere Wirtschafts- und Bildungspolitik entsprechend anzupassen, könnten
uns in einigen Jahren zunehmend kostspielige Probleme drohen. Kurzfristig gibt der Staat
für Zuwanderer mehr Geld aus.
Für die zweite Hälfte dieses Jahres und für 2016 könnten die Zusatzausgaben bei etwa 0,4 Prozent der Wirtschaftsleistung liegen.
Wegen der Wirtschaftsstärke, die wir
den Reformen der Agenda 2010 zu verdanken haben, lässt sich dies gut verkraften. Deutschland kann trotzdem einen
Überschuss im Staatshaushalt erwirtschaften. Konjunkturell ergeben diese
Mehrausgaben einen kleinen fiskalischen Stimulus, der beim Staatsverbrauch und dem privaten Konsum sichtbar wird. Für die gesamtwirtschaftliche
Nachfrage kann dies den Rückschlag
durch weniger Ausfuhren in Schwellenländer sowie den zu vermutenden Einbruch bei Produktion und Absatz von
Dieselautos in etwa ausgleichen. Da es
Zuwanderer vor allem in die Ballungsgebiete zieht, kann sich die Kluft zwischen
robusten Immobilienmärkten dort und
schwächelnden Wohnungsmärkten im
ländlichen Raum noch etwas vertiefen.
Auf der Nachfrageseite sind dies allerdings eher kurzzeitige Effekte. Langfris-
F
tig kommt es vor allem auf die Angebotsseite an. Die Mehrheit der Zuwanderer
möchte arbeiten, auch deshalb streben
sie zu uns. Viele Zuwanderer sind offenbar hochmotiviert, einige zudem gut gebildet. Allerdings mangelt es ihnen weitgehend an Kenntnissen der deutschen
Sprache sowie vielfach an einer für unseren Arbeitsmarkt unmittelbar relevanten Berufserfahrung oder Ausbildung.
Selbst wenn es uns gelingt, ihren Aufenthaltsstatus rasch zu
klären und denjenigen, die bleiben können, schnell Grundkenntnisse unserer Sprache und
Gepflogenheiten zu vermitteln,
werden die meisten wohl zunächst auf eher niedrigem Niveau in den Arbeitsmarkt einsteigen müssen, um sich dann
schrittweise hochzuarbeiten.
Die wirtschaftspolitisch wichtigste
Aufgabe ist es, Zugangshürden zum Arbeitsmarkt abzubauen. Mit einem neuen
Angebot an nicht voll qualifizierten Arbeitskräften müssen wir einen größeren
Niedriglohnsektor zulassen. Ansonsten
würden wir viele Zuwanderer zu langer
und teurer Arbeitslosigkeit verurteilen.
Konsequent wäre ein Senken des Mindestlohns für alle Einsteiger in unseren
Arbeitsmarkt für einige Jahre. Zusätzlich müssten alle Pläne vom Tisch, Zeitarbeit und andere flexible Beschäftigungsformen zu beschränken. Wenn wir
mehr Flexibilität gewähren, kann das zusätzliche Angebot an Arbeitskräften unser Wachstumspotential erhöhen. Damit vermindern wir gleichzeitig das Restrisiko eines unerwünschten Anstiegs
der Inflation. Darüber würde sich auch
die Europäische Zentralbank freuen.
Der Autor ist Chefvolkswirt bei Berenberg.
WIRTSCHAFTSBÜCHER
Illustration Peter von Tresckow
lich bestimmen lassen, ist der Mehrwert
nur schwer in Zahlen zu fassen. Und da
kein Unternehmen um die Erfüllung der
gesetzlichen Pflichten wie die Erstellung
eines Konzernabschlusses oder das Risikomanagement herumkommt, bietet dieser Bereich nur wenig Potential zur (strategischen) Abgrenzung von den Wettbewerbern.
Zweitens wird der Zentrale auch eine
wertstiftende Rolle zugeschrieben – vor
allem in Managementtheorien. Hierzu
zählen zum einen Shared Services etwa
im Personalwesen und in der Informatik,
die aus Effizienzgründen zentralisiert
sind; und zum anderen Aktivitäten zur
(langfristigen) Wertschaffung für das Gesamtunternehmen, etwa strategische und
koordinative Aufgaben. Anders als bei
der ersten Rolle mit ihrem administrativen Charakter („loss preventing“) zeigt
sich hier die eigentliche strategische Bedeutung („value adding“), die den Konzernzentralen oft zugeschrieben wird.
Dass mit dieser (vermeintlich) wertstiftenden Funktion wichtige Stellhebel für
den Unternehmenserfolg verbunden
sind, wird oft nicht ausreichend beachtet.
Wie diese Hebel sich auswirken, hängt
von der strategischen Ausrichtung des Gesamtunternehmens ab. Einige Konzerne
üben einen großen Einfluss auf die Strategie der verschiedenen Unternehmensbereiche aus. In ihren Zentralen sind daher
eigene Stäbe mit umfangreichen Kompetenzen für Strategie und Akquisitionen
anzutreffen. Das Gegenmodell sind eher
dezentral ausgerichtete Unternehmen, in
denen sich die Zentrale auf die finanzielle Steuerung der operativen Einheiten beschränkt. In diesen Fällen sind in den Zentralen neben den obligatorischen Aufgaben nur wenige weitere Aktivitäten angesiedelt.
Angesichts dieser administrativen und
wertstiftenden Funktionen greift der
Vorwurf des „unnützen Wasserkopfes“ in
doppelter Hinsicht zu kurz. Verschiedene
Studien zeigen unisono, dass die Konzernzentrale nicht per se Wert vernichtet, sondern dass die Abstimmung von Unternehmensstrategie, Organisationsstruktur
und Ausgestaltung der beiden Rollen der
Konzernzentrale für den Unternehmenserfolg entscheidend ist.
In der Zentrale von Warren Buffets Unternehmensholding Berkshire Hathaway
arbeiteten im vergangenen Jahr laut Geschäftsbericht gerade einmal 25 Mitarbeiter – bei einer Gesamtunternehmensgröße von etwa 340 000 Mitarbeitern und
rund 195 Milliarden Dollar Umsatz. Zur
gleichen Zeit beschäftigte die Schweizer
Großbank UBS allein in ihrer Zentrale
23 637 Mitarbeiter. Ist die Zentrale des einen Unternehmens deshalb tausendmal
so effektiv wie die des anderen?
Gerade die weitverbreitete Annahme,
eine kleine Konzernzentrale sei nicht nur
(kosten)effizienter, sondern auch mit weniger Einmischung in das operative Geschäft verbunden, lässt sich mit Blick auf
die Forschung nur schwer stützen. Mehrere Studien zeigten in den 1990er und
2000er Jahren eine ungeheure Vielfalt
von Größe und Aufbau der Zentralen.
Daraus ab einer bestimmten Größe auf
ein wertfressendes Bürokratiemonster zu
schließen wäre jedoch ein Trugschluss.
Vielmehr zeigen sich naheliegende Ursachen für die erheblichen Unterschiede:
Verschiedene Branchen und Industrien erfordern eine unterschiedliche Steuerung,
andere Länder mit anderen regulatorischen Anforderungen und kulturellen
Hintergründen bringen andere Zentralen
hervor.
Darüber hinaus ist jedoch vor allem ein
Aspekt wichtig, den wir weiter oben angesprochen haben: Es gibt eine enorme
Bandbreite, wie die Rollen der Zentrale
ausgestaltet sind, und entsprechend variiert auch der Bedarf an Ressourcen und
Mitarbeitern. Nimmt ein Unternehmen
eine Managementfunktion aus den Geschäftsbereichen heraus und zentralisiert
sie in der Konzernzentrale, so führt dies
zwar zu mehr Mitarbeitern in der Zentrale, aber mit Blick aufs ganze Unternehmen womöglich zu Kosten- und Qualitätsvorteilen.
Es gibt keinen empirischen Beweis dafür, dass kleinere Zentralen besser sind
als größere – im Gegenteil zeigt beispielsweise eine umfangreiche Studie Professor
Collis und seinen Kollegen, dass erfolgreiche Unternehmen durchaus über große
Zentralen verfügen können. Nicht die kleine, sondern die passende Größe sollte es
sein – und die hängt von sehr verschiedenen Faktoren ab.
Siemens sieht seine neugestaltete Zentrale am Münchener Wittelsbacherplatz
als „Visitenkarte“ des Konzerns. Der Chemieriese BASF bezeichnet seine Zentrale
gar als „Herz“ des Unternehmens. In jedem Fall wird mit der Konzernzentrale
ein physischer Ort, oft repräsentatives Gebäude assoziiert, in dem das Topmanagement des Unternehmens sitzt. Oft von
Stararchitekten designt, spielt es eine erhebliche Rolle bei der Selbstdarstellung.
Gleichzeitig zeigt sich aber ein gegenläufiger Trend: Es wird immer weniger
von der einen Zentrale gesprochen, die
vielen verschiedenen Managementfunktionen eine Heimat gibt. Stattdessen haben verschiedene Aufgaben verschiedene
Heimaten, die sich durchaus an verschiedenen Orten befinden können.
Unsere eigenen Untersuchungen zeigen, dass bereits zur Jahrtausendwende
fast jedes zweite große Unternehmen die
Zentrale auf zwei oder mehr Standorte
verteilte. Aktuelle Zahlen deuten darauf
hin, dass sich dieser Trend seitdem weiter
verstärkt hat. Wenn die Holding des FiatKonzerns, der seine Heimat Turin sogar
im Namen führt (Fiat steht für „Fabbrica
Italiana Automobili Torino“) nach der Fusion mit dem amerikanischen Autobauer
Chrysler ihren rechtlichen Firmensitz in
den Niederlanden ansiedelt, ihren Steuersitz aber in Großbritannien hat und ihre
Aktien vor allem in New York handelt, so
ist dies nur das extreme Beispiel für einen
Trend zur geographischen Dispersion,
der sich zunehmend in Unternehmenszentralen verbreitet.
Oft verlagern Firmen zentralisierte
Funktionen dorthin, wo sie am besten ausgeführt werden können oder am sinnvollsten erscheinen. Diese Entwicklung begann mit dem Auslagern von Shared Services (Stichwort: Outsourcing) und geht
heute so weit, dass wertschaffende Konzernaktivitäten global lokalisiert werden
und einige Unternehmen behaupten, sie
hätten lediglich noch eine virtuelle Konzernzentrale, da ihre Topmanager zwischen verschiedenen Standorten pendeln.
Ob beim Outsourcing die erwarteten
Kostenvorteile den höheren Koordinationsaufwand aufwiegen, ist indes in der
Forschung nicht unstrittig. Und auch über
die Rolle und Bedeutung von „verteilten“
bis hin zu „virtuellen“ Konzernzentralen
und den vielschichtigen, damit verbundenen Fragestellungen, gibt es bisher kaum
wissenschaftliche Erkenntnisse.
Eine Prognose lässt sich heute mit einiger Wahrscheinlichkeit treffen: Auch in
Zukunft wird jedes Unternehmen eine
Konzernzentrale haben – sei es als echtes
Machtzentrum oder identitätsstiftender
symbolischer Ort für Mitarbeiter und andere Stakeholder. Und auch wenn eine intensivere betriebswirtschaftliche Forschung mehr Klarheit über ihre beste Gestaltung liefert: Auch in Zukunft wird sie
gerade wegen dieser symbolischen Bedeutung Ziel von Bewunderung, Kritik und alten wie neuen Vorurteilen bleiben.
Der Inhalt dieses Beitrags basiert auf dem Forschungsartikel „The Corporate Headquarters in the
Contemporary Corporation“, Academy of Management Annals, Vol. 9/2015 (www.the-chq.com).
Futuristisch: Die künftige Apple-Zentrale
Markus Menz ist Professor an der Universität Genf
(Schweiz). Sven Kunisch ist Dozent an der Universität St. Gallen (Schweiz). David J. Collis ist Professor
Foto Archiv
an der Harvard Business School (Boston).
Der Kopf zählt
Resultate international vergleichender Ökonometrie
Eric Hanushek (Hoover, Stanford) und
Ludger Woessmann (München) stellen
die Frage, wie sich die Humankapitalausstattung auf das Wirtschaftswachstum
auswirkt. Die Antwort ist eindeutig: Der
Einfluss ist sehr stark. Man muss allerdings die Fähigkeiten der Menschen
richtig erfassen: über Testergebnisse,
die mathematische oder naturwissenschaftliche Kenntnisse oder Lesefähigkeit erfassen und nicht nur den Schulbesuch, der zwar Kenntnisse vermitteln
soll, aber nicht selten dabei versagt.
Kern des Buches sind Regressionsanalysen, in denen die Wachstumsunterschiede zwischen meist rund 50 Ländern
zwischen 1960 und 2000 erklärt werden.
Neben den durch Tests erfassten kognitiven Fähigkeiten spielt das Ausgangsniveau des Bruttoinlandsprodukts pro
Kopf eine Rolle, manchmal auch institutionelle Merkmale von Volkswirtschaften, wie Offenheit oder Eigentumsschutz, aber der Schulbesuch hat keine
direkten Effekte. Auf den Lernerfolg
kommt es an. Das gilt an beiden Enden
der Testskalen, wobei erstaunlicherweise in Entwicklungsländern der Effekt
der Hochleistungsfähigen auf das Wachstum besonders stark ist.
Das entscheidende dritte Kapitel
wird in den beiden ersten vorbereitet
durch eine allgemeine Diskussion von
mehr oder weniger erfolgreichen Ländern, etwa Wirtschaftswunder in Ostasien und schwaches Wachstum in Lateinamerika, durch eine sehr kurze Skizze unterschiedlicher Wachstumsmodelle und vor allem im Anhang zum zweiten Kapitel dazu, wie man die verschiedenen Testergebnisse in verschiedenen
Ländern mit verschiedenen Testaufgaben für unterschiedlich alte Schülergruppen zu einer gemeinsamen, international vergleichbaren Skala zusammenfassen kann.
Im vierten bis sechsten Kapitel setzen
sich Hanushek und Woessmann mit
denkbaren Einwänden gegen ihre These
auseinander, dass kognitive Fähigkeiten
ein entscheidender Wachstumsmotor
sind. Das führt zu einer großen Zahl zusätzlicher Regressionen. Zweifel an der
kausalen Interpretation des Zusammenhangs werden zurückgewiesen. Es wird
auch gezeigt, dass eine Trendverbesserung bei den kognitiven Leistungen mit
einer Verbesserung des Wachstumstrends korreliert. Den Wachstumsunterschied zwischen Lateinamerika und Ostasien kann man weitgehend durch die
viel besseren ostasiatischen Testergebnisse erklären. Auch unter den hochentwickelten westlichen Gesellschaften
bleibt der Effekt kognitiver Fähigkeiten
sehr stark.
In den beiden letzten Kapiteln diskutieren die Autoren Möglichkeiten zur
Verbesserung des Wachstums durch Verbesserung der Testergebnisse. Sie können leicht starke Wohlstandseffekte aufzeigen, wenn es gelänge, überall ein gewisses Minimum an Fähigkeiten zu erzeugen oder man in allen entwickelten
Ländern so gute Ergebnisse wie lange in
Finnland erreichen könnte. Schwerer
fällt Hanushek und Woessmann, der Politik einen Weg aufzuzeigen, wie man
von der unbefriedigenden Gegenwart in
die bessere Welt von morgen gelangen
kann. Zwar würde auch eine Erhöhung
der Lehrergehälter um 50 Prozent nur einen Bruchteil der Wachstumsgewinne
aufzehren, aber die Autoren wissen,
dass zwar die Qualität der Lehrer von
entscheidender Bedeutung für den Ausbildungserfolg ist, aber sowohl das Gehalt als auch andere leicht messbare Lehrermerkmale keinen nennenswerten
Einfluss auf den Lernerfolg ihrer Schüler haben. So bleibt nur die Hoffnung
auf Anreizverbesserungen für Lehrer
und Schüler oder auf Wettbewerb zwischen Schulen.
Weil das Buch zumindest Grundkenntnisse der Ökonometrie und die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit
den Schwierigkeiten bei der Konstruktion vergleichbarer Skalen voraussetzt, ist
es nicht leicht lesbar. Wegen der Wichtigkeit der Kernbotschaft und der Solidität ihrer Absicherung sind dem Buch
aber möglichst viele Leser zu wünschen.
ERICH WEEDE
Eric A. Hanushek and Ludger Woessmann: The
Knowledge Capital of Nations. MA: MIT Press
Cambridge 2015, 262 Seiten, 28 Dollar
Die Regulierung zählt
Wege zu einem krisenfesteren Finanzsystem
Die jüngste Finanzkrise hat verdeutlicht, wie wichtig eine gute Regulierung
der Finanzbranche ist. Wie eine solche
Regulierung auszusehen hätte, ist allerdings unter Ökonomen wie unter Praktikern umstritten. Um nur ein Beispiel zu
nennen: Eine gute Bankenaufsicht sollte dazu beitragen, dass existenzgefährdende Risiken für Banken rechtzeitig
entdeckt und neutralisiert werden. Andererseits kann es aber kein Ziel einer
Regulierung sein, Banken um jeden
Preis am Markt zu halten. Auch der
Marktaustritt als Folge geschäftspolitischen Scheiterns muss möglich bleiben.
Das vorliegende, von vier Professoren
am House of Finance der Frankfurter
Goethe-Universität
herausgegebene
Buch, behandelt aktuelle Regulierungs-
themen in vierzehn Fachaufsätzen. Ein
erster Teil befasst sich mit der Frage nach
der gesamtwirtschaftlichen Bedeutung finanzwirtschaftlicher
Regulierungen.
Hier geht es unter anderem um optimale
Geldpolitik in einer europäischen Bankenunion, um politökonomische Aspekte
einer gemeinsamen europäischen Bankaufsicht und um die Bedeutung der Stresstests für die europäischen Banken.
In einem zweiten Teil behandeln Aufsätze den optimalen Schutz von Kapitalanlegern und Schuldnern durch Regulierungen. Dazu gehört auch die Frage, ob
es eines weitreichenden Schutzes überhaupt bedarf.
gb.
Ester Faia & et alii: Financial Regulation. A Transatlantic Perspective. Cambridge University Press,
Cambridge 2015, 350 Seiten, 79,99 Pfund