93 Millionen Einwohner in 2050 150908

93 Millionen Einwohner in 2050
Hermann Simon1
Die täglichen Nachrichten quellen über von den unaufhaltsam anschwellenden
Flüchtlingsströmen. Statt der noch im Frühjahr erwarteten 450.000 Asylbewerber sollen es in
diesem Jahr jetzt 800.000 werden. Die akuten Probleme sind kaum zu bewältigen und stehen
verständlicherweise im Zentrum der Sorgen von Politik, Verwaltung und Gesellschaft. Wenig
hört und liest man hingegen zu den langfristigen Konsequenzen, die sich aus diesen
Entwicklungen ergeben. Diese Konsequenzen sind gravierend und stellen unsere Gesellschaft
vor enorme Herausforderungen. Das gilt in organisatorischer und viel stärker noch in
kultureller Hinsicht.
Doch zunächst zu einigen Zahlen. Im Jahre 2015 hat die Bundesrepublik eine Bevölkerung
von etwas mehr als 81 Millionen. Die Zahl der tatsächlich in Deutschland lebenden Menschen
dürfte allerdings um 1-2 Millionen höher liegen. Laut der im Juli veröffentlichten Prognose
des Bundesinstitutes für Bevölkerungsforschung soll die deutsche Bevölkerung bis 2030 auf
79,3 Millionen schrumpfen. In 15 Jahren würden gemäß dieser Vorhersage also 3 Millionen
weniger Menschen in Deutschland leben. Einen weiteren Zeithorizont hat die Prognose der
UNO, die im Jahre 2050 in Deutschland nur noch 73 Millionen Einwohner sieht, knapp 10
Millionen weniger als heute. Das Statistische Bundesamt sieht diese Zahl im Jahre 2060.
Glaubt man diesen Zahlen, so ist Deutschland ein schrumpfendes Land. Hinzukommt kommt
die Verschiebung der Alterspyramide mit den bekannten negativen Folgen auf den Konsum
gemäß dem Motto „alte Leute kaufen nichts“. Der Grundsatz „Demographie ist Ökonomie“
wird, wenn diese Prognosen eintreten, Deutschland schwer zu schaffen machen.
Ich glaube allerdings nicht an diese Zahlen. Meine persönliche Erwartung für die deutsche
Bevölkerung in 2050 lautet 93 Millionen. Dabei will ich mit dieser Zahl keine präzise
Vorhersage, sondern eine Größenordnung zum Ausdruck bringen. Es können auch 100
Millionen werden. Für 1930, also in 15 Jahren, erscheinen mir 85 Millionen als nicht
unrealistisch. Seriöse Prognosen zu diesen Entwicklungen sind unmöglich. Wenn heute die
Zahl der erwarteten Asylanten doppelt so hoch geschätzt wird wie noch vor vier Monaten,
dann zeigt dies, dass sich solche dramatischen Entwicklungen jeder Plan- und
Prognostizierbarkeit entziehen. Wie komme ich zu diesen Zahlen? Wo sollen diese Millionen
von Menschen herkommen?
Im Jahre 2014 hatten wir mehr als eine Million Zuwanderer und lagen damit nur knapp hinter
den USA weltweit an zweiter Stelle. Derzeit kommen die meisten Zuwanderer aus Zentralund Osteuropa, dem Westbalkan und aus Krisenländern wie Syrien. Im Westbalkan sagen 40
Prozent der Menschen, dass sie auswandern werden. Bevorzugtes Ziel ist Deutschland. Die
Zahl der Afrikaner, die sich auf den gefährlichen Weg nach Europa machen, schwillt täglich
an. Heute hat Afrika eine Milliarde Einwohner. Von diesen wollen laut Umfragen 40 Prozent
1
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hermann Simon ist Gründer und Chairman der weltweit tätigen
Unternehmensberatung Simon - Kucher & Partners
nach Europa. Die afrikanische Bevölkerung wird sich laut UNO-Prognose bis 2050
verdoppeln. In den nächsten 35 Jahren werden dort also deutlich mehr als 1 Milliarde
Menschen geboren. Wie viele von diesen wollen nach Europa und insbesondere Deutschland?
Von einem Punkt bin ich fest überzeugt und dieser Punkt bildet die entscheidende Grundlage
für die folgenden Überlegungen: die Zuwandererströme lassen sich nicht aufhalten, allenfalls
etwas abmildern. Wir müssen damit leben, dass in den nächsten Jahrzehnten Millionen von
Menschen nach Deutschland kommen werden. Kein Zaun, keine Mauer, keine Militäraktion,
keine Reduktion von Taschengeld wird das verhindern können. Natürlich sollten wir alles tun,
die Lebensbedingungen in Afrika zu verbessern und Frieden in Krisengebieten zu schaffen.
Aber das wird nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein. Die „Völkerwanderung“ wird
stattfinden. Das Statistische Bundesamt geht in seiner Langfristprognose von einer jährlichen
Nettozuwanderung von 200.000 aus. Ich halte 800.000 für eine wesentlich realistischere
Größenordnung. Das wären 600.000 mehr. Bis 2050, also in 35 Jahren, kommen so gut 20
Millionen mehr zusammen als in den heutigen Prognosen. Das ergibt meine Hausnummer
von 93 Millionen. Ist das realistisch oder Phantasterei? Das kann heute niemand sagen.
Jedenfalls halte ich ein Bevölkerungswachstum für wesentlich realistischer als einen
Rückgang.
Was sind die Konsequenzen, wenn diese Entwicklung eintritt?
Deutschland wird in den nächsten Jahrzehnten ein wachsendes Land sein. Unser
Demographieproblem ist gelöst.Wir brauchen riesige Investitionen, um die zunehmende
Bevölkerung mit Wohnungen und Arbeitsplätzen zu versorgen. Wie sich Einkommen und
Wohlstand entwickeln, hängt dabei vom nächsten Punkt ab.
Wenn wir den Strom der Zuwanderer nicht aufhalten können, dann müssen wir alles tun, sie
erstens zu integrieren und zweitens so auszubilden, dass sie einen produktiven Beitrag leisten
können. Das erfordert erstens eine radikale Änderung der gesellschaftlichen Einstellungen.
Wir sind ein Einwanderungsland! Wir müssen die Chancen, die uns die meist jungen
Zuwanderer bieten, durch Offenheit und Integrationsinitiativen nutzen. Vorbild können hier
die USA sein, die beispielsweise Zuwanderer aus Asien sehr produktiv einbinden. Hingegen
muss das französische Modell der Ghettoisierung unbedingt vermieden werden. Zum zweiten
müssen wir Milliarden in eine schnelle und effektive Bildung dieser neuen
Bevölkerungsgruppen investieren. Wir können unsere Produktivität und unseren Wohlstand
nur mit bestens ausgebildeten Menschen halten.
Die höchste zeitliche Priorität sollte dabei die Sprachausbildung erhalten. Neuankömmlinge,
die hier bleiben wollen, müssen schnellstmöglich die deutsche Sprache zu erlernen. Das geht
nicht ohne Druck, so dass es Arbeit für das Bundesverfassungsgericht geben wird. Denn
Freiheit und der Druck zur Integration lassen sich nicht leicht unter einen Hut bringen.
Wir müssen uns damit abfinden und anfreunden, dass die deutsche Gesellschaft des Jahres
2050 eine völlig andere sein wird als die heutige. Faktisch ist die heutige Gesellschaft schon
sehr viel anders als diejenige von 1990. Wir verdrängen das allerdings. Man gehe mal an
einem Sommerabend durch die Innenstadt von Bad Godesberg. Oder besuchen Sie die
Randbezirke italienischer Großstädte. Dann ist Schluss mit der Verdrängung. In 2050 dürfte
der Anteil afrikastämmiger Deutscher, als Afro-Deutscher, etwa so hoch sein wie derjenige
der Afro-Amerikaner in USA. Die Deutschstämmigen, die Katholiken, die Protestanten
verlieren ihrer Mehrheitsstatus.
Die neuen Bundesländer und auch das Ruhrgebiet werden eine Neubesiedlung erleben. Ein
Schweizer Investor kauft in ostdeutschen Städten ganze Straßenzüge zu sehr niedrigen
Preisen. Seine Begründung: „Deutschland ist im Hinblick auf Klima und Infrastruktur so
attraktiv, dass es nicht unbesiedelt bleiben wird.“ Er hat gute Chancen, langfristig recht zu
behalten.
Wie sich die Entwicklung auf den Arbeitsmarkt auswirkt, lässt sich schwer vorhersagen.
Wachsende Bevölkerung bedeutet mehr Arbeitsplätze. Niedrig Qualifizierte werden durch die
Zuwanderer unter Druck geraten. Wenn die Bildungsinitiativen Früchte tragen, wird der
Talentmangel abgemildert.
Große Herausforderungen kommen auf die Parteien zu. Obama ist Präsident geworden, weil
es ihm gelang, die Stimmen der spanischsprachigen Einwanderer (Hispanics) zu gewinnen.
Die Partei, die bei den Zuwanderern am besten abschneidet, wird in 30 Jahren die Regierung
stellen.
Die Zuwanderung eröffnet große Chancen für die weitere Internationalisierung der deutschen
Wirtschaft. Es gab in den letzten Jahrzehnten zum Beispiel keinen Mangel an Polnisch oder
Russisch sprechenden Nachwuchskräften. Das hat uns in diesen Märkten sehr geholfen. In
ähnlicher Weise eignen sich Afro-Deutsche bestens zur Entwicklung unserer Märkte in
Afrika.
In den nächsten Jahrzehnten dürfte die deutsche Gesellschaft sich stärker verändern als je
zuvor in ihrer Geschichte. Selbst nach dem Zweiten Weltkrieg war der Wandel weniger
radikal, denn die Menschen waren die gleichen. Die Flüchtlinge und Vertriebenen aus Osten
waren überwiegend Deutsche. Diesmal werden die Zuwanderer Menschen aus anderen
Kulturen, anderen Religionen und anderer Hautfarbe sein. Wir sollten alles tun, sie zu
Deutschen zu machen.