Experimente02 – Darley und Latané

Gymnasium Heißen
Projektwoche Jahrgang 11 (28.09.2015 – 02.10.2015))
Minifacharbeit: Darstellung und kritische Betrachtung eines psychologischen
Experiments
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Dr. Puth
4. KAPITEL1
NOTLANDUNG
DARLEYS UND LATANÉS FÜNF SCHRITTE
HILFREICHEN VERHALTENS
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In New York fand 1964 ein furchtbares Verbrechen statt, das zwei junge Psychologen
veranlasste, das Verhalten von Zeugen zu untersuchen. Obwohl John Darley und Bibb Latané
keine Juden waren und ihre Arbeit nie, weder explizit noch implizit, mit dem Deutschland des
Nationalsozialismus’ in Verbindung brachten, wurden die Ergebnisse ihrer Experimente zur
menschlichen Hilfsbereitschaft verwendet, um eine spezifische, die westlichen Kulturen im 20.
Jahrhundert quälende Frage zu klären: Wie war der Holocaust möglich? Darley und Latané
führten eine Reihe von Experimenten durch, in denen sie die inneren und äußeren
Bedingungen untersuchten, die Menschen dazu bringen, die Hilfeschreie eines Mitmenschen zu
ignorieren, sowie die Bedingungen, unter denen Mitmenschlichkeit obsiegt. In mancher
Hinsicht ist Darleys und Latanés Arbeit dem Milgram-Experiment nicht unähnlich, sie weist
aber tiefgreifende Unterschiede auf. Milgram untersuchte den Gehorsam gegenüber einer
einzelnen Autorität. Darley und Latané untersuchten das Gegenteil: was geschieht, wenn in
einer krisenhaften Gruppensituation keine Autorität zur Stelle ist, die die Verantwortung
übernimmt.
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1. Sie, der potenzielle Helfer, müssen erkennen, dass etwas passiert
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Gestern habe ich meine Gasmasken bestellt, eine für mein Kind, eine für mich. Mein Mann hält
das für verrückt und lehnt es ab, sich zu beteiligen. Wir schreiben den 26. September 2001,
Frühherbst, stimmungsvolles Licht, die Twin Towers sind niedergelegt, aber sie schwelen noch.
Es ist nicht lange her, da erhielt ich folgende E-Mail:
Warnung: bakteriologischer Krieg
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Öffnen Sie keine blauen Briefumschläge von der Klingerman Foundation, die Ihnen per Post
zugestellt wurden. Die angekündigten „Geschenke“ sind kleine Schwämme, verseucht mit dem
Klingerman-Virus, das bisher zwanzig Amerikaner das Leben gekostet hat ...
Wahrscheinlich ein übler Scherz, aber trotzdem ... In einem Informationsbericht des
Kongresses, d. h. in einem wesentlich glaubwürdigeren Dokument, las ich kürzlich, wie leicht
es sei, Anthrax zu verbreiten: Man tue das Virus in eine Aerosolflasche, drücke auf den
Zerstäuber und sehe zu, wie sich der weiße Sprühnebel in der Luft auflöst. Mein Mann sagt:
„Wir sollten uns auf den wirklichen Notstand konzentrieren, nämlich den Abbau der
Bürgerrechte in diesem Land und den Aufmarsch der Truppen am persischen Golf.“ Doch was
ist der wirkliche Notstand? Die Situation in den USA ist plötzlich so verworren und schwer zu
entziffern. Deshalb habe ich meine Gasmasken - so weit ist es gekommen! - von einem Laden
mit Militärartikeln bestellt. Innerhalb von 24 Stunden sind sie an meine Haustür geliefert
worden, und ich gehe gleich daran, sie auszupacken. Es überrascht mich, dass die Masken
unter dem Karton noch einmal sorgfältig eingepackt sind, so wie manche Seifen, in
blassgrünes Seidenpapier, dem ein Duft von Lavendel entströmt. Ich wickle das Papier ab,
Schicht für Schicht, bis ich zur Quelle vorstoße, den Horror aus schwarzem Gummi sehe, die
wie Schnauzen geformten Atemeinsätze, die Riemen mit den dicken Schnallen und die
Schutzschirme für die Augen. So sehen sie also aus. Vielleicht war die Bestellung doch eine
Überreaktion. John M. Darley und Bibb Latané, zwei Psychologen, die die Neigung der
Menschen, Gefahren zu verdrängen, untersuchen, würden dies wohl eher verneinen. „Die
Arbeiten von Darley und Latané machen klar, dass wir mit einer möglichen Krise am besten
umgehen, wenn wir übertrieben vorsichtig sind“, sagt die Psychiaterin Susan Mahler. Ich
probiere meine Gasmaske an, mit einem lauten Sauggeräusch heftet sie sich auf mein Gesicht.
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Quelle: Lauren Slater, Von Menschen und Ratten. Die berühmten Experimente der Psychologie,
Weinheim/Basel 2005 [Beltz], 2. Aufl., S. 124 – 148.
Erstveröffentlichung: 2004 in den USA unter dem Titel Opening Skinner’s Box.
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Die Gasmaske für meine Tochter ist wirklich erschreckend. Sie ist so klein, solch eine
Verdichtung des Grauens. Ich halte sie in meiner Hand. Ich rufe meine Tochter und versuche,
sie ihr überzuziehen, aber sie weicht davor zurück und schreit natürlich. Es ist schwer, zu
helfen.
2. Sie müssen das Ereignis so interpretieren, dass Hilfe gebraucht wird
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Bis zum Jahr 1964 hatten John Darley und Bibb Latané wenig Interesse, verschiedene Arten
des
Krisenmanagements
zu
untersuchen.
Sie
waren
zwei
junge
Psychologen,
Assistenzprofessoren, die an ihrer akademischen Karriere bastelten. Doch dann geschah etwas.
Ich teile die Einzelheiten hier nicht mit, um die Leser zu schockieren, sondern um deutlich zu
machen, wie bizarr die Reaktionen der achtunddreißig Zeugen und Zeuginnen waren, die das
Geschehen verfolgten und nicht eingriffen.
Es war der 13. März, ein Freitag, im Jahr 1964. Die Stunden vor der Morgendämmerung im
New Yorker Stadtteil Queens waren kühl und feucht, der Wind roch nach Schnee. Catherine
Genovese, auch Kitty genannt, war auf dem Heimweg von ihrer Nachtschicht in einer Bar, in
der sie als Geschäftsführerin arbeitete. Genovese, achtundzwanzig Jahre alt, war eine schlanke
Frau mit punkig schwarzem Haar und smaragdgrünen Augen in einem zarten elfenhaften
Gesicht. Sie fuhr auf den Parkplatz, der zu dem Apartment gehörte, in dem sie allein lebte.
Sie parkte ein und stieg aus. Es war drei Uhr früh. Sie bemerkte, gleich nach den ersten
Schritten zum Haus, eine kauernde Gestalt nicht weit entfernt, also wendete sie sich rasch
nach rechts, zur Polizeinotrufsäule in der Ecke.
Catherine Genovese erreichte den Polizeinotruf nicht mehr. Der Mann, der später als Winston
Moseley identifiziert wurde, stieß ihr sein Messer tief in den Rücken und dann, als sie sich zu
ihm umdrehte, auch tief in den Bauch. Sie schrie. Sie schrie diese Worte: „Oh, mein Gott! Er
bringt mich um! Hilfe! Bitte, Hilfe!“ Sofort gingen die Lichter in der dichtbewohnten Gegend an.
Moseley sah sie. In seinem Prozess sagte er, er habe die Lichter gesehen, aber er habe „nicht
das Gefühl gehabt, dass diese Leute die Treppe herunterkommen“. Statt herunterzukommen,
rief jemand: „Lass das Mädchen in Ruhe!“ Moseley rannte weg, und Catherine kroch, von
mehreren Messerstichen schwer verwundet, in den Eingang vor einer Buchhandlung, wo sie
liegen blieb.
Die Lichter in den Apartments gingen daraufhin wieder aus. Die Straße war still. Moseley
hörte auf dem Weg zu seinem Auto das Schweigen der Straße, sah, wie die Fenster sich wieder
verdunkelten und beschloss, zurückzukehren und sein Werk zu vollenden. Doch zuerst öffnete
er die Autotür und tauschte seine Strumpfmaske gegen einen Filzhut. Dann schlich er die
Straße wieder zurück und fand den zusammengekrümmten Körper der Frau, rot und nass, und
begann erneut auf sie einzustechen. Er schlitzte ihren Körper am Hals und an den Genitalien
auf. Sie schrie wieder. Und schrie. Minuten vergingen. Erneut gingen Lichter in den Fenstern
der Apartments an - stellen Sie sich diese Lichter vor -, gelbe Flecken, die Catherine und
Winston gesehen haben müssen, so greifbar und doch so unerreichbar. Wieder zog sich
Moseley zurück, und jetzt schaffte es Catherine irgendwie, sich in den Flur ihres
Apartmenthauses zu schleppen, wo Moseley sie ein paar Minuten später wiederum fand und
daran ging, sein Werk endgültig zu vollbringen. Sie schrie um Hilfe und hörte dann auf zu
schreien. Sie stöhnte. Er zog ihren Rock hoch, schnitt ihr die Unterwäsche vom Leibe und
berichtete in seinem Prozess: „Sie hatte ihre Tage.“ Er wusste nicht, ob sie tot war oder noch
lebte, er holte seinen Penis heraus, bekam aber keine Erektion zustande. Dann legte er sich
auf ihren Körper und hatte einen Orgasmus.
Dieses Verbrechen fand in einem Zeitraum von 35 Minuten statt, zwischen 3 Uhr 15 und 3
Uhr 50. Es geschah in einer Folge von drei einzelnen Angriffen, alle von einiger Dauer und von
Hilfeschreien unterbrochen. Die Zeugen, die Leute, die das Licht anschalteten, konnten hören
und sehen. Sie taten nichts. Es gab insgesamt achtunddreißig Zeugen, die von ihren Fenstern
aus zusahen, wie eine Frau erstochen wurde. Erst als alles vorbei war, rief jemand die Polizei,
aber da war sie schon tot. Der Krankenwagen transportierte sie ab. Es war vier Uhr morgens,
und die Leute, die zugesehen hatten, gingen wieder ins Bett.
Zuerst wurde von diesem Mord wie von jedem anderen Mord an irgendeiner berufstätigen
Frau in Queens berichtet. Er wurde in vier Zeilen im Lokalteil der New York Times erwähnt.
Doch bald erfuhr der Chefredakteur dieses Lokalteils, A. M. Rosenthal - der später ein Buch mit
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dem Titel schrieb: „Achtunddreißig Zeugen: Der Fall von Kitty Genovese“ -, dass eine größere
Gruppe von Menschen dem Mord zugesehen und nicht das Geringste getan hatte, ihn zu
verhindern. Achtunddreißig Menschen, berichtet Rosenthal, standen an den Fenstern, Männer
und Frauen wie du und ich, die „sie die letzte halbe Stunde ihres Lebens schreien hörten und
nichts, absolut nichts taten, um der Frau Beistand zu leisten oder wenigstens die Polizei zu
alarmieren“.
Als die Times nicht den Mord, sondern später in einer Serie von Artikeln über das bizarre
Verhalten der Zuschauer berichtete, geriet die Nation in moralische Empörung. Unmengen von
Leserbriefen erreichten die Redaktion. „Ich halte es für die Pflicht der New York Times, die
Namen der beteiligten Zeugen herauszufinden und in einer Liste zu veröffentlichen“, schrieb
eine Leserin. „Diese Leute sollten öffentlich geächtet werden, da sie für ihre Untätigkeit nicht
haftbar gemacht werden können.“ Eine andere Frau, Gattin eines Professors, schrieb: „Die
Gründe ihres Schweigens - und der Feigheit und Gleichgültigkeit, die es offenbart - sind
erschütternd. Wenn die Gesetze des Staates New York keine Bestrafung vorsehen, dann sollte
unseres Erachtens Ihre Zeitung die Gesetzgebung des Staates zu einer Novellierung dieser
Gesetze zwingen. Und da diese Leute offenbar ihre moralische Verantwortung immer noch
nicht einsehen, wäre es unseres Erachtens angemessen, dass die Times in Form einer
öffentlichen Missbilligung, am besten auf Seite 1, die Namen und Adressen aller
siebenunddreißig Personen publiziert, die daran beteiligt waren.“
Wie so viele andere New Yorker lasen auch John Darley von der New York University und
Bibb Latané von der Columbia University diese Briefe. Wie jeder andere fragten sie sich,
warum niemand zu Hilfe gekommen war. War es Apathie oder waren andere psychologische
Mechanismen am Werk? Darley erinnert sich, dass er sich an seinen Schreibtisch setzte und
eine Weile konzentriert über diesen kürzlich geschehenen Fall, der ohne Vergleich war,
nachdachte. Experten aus allen Richtungen boten Erklärungen an, warum die Zeugen sich
nicht anders verhalten hatten. Renée Claire Fox von der soziologischen Fakultät des Barnard
College meinte, das Zeugenverhalten sei das Ergebnis einer „Affekt-Verleugnung“ gewesen; sie
seien, mit anderen Worten, durch den Schock gelähmt worden. Ralph S. Banay stellte die
Hypothese auf, das Fernsehen sei Schuld; die Amerikaner, sagte er, seien einer solch endlosen
Bilderflut von Gewalt ausgesetzt, dass sie zwischen Gewalt im Fernsehen und in der
Wirklichkeit nicht mehr zu unterscheiden wüssten. Der gleiche Dr. Banay bot auch die
abgedroschenen psychoanalytischen Erklärungen an, die Rosenhan zehn Jahre später mit
seiner Pseudopatienten-Studie nachhaltig diskreditierte: „Sie [die Zeugen] waren taub,
gelähmt, hypnotisiert vor Aufregung. Personen mit einer reifen, gut integrierten Persönlichkeit
hätten sich anders verhalten.“ Karl Menninger schrieb: „Öffentliche Apathie ist an und für sich
Ausdruck von Aggression.“
Darley und Latané waren mit diesen Erklärungen unzufrieden, zum Teil deswegen, weil sie
wie Milgram experimentelle Sozialpsychologen waren, die weniger an die Macht der
Persönlichkeit als an die Macht der Situation glaubten, zum Teil aber auch, weil die
Erklärungen rein intuitiv keinen Sinn ergaben. Wie kann ein normaler Mensch unbeteiligt
bleiben, wenn eine junge Frau vergewaltigt und ermordet wird, in einem verbrecherischen Akt,
der sich über eine halbe Stunde hinzieht? Es wäre so einfach gewesen, Hilfe herbeizuholen, so
einfach, den Telefonhörer in die Hand zu nehmen und die Polizei zu verständigen. Dabei hätten
die Zeugen weder Leben noch Gesundheit riskiert. Es drohten auch keinerlei negative
rechtliche Auswirkungen für eine solche Beteiligung. Ein Teil der Zeugen, davon können wir
sicher ausgehen, hatte Kinder, und manche waren in Hilfsberufen tätig, so dass Mitgefühl für
sie kein Fremdwort war. Etwas Mysteriöses geschah in jener Nacht, als Kitty Genovese
umgebracht wurde, in jener milden Winternacht, als erste Vorboten des Frühlings sich
meldeten, grüne Knospen, die sich verfrüht schon an den Bäumen zeigten, winzige
zusammengefaltete Blättchen, die sich bald öffnen sollten.
3. Sie müssen persönliche Verantwortung übernehmen
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Manche Experimente beginnen mit einer Hypothese, andere einfach nur mit einer Frage.
Milgram zum Beispiel hatte keine Hypothese, wie die Versuchsteilnehmer reagieren würden; er
wollte es einfach ausprobieren. Das Gleiche gilt für Rosenhan, der wusste, dass etwas
geschehen würde, aber nicht, was. Darley und Latané hingegen hatten das Verbrechen und die
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Reaktionen darauf in den Medien verfolgt und irgendetwas passte da nicht zusammen. Sie
dachten vielleicht an andere ähnliche Vorkommnisse, beispielsweise: In einem Gebäude wird
Feueralarm ausgelöst, doch weil sich niemand darum kümmert, entscheidet man auch für sich
selbst, dass alles in Ordnung sei; oder man geht eine Straße entlang, jemand stürzt, doch weil
niemand Hilfe anbietet, geht man ebenfalls weiter. Für die beiden Psychologen enthielten diese
beiden alltäglichen Beispiele Hinweise darauf, was sich vielleicht in jener frühen Frühlingsnacht
hinter den Fenstern abgespielt hatte.
Sie setzten sich zusammen und entwickelten ein Experiment. Aus naheliegenden Gründen
konnten sie keinen Mord wiederholen, also entschieden sie sich für einen epileptischen Anfall.
Sie rekrutierten ahnungslose Versuchsteilnehmer von der New York University (NYU) für ein
Experiment, das angeblich untersuchen sollte, wie sich Studenten an das Collegeleben in der
Stadt gewöhnen. Dazu sollte ein Student allein in einem Raum sitzen und zwei Minuten über
die Herausforderung einer Universität in ein Mikrophon sprechen. Vorgeblich saßen in
benachbarten Nebenräumen, mit denen er akustisch verbunden war, andere Studenten, die
dasselbe tun sollten wie er, also von dem berichten, was die Uni von ihnen abforderte. In
Wirklichkeit wurden ihm diese Stimmen anderer Studenten aber nur von einem Tonband
zugespielt. Doch der ahnungslose Versuchsteilnehmer wusste nicht, dass es sich dabei um
Aufnahmen handelte; er glaubte vielmehr, es handele sich um die aktuellen Stimmen von
Kommilitonen in den Nachbarräumen. Der Versuchsteilnehmer musste warten, während jede
der vorher aufgezeichneten Stimmen von ihren Problemen sprach. Wenn er dann selbst an der
Reihe war, hatte er (oder sie) zwei Minuten Zeit, zu sprechen. Wenn der Versuchsteilnehmer
nicht an der Reihe war, wurde das Mikrophon ausgeschaltet und er musste in einer Art
sukzessiver Gruppentherapie zuhören. An dem ursprünglichen Experiment nahmen
neunundfünfzig Frauen und dreizehn Männer teil.
Die erste Stimme, die sprach, war die vorher aufgezeichnete Stimme eines vermeintlich
„epileptischen“ Studenten. Er gestand der „Gruppe“, dass er zu Anfällen neige. Er sprach
verlegen zögernd. Er sagte, die Anfälle seien besonders schlimm während der
Prüfungsvorbereitung. Er sagte, New York sei eine unfreundliche Stadt und das NYU ein hartes
College, das schwer zu bewältigen sei. Dann blendete seine Stimme aus. Eine andere Stimme
ertönte. Der ahnungslose Versuchsteilnehmer dachte natürlich, in diesem Moment spreche
eine andere lebendige Person, nicht ein Tonband, das im angrenzenden Zimmer abgespielt
wurde. Diese neue Stimme klang kräftig und beherzt. Dann sprach der Versuchsteilnehmer,
und so lösten sich die Stimmen immer wieder ab, bis Folgendes geschah: Ein Anfall setzte ein.
Der ahnungslose Versuchsteilnehmer konnte den Anfall nicht sehen, weil er sich in einem
separaten Raum befand, noch konnte er die Reaktionen der anderen vermeintlichen
Versuchsteilnehmer sehen oder hören, weil sie sich vermeintlich ebenfalls in separaten
Räumen aufhielten, auch wenn sie sich in Wahrheit nur auf dem Tonband im nächsten Zimmer
befanden. Der epileptische Schauspieler begann, mit normaler Stimme zu sprechen, doch
wurde sie zunehmend abgehackt, lauter, insistierender, bis sie in einem Crescendo von
Hilferufen endete: „I-hich-äch-häm-ich glaube, i-hich brauch-äch-häm-we-wenn jemand ächäch-äch-äch-äch-häm mir he-he-helfen kö-könnte, ich-äch-häm mei-mei-meine we-wenn jeäch-häm-jetzt we-henn je-he-he-mand ko-ko-äch-häm-men k-könnte - das wä-wäre schö-hön
... weil ich ei-einen es ko-kommt wie-hie-hieder äch-häm un-und ich brauche wi-hirklich Hil-ilfilfe, we-henn jemand ko-hommen könnte und mi-hir hel-el-elfen k-könnte, je-hemand helelfen äch-häm-äch (Husten) ... ich glaub ich mu-huss st-st-ster-herben ... ha-hab ne-nen Ahanfall ... “, dann ein letztes Keuchen und Stille.
Jetzt konnte der echte Zuhörer, der natürlich glaubte, es gebe mindestens einen oder zwei
oder fünf andere Zuhörer, zu jedem Zeitpunkt aufstehen, hinausgehen und den Versuchsleiter
zu Hilfe holen. Der hatte, bevor er die Gruppe ihrem „Gespräch“ überließ, gesagt, dass er sich
aus Gründen des Schutzes der Privatsphäre zurückziehen werde. Doch hatte er dem
Teilnehmer auch gesagt, er solle bitte den Regeln folgen und immer die richtige Reihenfolge
beim Sprechen einhalten.
Darley und Latané hatten die Bedingungen des Experiments sorgfältig so angelegt, dass sie
dem Genovese-Mord entsprachen. Bei dem Mord konnten sich die Zeugen gegenseitig sehen,
aber nicht miteinander kommunizieren, da sie durch die Fensterscheibe getrennt waren. In
dem Experiment hörte der Zeuge die Stimmen seiner Kommilitonen, konnte aber ebenfalls
nicht mit ihnen kommunizieren aufgrund der räumlichen Trennung und der Mikrophone, die
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nur angeschaltet waren, wenn die betreffende Person an der Reihe war. Als also der Anfall
stattfand, wusste der Versuchsteilnehmer, dass die anderen ihn ebenfalls hören konnten, und
zugleich wusste er, dass er sich mit den anderen nicht austauschen konnte, weil das System
keinen Austausch zuließ.
Der fiktive Anfall in Darleys und Latanés Experiment dauerte volle sechs Minuten, ebenso wie
der Genovese-Mord, der nicht aus einem einzigen Messerstich, sondern aus einer Vielzahl im
Verlauf der Nacht bestanden hatte, ja über einen längeren Zeitraum dauerte. Die Studenten
hatten Zeit, zu überlegen und dann zu handeln. Hier das Ergebnis: Nur sehr wenige handelten
- 31 Prozent, um genau zu sein, ähnlich den 32 bis 35 Prozent, die in Milgrams Experiment
ungehorsam waren.
Doch dann wird es zunehmend kompliziert. Darley und Latané variierten die Größe der
„Gruppen“. Wenn ein Versuchsteilnehmer glaubte, er befinde sich in einer Gruppe von vier
oder mehr, war es unwahrscheinlich, dass er Hilfe für das Opfer holte. Andererseits holten 85
Prozent der Versuchsteilnehmer Hilfe, wenn sie glaubten, sie seien allein mit dem epileptischen
Studenten, ohne andere Beteiligte, und zwar innerhalb der ersten drei Minuten des Anfalls.
Darley und Latané stellten fest, dass Versuchsteilnehmer, die nicht innerhalb der ersten
Minuten handelten, dies mit größter Wahrscheinlichkeit auch zu keinem anderen Zeitpunkt
taten, unabhängig von der Größe der Gruppe. Wenn wir also in einem entführten Flugzeug
sitzen und wir handeln nicht innerhalb der ersten 180 Sekunden, ist es unwahrscheinlich, dass
wir überhaupt handeln werden. Im Fall von Notsituationen ist die Zeit nie auf unserer Seite. Je
länger wir warten, desto mehr werden wir gelähmt. Dieses Wissen müssen wir stets in uns
wach halten, geistig und körperlich.
Doch von größerem Interesse als die Beziehung zwischen Zeit und Hilfsbereitschaft ist die
Beziehung zwischen Gruppengröße und Hilfsbereitschaft. Man könnte annehmen, dass mit der
Größe der Gruppe auch der Mut wächst und die Furcht abnimmt, der Einzelne also eher bereit
ist, sich einer Gefahr auszusetzen. Denn fühlen wir uns nicht am meisten geängstigt, wenn wir
allein sind, etwa im Dunkeln, in irgendeiner abgelegenen Hintergasse ohne Laterne? Sind wir
nicht - ähnlich den Tieren - dann am furchtsamsten und zaghaftesten, wenn wir allein auf den
Ebenen des Pleistozäns umherstreifen, natürliche Feinde allüberall und keine uns schützende
Herde in Sicht? Latané und Darley widerlegten mit ihrem Experiment die verbreitete Ansicht
der Sicherheit durch viele. Wenn Ihnen zum Beispiel das Unglück widerfährt, auf einem
Jahrmarkt vom Riesenrad zu fallen, kann es gut sein, dass man Sie nicht weiter wahrnimmt,
ähnlich wie Ikarus nicht wahrgenommen wurde, als er aus den Wolken fiel. Doch wenn Sie sich
mit nur einer anderen Person in der Wüste befinden und von einem Sandsturm überrascht
werden, können Sie auf seine Hilfe rechnen, und zwar nach diesen Ergebnissen in 85 Prozent
der Fälle.
Als die Versuchsteilnehmer den gespielten Anfall hörten, bekamen sie zunächst Angst. Keiner
zeigte die Art von Apathie, die so viele als Hypothese dem Verhalten der Genovese-Zeugen
zugrunde legten. Der Versuchsleiter hörte die Teilnehmer übers Mikrophon sagen: „Mein Gott,
er hat einen Anfall.“ Andere keuchten oder sie sagten schlicht: „Oh!“ Manche sagten: „Mein
Gott, was mach’ ich jetzt?“ Die Teilnehmer hatten Schweißausbrüche und zitterten, als der
Versuchsleiter schließlich den Raum betrat, nachdem der sechsminütige Anfall zu keinem Ruf
nach Hilfe geführt hatte. „Geht es ihm gut, kümmert sich jemand um ihn?“, fragten die
Zeugen, sichtlich erregt. Wir wissen nicht, wer sie sind, aber die Genovese-Zeugen waren
wahrscheinlich ebenfalls erregt, wie festgefroren in ihrer Angst und Unentschiedenheit und gar
nicht so oberflächlich gleichgültig, wie man sie verdächtigt hatte.
Als die Polizei die Genovese-Zeugen befragte, warum sie nicht geholfen hatten, fehlten
diesen die Worte. „Ich wollte da nicht hineingezogen werden“, sagten sie, doch keiner konnte
eine wirklich klare Auskunft über das innere Geschehen während dieser 35 Minuten des
Grauens geben. Die Versuchsteilnehmer von Darley und Latané konnten ebenfalls nicht sagen,
warum sie nicht eingegriffen hatten, und dabei handelte es sich um Collegestudenten von der
NYU, die gewohnt waren, sich verbal auszudrücken.
Darley und Latané nehmen an, dass die Teilnehmer, fern jeder Apathie, „nicht den
Entschluss gefasst hatten, nicht zu reagieren. Vielmehr befanden sie sich immer noch in einem
Zustand der Unentschiedenheit und rangen mit sich, ob sie reagieren sollten oder nicht. Das
emotionale Verhalten dieser nicht reagierenden Versuchsteilnehmer war ein Zeichen ihres
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fortgesetzten Konflikts, eines Konflikts, den andere Teilnehmer dadurch lösten, dass sie
reagierten“.
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Da die Reaktionsraten so konsequent mit der Größe der Gruppen zusammenhingen, erkannten
Darley und Latané, was bisher niemandem aufgefallen war: ein Phänomen, das sie
„Verantwortungsdiffusion“ nannten. je mehr Menschen Zeugen eines Geschehens werden,
desto weniger verantwortlich fühlt sich das einzelne Individuum und ist es in der Tat auch, weil
sich die Verantwortung gleichmäßig über die Menge verteilt. Verantwortungsdiffusion hat
ferner mit sozialen Verhaltensregeln zu tun, die so stark sind, dass sie selbst auf Situationen
von Leben und Tod keine Rücksicht nehmen; schließlich wäre es überaus peinlich, der Einzige
zu sein, der Aufregung verursacht, und am Ende sogar, wer weiß, für nichts und wieder nichts.
Wer kann sagen, was ein echter und was ein nur scheinbarer Notfall ist? „Wir dachten, es wäre
ein Ehekrach“, sagte eine Zeugin. „Ich wusste nicht genau, was los war“, sagten mehrere der
Versuchsteilnehmer von Darley und Latané. Ich kann das gut verstehen. Sie vielleicht auch.
Ein armselig gekleideter Mann stürzt auf der Straße. Hat er einen Herzanfall oder ist er nur
gestolpert? Ist er ein „Penner“, der zu viel getrunken hat und der vielleicht nach Ihnen
grapscht, wenn Sie sich ihm nähern? Angenommen, er will Ihre Hilfe nicht, Ihre so humane,
direkt aus dem Herzen kommende Hilfe, und er schreit Sie an, und Sie stehen voller Scham
auf dem Marktplatz, dem Rathausplatz, und Ihre Überzeugungen und guten Absichten werden
plötzlich als das vorgeführt, was sie in Wahrheit sind, selbstgerecht und herablassend. Wir
zweifeln an uns. Mein Gott, was zweifeln wir an uns! Feministische Psychologinnen wie Carol
Gilligan haben in aller Ausführlichkeit beschrieben, wie Mädchen in dieser Kultur ihre „Stimme“
und ihre eigene Art der Weltwahrnehmung in dem Moment verlieren, da sie in die Adoleszenz
eintreten, doch Experimente wie das von Darley und Latané zeigen, dass dieser angebliche
Verlust der Selbstgewissheit trügt. Wir hatten sie nie. Wir sind Tiere, mit einem Kortex
geschlagen, der sich so hoch über unser Reptilhirn erhoben hat, dass der Instinkt und sein
natürlicher Nachfolger - die praktische Vernunft - zermalmt werden.
4. Sie müssen entscheiden, was zu tun ist
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Die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Sie wird noch seltsamer. Darley und Latané entdeckten,
dass wir nicht deshalb anderen notwendige Hilfe versagen, weil wir so apathisch wären,
sondern weil wir von so viel anderen Beobachtern umgeben sind. Was geschieht, wenn der
hilfsbedürftige „Andere“ plötzlich wir selber sind? Was geschieht, wenn wir uns inmitten einer
sozialen Umgebung und zugleich in möglicher Gefahr befinden? Springen wir wenigstens uns
selber bei?
Der entscheidende Begriff ist hier „mögliche Gefahr“. In offensichtlicher Gefahr, wie bei
einem Brand, tritt unser Reptilhirn in Funktion und zischt uns seine Weisungen zu. Doch der
größte Teil des Lebens und die meisten Notsituationen spielen sich in vieldeutigeren
Zusammenhängen ab, im Zwielicht, wo eine Interpretation schwer fällt. Sie spüren einen
Knoten in der Brust: Was ist das? Das Haus riecht nach Gas oder ist es Tee? Die Arbeit von
Darley und Latané zeigt uns, dass selbst etwas vermeintlich so Brisantes wie eine Krise
letztlich von unserem Bewusstsein geformt wird; Notsituationen sind keine Tatsachen, sondern
bewusste Konstruktionen und das mag der Grund für unser Versagen sein. Unsere
Geschichten, schreibt der Psychiater Robert Coles, geben unserem Leben Bedeutung. Die
Kehrseite der Medaille ist nur: Diese Geschichten führen uns grotesk in die Irre.
Darley und Latané führten ein zweites Experiment durch, diesmal in einem Raum mit
Lüftungsloch. Die beiden Psychologen verwendeten zwei Collegestudenten als Schauspieler.
Ein Student war ahnungslos. Sie sollten zusammen in einem Raum sitzen und einen
Fragebogen über das Leben im College ausfüllen. Nach einigen Minuten ließen die Psychologen
aus der Tiefe des Lüftungssystems ungefährlichen, aber echt erscheinenden Rauch durch das
Lüftungsloch in den Raum einströmen. Stellen Sie sich die Situation vor. Zunächst trat nur
langsam etwas Rauch aus, doch nicht so langsam, dass der ahnungslose Teilnehmer ihn nicht
sofort bemerkt hätte. Die beiden eingeweihten Studenten waren angewiesen, ihre Fragebögen
weiter auszufüllen und keinerlei Furcht zu zeigen. Der Rauch kam nun in dichten Wolken, er
kam schneller und begann, die Körper und Gesichter einzuhüllen. Der Rauch reizte die
Schleimhäute und löste Husten aus. Jedes Mal sah der Versuchsteilnehmer alarmiert auf, sah
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den Rauch, der durch den Raum wogte, sah die ungerührten Kommilitonen und kehrte,
offenbar verwirrt, zum Ausfüllen des Fragebogens zurück. Ein paar der Versuchstellnehmer
gingen zu dem Lüftungsloch und untersuchten es, musterten dann die Kommilitonen, die nicht
weiter beunruhigt zu sein schienen, und setzten sich ebenfalls wieder an den Fragebogen. Wie
sonderbar! Einige Teilnehmer fragten, ob der Rauch aus dem Lüftungsloch ungewöhnlich sei,
doch die beiden anderen zuckten nur mit den Schultern. Während des gesamten Experiments
gab es nur einen Versuchsteilnehmer, der innerhalb von vier Minuten dem Versuchsleiter
außerhalb des Raums den Rauch meldete, nur drei meldeten ihn innerhalb der Zeit, da das
Experiment stattfand, alle Übrigen sagten nichts. Sie entschieden auf der Basis der sozialen
Signale ihrer Kommilitonen, nicht aufgrund der sinnlichen Evidenz, die Notsituation als einen
harmlosen Fehler im Belüftungssystern zu interpretieren, und unter dem Bann dieser
Interpretation hielten sie viele Minuten aus, bis ein feiner, weißer Film auf ihrem Haar und
ihren Lippen lag, bis schließlich der Versuchsleiter hereinkam und das Experiment abbrach.
Es ist seltsam. Dieses Experiment zeigt vielleicht mehr als jedes andere die absolute
Unzurechnungsfähigkeit, die tief in uns Menschen wohnt; es widerstreitet jeglichem gesunden
Menschenverstand - der praktischen Vernunft -, dass wir eher unser Leben aufs Spiel setzen,
als aus der Reihe zu treten, dass wir soziale Verhaltensregeln höher als das Überleben
einstufen. Das wirft ein völlig neues Licht auf Knigge und seine Benimmregeln.
Solche Regeln sind kein Beiwerk, das man nicht sonderlich ernst zu nehmen bräuchte; sie
sind mächtiger als Lust, als Angst, sie sind dominant - ein Sichzurechtmachen. Als Darley und
Latané das Experiment abwandelten, so dass der ahnungslose Versuchsteilnehmer allein im
Raum saß, deutete er den Rauch fast immer als Notsituation und meldete ihn sofort.
Soziale Signale. Der Zuschauereffekt. Die Ignoranz der Mehrzahl. Die wissenschaftlich
klingenden Begriffe täuschen über die Absurditäten hinweg, die sie beschreiben. Gegenüber
von unserem Haus, auf der anderen Straßenseite, steht eine wunderschöne kleine Kirche, mit
smaragdgrünem Moos in den Steinfugen. Manchmal gehe ich hin wegen des Gesangs. Nach
dem Sonntagsgottesdienst geht ein Spendenkorb herum. Eines Tages, als ich noch in der
Lektüre all der Mord- und Rauchgeschichten steckte, merkte ich, dass der Korb, bevor er zur
ersten Person in der ersten Reihe kam, auf mysteriöse Weise schon mehrere gefaltete
Dollarscheine enthielt. Ein paar Wochen später erzählte mir meine Schwester, die in einer Bar
arbeitet, dass sie zu Beginn jedes Abends ihren Becher für Trinkgeld „aufpeppt“, indem sie ein
paar Fünf- und Zehndollarscheine hineinsteckt: „So bekomme ich viel mehr“, erklärte sie. „Die
Leute glauben, dass die Gäste vor ihnen das Geld hineingetan haben. Und also tun sie's auch.“
Uns lenkt die Imitation.
Die Experimente von Darley und Latané riefen Verhaltensforscher auf den Plan, die nach
ähnlichen Tendenzen „in der Natur“ Ausschau hielten. Werfen Giraffen beispielsweise
Seitenblicke, bevor sie von einem Baumwipfel fressen? Hängt das Wissen darüber, was
Primaten in bestimmten Situationen tun sollen, von den Reaktionen der Herde ab? Hier eine
Geschichte über Truthähne: Truthahnmütter kümmern sich um ihre Küken nur, wenn sie von
diesen einen ganz besonderen Piepston hören. Wenn die Küken diesen Ton nicht
hervorbringen, ist die Mutter durch den fehlenden Auslösereiz nicht richtig eingestellt und die
Küken sterben. Der Einfluss dieses spezifischen sozialen Auslösereizes ist so stark, dass er eine
Truthahnmutter auch dann zu mütterlichem Sorgeverhalten veranlasst, wenn ein Tonträger mit
dem Piepston an einem Iltis, dem Hauptfeind des Truthahns, befestigt wird, der sie dann
auffrisst. Die Verhaltensforscher halten es für ausgemacht, dass die Verhaltensprägung durch
soziale Auslösereize oder feststehende Verhaltensmuster bei Tieren wie Vögeln instinktiv sind,
Teil der Hirnmasse und Vernetzung, während sie bei Menschen, auf einer anderen Ebene
angesiedelt, ein Produkt des Lernens sind. Wissenschaftler bezweifeln, dass wir irgendein dafür
zuständiges Gen besitzen. Ich allerdings könnte mir dies schon vorstellen. Ich erinnere mich
an die Zeit meiner Schwangerschaft, in der ich zutiefst erstaunt war, dass mein Körper ein
Baby schaffen konnte, ein vollständig separates Anderes, ohne die geringste bewusste
Anleitung von mir. Woher wusste er, was er tun sollte? Zellen, so stellt sich heraus, befinden
sich in ständiger Kommunikation miteinander, sie senden sich chemische Auslösereize, um
dann eine Kaskade von Ereignissen auszulösen, die bestimmte Teile des Menschen und
schließlich das komplexe Ganze bilden. Das menschliche Herz entsteht, indem eine einzelne
Zelle eine andere mit einem Auslösereiz versieht, und dann stupst diese Zelle eine weitere an,
und so entstehen auch Hand, Zunge, Knochen, die feinen weißen Drähte, um die sich
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schließlich die seidige Substanz des Fleisches legt. In meinem Fall waren die Auslösereize alle
richtig, und also bekam ich mein Kind und es ging ihm gut.
In einer Welt, in der immer komplexere Signale - zelluläre, chemische, kulturelle - mit
erstaunlicher Geschwindigkeit durch uns hindurch - und um uns herumsausen, fehlt uns
einfach die Zeit, um alle Zusammenhänge und Anhaltspunkte zu überprüfen und dann
wohlbedacht zu handeln. Wir würden gelähmt, wenn wir dies täten. Dank der
Verhaltensprägung durch soziale Auslösereize und der chemischen Begleitstoffe können wir
Babys zeugen und schweigend dasitzen, wenn Schweigen erfordert ist. Dank der sozialen
Verhaltensprägung wissen wir, wann es Zeit ist, Walzer zu tanzen, Brot zu brechen oder Liebe
zu machen. Auf der anderen Seite, das haben Darley und Latané gezeigt, ist unser
Deutungssystem - wie das der Truthahnmutter - keineswegs narrensicher. Auf der Grundlage
des Rauchexperiments hat David Phillips, ein Soziologe an der University of California, eine
besonders bizarre Seite der Geschichte entdeckt. Daten des FBI und staatlicher
Vollzugsbehörden belegen, dass nach jedem in der Öffentlichkeit ausführlich dokumentierten
Selbstmord die Zahl der Unfälle mit Privatflugzeugen und Autos ansteigt. Phillips nannte dieses
Phänomen den „Werther-Effekt“, nach Goethes Roman Die Leiden des jungen Werther, in dem
ein überreizter junger Mann, dessen Liebe nicht erwidert wird, schließlich Selbstmord begeht.
Die Lektüre dieses Romans löste Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland eine ganze Flut
von Selbstmorden aus. Phillips überprüfte die Selbstmordstatistik in den USA zwischen 1947
und 1968. Er fand heraus, dass innerhalb der ersten beiden Monate nach jedem TitelseitenSelbstmord sich im Durchschnitt 58 Prozent mehr Menschen als gewöhnlich das Leben
nahmen. Noch beunruhigender sind die Daten über die Zunahme von Auto- und
Flugzeugunfällen, die im Gefolge solcher spektakulär veröffentlichter Selbstmorde zu
verzeichnen war. Robert Cialdini, Sozialwissenschaftler an der University of Arizona, schreibt:
„Ich halte diese Einsicht für brillant. Erstens bietet der Werther-Effekt eine überzeugende
Erklärung für die Daten. Wenn diese Unfälle wirklich Fälle von imitativem Selbstmord sind,
liegt es auf der Hand, dass wir nach der Publikation von Selbstmordgeschichten eine Zunahme
von Unfällen sehen ... Aus verschiedenen Gründen - um ihren Ruf zu wahren, um ihren
Familien Scham und zusätzlichen Schmerz zu ersparen, um ihren Angehörigen nicht die
Versicherungssumme zu nehmen - wollen sie nicht, dass ihre Selbsttötung bekannt wird ... So
führen sie insgeheim mit voller Absicht den tödlichen Unfall in ihrem Auto oder Flugzeug herbei
... der Pilot einer Fluglinie kann die Nase seines Flugzeugs nach unten senken ... der
Autofahrer kann sein Auto plötzlich gegen einen Baum lenken.“
Für mich ist es schwer, das nachzuvollziehen. Imitative Einzelselbstmorde kann ich
verstehen, aber ist der Werther-Effekt oder der soziale Auslösereiz so stark, dass er tatsächlich
den Absturz eines Linienflugzeugs auslösen kann, vielleicht in der Folge des Todes von
Nirvana-Bandleader Kurt Cobain? Können Flugpiloten oder Lokführer, die Selbstmordneigungen
verspüren, diesen aber nie erlegen sind, durch den Selbstmord-Aufmacher von Zeitungen so
enthemmt werden, dass sie andere Menschen mit in den Tod reißen? Darley sagt hierzu in
einem Telefongespräch: „Es gibt mit Sicherheit eine Vielzahl von Fällen, in denen Menschen
durch Auslösereize zum Selbstmord animiert werden, aber bei den Flugzeugabstürzen handelt
es sich vielleicht doch um eine Übertreibung.“ Gleichwohl besteht Cialdini, einer der
meistzitierten lebenden Sozialpsychologen, auf der Richtigkeit der Daten. „Wahrhaft
beängstigend“, schreibt er in seinem Buch über Einflüsse, „ist die Zahl unschuldiger Menschen,
die dabei mit in den Tod gerissen werden ... Mich haben diese Statistiken hinreichend
beeindruckt, so dass ich auf Titelseiten mit Selbstmordgeschichten achte und mein Verhalten
in der Zeit danach ändere. Ich bin dann beim Autofahren besonders vorsichtig. Ich vermeide
nach Möglichkeit längere Reisen, bei denen ich viel fliegen muss. Wenn ich dennoch in einer
solchen Zeit fliegen muss, schließe ich eine deutlich höhere Flugversicherung ab als sonst. Dr.
Phillips hat uns durch den Nachweis, dass nach der spektakulären Veröffentlichung von
Selbstmorden die Gefahr für Leib und Leben beim Reisen messbar zunimmt, einen großen
Dienst erwiesen. So scheint es nur vernünftig, auf solche Hinweise zu achten.“
Ich frage mich allerdings, wie Cialdini heute, einen Monat nach Zerstörung der Twin Towers,
auf solche Hinweise Rücksicht nehmen will, da nun schon über einen Monat die Titelseiten von
Selbstmordattentaten überquellen und es kein Anzeichen dafür gibt, dass sie verschwinden. Er
muss sich eigentlich irgendwo in einem selbst gebauten Bunker verstecken. Ich rufe ihn an.
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Eine Frau namens Babette erklärt mir, dass er sich in Deutschland befinde und für längere Zeit
nicht zurückkehre. „Hat er Angst vor dem Rückflug?“, frage ich. „Ach“, sagt sie, „es sind
wirklich sehr unsichere Zeiten. Natürlich weiß Dr. Cialdini, dass es mehr Anschläge geben wird,
das Prinzip der Auslösereize macht dies unvermeidlich.“
„Würde er es sonderbar finden, dass ich mir eine Gasmaske besorgt habe?“, frage ich.
„Nein, keinesfalls“, sagt sie. „Aber er würde Ihnen zugleich sagen, dass Sie angesichts des
Geschehenen Ihr Leben vor allem leben sollen und das so gut wie möglich.“
„Besitzt er eine Gasmaske?“, will ich wissen.
Sie antwortet nicht.
Das klingt alles ziemlich düster. Doch jetzt haben wir diese strahlenden Herbsttage, plötzlich
hat der Indian Summer begonnen, die Luft duftet nach Äpfeln, die rot an den Ästen hängen.
Ich pflücke welche mit meiner Tochter, ich halte sie mit meinen Armen hoch, so dass sie die
Frucht vom Ast reißen kann, sie in ihrer Hand hält, sie aufbeißt, die kleinen Zahnspuren in der
Schale - süßer Saft und Bienen. Die Bienen vertreiben uns ins Haus. Die Mücken erleben noch
einmal eine Renaissance, versenken ihre neugierigen Stachelrüssel in unsere nackte Haut und
die Stiche schwellen an. Ich versprühe ein Antimückenspray und andere chemische
Substanzen, doch die Käfer sind von einer besonders zählebigen Art; sie brummen weiter,
höher und höher. Es sind herrliche Tage, abgesehen von den Käfern und vom Spray und der
toten Maus, die ich unter dem Ofen finde, einfach nur ihre bepelzte Hülle und der Unrat der
Verwesung hier und da - sie ist schon lange tot.
Wer könnte glücklich sein in diesen Zeiten? Der Dow-Jones fällt, die Hunde kläffen nervös,
und dann erklären die Cialdinis und Darleys und Werthers der Welt, wie aus Bösem immer
wieder Böses entsteht, Dummheit erzeugt, die Öffentlichkeit den Tag bestimmt, bis wir alle wie
in einem Film gefangen sind, in dem die Spule sich nicht mehr aufhalten lässt. Welche
Hoffnung gibt es noch für uns, im Ernst? Wir lesen über Milgram und fühlen uns bedrückt. Wir
lesen über Skinner und sind verwirrt. Wir lesen von Rosenhans Ergebnissen und spüren unsere
Verrücktheit, aber wir lesen über diese Experimente und fühlen etwas noch sehr viel
Tödlicheres als jene tödlichen Schocks: Wir fühlen Ansteckung. Wir fühlen, wie wir uns
gegenseitig anstecken mit unserer Unbeweglichkeit, unseren Diffusionen und Konfusionen.
Gibt es eine Gasmaske dagegen?
5. Dann müssen Sie handeln
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Sein Name ist Arthur Beaman. Er ist nicht berühmt, aber vielleicht sollte er es sein. Beaman,
ein Sozialwissenschaftler an der University of Montana, machte eine merkwürdige Entdeckung,
über die er und seine Coautoren 1979 in The Personality and Social Psychology Bulletin
berichteten. Ich machte mich auf die Suche nach der originalen Studie und fand sie in dem
schon von mir erwarteten, verstaubten Bibliothekswälzer, ein extrem kurzer Aufsatz, voll von
Korrelationskoeffizienten und Signifikanztests und quantitativen Symbolen, die vielleicht schuld
daran sind, dass niemand von Beamans Erkenntnissen weiß. Damit ein Experiment über den
schmal bemessenen Tellerrand der Wissenschaft hinauswirkt, muss es in der Darstellung ein
wenig Poesie aufweisen, ein wenig Rauch, ein wenig Schrecken, ein oder zwei verbale
Schlenker.
Doch versucht man, sich durch Beamans schwierigen Schreibstil hindurchzuarbeiten und die
Früchte seiner Arbeit aufzufinden, erfährt man Folgendes: Wenn man eine Gruppe von
Menschen über Verhaltensprägung durch soziale Auslösereize, über Ignoranz einer Mehrzahl
von Beteiligten und über den Zuschauereffekt aufklärt, werden sie in gewissem Sinn gegen
diese Verhaltensweisen immun. Somit ist das, was Sie gerade gelesen haben, diese zwanzig
und ein paar Seiten, diese zehntausend Wörter, ebenso sehr ein Stück Pädagogik wie
Beschreibung oder Bericht. Wenn wir wissen, wie anfällig wir dafür sind, in der entscheidenden
Situation zu versagen, sind wir nach Beamans Erkenntnissen mit größerer Wahrscheinlichkeit
dagegen gefeit, Opfer von Fehlentscheidungen zu werden. Man könnte sogar sagen, dass ich
eine Art Gasmaske gekauft und eine zweite mit Worten gebastelt habe, um Schutz vor einer
anderen Art Gefahr zu suchen.
Beaman arbeitete ebenfalls mit Collegestudenten. Er zeigte ihnen Filme der beiden
Experimente von Darley und Latané, den epileptischen Anfall und das Rauchexperiment, Filme,
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die dem Betrachter deutlich vor Augen führen, was Darley und Latané als die fünf Schritte des
Hilfsverhaltens bezeichnen:
1.
2.
3.
4.
5.
Sie, der potenzielle Helfer, müssen erkennen, dass etwas passiert.
Sie müssen das Ereignis so interpretieren, dass Hilfe gebraucht wird.
Sie müssen persönliche Verantwortung übernehmen.
Sie müssen entscheiden, was zu tun ist.
Dann müssen Sie handeln.
Die Studenten, die den Film sahen und die notwendigen Schritte lernten, die schließlich zu
Zivilcourage führten, waren etwa doppelt so oft bereit, helfend einzugreifen, wie andere ohne
einen solchen Anschauungsunterricht. Studenten, die auf diese Weise belehrt oder geimpft
waren, halfen Frauen, die auf dem Eis ausrutschten, sie halfen Menschen, die in Autounfälle
verstrickt waren, sie halfen Epileptikern, die einen plötzlichen An fall erlitten - Unfälle sind
überall: diese Notlandungen im Alltagsleben. Wenn diese spezifische Erziehung so wirkungsvoll
das Hilfsverhalten verbessert und ein effektives Krisenmanagement fördert, muss man sich
fragen, warum sie dann nicht permanenter Teil unserer Lehrpläne ist? Es wäre so einfach, sie
in den Pflichtkurs zur ersten Hilfe, in die Gemeinschaftskunde an den Schulen einzubeziehen
oder sogar durch öffentliche Aushänge darüber zu informieren. Man muss nur fünf einfache
Dinge tun. Insbesondere jetzt, da unsere Gesellschaft in einer bedrohlichen Lage zu sein
scheint, sollten wir Bescheid wissen. Wenn der Bus in die Luft fliegt, sollten wir wissen, wie wir
uns zu verhalten haben.
Jetzt, da ich dies alles weiß, fühle ich mich besser vorbereitet. Politiker fordern uns auf,
unseren alltäglichen Geschäften nachzugehen, aber auf merkwürdige Anzeichen zu achten. Ich
entscheide, dass es Zeit ist, und gehe ins Stadtzentrum. Eine Woche ist seit dem größten
terroristischen Angriff in diesem Land vergangen, und es gibt Gerüchte, dass an diesem
Wochenende eine zweite Attacke geplant ist. „Du musst das tun, was du immer tust“, sagen
alle, und in der Tat: Was sonst will man tun? Also gehe ich in die Stadt, obwohl mich
Menschenansammlungen in letzter Zeit nervös machen. Boston im Herbst ist hinreißend, von
warmem Sonnenlicht vergoldet, der Rasen auf dem städtischen Friedhof leuchtet grün wie das
Kopfgefieder der Wildenten. In der Stadt herrscht aber eine seltsame Stille, und die
Geräusche, die zu hören sind, erhalten dadurch eine größere Bedeutung, alles ist voller Hinterund Nebensinn. Ein Kind schreit, als es auf seiner Schaukel hoch in die Luft saust. Eine Zeitung
auf einer Parkbank raschelt im Wind. Oben auf dem Beacon Hill sehe ich meine
Lieblingssehenswürdigkeit, schon als Kind konnte ich mich kaum daran satt sehen, die goldene
Kuppel des Parlamentsgebäudes, in dem ich mir alle möglichen geflügelten Wesen versammelt
vorstellte, und ich war mir ganz sicher, damals.
Jetzt sind keine Politiker zu sehen, doch an dem Eisengittertor sehe ich einen übel
aussehenden Burschen, vielleicht achtzehn, mit einem aggressiven Glatzkopf, dem ein scharfes
blaues Kreuz eintätowiert ist. Er trägt seine Uniform, diese hochgeschnürten schwarzen Stiefel,
das „arische“ Haar auf seinen Armen schimmert leicht. Er sieht sehr verdächtig aus. Der Griff
eines Messers, oder was wie ein Griff aussieht, schaut aus seiner Hosentasche heraus. Er
kauert in einer Ecke, offensichtlich will er nicht gesehen werden, und fertigt rasch eine Skizze
an - einen Zugang ins Gebäude, einen Weg heraus, wer weiß. Erst neulich haben wir gehört,
dass in Detroit Skizzen von Botschaften und Flughäfen zusammen mit Einsatzplänen für
Schädlingsbekämpfungsmittel gefunden worden sind. Der Bursche murmelt etwas vor sich hin.
Er sagt: „Luft.“ Er sagt: „Schwalbe.“ Trotz alldem, was ich über Zuschauerverhalten gelesen
habe, bin ich mir vollkommen unsicher, was ich tun soll. Das Sicherste wäre, ihn der Polizei zu
melden, doch wie lächerlich wäre das zugleich! Das ist das Problem mit der Erziehung. Schritt
Nummer eins. Sie müssen erkennen, dass Hilfe gebraucht wird. In einer Welt mit mehr
Schatten als Sonne ist das gar nicht so einfach. Stattdessen nähere ich mich dem abstoßend
aussehenden Burschen, dem Neonazi oder dem netten rebellischen Sohn von
irgendjemandem, doch dann, als er merkt, wie ich ihn beobachte, wendet er mir plötzlich sein
Gesicht zu, seine Augen sind grün wie geschliffenes Glas, etwas wässrig.
Ich bringe ein unsicheres Lächeln zuwege.
Er mustert mich von oben bis unten und erwidert dann das Lächeln.
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Wir sagen kein Wort, aber er weiß, was ich denke: die eilig hingeworfenen Skizzen, die
geduckte Haltung, wie beim Militär, die Glatze, die Aura des Bösen, überall.
Der Bleistift, den er in der Hand hält, ist kurz, mit einer dicken Kohlespitze, damit wirft er
breite unscharfe Linien aufs Papier.
Das weiß ich, weil der junge mittlerweile, meine Gedanken erratend (das geschieht immer
wieder, ohne dass es dazu des Austauschs von Worten bedürfte, während ein anderes Mal
noch nicht einmal ein Schrei unseren Gedanken zu einem Entschluss verhilft - wie seltsam das
doch ist, wie verwirrend die vielen Sprachen des Lebens), mir seine Zeichnung hingehalten
hat, so dass ich sehe, was darauf ist: keine Ausgänge oder Fluchtwege oder sonst etwas
Verdächtiges. Es ist einfach nur die Zeichnung eines einzelnen Baums auf dem Rasen vor dem
Parlamentsgebäude, die Blätter auf der Zeichnung so liebevoll festgehalten, so vielfach
geädert. Und dann erkenne ich, dass innerhalb eines jeden Blatts sich die leise Andeutung
eines menschlichen Gesichts findet, das Leben in der allerersten Frühe oder schon am Ende.
Das bleibt offen. Aber das Bild ist schön. jetzt reißt der junge das Zeichenblatt vom Block und
reicht es mir. Ich nehme es mit nach Hause. Ich hänge es hier über meinem Schreibtisch auf,
und manchmal, während ich diese Wörter tippe, halte ich inne und schaue in das Geäst, in
dem diese halb auftauchenden, halb verschwindenden Menschengesichter schweben, das
Gewebe der Blätter so voller Bedeutung und Geheimnis und vielfältiger Bezüge. Ich kenne die
fünf Schritte und trotzdem bleibt die Geschichte offen.