Das Konsistenzmodell von Klaus Grawe - ZKS

Didaktische Bausteine und Übungen
© ZKS-Verlag 2015
Herausgeber: Helmut Pauls, Johannes Lohner, Ralph Viehhauser
Christine Kröger
Baustein 10
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Das Konsistenzmodell von Klaus Grawe: Zu den Zusammenhängen
zwischen Grundbedürfnissen, motivationalen Schemata und Gesundheit (2015)
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1. Grundlagen, Absichten und Ziele
Ziel dieses Bausteins ist es, die Grundzüge der konsistenztheoretischen Überlegungen von
Grawe (2000, 2004) durch einen Prozess des geleiteten Entdeckens, in den je nach Vorwissen
und Vorerfahrungen der Studierenden theoretischer Input eingewoben wird, zu vermitteln.
Diese Perspektive auf in erster Linie innerpsychische Prozesse ist aus mehreren Gründen – im
Folgenden werden einige kurz umrissen – gewinnbringend und relevant für die Klinische Sozialarbeit:
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Im Zentrum des Konsistenzmodells steht die Frage danach, was Menschen im Positiven
wie im Negativen innerlich bewegt, was sie sowohl bewusst als auch unbewusst anstreben und was sie zu meiden versuchen (vgl. Grawe, 2004, S. 182). Damit sind Aspekte
des Menschenbilds angesprochen, die von hoher Bedeutung für klinisch-sozialarbeiterische Interventionen sind, da explizite und implizite Annahmen darüber, was
uns Menschen ausmacht und wie wir „ticken“, darauf einwirken, wie Unterstützungsprozesse – auch solche mit dem Schwerpunkt auf der sozialen Dimension – ausgestaltet
werden.
Die konsistenztheoretische Perspektive ermöglicht ein Verständnis der Entstehung (und
Aufrechterhaltung) psychischer Erkrankungen als „Überlebensstrategien“, die vor dem
Hintergrund biographischer Erfahrungen sinnhaft und nachvollziehbar sind, gleichzeitig aber dysfunktional in Gegenwart und Zukunft hineinwirken. Hiermit eröffnet sich
eine Erklärungsgrundlage für zunächst unverständlich anmutende, „bizarre“ und/oder
zurückweisende, feindselige Verhaltensweisen von KlientInnen. Dies kann einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass Klinische SozialarbeiterInnen ein kongruentes positivwertschätzendes Beziehungsangebot realisieren können (vgl. hierzu auch Viehhauser,
in diesem Band). Darüber hinaus kann ein solches Störungsverständnis z. B. im Rahmen
von längeren sozialtherapeutischen Prozessen, eine Basis dafür bilden, gemeinsam mit
KlientInnen (und/oder deren Angehörigen) die Verwurzelung aktueller Schwierigkeiten
in ihren biographischen Erfahrungen zu entdecken und zu erarbeiten. Die entlastende
und entpathologisierende Wirkung, die sich für KlientInnen ergibt, wenn deutlich wird,
dass das, was heute stört und Leiden schafft, in der Vergangenheit viel Sinn gemacht
hat, ist meist deutlich spürbar.
Letztlich untermauern Grawes Überlegungen die Bedeutung der sozialen Dimension im
Rahmen eines biopsychosozialen Zugangs: Anhand verschiedener Forschungsbefunde
zeigt er eindrücklich auf (Grawe, 2004), wie nachhaltig Gehirnstrukturen und neuronales Geschehen von sozialen Erfahrungen geformt und bestimmt werden. Auch die
unter Bezugnahme auf Epstein (1990) formulierten psychischen (besser: psychosozialen) Grundbedürfnisse (Bindung, Orientierung und Kontrolle, Selbstwerterhöhung, Lustgewinn und Unlustvermeidung) sind im Wesentlichen nur in zwischenmenschlichen Beziehungen erfüllbar bzw. können im sozialen Miteinander auch am
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nachhaltigsten verletzt werden (Grawe, 2004, S. 406; vgl. auch Pauls, in diesem Band).
Besonders offensichtlich wird dieses existentielle Angewiesensein auf andere zu Beginn
des Menschenlebens, da im Säuglingsalter die Befriedigung der Grundbedürfnisse
nahezu vollständig von den Erfahrungen in Bindungsbeziehungen abhängig ist. Im Einzelnen handelt es sich um die folgenden psychosozialen Grundbedürfnisse:
Bindung In Anlehnung an Bowlby (1969) wird von einem angeborenen Bedürfnis ausgegangen, mit einer Bezugsperson verbunden zu sein, die liebevolle und feinfühlige Zuwendung, zuverlässigen Schutz, Trost, Hilfe und Halt vermitteln kann. Während dieses
grundlegende Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Nähe zu einer Bezugsperson bei Kindern vor allem in den Beziehungen zu Eltern bzw. Elternfiguren zum Tragen kommt,
spielen bei Erwachsenen Paarbeziehungen und enge Freundschaften hier eine wichtige
Rolle.
Orientierung und Kontrolle meint das Bedürfnis nach einer sicheren Umwelt, die einigermaßen vorhersagbar ist und Möglichkeiten zur eigenen Einflussnahme eröffnet. Je
nachdem, welche Erfahrungen Menschen in Bezug auf dieses Grundbedürfnis machen,
entwickelt sich eine Grundüberzeugung darüber, „inwieweit das Leben einen Sinn
macht, ob Voraussehbarkeit und Kontrollmöglichkeit besteht, ob es sich lohnt, sich einzusetzen und zu engagieren“ (Grawe, 2000, S. 385). Dementsprechend ist mit Kontrolle
nicht etwa das Kontrollieren und Bevormunden anderer gemeint, sondern Selbstwirksamkeit sensu Bandura (1997).
Selbstwerterhöhung beschreibt das Bedürfnis sich selbst kompetent, wertvoll und von
anderen geschätzt zu fühlen. Grawe (2004, S. 250) betont, dass es sich hierbei um ein
spezifisch menschliches Bedürfnis handelt, das ein Bewusstsein seiner selbst als Individuum voraussetzt. Zur Entwicklung eines stabilen Selbstwertgefühls bedarf es eines
Umfelds, das Anerkennung und Wertschätzung, Zutrauen und Unterstützung vermittelt.
Lustgewinn und Unlustvermeidung beschreibt das Bestreben angenehme, erfreuliche,
lustvolle Erfahrungen und Zustände herzustellen und unangenehme (aversive, schmerzhafte) nach Möglichkeit zu vermeiden. Was genau als angenehm bzw. unangenehm erlebt wird, hängt selbstverständlich wesentlich von den individuellen Erfahrungen und
dem momentanen Zustand eines Menschen ab (vgl. Grawe, 2004, S. 262).
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Auch wenn wir danach fragen, was für Individuen eigentlich die schädigenden Agentia
von sozialen Problemen (wie z. B. Arbeitslosigkeit, Migrationserfahrungen, relativer
Armut) sind, wird deutlich, dass es eben um den Verlust von Zugehörigkeit, den Mangel
an sinnstiftenden und selbstwerterhöhenden Betätigungsmöglichkeiten, die Erfahrung
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von Kontrollverlust und Hilflosigkeit etc. geht. Damit erklären sich nicht nur die nachhaltig negativen gesundheitsbezogenen Auswirkungen dieser Problemlagen, sondern es
eröffnen sich wichtige Ansatzpunkte für Intervention, da es auch (sicher nicht nur!)
darum gehen sollte, gerade diese Erfahrungen wieder möglich werden zu lassen (vgl.
hierzu auch Klassen, 2009).
Schließlich sei noch darauf hingewiesen, dass zunehmend empirische Befunde vorliegen, die die im Rahmen der Konsistenztheorie formulierten Annahmen über die Zusammenhänge zwischen Konsistenz und Gesundheit und Wohlbefinden untermauen
(zusammenfassend z. B. Fries & Grawe, 2006).
2. Durchführung / Instruktion
Schritt 1: Fallvorstellung
Von der Seminarleitung wird ein Fall aus der klinisch-sozialarbeiterischen Praxis im Plenum
vorgestellt (ca. 15-20 Minuten). Dabei werden die Studierenden aufgefordert, die Falldarstellung zunächst auf sich wirken zu lassen, wahrzunehmen, was die Schilderung in ihnen auslöst.
Nachfolgend ist ein Fall, der sich für diesen Zweck nutzen lässt, kurz zusammengefasst.
Fallbeispiel Herr K.
Ausgangssituation
Der 35-jährige jünger wirkende, ‚szenig‘ gekleidete Klient (Basecap, Piercings, Tatoos) nimmt
aus eigener Initiative telefonisch Kontakt zu unserer Einrichtung (Lebens- und Familienberatung) auf und betont, dass er so schnell wie möglich einen ersten Termin benötige. Zum
vereinbarten (zeitnahen) Erstgespräch erscheint Herr K. nicht – nach telefonischer Kontaktaufnahme von unserer Seite wird ein weiterer Termin vereinbart, zu dem er eine gute halbe
Stunde zu spät kommt.
Im Gespräch schildert er, dass seine Stimmung meist niedergeschlagen sei, gedrückt, es falle
ihm schwer, „sich überhaupt zu irgendetwas aufzuraffen“, er fühle sich wertlos, leide unter
tiefen Einsamkeitsgefühlen. Außerdem habe er massive zwischenmenschliche Schwierigkeiten: Er fühle sich in Beziehungen schnell zurückgewiesen und abgelehnt, selbst, wenn es dafür
„eigentlich“ keinen Anlass gebe, das sei „wie ein Muster“. Dadurch habe es in seinen bisherigen
Partnerschaften immer viel Streit gegeben, er werde dann „verbal sehr aggressiv“ und beleidigend. Wenn sich tatsächlich eine Trennung abzeichne, reagiere er „extrem und anklammernd“
mit Weinen, Schreien, Drohungen, sich umzubringen. Diese Schwierigkeiten bestünden schon
lange, seit der Pubertät. Er bejaht, dass er dann den Impuls habe, zuzuschlagen, was in der
letzten Beziehung auch passiert sei. Auf mehrfache Nachfrage eine konkrete problemtypische
Situation zu beschreiben, schildert er schließlich, dass er seine Ex-Freundin, mit der er einen
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gemeinsamen 12 Monate alten Sohn habe (Trennung kurz nach der Geburt) bei einem Streit zu
Boden geschlagen habe (sie hatte den Sohn dabei auf dem Arm). Sie habe eine Schädelverletzung davon getragen und ihn angezeigt. Seither wolle sie nicht mehr, dass er mit dem Sohn
allein sei und er habe Sorge, dass sie den Kontakt ganz verhindern könne (sie habe das alleinige
Sorgerecht). Anlass sich jetzt Hilfe zu suchen sei, dass es „so nicht weiter gehen kann“, er trage
doch Verantwortung für seinen Sohn.
Lebensgeschichtliche Entwicklung
Herr K. wurde als jüngster Sohn (1 Bruder: +4, 1 Schwester: +8) geboren, er sei ein „Unfall“,
kein Wunschkind, gewesen. In seiner Herkunftsfamilie sei kaum miteinander gesprochen worden, die Atmosphäre sei wenig liebevoll, unpersönlich und durch viel Streit und Schreierei zwischen den Eltern geprägt gewesen; insgesamt habe die Familie ländlich isoliert gelebt, es habe
kaum Kontakt zu Verwandten oder Freunden gegeben. Seine Mutter (+30, Hausfrau) vermag
Herr K. kaum näher zu beschreiben, sie habe die ältere Schwester pflegen müssen, die schwerstmehrfachbehindert sei, im Rollstuhl sitze, nicht sprechen könne.
Er erinnere sich, dass er selbst manchmal als Kind nachts im Bett extra laut geweint habe, weil
er sich gewünscht habe, dass die Eltern ihn zu sich holen, was aber nicht passiert sei. Gelegentlich sei er von seiner Mutter geschlagen worden, er erinnere sich, dass sie auch mit Tellern
nach ihm geworfen habe. Sein Vater (+37, Busfahrer) sei leicht reizbar, rechthaberisch und
dominant gewesen. Er habe ihm schon früh vermittelt, dass er wertlos sei, er habe ihm – vor
allem im Vergleich zum Bruder, der z. B. in handwerkliche Arbeiten einbezogen worden sei –
nichts zugetraut („Du hast doch sowieso zwei linke Hände“). Insgesamt sei er viel mit dem
Bruder allein gewesen, da sich die Mutter meist um die Älteste habe kümmern müssen. Dieser
habe ihn – von den Eltern unbemerkt – oft drangsaliert, seine Karate-Griffe an ihm ausprobiert.
Als er ca. 10 oder 11 Jahre alt gewesen sei, sei es im Rahmen von aggressiven Raufereien
mehrfach, unter Androhung weiterer Quälereien, auch zu sexuellen Übergriffen (Anal- und
Oralverkehr) durch seinen Bruder gekommen. Damals habe er mit niemandem über die Übergriffe gesprochen, er habe sich geschämt, sei durcheinander gewesen. Er selbst sei als Kind
eher „aufgedreht“ gewesen und habe keine engen Freunde gehabt. Er habe versucht, Zugang
zur Clique des mittleren Bruders zu bekommen, sei da aber Außenseiter geblieben und viel
gehänselt worden. Mit 15 habe er seine erste Freundin gehabt; danach sei er verschiedene
Beziehungen eingegangen, die jedoch nie länger als einige Monate gehalten hätten.
Schulische/Berufliche Laufbahn
Nach dem Realschulabschluss Besuch der höheren Handelsschule (ohne Abschluss), danach
Ausbildung bei der Deutschen Post, die er abgeschlossen habe; anschließend habe er einige
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Jahre bei der Post gearbeitet, dann Zivildienst (Krankentransporte) geleistet. Danach sei er mehrere Jahre arbeitslos gewesen. Seit einigen Monaten arbeite er als Pflegehelfer in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderungen, diese Arbeit mache ihm Freude.
Spezielle Anamnese
Herr K. gibt an, dass er ca. einmal pro Woche Cannabis konsumiere, mit Mitte 20 habe er über
mehrere Monate auch täglich konsumiert. Aktuell trinke er 4-5 Bier pro Woche, wobei es in
der Vergangenheit einen deutlich höheren Alkoholkonsum gegeben habe.
Im Anschluss werden die Studierenden eingeladen, die anderen an ihren Resonanzen (Gedanken, Gefühlen, Empfindungen, ggf. auch Handlungsimpulsen) teilhaben zu lassen (ca. 5-10
Minuten). Ziel dabei ist natürlich auch die Wahrnehmungsfähigkeit der Studierenden für die
eigenen Reaktionsweisen grundsätzlich zu schärfen (und auch erfahren zu können, wie unterschiedlich die Resonanzen verschiedener Menschen ausfallen), didaktisch geht es aber eher
darum, den eigenen Empfindungen Raum zu geben, um im nächsten Schritt eine eher kognitiv
ausgerichtete Fallarbeit möglich werden zu lassen.
Schritt 2: Fallbezogene Kleingruppenarbeit zu schädigenden biografischen Erfahrungen
Dieser Arbeitsschritt zielt darauf ab, die Verletzungen der psychosozialen Grundbedürfnisse zu
erkennen und zu benennen. Die Studierenden setzen sich in Kleingruppen (zu dritt) mit den
folgenden Fragen auseinander (ca. 15-20 Minuten):
Welche Lebenserfahrungen haben eine gelingende Persönlichkeitsentwicklung von
Herrn K. erschwert bzw. behindert? …und warum?
Versuchen Sie bei Ihrer Begründung Bezüge zu relevanten Theorien oder Modellen herzustellen!
Halten Sie Ihre Arbeitsergebnisse bitte in Stichpunkten schriftlich fest.
Schritt 3: Zusammentragen der Arbeitsergebnisse und Rückbezug auf theoretische
Grundlagen
Die Arbeitsergebnisse der Kleingruppenarbeit werden im Plenum zusammengetragen und auf
Tafel oder Flipchart festgehalten (ca. 10-15 Minuten); hierbei ist es günstig, als Ordnungsstruktur die vier Grundbedürfnisse zu nutzen, also die Erfahrungen, die Verletzungen desselben
Grundbedürfnisses darstellen, in räumlicher Nähe zueinander aufzuschreiben; dies erleichtert
es den Studierenden, die dahinter liegende Gemeinsamkeit zu erkennen.
In der Regel fällt es leicht, die (im obigen Beispiel auch recht offensichtlichen) schädigenden
Lebenserfahrungen zu benennen (u. a. die fehlende Zuwendung und Verfügbarkeit der Mutter,
die durch die Pflege der Tochter völlig absorbiert scheint; die Abwertung durch den Vater; die
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sexuelle Gewalt durch den Bruder, die fehlende Möglichkeit das Erlebte jemandem anzuvertrauen). Herausfordernder ist es hingegen, theoretisch präzise zu begründen, worin genau das
beeinträchtigende Potential besteht und welche Auswirkungen sich für die Persönlichkeitsentwicklung ergeben (z. B. durch den Rückbezug auf bindungstheoretische Überlegungen).
Hier kann es hilfreich sein, „naive“ Nachfragen zu stellen, um die entwicklungsschädigende
Bedeutung der Erfahrungen zu konkretisieren und theoretisch zu rahmen (z. B. Was genau ist
so schlimm daran, dass die Mutter so wenig verfügbar war? Woran liegt es, dass sich die Erfahrung von Abwertung durch den Vater auf die Persönlichkeitsentwicklung auswirkt? Oder
auch: Was genau ist es, was sich hier an der Erfahrung von sexueller Gewalt schädigend ausgewirkt haben dürfte? Welche Theorien und Modelle kennen Sie, die solche Zusammenhänge
erklären können? etc.). Meist gelingt es dadurch, die zentralen Konzepte und Theorien in Bezug
auf die von Grawe postulierten Grundbedürfnisse zusammenzutragen (z. B. Bindungstheorie
und deren Bedeutung für die Entwicklung der Emotionsregulation, Konzept der Selbstwirksamkeit nach Bandura etc.). Das, was die Studierenden nicht benennen oder einbringen
wird anschließend von der Seminarleitung ergänzt. Gleichzeitig ist es deren Aufgabe die
genannten Inhalte – in Abhängigkeit vom Vorwissen der Studierenden – durch vertiefenden
Input zu ergänzen; neben den Texten von Grawe, kann hierfür u. a. auf Borg-Laufs und Dittrich
(2010) zurückgegriffen werden. In diesem Zusammenhang bietet es sich auch an, die Frage
nach der Gleichrangigkeit der psychosozialen Grundbedürfnisse zu diskutieren und das Prinzip
der Konsistenz (bzw. Inkonsistenz mit den beiden Ausformungen Inkongruenz und Diskordanz) zu erläutern (zeitlicher Umfang des Inputs kann sich je nach angestrebter Tiefe und
Differenziertheit zwischen 20-45 Minuten bewegen).
Schritt 4: Grundbedürfnisbezogene Kurzreflexion eigener Praxisfälle
Hier erfolgt ein Rückbezug der Inhalte auf praktische Erfahrungen der Studierenden, gleichzeitig werden sie eingeladen, erste Überlegungen anzustellen, die an das Konzept der motivationalen Schemata heranführen. In Kleingruppen (3-5 Personen) werden die folgenden Fragen
bearbeitet (ca. 20 Minuten):
Tauschen Sie sich über die biografischen Erfahrungen von KlientInnen aus, die Sie im
Rahmen Ihrer bisherigen Praxiserfahrungen bzw. beruflichen Praxis kennen gelernt
haben.
Können Sie Verletzungen der psychosozialen Grundbedürfnisse nach Grawe ausmachen? …wenn ja, welche?
Was vermuten Sie: Inwiefern wirken sich diese Verletzungen bis heute auf das Verhalten
und Erleben aus?
Wählen Sie anschließend einen Ihrer eigenen Fälle aus, den Sie im weiteren Verlauf
vertiefend bearbeiten möchten (dazu später mehr…)
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Schritt 5: Motivationale Schemata am vorgestellten Fall erschließen
In diesem Schritt wird zunächst von der Seminarleitung das Konzept der motivationalen
Schemata durch entsprechenden Input eingeführt und erläutert (ca. 20 Minuten), sodann wird
die Arbeit am Fall Herr K. fortgesetzt (d.h. die Auswertung der vorangegangenen Kleingruppenarbeit wird zurückgestellt und erfolgt in Schritt 7).
Bei der Erläuterung des Konzepts der motivationalen Schemata ist wichtig, herauszuarbeiten,
dass Grundbedürfnisse eben nicht unmittelbar das Verhalten und Erleben steuern, sondern dass
Schemata die „Ausführungsorgane“ der Bedürfnisse sind (Grawe, 2000, S. 413) und insofern
als individuumsspezifische Möglichkeiten oder Mittel verstanden werden können, die Menschen aufgrund ihrer bisherigen Lebenserfahrungen entwickelt haben, um ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen bzw. diese vor weiteren Verletzungen zu schützen.
Motivationale Schemata erwachsen aus der aktiven Auseinandersetzung von Menschen mit
ihrer Umwelt und basieren damit auf den individuellen biografischen Erfahrungen. Sie stellen
eine verdichtete Verinnerlichung von Erfahrungen dar und sind durch gut gebahnte neuronale
Erregungsmuster repräsentiert (vgl. Grawe, 2000, 2004). Dadurch beeinflussen motivationale
Schemata (in der Regel unbewusst), wie ein Individuum eine bestimmte Situation wahrnimmt,
was es denkt, empfindet und wie es reagiert und handelt.
Wenn Menschen in einem sozialen Umfeld aufwachsen, das überwiegend grundbedürfnisbefriedigende Erfahrungen ermöglicht, entstehen in erster Linie annähernde motivationale
Schemata. Wachsen Menschen hingegen in einem sozialen Umfeld auf, das ihre Grundbedürfnisse gravierend verletzt, entwickeln sich Vermeidungsschemata, die darauf abzielen, sich
vor weiteren Verletzungen der Grundbedürfnisse zu schützen. In einem schädigenden Entwicklungsumfeld können Vermeidungsschemata als gelungene Anpassung, als Überlebensstrategie verstanden werden („Gebranntes Kind scheut das Feuer“, Grawe, 2000, S. 358) –
gleichzeitig verhindern sie aber bedürfnisbefriedigende Erfahrungen in Situationen, die
durchaus dafür geeignet wären.
Für die Fortsetzung der Fallarbeit werden im Plenum weiterführende Informationen zum Fall,
insbesondere zum Beziehungs- und Kontaktverhalten eingebracht (ca. 5-10 Minuten).
Fallbeispiel Herr K.
Weiterführende Information
Die Schwierigkeiten von Herrn K. verbindlich zu vereinbarten Terminen zu kommen, setzen
sich fort: Manchmal erscheint er eine Stunde zu früh, manchmal verspätet er sich, sagt Termine
kurzfristig wieder ab (macht gleichzeitig aber deutlich, dass er ganz dringend einen neuen Ter-
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min benötige) oder kommt abgehetzt zwischen zwei Teildiensten. Während der Gesprächstermine wirkt er ausgesprochen unsicher-angespannt, aber auch bedürftig nach Aufmerksamkeit und Zuwendung (z. B. reagiert er überrascht und bedauernd auf das Ende der Gespräche,
aufgrund seines ausgeprägten Redebedürfnisses ist es mitunter herausfordernd, die Termine
pünktlich zu beenden). Gleichzeitig reagiert er auf konkretisierende Nachfragen – gerade bei
schambehafteten Themen – ausweichend und bagatellisierend. Insgesamt wird im Verlauf der
Zusammenarbeit die Vielfalt seiner Belastungen deutlich: Er verfügt nur über wenige soziale
Kontakte und kommt – auch bedingt durch den Schichtdienst – nur schlecht zur Ruhe, schläft
schlecht und wenig. Auch hat er Sorge, dass sein Arbeitsvertrag nicht verlängert wird, da er
mehrfach unentschuldigt gefehlt hat und immer wieder mit einzelnen BewohnerInnen, die er
als zu ansprüchlich und pingelig erlebt, in Streit gerät. Dabei ist er kaum in der Lage, eigene
Anteile an diesen Schwierigkeiten überhaupt in Betracht zu ziehen. Zusätzlich droht der Konflikt mit seiner Ex-Partnerin über den Umgang mit dem gemeinsamen Sohn zu eskalieren; er
ärgert sich, dass sie den Sohn nicht mehr allein bei ihm lassen mag und äußert sich abfällig und
entwertend („P. [seine ehemalige Partnerin] kriegt doch selbst überhaupt nichts gebacken – die
soll sich mal nicht so aufspielen“).
Im Anschluss wird entweder im Plenum oder im Rahmen von Kleingruppenarbeit angeregt, die
wesentlichen motivationalen Zielen anhand der folgenden Fragen (in Anlehnung an Grawe,
2004, S. 407) zu erschließen (ca. 25 Minuten):
Welche Gefühle/Gedanken/Bewertungen, Verhaltensweisen und -tendenzen werden
durch Herrn K. bei mir ausgelöst? Was versucht er, mit seinem Verhalten bei mir zu
bewirken? [Annäherungsziele] Was „erreicht“ er durch seine „Art“ bei mir? Wie macht
er das?
Welche Äußerungen und Verhaltensweisen würden Herr K. gut tun, ihn sich verstanden
fühlen lassen?
Welche Äußerungen und Verhaltensweisen würden ihn besonders verletzen und kränken?
Was versucht Herr K. in Beziehungen zu vermeiden? Was lässt er nicht zu Stande
kommen, was macht er mir schwer? Wovor hat er Angst? [Vermeidungsziele]
Welche Wünsche könnten hinter dieser Vermeidung stecken?
Dienen die erschlossenen Annäherungs- und Vermeidungsziele eventuell noch weiteren
übergeordneten Zielen?
Schritt 6: Erarbeitung motivationaler Schemata an eigenen Praxisfällen
Dieses Vorgehen zur Erschließung zentraler Annäherungs- und Vermeidungsschemata wird
dann in Kleingruppen auf den ausgewählten Fall (Schritt 4) übertragen, d.h. die Studierenden
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beantworten für den ausgewählten Fall die obigen Fragen (Schritt 5). Hierfür stehen ca. 30-45
Minuten zur Verfügung, wobei auch eine kurze Präsentation des Falls und der Arbeitsergebnisse für das Plenum vorbereitet werden soll.
Schritt 7: Präsentation und Diskussion der Arbeitsergebnisse zu eigenen Fällen
Die einzelnen Gruppen stellen Ihre Überlegungen für den ausgewählten Fall im Plenum vor,
wobei die Präsentationen eine gute Möglichkeit bieten, zentrale Grundgedanken des Konsistenzmodells noch einmal herauszuheben und dessen Praxisrelevanz – gerade in Bezug auf
die Beziehungsgestaltung – zu veranschaulichen. Je nach Kleingruppenanzahl nehmen die
Präsentationen und die anschließende Diskussion und Reflexion zwischen 60-90 Minuten in
Anspruch.
3. Erfahrungen und weiterführende Hinweise
Entsprechende Rückmeldungen von Studierenden zeigen, dass das beschriebene didaktische
Vorgehen vor allem dadurch spannend und bereichernd wird, dass sie vergleichsweise intensiv
an und mit Fallbeispielen arbeiten können, zu denen sehr viel mehr Hintergrundinformationen
gegeben werden, als in den zusammenfassenden Darstellungen (vgl. Schritt 1 und Schritt 5)
deutlich werden kann. Daher ist es sicher empfehlenswert, dass SeminarleiterInnen eigene Fälle
so aufbereiten, dass auf ihrer Grundlage ein Zugang zu wesentlichen konsistenztheoretischen
Überlegungen möglich wird.
Insgesamt ist es – je nach inhaltlichem Schwerpunkt – nicht zwingend notwendig, alle Einzelschritte dieser didaktischen Einheit zu durchlaufen, vielmehr können diese flexibel gehandhabt
werden. Beispielsweise gelingt eine Erarbeitung der psychosozialen Grundbedürfnisse durch
die Schritte 1 bis 3. Die Schritte 6 und 7 (und damit dann auch die Auswahl eines Falles im
Rahmen von Schritt 5) sind optional und bieten sich nur dann an, wenn tatsächlich ein entsprechend umfassender Zeitrahmen zur Verfügung steht und die Studierenden auch über
genügend Erfahrungen in der fallbezogenen Klinischen Sozialarbeit verfügen. Letzteres kann
bei Bachelorstudierenden – auch nach dem Praxissemester – nicht zwingend vorausgesetzt werden (wobei die übrigen Arbeitsschritte durchaus gelingend mit Bachelorstudierenden umgesetzt
wurden).
Eng verknüpft mit einem konsistenztheoretischen Grundverständnis sind Fragen nach allgemeinen Wirkfaktoren (vgl. Grawe, 1995, 2005) und nach einer gelingenden/komplementären
Beziehungsgestaltung (Caspar, 1996), die ebenso für die Klinische Sozialarbeit relevant sind
und sich damit auch für eine weiterführende Auseinandersetzung und Diskussion mit Studierenden anbieten (und zum Teil ja auch Bestandteil des beschriebenen Vorgehens sind): Wie
können und sollten wir Beziehungen und Kontakte zu Menschen aufbauen und gestalten, die
schwere und wiederholte Verletzungen ihrer Grundbedürfnisse erleben mussten? Mit welchen
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Herausforderungen ist zu rechnen? Inwiefern kann das Wissen um die Bedeutung menschlicher
Grundbedürfnisse noch in die klinisch-sozialarbeiterische Interventionsplanung einfließen und
diese bereichern? Wie können klinisch-sozialarbeiterische Interventionen grundbedürfnisbefriedigende Erfahrungen ermöglichen? Gerade weil es in der Klinischen Sozialarbeit um
hochkomplexe biopsychosoziale Belastungssituationen geht (vgl. Pauls, 2013), stellen sich
diese Fragen mit besonderer Dringlichkeit.
Literatur
Bandura, A. (1997). Self-efficacy. The exercise of control. New York: Freeman.
Borg-Laufs, M. & Dittrich, K. (2010). Die Befriedigung psychischer Grundbedürfnisse als Ziel
psychosozialer Arbeit. In M. Borg-Laufs & K. Dittrich (Hrsg.), Psychische Grundbedürfnisse
in Kindheit und Jugend. Perspektiven für Soziale Arbeit und Psychotherapie (S. 7-22).
Tübingen: dgvt.
Bowlby, J. (1969). Attachment and loss. Vol. I: Attachment. London: The Hogarth Press.
Caspar, F. (1996). Beziehungen und Probleme verstehen. Eine Einführung in die psychotherapeutische Plananalyse. Bern: Huber.
Epstein, S. (1990). Cognitive-experiential self-theory. In L. A. Pervin (Ed.), Handbook of Personality: Theory und Research (pp. 165-192). New York: Guilford Press.
Fries, A. & Grawe, K. (2006). Inkonsistenz und psychische Gesundheit: Eine Metaanalyse.
Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie, 54, 133-148.
Grawe, K. (1995). Grundriss einer allgemeinen Psychotherapie. Psychotherapeut, 40, 130-145.
Grawe, K. (2000). Psychologische Therapie. Göttingen: Hogrefe.
Grawe, K. (2004). Neuropsychotherapie. Göttingen: Hogrefe.
Grawe, K. (2005). (Wie) kann Psychotherapie durch empirische Validierung wirksamer werden? Psychotherapeutenjournal, 1, 4-11.
Klassen, M. (2009). Sozialarbeitswissenschaft aus der bedürfnistheoretischen Perspektive. In
A. Mühlum & M. Rieger (Hrsg.), Soziale Arbeit in Wissenschaft und Praxis. Festschrift für
Wolf Rainer Wendt (S. 47-58). Lage: Jacobs Verlag.
Pauls, H. (2013). Klinische Sozialarbeit. Grundlagen und Methoden psychosozialer Behandlung. Weinheim: Juventa.
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Pauls, H. (2015). Person-in-Environment – Übung zum Zusammenhang von Selbst-Regulation
und sozialer Chancenstruktur. In H. Pauls, J. Lohner & R. Viehhauser (Hrsg.), Didaktische
Bausteine und Übungen zur Klinischen Sozialarbeit in der Lehre (S. 8-13). Weitramsdorf:
ZKS-Verlag.
Viehhauser, R. (2015). Die helfende Beziehung – Anstöße für eine praxisgerechte, selbstreflexive Gestaltung der Basisvariable „Positive Wertschätzung“. In H. Pauls, J. Lohner & R.
Viehhauser (Hrsg.), Didaktische Bausteine und Übungen zur Klinischen Sozialarbeit in der
Lehre (S. 14-24). Weitramsdorf: ZKS-Verlag.
Autorenangabe
Prof. Dr. rer. nat. Christine Kröger, Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin,
Professorin für Psychologische Grundlagen der Sozialen Arbeit, Klinische Sozialarbeit und Klinische Heilpädagogik an der Hochschule Coburg.
Email: [email protected]
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