Laudatio: Prof. Dr. Dag Nikolaus Hasse

Leibniz-Laudationes 2016
Dag Nikolaus Hasse
Philosophie
Meine Damen und Herren,
Dag Hasse hat es in dem Film eben schon sehr schön auf den Punkt gebracht: Eine der
zentralen Aufgaben moderner Geisteswissenschaften ist es nicht, wie gelegentlich unterstellt
wird, Komplexitäten zu reduzieren und zu simplifizieren, sondern, im Gegenteil, die Komplexität der uns umgebenden historischen, kulturellen, normativen und ästhetischen Welt zu
steigern und zu bearbeiten, indem sie als Geisteswissenschaften Weisen des Weltverhältnisses und der Weltauslegung erforschen und rekonstruieren. So halten sie die historischen
und kulturellen Alternativen zum Gegebenen verfügbar – und statten uns zugleich mit dem
aus, was sich Möglichkeitswissen nennen ließe, also mit dem Wissen darüber, dass die
Dinge weder zufällig noch notwendig so sind, wie sie sind.
Wie bereichernd solcherlei Forschung sein kann, das zeigen die Arbeiten von Dag Hasse jedenfalls auf ziemlich vorbildliche Weise. Mit großer analytischer Kraft erforschen und rekonstruieren sie die intellektuellen Beziehungen zwischen christlichen, jüdischen und muslimischen Gelehrten und Institutionen seit dem Mittelalter und stellen so die Frage nach den kulturellen Grundlagen Europas in einen ganz neuen Zusammenhang. Immer wieder machen
sie dabei deutlich: Der Austausch zwischen Okzident und Orient war vielschichtig und weitgespannt, der Einfluss arabischer Gelehrsamkeit auf die europäische Philosophie, Theologie
sowie die Naturwissenschaften war bis in die frühe Neuzeit hinein enorm.
So eröffnen Dag Hasses Forschungen also eine Vielzahl an produktiven Perspektiven, die
weit über sein Fachgebiet hinausreichen – auch weil sie durchweg von einer außergewöhnlichen methodischen Originalität getragen werden. Kein Zufall also, dass viele seiner Arbeiten
zu vielzitierten und vielbewunderten Standardwerken geworden sind, darunter vor allem
seine Untersuchung über Avicenna’s „De Anima“ in the Latin West.
DFG
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Neben seinen Leistungen als Forscher hat Dag Hasse sich auch als Wissenschaftsorganisator einen Namen gemacht, denn er hat zwei wichtige Langzeitvorhaben auf den Weg gebracht, die er seither als Leiter betreut: Einmal das an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften angesiedelte Vorhaben zur Erforschung der Adaptionen, Aneignungen und
Transformationen des ptolemäischen Weltbildes in den west-östlichen Kulturbeziehungen.
Und andererseits das DFG Langfristvorhaben zur Erschließung der fachsprachlichen Beziehungen zwischen lateinischer und arabischer Welt in einem Arabisch-Lateinischem Glossar.
Ausgebildet worden ist Dag Hasse als Latinist, Gräzist, Arabist und Philosoph in Göttingen,
Yale, Tübingen und am Londoner Warburg Institut, seit 2000 forscht er in Würzburg, wo er
2005 eine Lichtenberg-Professur antrat und seit 2010 den Lehrstuhl für Geschichte der Philosophie innehat.
Lieber Herr Hasse: ich freue mich sehr, Ihnen heute den Leibniz-Preis überreichen zu dürfen. Er soll es Ihnen in Zukunft so leicht wie nur möglich machen, ein „ungeduldiger Intellektueller zu sein“, der uns mit seinen Arbeiten an die historischen und kulturellen Komplexitäten unserer europäischen Welt erinnert.
Herzliche Gratulation!
DFG