Die ZEIT No.9 vom 18.02.2016 Interview mit Dr. Reiner Klingholz

Die ZEIT No.9 vom 18.02.2016
Interview mit Dr. Reiner Klingholz, geführt von Martin Spiewak
Titel: „Gebildete stellen Fragen“. Ist zu wenig Bildung die Ursache vieler
Konflikte?
Fehlt
Arabien
eine
Lernkultur?
Ein
Gespräch
mit
dem
Bevölkerungsforscher Reiner Klingholz.
DIE ZEIT: Herr Klingholz, wir erleben, dass wegen Krieg und Armut Millionen
Menschen ihre Heimat in Richtung Europa verlassen. Wir werden Zeuge einer
ideologischen Konfrontation mit einer extremen Interpretation des Islam.
Jetzt behaupten Sie, die eigentliche Konfliktlinie des 21.Jahrhunderts
verlaufe ganz woanders: entlang des Bildungsgefälles. Steile These!
Reiner Klingholz: Ich glaube nicht. Bildung war ausschlaggebend für den
Aufstieg und die jahrhundertelange Hegemonie des Westens. Dank besserer
Bildung haben beträchtliche Teile Asiens mittlerweile den Anschluss
geschafft, während Bildungsrückstand einen guten Teil der Misere Afrikas und
der arabischen Welt erklärt. Auch in Zukunft werden sich vor allem zwei
Kulturen gegenüberstehen: eine der Bildung und eine der Unbildung.
ZEIT: Wissen wurde doch stets wertgeschätzt: in allen Gesellschaften, zu
allen Zeiten.
Klingholz: Stimmt, auch im Alten China oder im antiken Griechenland hatte
Bildung einen hohen Stellenwert – aber nur für kleine Eliten. In die Breite
getragen wurde Bildung erstmals in Europa: durch die Erfindung der
Druckerpresse und durch die Reformation, die den Anspruch hatte, jeder
Gläubige solle seinen persönlichen Zugang zum Heil erlangen, indem er die
Heilige Schrift liest. Damit begann eine Wissensrevolution, die bis heute den
Wohlstand und die Demokratien des Westens begründet und auch seine
Vorherrschaft in der Welt. Lange Zeit hielt man dies deshalb für ein
westliches Prinzip.
ZEIT: Das ist es doch auch.
Klingholz: Nein, längst nicht mehr. Irgendwann entdeckte man das Potential
der Bildung für die Massen auch in Asien und bettete dieses Erfolgsprinzip in
die eigene Kultur ein. Den Anfang machte Japan in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts. Das spektakulärste Beispiel ist sicherlich Singapur. Das Land
war Anfang der fünfziger Jahre ein malariaverseuchtes Dreckloch. Heute ist es
ein Stadtstaat mit einem besseren Bildungsstand und höherem Pro-KopfEinkommen als Deutschland. Im arabischen wie im afrikanischen Raum dagegen
hat man auf die Herausforderung des Westens völlig anders reagiert.
ZEIT: Wie?
Klingholz: Mit Abwehr. Statt das erfolgreiche Bildungsstrategie des Westens
zu kopieren, verdammte man sie als imperialistisch oder als der eigenen
Kultur und Religion entgegengesetzt. Seine extreme Zuspitzung findet dieser
Widerstand heute in Gestalt islamistischer Terrorgruppen. Boko Haram bedeutet
nicht zufällig »Bücher sind Sünde« oder »Westliche Bildung ist verboten«.
ZEIT: Das ist, wie Sie selbst sagen, ein Extrembeispiel. Man kann Länder wie
Ägypten oder die Maghrebstaaten doch nicht als Nationen ohne Bildung
bezeichnen.
Klingholz: Die Quoten der formalen Abschlüsse haben sich in den vergangenen
Jahrzehnten stark verbessert. Die Bildungsinhalte jedoch sind weiterhin
mangelhaft. Zwar besuchen die meisten Kinder – mehr Jungen als Mädchen
übrigens – eine Schule. Lesen, Rechnen und eine Problemlösungskompetenz
lernen viele dort dennoch nicht. Und die wachsende Zahl der Studierenden
belegt am liebsten geisteswissenschaftliche Fächer.
ZEIT: Was ist daran falsch?
Klingholz: Diese Fächer haben volkswirtschaftlich kaum Relevanz. Die jungen
Menschen wählen diese Disziplinen, weil sie sich damit den Eintritt in den
Staatsdienst versprechen. Angewandte Natur- und Ingenieurwissenschaften haben
dagegen weit weniger Zulauf, das Unternehmertum ist kaum ausgeprägt. Man
sieht die Folgen am wissenschaftlichen Output, etwa an der Zahl der Patente,
dieser Länder …
ZEIT: … die eher niedrig ausfällt.
Klingholz: Das ist eine Beschönigung. Das kleine Israel meldet weit mehr
Patente an als der gesamte arabische Raum. Es gibt nur einen arabischen
Nobelpreisträger in den Naturwissenschaften, den Ägypter Ahmed Zewail, und
der verbrachte seine Forscherlaufbahn in den USA. Unter den besten 200
Universitäten der Welt ist keine einzige aus dieser Region.
ZEIT: Offiziell bekannt wurde dieser Rückstand 2002, als die Vereinten
Nationen den ersten »Arab Human Development Report« veröffentlichten. Wie
haben die betreffende Staaten darauf reagiert?
Klingholz: Der Bericht hätte für die arabische Welt eine Art Weckruf sein
müssen wie der Sputnik-Schock für die USA oder der Pisa-Bericht für
Deutschland. Passiert ist aber das Gegenteil. Der Bericht wurde massiv
kritisiert, kleingeredet und nach fünf Ausgaben eingestellt. Dabei kamen
praktisch alle Autoren aus den betroffenen Ländern selbst. In Asien wäre die
Reaktion sicher völlig anders ausgefallen.
ZEIT: Heute aber investieren die reichen Ölstaaten in Bildung. Im Emirat
Katar etwa entsteht flächenmäßig die größte Universität der Welt.
Klingholz: Die jedoch wie fast alle neuen Bildungseinrichtungen der
arabischen Welt weitgehend von eingekauften ausländischen Wissenschaftlern
betrieben wird. Das einheimische Humankapital dafür ist bislang kaum
vorhanden. Das ist ähnlich wie im Sport. Nur weil Katar 2022 die
Weltmeisterschaft ausrichtet, wird es nicht zu einer Top-Fußballnation.
ZEIT: Humankapital gilt vielen als böses Wort.
Klingholz: Ich mag das Wort und bin froh, dass ich selbst Humankapital als
persönliches Gut besitze. Das kann mir niemand wegnehmen. Jeder junge Mensch
sollte möglichst viel Humankapital anhäufen, denn damit steigen seine
Chancen: Er lebt statistisch um einige Jahre länger, ist wirtschaftlich
erfolgreicher, hat mehr Mitsprachemöglichkeiten und ist sogar glücklicher.
ZEIT: Noch eine Sprachkritik: Sie sprechen immer davon, dass in der
»arabischen« Welt Bildung wenig zählt. Muss es – politisch weniger korrekt –
nicht »islamische« Welt heißen?
Klingholz: Mit politischer Korrektheit hat das nichts zu tun. Es gibt ja
Länder mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit, die Bildung mehr schätzen und
weniger rückständig sind. Malaysia gehört dazu und Indonesien.
ZEIT: Die stehen auch nicht ganz weit vorn, was Wissenschaft und Wohlstand
angeht.
Klingholz: Aber sie haben anders als die arabische Welt große Fortschritte
gemacht. Auch Bangladesch: Dort wächst nicht nur die Wirtschaft stark. Vor
allem haben sich wichtige Indikatoren für die Entwicklung des Landes
verbessert. Die Kinderzahl pro Frau hat sich im Vergleich zu dem hohen Wert
der 1980er Jahre halbiert, die Lebenserwartung ist um mehr als 20 Jahre
gestiegen.
ZEIT: Was hat Bangladesch richtig gemacht?
Klingholz: Das Land hat massiv in die Grundbildung investiert, gerade von
Mädchen.
Frauen
wurde
mit
großflächigen
Mikrokreditprogrammen
eine
eigenständige wirtschaftliche Existenz ermöglicht. Gleichzeitig ist eine
kleine aber schnell wachsende Wissenselite entstanden, die mittlerweile nicht
nur Computer baut, sondern auch programmiert.
ZEIT: Was steckt denn hinter dem asiatischen Erfolg?
Klingholz: Viele, nicht alle asiatischen Länder haben ganz unabhängig von ihrer
Religion erkannt, dass sie mit der Bildung für möglichst viele Menschen eine
enorme soziale und wirtschaftliche Dividende einfahren können. Das hat nichts
mit Glauben oder Ideologie zu tun, das ist rein pragmatisch gedacht.
ZEIT: Auch wenn diese Länder als Gegenbeispiele taugen – wurde im Islam die
Religion nicht immer wieder dazu benutzt, Bildung zu verhindern? Zum Beispiel
verbot der Sultan von Konstantinopel die Druckerpresse nur wenige Jahrzehnte,
nachdem Gutenberg in Mainz den Druck mit beweglichen Lettern erfunden hatte.
Klingholz: Das stimmt. Das Druckverbot galt in der osmanisch-arabischen Welt
für 300 Jahre. Viele Experten sehen darin den Grund, warum das Interesse am
gedruckten Wort in der Region bis heute nicht sonderlich ausgeprägt ist.
ZEIT: Im Griechenland werden pro Jahr fünfmal mehr Bücher übersetzt als im
arabischen Raum.
Klingholz: Tatsächlich hat der Sultan das Druckverbot damals religiös
begründet: Neben dem Koran sollte kein anderes Buch stehen. Lesen und
Schreiben war nichts fürs gemeine Volk, schließlich hatte Gott zu den
Menschen auch gesprochen und nicht geschrieben. Andererseits war die
arabische
Welt
im
14.
Jahrhundert
unter
dem
Kalifat
von
Bagdad
wissenschaftlich enorm erfolgreich und dem Westen zu dieser Zeit weit
überlegen. Das zeigt für mich: Nicht die Religion behindert die Bildung,
sondern die politische und theologische Macht, welche die Religion
interpretiert.
ZEIT: Gilt das nicht für alle Glaubensrichtungen?
Klingholz: Auch die katholische Kirche des Mittelalters hatte kein Interesse
an der breiten Bildung des Volkes. Mit der Folge, dass sich die katholischen
Regionen Europas bald abgehängt sahen. Gebildete Leute stellen eben Fragen,
haben Zweifel …
ZEIT: … und schüren Unruhe. Ist das Problem der arabischen Welt nicht
vielleicht, dass zu vielen gebildeten jungen Menschen eine wirtschaftliche
Perspektive fehlt?
Klingholz: In der Wissenschaft spricht man vom youth bulge, einem Überschuss
an jungen Leuten, die keinen Platz in der Gesellschaft finden. Besuchen diese
jungen Menschen die Schule oder gar eine Universität, erwerben sie nicht nur
Bildung, sondern auch Ansprüche. Der unzufriedene Bauer bereitet selten
Probleme, die Masse halbwegs qualifizierter Städter ohne Arbeit schon. Das
ist das derzeitige Drama der Maghrebstaaten und Ägyptens. Aber auch in Saudi-
Arabien liegt die Arbeitslosigkeit von Hochschulabsolventen
Prozent, was die dortige Regierung durchaus beunruhigt.
bei
rund
40
ZEIT: Also doch lieber auf Bildung verzichten?
Klingholz: Das ist keine Alternative, denn die Folge wäre ein noch höheres
Bevölkerungswachstum bei noch geringerer wirtschaftlicher Entwicklung. Das
Problem vieler Länder Afrikas oder des Nahen Ostens ist ja nicht ein
Überschuss an Bildung, sondern ein Mangel an Jobs.
ZEIT: Lässt sich da überhaupt in kurzer Zeit ein Gleichgewicht herstellen?
Klingholz: Viele asiatische Länder haben bewiesen, wie rasch sich
Bildungsinvestitionen rentieren und wie sie eine Gesellschaft verändern. Aber
auch afrikanische Staaten wie Äthiopien oder Mauritius sind dafür ein gutes
Beispiel.
ZEIT: Das Hungerland Äthiopien?
Klingholz: Im Moment plagt das Land eine Dürre, ja. Ansonsten aber ist es ein
Erfolgsmodell mit Wachstumsraten von rund zehn Prozent im Jahr seit 2005.
Verantwortlich für diesen Schub sind neben chinesischer Entwicklungshilfe
massive Investitionen der – keinesfalls demokratischen – Regierung in
Gesundheit und Bildung. Um Addis Abeba herum ist ein Industriegürtel
entstanden, und die Fertilitätsrate in der Hauptstadt liegt bei 1,5. Das ist
Schweizer Niveau! Zwar ist das Land noch immer arm, aber die Menschen sehen
eine Perspektive. Auffällig ist ja, dass unter den Flüchtlingen, die zu uns
kommen, viele Eritreer und auch Somalis sind, aber so gut wie keine
Äthiopier.
ZEIT: Ihre Hoffnungsträger – Singapur oder Mauritius – sind keine großen
Länder. Nigeria schon. Und es ruft bei allen Entwicklungsstrategen
Horrorvisionen hervor. Kann Bildung so ein Land noch retten?
Klingholz: Nigeria hat in den 1970er Jahren in Bildung investiert und
tatsächlich verlangsamte sich das Bevölkerungswachstum. Auch hier zeigte
sich: Frauenbildung ist das beste Verhütungsmittel. Danach hat man diese
Politik aufgegeben und die Geburtenraten sanken nicht weiter. Heute hat das
Land 180 Millionen Einwohner, die Prognose für das Jahr 2050 liegt bei 400
Millionen – auf einer Fläche anderthalbmal so groß wie Frankreich. Wenn
dieses Land, das zudem tief gespalten ist in einen christlichen Süden und
einen islamischen Norden, einmal zerbricht, werden wir uns nach der heutige
Flüchtlingsdebatte zurücksehnen.
ZEIT: Was also tun?
Klingholz: Von außen lässt sich kein Land retten. Das ist die wichtigste
Lektion aus 60 Jahren Entwicklungszusammenarbeit. Letztendlich kommt es immer
auf die Eliten an, die in den meisten arabischen und afrikanischen Staaten
schlichtweg völlig versagt haben. Sie müssten sich viel mehr für die Bildung
ihre Leute interessieren.
ZEIT: Und wie können wir helfen?
Klingholz: Unter anderem müssen wir unsere Entwicklungshilfe verändern.
Schätzen Sie einmal den Anteil an allen internationalen Entwicklungsgeldern,
der für Grundbildung ausgegeben wird.
ZEIT: Zwanzig Prozent?
Klingholz: Falsch, zwischen zwei und vier Prozent. Aller Rhetorik zum Trotz
fließt ein großer Teil der Hilfsgelder weiter in große Infrastrukturprojekte,
die allesamt korruptionsanfällig sind und eher die sozialen wie politischen
Strukturen verfestigen.
ZEIT: Sie zeichnen kein optimistisches Bild.
Klingholz: Falsch. Zum einen gibt es immer wieder positive Überraschungen,
siehe Bangladesch, das lange Zeit als hoffnungsloser Fall galt. Zum anderen
zeigt der Gesundheitssektor, wie sich große Fortschritte in der Breite
erzielen lassen.
ZEIT: Und zwar wie?
Klingholz: Um die Weltgesundheit zu verbessern, haben sich Industriestaaten
und Entwicklungsländer mit Unternehmen und großen privaten Stiftungen wie der
Gates-Foundation zu einer globalen Initiative zusammengeschlossen. Die
Erfolge etwa bei der Bekämpfung von Polio oder Malaria können sich sehen
lassen. So eine Koalition brauchen wir auch bei der Bildung.
ZEIT: Menschen zu impfen oder sie mit Moskitonetzen
einfacher als ihnen Lesen und Schreiben beizubringen.
auszustatten
ist
Klingholz: Dafür wirken Investitionen in Lehrer und Schulen dauerhafter.
Bildung allein kann die Welt nicht retten, es braucht ebenso Arbeitsplätze
und verlässliche rechtliche Strukturen. Aber ohne Bildung sind viele Länder
verloren – und wir werden es an den Flüchtlingsströmen merken.