Das Motiv der Scham - Institut für Romanische Philologie

Ludwig-Maximilians-Universität München
Institut für Romanische Philologie
Hauptseminar: Proust
PD Dr. Cornelia Wild
Sommersemester 2015
Sinn und Sinne. Zur Ambiguität der Figur
Gilberte bei Proust
-Seminararbeit01.09.2015
Theresa Plank
Am Waitzackerbach 16a
82362 Weilheim i. Ob.
Tel.: 0881 69362
Email: [email protected]
M. A. Romanistik
2. Fachsemester
Matrikelnummer: 10595059
Inhaltsverzeichnis
I.
Prousts Ästhetik der Sinnlichkeit………………………………...S. 1
II.
Sinn und Sinne. Zur Ambiguität der Figur Gilberte in
Prousts Du côté de chez Swann
1. Der Weißdorn in Swanns Park
1.1 Der weiße Weißdorn: Synästhesie und Rätselhaftigkeit …..S. 3
1.2 Der rosa Weißdorn: L’arbuste catholique et délicieux ……..S. 7
2. Die erste Begegnung mit Gilberte: Entweihte Göttin …………….S. 10
3. Namen
3.1 Die Episode in Swanns Park: Die Episode in Swanns
Park: „Festzug-Stil“ und Explosion der Sinne ……………S. 13
3.2 Die Episode in den Champs-Élysées: Unverfügbarkeit
und essbare Namen …………………………………………S. 17
III.
Fazit…………………………………………………………………….S. 20
IV.
Literaturverzeichnis………………………………………………..S. 22
V.
Erklärung……………………………………………………………..S. 23
Theresa Plank: Sinn und Sinne. Zur Ambiguität der Figur Gilberte bei Proust
I.
Prousts Ästhetik der Sinnlichkeit
Proust entwickelt […] eine Ästhetik, die man als Inszenierung von Intermedialität begreifen kann, als
synästhetische Erfahrung, die alle Sinne […] ins Spiel bringt und kombiniert.1
Die Faszination der Recherche und ihrer Lektüre liegt darin, dass sie alle Sinne erfassen kann, alle
inneren und äußeren Sinne, das Hören ebenso wie das Sehen, [Schmecken], Tasten und Fühlen, die
Einbildungskraft ebenso wie die Schaulust, den musikalischen und rhythmischen Sinn – also das
gesamte Spektrum der Sinnlichkeit, des geistigen und körperlichen Begehrens und der künstlerischen
Sensibilität.2
Wie Volker Roloff beschreibt, spielt die sinnliche Wahrnehmung – sowie auch weitere
Aspekte der Sinnlichkeit, wie körperliches Begehren, Kunst und Musik – in Marcel
Prousts Werk À la recherche du temps perdu eine wichtige Rolle. Doch es handelt sich
darin nicht nur um eine Arbeit an den Sinnen, sondern auch am Sinn selbst. Auf seiner
recherche trifft der Protagonist Marcel auf diverse Objekte [und auch Subjekte], die
ihren Betrachter dazu einladen, hinter ihre äußere Erscheinung zu blicken und nach der
Essenz (essence) zu suchen. 3 Wie Roloff weiterhin treffend formuliert, „geht [es bei
Proust] um Wechselbeziehungen der Sinne untereinander, aber zugleich um […] die
Wechselwirkungen zwischen Körper und Geist, Wahrnehmung und Imagination, Sinn
und Sinnlichkeit.“4
Ausgehend von Roloffs Reflexionen über Prousts Ästhetik der Sinnlichkeit soll in der
vorliegenden Seminararbeit die Ambiguität der Figur Gilberte, der Tochter von Charles
Swann und Odette de Crécy, in Du côté de chez Swann untersucht werden. Hierbei wird
es einerseits um das Spannungsfeld zwischen sinnlicher Wahrnehmung und der Suche
nach dem Sinn, der essence, gehen. Dabei möchte ich aufzeigen, welche Sinnesebenen
angesprochen und miteinander kombiniert werden, welcher Effekt damit erzielt wird
und ob es dem Protagonisten hinsichtlich der Figur Gilberte gelingt, auf die essence zu
stoßen. Andererseits werde ich, ebenfalls in Anlehnung an Roloff, das Verhältnis
zwischen Körper und Geist näher bestimmen. Die Ambiguität Gilbertes soll auch
hinsichtlich der Aspekte ‚übersinnlich/sakral‘ und ‚körperlich/profan‘ analysiert
werden. Hierbei gilt es herauszufinden, ob diese Bereiche exakt getrennt oder ob immer
beide Seiten impliziert werden.
Roloff, Volker: „Korrespondenz der Sinne und Synästhesie. Anmerkungen zur Recherche“, in: Felten,
Uta/Roloff, Volker (Hg.): Die Korrespondenz der Sinne. Wahrnehmungsästhetische und intermediale
Aspekte im Werk von Proust, München: Fink 2008, S. 11-18, hier S. 15.
2
Ebd., S. 11.
3
Vgl. Fraisse, Luc: Lire du côté de chez Swann de Proust, Paris: Dunod 1993, S. 68
4
Roloff: „Korrespondenz der Sinne und Synästhesie“, S. 11.
1
1
Theresa Plank: Sinn und Sinne. Zur Ambiguität der Figur Gilberte bei Proust
In meiner Arbeit möchte ich die Figur Gilberte in drei Schritten untersuchen. Meine
Analyse werde ich in die Abschnitte ‚Der Weißdorn in Swanns Park‘, ‚Die erste
Begegnung mit Gilberte‘ und ‚Namen‘ teilen, welche aufeinander aufbauen, durchaus
kohärent sind, wie ich zeigen werde, und die Figur Gilberte immer komplexer werden
lassen. Hinsichtlich der Sekundärliteratur beziehe ich mich unter anderem auf Leo
Spitzer (Stilstudien), Rainer Warning (Proust-Studien) und Roland Barthes („Proust et
les noms“).
2
Theresa Plank: Sinn und Sinne. Zur Ambiguität der Figur Gilberte bei Proust
II.
Sinn und Sinne. Zur Ambiguität der Figur Gilberte in Prousts
Du côté de chez Swann
1. Der Weißdorn in Swanns Park
1.1 Der weiße Weißdorn: Synästhesie und Rätselhaftigkeit
Die Beschreibung des Weißdorns (les aubépines), welchen der Protagonist auf einem
Spaziergang in Begleitung seines Vaters und seines Großvaters du côté de chez Swann
betrachtet, befindet sich unmittelbar vor der ersten, realen Begegnung mit Gilberte
Swann und bereitet Marcel auf das Treffen mit ihr vor. Dennoch tritt der Weißdorn an
dieser Stelle nicht zum ersten Mal auf, denn Marcel hat bereits in der Maiandacht (mois
de Marie) begonnen, den Weißdorn zu lieben: „C’est au mois de Marie que je me
souviens d’avoir commencé à aimer les aubépines.“ (CS 184). Es handelt sich hierbei
vielmehr um ein Motiv, ein typisches Paradigma, wie Warning feststellt.5 Auch Milly
spricht von „formes de la répétition et de la variation“6 in der Recherche; des Weiteren
übernehme hier Proust von Richard Wagner die Technik des Leitmotivs.7
Doch nun befindet sich das erlebende Ich in Swanns Park, auf dem Pfad von
Tansonville. Die Umgebung für das erste Aufeinandertreffen mit Gilberte wird wie folgt
beschrieben: „Je le [= le petit chemin] trouvai tout bourdonnant de l’odeur des
aubépines.“ (CS 216). Die Wahrnehmung des Weißdornduftes geschieht zwar plötzlich
und unerwartet8, doch im Gegensatz zur Madeleine-Episode tritt die Erinnerung nicht
gleich einer Epiphanie ein (vgl. „Et tout d’un coup le souvenir m’est apparu“, CS 103);
vielmehr erscheint der Prozess des Erinnerns hier als mühsame Arbeit.9 Dieser Prozess
wird „durch die Sinnesassoziationen, vornehmlich solche der niederen Sinne“ 10
ausgelöst. Laut Bernard Brun ist das Gedächtnis (la mémoire) jedoch nur ein
Instrument; es seien die Sinne, die sinnliche Wahrnehmung, welche die Erinnerung (la
5
Warning, Rainer: Proust-Studien, München: Fink 2000, S. 184, 187.
Milly, Jean: „Style“, in: Bouillaguet, Annick (Hg.): Dictionnaire Marcel Proust, Paris: Champion 2004
(= Dictionnaires & références 10), S. 969-973, hier S. 970.
7
Vgl. ebd.
8
Vgl. Verna, Marisa: „Jouir des aubépines: sur quelques pages de Proust et la synesthésie“, in: Felten,
Uta/Roloff, Volker (Hg.): Die Korrespondenz der Sinne. Wahrnehmungsästhetische und intermediale
Aspekte im Werk von Proust, München: Fink 2008, S. 269-283, hier S. 274.
9
Vgl. Warning: Proust-Studien, S. 187.
10
Ebd., S. 188.
6
3
Theresa Plank: Sinn und Sinne. Zur Ambiguität der Figur Gilberte bei Proust
réminiscence) an Combray wieder auferstehen lassen.11 „C’est le travail sur la sensation
qui crée l’œuvre d’art, le livre.“12 Brun zählt die Weißdorn-Episode zu den sogenannten
moments privilégiés: „Elles [= les aubépines] sont l’exemple d’une description poussée
jusqu’à ses extrêmes limites, jusqu’à l’épuisement des apparences, par tous les sens
(vue, odorat, goût, ouïe).“13 Bereits im Ausdruck „Je le trouvai tout bourdonnant de
l’odeur des aubépines“ 14 (CS 216) werden die Sinnesebenen ‘sehen’, ‘hören’ und
‘riechen’ miteinander verknüpft. Hierbei handelt es sich um eine Synästhesie, eine
Stilfigur, „[qui] constitue pourtant l’un des pivots du fonctionnement du texte“15. Des
Weiteren wird die Synästhesie laut Verna durch eine metonymische Relation erweitert:
Der Duft der Weißdornhecke wird als summend wahrgenommen, da sich
möglicherweise Insekten in der Nähe befinden. 16 Dies lässt sich auch am Text belegen:
Die Insekten werden zum einen in der Weißdorn-Episode während der Maiandacht („le
pouvoir irritant, d’insectes aujourd’hui métamorphosés en fleurs“ CS 186), zum anderen
kurz bevor Marcel den Pfad von Tansonville betritt („l’eau dormante elle-même, dont
des insectes irritaient perpétuellement le sommeil“ CS 216), erwähnt. Der Weißdornduft
wird jedoch nicht nur mit (natürlichen) Geräuschen, sondern auch mit Musik in
Verbindung gebracht: „Mais j’avais beau rester devant les aubépines […] à m’unir au
rythme qui jetait leurs fleurs, […] et à des intervalles inattendus comme certains
intervalles musicaux“ (CS 217). Der Erzähler arbeitet hier mit Begriffen, die dem
semantischen Feld der Musik entnommen sind, wie zum Beispiel ‚Intervall‘, ‚Melodie‘
und ‚Rhythmus‘.17
Die Weißdornhecke wird vom jungen Marcel zwar sinnlich wahrgenommen, erscheint
ihm aber zugleich auch auf ü b e r s i n n l i c h e Weise, indem sie mit einer Folge von
Kapellen verglichen wird:
La haie formait comme une suite de chapelles qui disparaissaient sous la jonchée de leurs fleurs
amoncelées en reposoir; au-dessous d’elles, le soleil posait à terre un quadrillage de clarté,
comme s’il venait de traverser une verrière; leur parfum s’étendait aussi onctueux, aussi
délimité en sa forme que si j’eusse été devant l’autel de la Vierge, et les fleurs, aussi parées,
tenaient chacune d’un air distrait son étincelant bouquet d’étamines, fines et rayonnantes
Vgl. Brun, Bernard: „Moments privilégiés“, in: Bouillaguet, Annick (Hg.): Dictionnaire Marcel
Proust, Paris: Champion 2004 (= Dictionnaires & références 10), S. 636-637, hier S. 636.
12
Ebd.
13
Ebd.
14
Sämtliche Hervorhebungen, auch im folgenden Text: TP.
15
Verna: „Jouir des aubépines: sur quelques pages de Proust et la synesthésie“, S. 269.
16
Vgl. ebd., S. 277.
17
Vgl. dazu ebd., S. 276.
11
4
Theresa Plank: Sinn und Sinne. Zur Ambiguität der Figur Gilberte bei Proust
nervures de style flamboyant comme celles qui à l’église ajouraient la rampe du jubé ou les
meneaux du vitrail (CS 216).
Die Blüten des Weißdorns werden durch diese Metaphorik sakralisiert; Warning
verwendet in diesem Zusammenhang auch den Begriff der essence sacrée.18 Durch die
Verwendung des sakralen bzw. religiösen Vokabulars (Kircheninventar) wird ebenfalls
ein Bezug zur vorangehenden Weißdorn-Episode während der Maiandacht hergestellt:
„[L]’isotopie mystique/perceptive […] prend ses racines dans la première rencontre
avec les aubépines, dans l’église“19. In dieser Episode sieht Marcel auf dem Altar einen
Strauß mit weißen Weißdornzweigen, welcher ihm selbst als Teil der mystères dieses
Ortes erscheint: „N’étant [= les aubépines] pas seulement dans l‘église, si sainte, […]
posées sur l’autel même, inséparables des mystères à la célébration desquels elles
prenaient part“ (CS 184).
Doch hat der Weißdorn wirklich eine religiöse Bedeutung für den Protagonisten?
Michel-Thiriet merkt an, dass Religion bei Proust vielmehr eine Kunst ist.20 „Beeinflußt
von Ruskin, weiß er die Noblesse der Gottesdienste und die Schönheit der gotischen
Kirchen zu würdigen.“ 21 Des Weiteren tragen seine religiösen Kenntnisse eher zur
Harmonie seines Werkes bei. 22 Meiner Meinung nach, kommen hier noch weitere
Faktoren hinzu: Die Kirche Saint-Hilaire mit dem Altarschmuck aus Weißdornzweigen
– sowie auch die Weißdornhecke auf dem Pfad von Tansonville – scheinen für Marcel
heilige, zauberhafte Orte zu sein, welche eine nicht alltägliche Festatmosphäre kreieren.
Außerdem wird mit dem Adjektiv ‚onctueux‘ (dt. weich, sämig), mit welchem der Duft
der Weißdornblüten der Hecke in Anlehnung an die Erlebnisse in der Kirche
beschrieben wird („leur parfum s’étendait aussi onctueux“, CS 216), nicht nur das
semantische Feld der Religion, sondern auch das der sinnlichen Wahrnehmung
aufgerufen: „[L]’adjectif onctueux concerne en français les quatres domaines sensoriels
du toucher, du goût, de la vue et de l’audition, et touche en même temps le champ
sémantique du religieux. “ 23 In diesem Adjektiv verschmelzen die Bereiche des
Sinnlichen und des Sakralen. Der Weißdorn hat also sowohl sinnliches (körperliches),
18
Vgl. Warning: Proust-Studien, S. 189.
Verna: „Jouir des aubépines: sur quelques pages de Proust et la synesthésie“, S. 272.
20
Vgl. Michel-Thiriet, Philippe: Das Marcel Proust Lexikon, übers. v. Rolf Wintermeyer,
Frankfurt/Main: Suhrkamp 1992, S. 362.
21
Ebd.
22
Vgl. ebd.
23
Verna: „Jouir des aubépines: sur quelques pages de Proust et la synesthésie“, S. 278.
19
5
Theresa Plank: Sinn und Sinne. Zur Ambiguität der Figur Gilberte bei Proust
als auch spirituelles (geistiges) Potential. 24 Dennoch, obwohl Marcel den Weißdorn
sinnlich wahrnimmt, bleibt ihm dessen Sinn verborgen:
Mais j’avais beau rester devant les aubépines à respirer, à porter devant ma pensée qui ne
savait ce qu’elle devait en faire, à perdre, à retrouver leur invisible et fixe odeur […], mais sans
me le laisser approfondir davantage, comme ces mélodies qu’on rejoue cent fois de suite sans
descendre plus avant dans leur secret. (CS 217).
Obwohl Marcel versucht, das Geheimnis des Weißdorns zu entschlüsseln, obwohl er
dessen Duft, in Anlehnung an den Titel der Romanreihe, verliert (perdre) und sogar
wiederfindet (retrouver) 25 , kann sein Verstand nichts damit anfangen. 26 Diesen
Vorgang, diesen Versuch, au-delà de l’image ou de l’odeur zu blicken, beschreibt und
analysiert der Erzähler aber erst später:
[L]’odeur d’un chemin me faisaient arrêter par un plaisir particulier qu’ils me donnaient, et
aussi parce qu’ils avaient l’air de cacher au-delà de ce que je voyais, quelque chose qu’ils
invitaient à venir prendre et que malgré mes efforts je n’arrivais pas à découvrir. Comme je
sentais que cela se trouvait en eux, je restais là, immobile, à regarder, à respirer, à tâcher d’aller
avec ma pensée au-delà de l’image ou de l’odeur. (CS 266f.)
Es geht hierbei darum, zur Essenz (essence) des Weißdorns vorzudringen; „le sens
caché dans la haie des épines […] est ce qui dans l’esthétique proustienne s’appelle une
essence“.27 Proust sucht diese Essenz hinter den sinnlichen Erscheinungen.28 Selbst als
sich der Protagonist Marcel abwendet und kurz darauf einen neuen Versuch wagt,
scheitert er.29 Auch die anderen Blumen helfen ihm nicht dabei (vgl. CS 217f.), er muss
es allein schaffen:
Puis je revenais devant les aubépines comme devant ces chefs-d’œuvre dont on croit qu’on
saura mieux les voir quand on a cessé un moment de les regarder, mais j’avais beau me faire un
écran de mes mains pour n’avoir qu’elles sous les yeux, le sentiment qu’elles éveillaient en moi
restait obscur et vague, cherchant en vain à se dégager, à venir adhérer à leurs fleurs. (ebd.)
Bei dieser Suche Marcels nach der essence, nach dem Sinn, des Weißdorns geht es auch
darum, das eigene Ich zu ergründen, wie nun deutlich wird, denn das Gefühl, dass die
Weißdornblüten i n i h m wecken, bleibt dunkel und unbestimmt. „Der Anblick der
weißen
Hecke
bezaubert
Marcel,
berauscht
ihn,
ohne
ihm
jedoch
einen
Anknüpfungspunkt zum Verständnis dieser Wirkung zu geben, er ist ihm in hilfloser
Vgl. dazu auch Verna: „Jouir des aubépines: sur quelques pages de Proust et la synesthésie“, S. 271.
Vgl. dazu Fraisse: Lire du côté de chez Swann de Proust, S. 68.
26
Vgl. dazu Verna: „Jouir des aubépines: sur quelques pages de Proust et la synesthésie“, S. 278.
27
Verna: „Jouir des aubépines: sur quelques pages de Proust et la synesthésie“, S. 280.
28
Vgl. Spitzer, Leo: „Zum Stil Marcel Prousts“, in: Ders.: Stilstudien, Zweiter Teil: Stilsprachen,
München: Hueber 21961, S. 365-497, hier S. 442.
29
Vgl. dazu Warning: Proust-Studien, S. 188.
24
25
6
Theresa Plank: Sinn und Sinne. Zur Ambiguität der Figur Gilberte bei Proust
Unbewußtheit ausgeliefert“.30 Aber der weiße Weißdorn bleibt ein „Rätselobjekt“, das
zwar sinnlich wahrnehmbar ist, den Verstand aber desorientiert.
1.2 Der rosa Weißdorn: L’arbuste catholique et délicieux
Genauso plötzlich, wie der Duft des weißen Weißdorns Marcel überwältigt, wird der
Protagonist nun, diesmal von seinem Großvater, mit einem r o s a Weißdornstrauch
konfrontiert: „[M]on grand-père m’appelant et me désignant la haie de Tansonville, me
dit: « Toi qui aimes les aubépines, regarde un peu cette épine rose ; est elle jolie! »“
(CS 218). Marcels Fokus wird so neu gesetzt; das Weißdorn-Motiv wird um eine
Facette erweitert. Es handelt sich beim rosa Weißdorn zwar um die gleiche Form,
jedoch ist die Farbe abweichend. „Rosa erscheint [in der Recherche] meist in Kontrast
zu Weiß und läßt vor diesem Hintergrund den gefärbten Gegenstand kostbarer
erscheinen“31. Diese These Sprengers trifft auch auf den Weißdorn zu, welcher hier als
ästhetisch hochwertiger beschrieben wird:
En effet c’était une épine, mais rose, plus belle encore que les blanches. Elle aussi avait une
parure de fête, de ces seules vraies fêtes que sont les fêtes religieuses, […] — mais une parure
plus riche encore, car les fleurs attachées sur la branche, les unes au-dessus des autres, de
manière à ne laisser aucune place qui ne fût décorée, comme des pompons qui enguirlandent une
houlette rococo, étaient « en couleur », par conséquent d’une qualité supérieure selon
l’esthétique de Combray (ebd.).
Durch die erneute Bezugnahme auf die Weißdorn-Episode in der Maiandacht, denn
auch der rosa Weißdorn zeigt sich geschmückt wie für ein (kirchliches) Fest, und der
ununterbrochenen Betonung dieser Festlichkeit wird der rosa Strauch überhöht bzw.
sakralisiert.
Doch an dieser Stelle zeigt sich die Ambiguität des rosa Weißdorns. Obwohl
gleichzeitig immer wieder die Nähe zu einem religiösen, heiligen Fest betont wird,
„kippt“ nun die Darstellung des Weißdorns vom Sakralen ins Profane. Die Ebene der
Sinnlichkeit kommt wieder zum Vorschein, „gespalten in die Elementartriebe Hunger
und Sexualität“ 32 . Zuerst isoliert Marcels Blick einen Strauch vom Rest der Hecke:
30
Sprenger, Ulrike: Proust ABC, Leipzig: Reclam 1997, S. 217.
Ebd., S. 83. Auch Warning merkt an, dass die Farbe rosa in der Recherche oft in direktem Kontrast zur
Farbe weiß auftritt; in der Weißdorn-Episode an der Küste von Balbec (Sodome et Gomorrhe) werden die
Blüten des Weißdorns mit rosablühenden Apfelbäumen kontrastiert. Vgl. Warning: Proust-Studien, S.
201.
32
Warning: Proust-Studien, S. 208.
31
7
Theresa Plank: Sinn und Sinne. Zur Ambiguität der Figur Gilberte bei Proust
„Intercalé dans la haie, mais aussi différent d’elle qu’une jeune fille en robe de fête
[…], tel brillait en souriant dans sa fraîche toilette rose l’arbuste catholique et
délicieux.“ (CS 219). Anschließend stellt Marcel eine metaphorische Verbindung
zwischen dem Weißdornstrauch und einem jungen Mädchen her, das gleich dem
geschmückten Strauch aus der Masse heraussticht. Nicht zuletzt durch den Bezug zur
Episode des mois de Marie, in welcher diese Metaphorik entwickelt wurde („[J]e
l’imaginais comme si ç’avait été le mouvement de tête étourdi et rapide, au regard
coquet, aux pupilles diminuées, d’une blanche jeune fille, distraite et vive“ CS 185),
wird die Beschreibung des Weißdorns nun erotisch konnotiert:
Intercalé dans la haie, mais aussi différent d’elle qu’une jeune fille en robe de fête au milieu de
personnes en négligé qui resteront à la maison, tout prêt pour le mois de Marie, dont il
semblait faire partie déjà, tel brillait en souriant dans sa fraîche toilette rose l’arbuste
catholique et délicieux. (CS 219)
Die Blüten werden nicht nur sakralisiert, sondern auch sexualisiert; dies geschieht über
die Metaphorik junger Mädchen, die sich für einen Hochzeitsball hergerichtet haben.33
„Die Metaphorik der jeunes filles kann offenbar nicht im Sakralen unter Kontrolle
gehalten werden, metonymisches Gleiten transgrediert das fanum hin zum profanum“34.
Marcel gelingt es nicht, zur objektiven Essenz des Weißdorns vorzudringen, es wird
vielmehr ein subjektives Begehren realisiert.35 Die Festlichkeit des Strauchs wird durch
diese profane Darstellung befleckt bzw. überschattet (vgl. dazu auch den Titel des
zweiten Bandes der Recherche: À l’ombre des jeunes filles en fleurs).
Dieses „Kippen“ ins Profane/Körperliche, geschieht auch „über ein zweites
Sinnlichkeitsparadigma, in dem köstliche Nahrung evoziert wird.“ 36 Der assoziative
Auslöser hierfür ist der Duft der rosa Weißdornblüten.37 Während der Maiandacht stellt
Marcel bereits eine Relation, „une synesthésie à triple composition sensorielle“ 38 ,
zwischen dem Weißdornduft und dem odeur amère et douce d’amandes bzw. dem
Geschmack eines Mandelkuchens her (vgl. CS 186). Der r o s a Weißdorn in Swanns
Park jedoch weckt Assoziationen an Quark mit Erdbeeren, sowie an rosa Gebäck:
[C]hez Camus où étaient plus chers ceux des biscuits qui étaient roses. Moi-même j’appréciais
plus le fromage à la crème rose, celui où l’on m’avait permis d‘écraser des fraises. Et
justement ces fleurs avaient choisi une de ces teintes de chose mangeable (CS 218).
33
Vgl. Warning: Proust-Studien, S. 189.
Ebd.
35
Vgl. ebd., S. 191.
36
Ebd., S. 190.
37
Vgl. Warning: Proust-Studien, S. 190.
38
Verna: „Jouir des aubépines: sur quelques pages de Proust et la synesthésie“, S. 274.
34
8
Theresa Plank: Sinn und Sinne. Zur Ambiguität der Figur Gilberte bei Proust
Rosa gilt bei Proust als die „Farbe des Eßbaren“39. Im Vergleich der Weißdornblüten
(Farbe, Duft) mit Essbarem, mit Süßigkeiten (Farbe, Duft, Geschmack), werden
mehrere
Sinnesebenen
miteinander
kombiniert,
sind
austauschbar/ineinander
verschachtelt. 40 Geschmack an sich wird, wie Sprenger feststellt, in der Recherche
positiv bewertet: „[B]egehrte und schöne Dinge assoziiert der Erzähler oft mit
Süßigkeiten.“41 Die Ambiguität, die „Doppelgesichtigkeit“, des rosa Weißdornstrauchs
findet in der Wortkombination „l’arbuste catholique et délicieux“ (CS 219) ihren
Höhepunkt: Zwei kontradiktorische Adjektive (Oxymoron), die sich den Feldern
‚Sakral‘ (catholique/katholisch) und ‚Profan‘ (délicieux/köstlich) zuordnen lassen,
werden hier eng geführt. Spitzer nennt dies „Zusammenkoppelung unerwarteter
Epitheta“ 42 , welche die innere Unauflösbarkeit von Gegensätzen und zugleich die
Vielfältigkeit der Betrachtungsmöglichkeiten aufzeigt.43 Die Blüten des Weißdorns sind
„fleurs spirituelles et charnelles à la fois, les aubépines représentent […] un mélange de
dévotion et de grâce féminine, de plaisir et délévation“44; beide Ebenen sind unlösbar
miteinander verbunden. Dennoch bleibt festzustellen, dass die Weißdorn-Episode in
Swanns Park mit dem Lexem ‘délicieux‘, welches für die Sinnlichkeit, die Profanität
steht, endet: „Nahrung wie Sexualität hat die Blüten [letztendlich] ihrer essence sacrée
[, ihrer heiligen Festlichkeit,] beraubt, sie befleckt“45.
Es stellt sich nun nur noch die Frage, ob Marcel das Geheimnis des r o s a Weißdorns
durchschauen, zu dessen Sinn (essence) vordringen, kann. Sprenger und Fraisse
beantworten diese Frage mit einem klaren ‚Ja‘: [F]ür Marcel [erschließt sich] in einer
plötzlichen Offenbarung das Geheimnis der Weißdorn-Schönheit“46; „l’épine rose, c’est
bien l’exception qui fait toucher à l’essence, l’écart nécessaire pour atteindre à la
profondeur“
47
. Dennoch ist es meiner Meinung nach keine Epiphanie, keine
„Urgewalt“, wie in der Madeleine-Episode, mit der die Erinnerung an Combray
aufersteht (obwohl vor allem durch das semantische Feld der Nahrung an diese Szene
erinnert wird). Auch wird im Text nicht direkt erwähnt, dass der Erzähler durch die
39
Sprenger: Proust ABC, S. 83.
Vgl. dazu Roloff: „Korrespondenz der Sinne und Synästhesie. Anmerkungen zur Recherche“, S. 12.
41
Sprenger: Proust ABC, S. 185.
42
Spitzer: „Zum Stil Marcel Prousts“, S. 408. Sperrung im Orig.
43
Vgl. ebd.
44
Verna: „Jouir des aubépines: sur quelques pages de Proust et la synesthésie“, S. 271.
45
Warning: Proust-Studien, S. 190.
46
Sprenger: Proust ABC, S. 217.
47
Fraisse: Lire du côté de chez Swann de Proust, S. 69.
40
9
Theresa Plank: Sinn und Sinne. Zur Ambiguität der Figur Gilberte bei Proust
sinnliche Wahrnehmung des rosa Weißdorns auf die essence stößt. Wie Sprenger
feststellt, ermöglichen die Sinne keine objektive Erkenntnis, sind jedoch Auslöser für
die subjektive Erkenntnis in Gestalt der mémoire involontaire. 48 Doch erst als der
Weißdorn durch seine rosa Farbe leicht verändert erscheint, ist diese Erfahrung
möglich:
Prousts Annahme, erst in der leicht verschobenen Verdoppelung, in der leicht veränderten
Wiederholung sei die Erkenntnis eines Gegenstandes möglich, gewinne man einen Eindruck von
Realität und Tiefe, wie bei dem Blick durch ein Stereoskop.49
Marcel kann nun, anders als bei der Konfrontation mit dem weißen Weißdorn auf dem
Pfad, eine Verbindung mit den rosa Blüten eingehen; das sentiment, das sie in ihm
wecken, bleibt nicht mehr „obscur et vague“ (CS 217). Aber meiner Meinung nach
werden in dieser Episode vielmehr „kleinere“ Erinnerungen geweckt, es werden
einzelne, subjektive Assoziationen, wie die Nähe des Weißdorns zum Essbaren, zum
fromage à la crème rose beispielsweise, erzeugt. Des Weiteren gelingt es Marcel jetzt,
eine Verbindung zwischen dem Weißdornstrauch und einer jeune fille en fleurs
herzustellen.
2. Die erste Begegnung mit Gilberte: Entweihte Göttin
Mit Gilberte Swann trifft Marcel nun auf eine jeune fille en fleurs; unter der rosa
Weißdornhecke („sous l’épinier rose“ CS 221) in Swanns Park sieht das erlebende Ich
Gilberte zum ersten Mal. Diese erste Begegnung findet genauso plötzlich und
unerwartet statt, wie die mit den aubépines; eine Figur bei Proust, wie Fraisse anmerkt,
„n’est en général pas présenté, il [= un personnage] apparaît“50:
Tout à coup, je m’arrêtai, je ne pus plus bouger, comme il arrive quand une vision ne
s’adresse pas seulement à nos regards, mais requiert des perceptions plus profondes et dispose
de notre être tout entier. Une fillette d’un blond roux, qui avait l’air de rentrer de promenade et
tenait à la main une bêche de jardinage, nous regardait, levant son visage semé de taches roses.
(CS 219f.)
Gleich zu Beginn dieses Abschnittes wird deutlich, dass Gilberte von Marcel überhöht,
bzw. transzendentalisiert wird. Noch umgibt Gilberte ein heiliger Zauber, denn „[der
erste Eindruck] behält seinen Reiz, da er nicht das zeigt, womit wir vertraut geworden
48
Vgl. Sprenger: Proust ABC, S. 185.
Ebd., S. 216f.
50
Fraisse: Lire du côté de chez Swann de Proust, S. 121. Kursiv im Orig.
49
10
Theresa Plank: Sinn und Sinne. Zur Ambiguität der Figur Gilberte bei Proust
sind, sondern das, was uns noch unbekannt war und uns mit Sehnsucht erfüllte.“51 Es
wird hier ein Bezug zur Religion aufgedeckt:52 Das erzählende Ich erinnert sich, dass
Gilberte Swann ihm wie eine Vision erscheint (vgl. CS 219). Zudem werden die
Mitglieder der Familie Swann kurz darauf als Götter beschrieben: „[D]es parents et
grands-parents de Mlle Swann qui me semblaient grands comme des Dieux“ (CS
224).53 Überdies befindet sich Gilberte laut dem Protagonisten auf einer höheren Ebene:
„[M]on coeur humilié voulait se mettre de niveau avec Gilberte ou l’abaisser jusqu’à
lui“ (CS 222). Gleichzeitig erscheint Gilberte Marcel jedoch als ein mythologisches
Wesen, einer Sphinx gleich. Dies wird durch folgende Hinweise deutlich: Marcel ist bei
ihrem Anblick wie versteinert,„anxieux et pétrifié“ (CS 220), und kann sich „plus
bouger“ (CS 219). Gilbertes Blick wiederum ist gleichgültig und starr, „sans expression
particulière, sans avoir l’air de me [= Marcel] voir, mais avec une fixité“ (CS 220).
Marcel interpretiert sogar Verachtung in ihn hinein:
[E]lle se détourna et d’un air indifférent et dédaigneux […] que je ne pouvais interpréter […]
que comme une preuve d’outrageant mépris ; […] l’image d’une petite fille rousse […] qui
riait en laissant filer sur moi de longs regards sournois et inexpressifs (CS 220-22).
Sprenger und Michel-Thiriet machen auch auf Gilbertes Grausamkeit aufmerksam; die
Figur entzieht sich Marcel nicht nur und lässt ihn durch ihre Gleichgültigkeit leiden
(vgl. CS 222), sondern zerstört im Laufe der Recherche schließlich auch das Combray
seiner Kindheit und macht ihrem Namensvetter Gilbert le Mauvais alle Ehre.54 Ferner
besitzt Gilberte das rätselhafte und unergründliche Lächeln, „un sourire dissimulé“ (CS
220), einer Sphinx.
Doch nach und nach, ähnlich der Darstellung des Weißdorns, tritt auch Gilbertes
„Doppelgesichtigkeit“ zu Tage. Die Figur wird einerseits, wie oben beschrieben,
sakralisiert, andererseits aber auch profaniert. Für Marcel steht Gilberte auf einer
höheren Stufe, seine Eltern jedoch meiden den Umgang mit der Familie Swann, denn
Odette de Crécy, Gilbertes Mutter, ist eine cocotte (vgl. CS 71, 168f.) und damit Teil
einer niederen, anrüchigen Gesellschaftsschicht:
51
Sprenger: Proust ABC, S. 62.
Warning merkt in diesem Zusammenhang jedoch an, dass das Sakrale sich in Christliches und
Jüdisches spaltet, denn Gilberte Swann ist Halbjüdin, vgl. Warning: Proust-Studien, S. 195.
53
Vgl. dazu: Später sammelt Marcel Gilbertes Geschenke, die Achatmurmel und den Aufsatz Bergottes,
sowie ihre Briefe wie Reliquien, vgl. Sprenger: Proust ABC, S. 89.
54
Vgl. Sprenger: Proust ABC, S. 89f. und Michel-Thiriet: Das Marcel Proust Lexikon, S. 305.
52
11
Theresa Plank: Sinn und Sinne. Zur Ambiguität der Figur Gilberte bei Proust
[M]on grand-père murmurait: « Ce pauvre Swann, quel rôle ils lui font jouer: on le fait partir
pour qu’elle [= Odette] reste seule avec son Charlus, car c’est lui, je l’ai reconnu! Et cette petite
[= Gilberte], mêlée à toute cette infamie! » (CS 221).
[J]’avais peur que d’une seconde à l’autre mon grand-père et mon père, apercevant cette jeune
fille, me fissent éloigner en me disant de courir un peu devant eux (CS 220).
Marcel ist es also verboten, Kontakt mit Gilberte aufzunehmen (Gilberte ist eine
„verbotene Frucht“ im Paradiesgarten) 55 ; sie bleibt für ihn demnach auch sozial
unerreichbar. Aber trotzdem kann Marcel der Versuchung nicht widerstehen;
„[L]’impossibilité que mon père trouvait à ce que nous fréquentions Mme et Mlle
Swann avait eu plutôt pour effet […] de leur donner à mes yeux du prestige“ (CS
168f.). Doch auch Gilberte selbst „befleckt“/entweiht sich durch ihr eigenes Verhalten,
nämlich durch ihre unanständige Geste, die Marcel an dieser Stelle jedoch noch nicht zu
deuten weiß:
[S]a main esquissait en même temps un geste indécent, auquel quand il était adressé en public à
une personne qu’on ne connaissait pas, le petit dictionnaire de civilité que je portais en moi ne
donnait qu’un seul sens, celui d’une intention insolente (CS 221).
Erst im vorletzten Band (Albertine disparue) wird das Geheimnis dieser Geste von
Gilberte gelüftet56; sie war durchaus ein obszönes Zeichen, die Marcel zum erotischen
Spiel einladen sollte. 57 Marcels Beziehung zu Gilberte Swann wird sexualisiert und
„kippt“ von einer sakralen Überhöhung in eine Entheiligung, ins Profane. Wie bereits in
der Weißdornepisode vorweggenommen, besitzt auch Gilberte demnach einen caractère
amgibu.
55
Vgl. hierzu auch die Genese des Werks: Statt unter der Weißdornhecke (aubépines) sollte die erste
Begegnung zwischen Gilberte und Marcel in einer früheren Fassung unter Apfelbäumen (pommiers)
stattfinden. Vgl. Brun, Bernard: „Aubépines“, in: Bouillaguet, Annick (Hg.): Dictionnaire Marcel Proust,
Paris: Champion 2004 (= Dictionnaires & références 10), S. 92-94, hier S. 93.
56
Vgl. Schneider, Manfred: „Gilberte, Gilberte, Gilberte. Erotik und Noetik des Namens“, in: Balke,
Friedrich/ Roloff, Volker (Hg.): Erotische Recherchen zur Dekodierung von Intimität bei Marcel Proust,
München: Fink 2003, S. 50-62, hier S. 55.
57
Vgl. ebd., Sprenger: Proust ABC, S. 89 und Warning: Proust-Studien, S. 196.
12
Theresa Plank: Sinn und Sinne. Zur Ambiguität der Figur Gilberte bei Proust
3. Namen
3.1 Die Episode in Swanns Park: „Festzug-Stil“ und Explosion der
Sinne
Unmittelbar nachdem Marcel über Gilbertes unanständige und rätselhafte Geste
nachgesinnt hat, kommt es zu einer weiteren, plötzlichen „Begegnung“. Diesmal ist es
Gilbertes Name, der den Weg Marcels kreuzt. Analog zum ersten Aufeinandertreffen
der beiden Figuren, wird auch Gilbertes Name abrupt genannt bzw. geschenkt (donné,
vgl. CS 221); Gilberte stellt sich nicht selbst vor, sondern wird unerwartet und auf
autoritäre Weise von ihrer Mutter Odette gerufen:
« Allons, Gilberte, viens; qu’est-ce que tu fais », cria d’une voix perçante et autoritaire une dame
en blanc que je n’avais pas vue, […] la jeune fille prit sa bêche et s’éloigna sans se retourner de mon
côté, d’un air docile, impénétrable et sournois. (ebd.)
Gilbertes Name wird personifiziert58, er ist für Marcel, den Beobachter, ein Passant,
welcher an ihm vorübergeht (passer): „ Ainsi passa près de moi ce nom de Gilberte,
donné comme un talisman […]. Ainsi passa-t-il, proféré au-dessus des jasmins et des
giroflées“ (ebd.). In diesem Absatz fällt vor allem die formale Struktur (Syntax) des
Textes auf; zwei Mal wird hier eine Inversion, sogar mithilfe der gleichen Lexeme ainsi
und passa, verwendet. Das Subjekt, der Name Gilbertes, steht dabei nach dem Verb; das
Wesentliche, der „Schlüssel“ des Rätsels, wird erst am Ende des (Teil)Satzes gegeben.59
Spitzer vergleicht dieses Verfahren mit dem Aufbau eines Festzugs:
Wir haben den bei Proust so häufigen „Festzug-Stil“ (gleichgültig ob der Triumphzug eines Wortes
oder einer Persönlichkeit geschildert wird: durch die Inversion erscheint die Länge und Feierlichkeit
des Zuges gesteigert)60.
Durch diese Metaphorik des Festzugs wird nicht zuletzt auch ein Bezug zur heiligen
festivité des Weißdorns (s.o.) hergestellt. Jedoch, wie ebenfalls bereits in den WeißdornEpisoden beschrieben, ist es auch der Name Gilbertes, welcher vom erlebenden Ich
sinnlich wahrgenommen werden kann. Lediglich das Nennen eines Namens entfesselt
einen Wortorkan
61
; Schneider vergleicht dies sogar mit einem Kettendelirium:
„Gilbertes gerufener Name schlägt […] wie ein irregeleitetes Projektil in Marcels
Vgl. dazu auch Spitzer: „Zum Stil Marcel Prousts“, S. 378: „Held dieser Periode ist der N a m e
Gilbertens mit den Eindrücken, die er hervorruft.“ Sperrung im Orig.
59
Vgl. dazu Michel-Thiriet: Das Marcel Proust Lexikon, S. 382.
60
Spitzer: „Zum Stil Marcel Prousts“, S. 465.
61
Vgl. Spitzer: „Zum Stil Marcel Prousts“, S. 377, 379.
58
13
Theresa Plank: Sinn und Sinne. Zur Ambiguität der Figur Gilberte bei Proust
nervöses Empfängersystem ein, um dort ein Kettendelirium auszulösen.“62 (Orts)namen
sind bei Proust Engergie- und Phantasmenspeicher, die – wie der Name Gilbertes –
bisweilen explodieren können. 63 Diese Explosion ist auch eine Explosion der Sinne:
Durch den Ruf „Gilberte!“, durch das Nennen des Namens (hören), werden fast
sämtliche Sinne miteinander verwoben. Wie die kühlen Tropfen aus dem
Gartenschlauch durchfeuchtet der Name die gesamte Luftzone (fühlen), welche sich in
Botschaft und Kanal zugleich verwandelt.
64
Er „erzeugt einen geheimnisvollen,
unzugänglichen Raum“65:
Ainsi passa-t-il […], aigre et frais comme les gouttes de l’arrosoir vert; imprégnant, irisant la
zone d’air pur qu’il avait traversée — et qu’il isolait — du mystère de la vie de celle qu’il
désignait pour les êtres heureux qui vivaient, qui voyageaient avec elle (CS 221).
Gilbertes Name kann nicht nur gehört und gefühlt, sondern auch gesehen werden, denn
er irisiert (iriser) die Luft, die er durchquert, lässt sie in allen Farben erstrahlen (vgl.
ebd.). Ferner wird er nahtlos in seine Umgebung eingefügt: Zum einen besteht eine
Klangäquivalenz zwischen Silben von ‚Gilberte‘ und ‚vert‘, der grünen Farbe von
Garten und Gartenschlauch66: „Der Klang des Namens scheint die Farbassoziationen
des Erzählers zu bekräftigen und zu bestätigen“ 67 . Zum anderen gibt es auch eine
Klangäquivalenz
zwischen
‚Gilberte‘
und
dem
Zischen
der
Wassertropfen
(Onomatopoesie), die aus dem Gartenschlauch entweichen; der Name wird flüssig: „[I]l
[= le Nom propre] est […] un „milieu“ (au sens biologique du terme), dans lequel il faut
se plonger, baignant indéfiniment dans toutes les rêveries qu’il porte“68. Eine weitere
Sinnesempfindung, die Kohärenz zur Weißdornepisode herstellt, ist der Geruchssinn.
Der Name erfüllt – gleich den aubépines, welche sich auch in unmittelbarer Nähe zum
Geschehen befinden – die Luft mit seinem Duft, beräuchert sie mit Weihrauch: „Et déjà
le charme dont son nom avait encensé cette place sous les épines roses […], allait
gagner, enduire, embaumer tout ce qui l’approchait“ (CS 222).
Man kann jedoch feststellen, dass der Name Gilbertes nicht nur einen „Orkan“ an
sinnlichen, körperlichen Empfindungen hervorruft, sondern auch eine übersinnliche,
Schneider: „Gilberte, Gilberte, Gilberte. Erotik und Noetik des Namens“, S. 53.
Vgl. ebd., S. 55.
64
Vgl. ebd., S. 53.
65
Ebd.
66
Vgl. dazu Sprenger: Proust ABC, S. 154.
67
Ebd.
68
Barthes, Roland: „Proust et les noms“, in: Ders.: Le degré zéro de l‘écriture. Suivi de Nouveaux Essais
critiques, Paris: Éd. du Seuil 1953/1972, S. 121-134, hier S. 125.
62
63
14
Theresa Plank: Sinn und Sinne. Zur Ambiguität der Figur Gilberte bei Proust
sakrale Bedeutung zu haben scheint. Er verbreitet eine Wolke h e i l i g e n Duftes69,
wie durch die Assoziation mit dem Wohlgeruch des Weihrauchs deutlich wird
(encenser, vgl. CS 222). Durch die Verwendung von Begriffen, welche sich dem
semantischen Feld des Spirituellen/Transzendenten zuordnen lassen, wie Talisman
(talisman, vgl. CS 221) und Zauber (charme, vgl. CS 222), wird „[der] Name, das
sprachliche Erinnerungszeichen, […] zur magischen Beschwörungsformel“70. Er hat das
Vermögen, andere Figuren, Berufe, Orte herauf zu beschwören:
Et déjà le charme dont son nom avait encensé cette place sous les épines roses […], allait
gagner, enduire, embaumer tout ce qui l’approchait, ses grands-parents que les miens avaient
eu l’ineffable bonheur de connaître, la sublime profession d’agent de change, le douloureux
quartier des Champs-Élysées qu’elle habitait à Paris. (CS 221f.)
Der Name Gilbertes lässt Marcels Erinnerung wieder aufleben; nicht nur die Erinnerung
an Gilberte selbst, sondern auch an die Umgebung ihres ersten Treffens, an alles, was
mit ihr und der Familie Swann zu tun hat.71 Er wird somit, wie Sprenger formuliert, zur
„verdichteten Essenz“ 72 . Auch Barthes stellt fest, dass Eigennamen bei Proust le
pouvoir d’essentialisation besitzen, da sie nur einen einzigen Referenten bezeichnen.73
Ferner haben sie jedoch auch die Macht/Kraft, etwas zu zitieren (pouvoir de citation),
etwas zu erschaffen (pouvoir constitutif), sowie etwas wieder auferstehen zu lassen, zu
entfalten, wie dies bei der Erinnerung geschieht (pouvoir d’exploration).74 „[L]e Nom
propre est en quelque sorte la forme linguistique de la réminiscence.“ 75 Der Name
erscheint als ein Transportmittel; er kann Erinnerungen speichern, transportieren und
mit einem Wort wieder aufrufen. Doch der Zauber des Namens ‚Gilberte‘ wird im
Laufe der Recherche verloren gehen, wenn der Umgang mit Gilberte für Marcel zur
Gewohnheit geworden, die Festlichkeit verblasst, ist
76
. Der Name wird zum
„insignifikanten Signifikanten“ 77 werden, dessen „einstiges sakramentales Potenzial
[…] völlig erloschen [ist]“78.
Vgl. Schneider: „Gilberte, Gilberte, Gilberte. Erotik und Noetik des Namens“, S. 53. Vgl. dazu auch
ebd., S. 55.
70
Spitzer: „Zum Stil Marcel Prousts“, S. 431.
71
Vgl. dazu auch Sprenger: Proust ABC, S. 89, 154 und Schneider: „Gilberte, Gilberte, Gilberte. Erotik
und Noetik des Namens“, S. 53.
72
Sprenger: Proust ABC, S. 154.
73
Vgl. Barthes: „Proust et les noms“, S. 124.
74
Vgl. ebd.
75
Ebd.
76
Vgl. Sprenger: Proust ABC, S. S. 155.
77
Schneider: „Gilberte, Gilberte, Gilberte. Erotik und Noetik des Namens“, S. 60.
78
Ebd.
69
15
Theresa Plank: Sinn und Sinne. Zur Ambiguität der Figur Gilberte bei Proust
Trotz der sakralen Konnotation hat diese Textstelle meiner Meinung nach, ähnlich wie
die Weißdorn-Episode, keine ausschließlich religiöse Bedeutung für den Protagonisten.
Es wird vielmehr eine Atmosphäre heiliger, nicht alltäglicher Festlichkeit kreiert. Der
Klang, der „Duft“, des Namens ‚Gilberte‘ hüllt Marcel vollends ein, lässt ihn
schwindeln79 und betäubt seine Sinne.
Obwohl Marcel den Namen mit (fast) allen Sinnen wahrnehmen kann, bleibt ihm sein
S i n n jedoch unzugänglich. Bereits kurz nachdem Gilberte dem Protagonisten wie
eine Vision erscheint, versucht er sie mit einem Blick zu durchdringen, durch den sich
wie durch ein Fenster all seine Sinne neigen:
Je la [= Gilberte] regardais, d’abord de ce regard qui n’est pas que le porte-parole des yeux, mais à
la fenêtre duquel se penchent tous les sens, anxieux et pétrifiés, le regard qui voudrait toucher,
capturer, emmener le corps qu’il regarde et l’âme avec lui (CS 220).
Doch Marcel versucht vergeblich, das Wesen Gilbertes einzufangen, ihre essence zu
erfassen. Auch nachdem Gilbertes Name genannt worden ist, scheitert das erlebende
Ich. Der Name entfaltet (déployer) sich zwar und lässt eine Quintessenz schmerzlicher
Vertrautheit entstehen, aber Marcel weiß genau, dass er zu dieser Essenz nicht
vordringen kann:
Ainsi passa-t-il [= le nom] […]; déployant sous l’épinier rose, à la hauteur de mon épaule, la
quintessence de leur familiarité, pour moi si douloureuse, avec elle, avec l’inconnu de sa vie où je
n’entrerais pas (CS 221).
Der Sinn von Gilbertes Name ist, wie schon in der Weißdornepisode vorweg
genommen, unentschlüsselbar. Der Name geht an Marcel vorüber und bleibt Passant.
Sprenger überträgt Marcels Scheitern am Namen Gilbertes sogar auf Prousts
Literaturverständnis; Literatur ist zwar sinnlich erlebbar/genießbar, erzeugt aber
Erwartungen, die letztendlich desillusioniert werden:
Auch die Literatur tut für Proust nichts anderes als jene suggestiven Namen. Sie beschreibt Dinge,
die nicht existieren, sie weckt Erwartungen, die sich nicht erfüllen […]. Prousts eigene poetische
Sprache erfüllt dabei alle Eigenschaften, in denen auch die Verführungskraft der Namen sich
begründet: Wohlklingend, vielfältig, oft verschlüsselt, rätselhaft reizt sie Sinne und
Vorstellungskraft, entzückt und desillusioniert sie ihre Leser gleichermaßen. 80
79
80
Vgl. dazu auch Brun: „Moments privilégiés“, S. 636.
Sprenger: Proust ABC, S. 156.
16
Theresa Plank: Sinn und Sinne. Zur Ambiguität der Figur Gilberte bei Proust
3.2 Die Episode in den Champs-Élysées: Unverfügbarkeit und
essbare Namen
Später, im Teil Noms de pays: Le nom, sieht Marcel Gilberte auf seinen Spaziergängen
mit der Haushälterin Françoise auf den Champs-Elysées wieder (vgl. CS 533f.). Auch
diesmal geht es um Namen, doch nun ist es Gilberte, die den Protagonisten bei dessen
Namen nennt:
Et il y eut un jour aussi où elle me dit: « Vous savez, vous pouvez m’appeler Gilberte, en tous
cas moi, je vous appellerai par votre nom de baptême. C’est trop gênant. » Pourtant elle
continua encore un moment à se contenter de me dire « vous », et comme je le lui faisais
remarquer, elle sourit, et composant, construisant une phrase comme celles qui dans les
grammaires étrangères n’ont d’autre but que de nous faire employer un mot nouveau, elle la
termina par mon petit nom. (CS 544)
Allerdings spricht Gilberte den Namen des Erzählers nicht w o r t w ö r t l i c h aus;
der Name wird dem Leser weiterhin vorenthalten und schafft einen privaten/intimen
Raum zwischen den Figuren, zu dem der Rezipient keinen Zutritt hat. Erst im Band La
Prisonnière wird er den Namen des Erzählers erfahren, aber dort ist es seine spätere
Geliebte Albertine, welche ihn mit ‚Marcel‘ anspricht. 81 Doch beide Male schreiben
Frauenfiguren den Erzähler(/Autor)namen in den Text ein.82
Wie bereits bei der ersten Begegnung mit Gilberte, löst auch Marcels eigener Name,
wenn er von Gilberte ausgesprochen wird, einen „Wortorkan“ aus:
Et me souvenant plus tard de ce que j’avais senti alors, j’y ai démêlé l’impression d’avoir été
tenu un instant dans sa bouche, moi-même, nu, sans plus aucune des modalités sociales […]
et dont ses lèvres eurent l’air de me dépouiller, de me dévêtir […], tandis que son regard, se
mettant au même degré nouveau d’intimité que prenait sa parole, m’atteignait aussi plus
directement (ebd.).
Einerseits wird diese Textstelle durch eine erotische Konnotation profaniert. Für Marcel
scheint es so, als ob Gilberte ihn durch das Nennen seines Namens entkleidet und ihn
selbst im Mund gehalten hätte. Durch die Artikulation des Namens ersteht ein neuer
Grad an Intimität, losgelöst vom sozialen Kontext, zwischen den Figuren. Des Weiteren
kommt nun zu den Sinnesebenen ‚Hören‘ und ‚Sehen‘ eine weitere, das ‚Schmecken‘,
hinzu und kreiert damit einen Bezug zur Weißdorn-Episode (vgl. Punkt 1.2).
[J’]ai démêlé l’impression d’avoir été tenu un instant dans sa bouche, moi-même, […] et dont
ses lèvres […] eurent l’air de me dépouiller, de me dévêtir, comme de sa peau un fruit dont
on ne peut avaler que la pulpe (ebd.).
Vgl. Picon: „Gilberte“, S. 418.
Zwischen Gilberte und Albertine besteht auch hinsichtlich ihrer Namen eine Analogie: Es handelt sich
um zwei feminisierte männliche Vornamen, vgl. ebd.
81
82
17
Theresa Plank: Sinn und Sinne. Zur Ambiguität der Figur Gilberte bei Proust
Der Name des erlebenden Ichs wird hier zu etwas Essbarem, einer Frucht,
metaphorisiert. Gilbertes Lippen sprechen Marcels Namen aus, als ob sie Fruchtfleisch
aus der Schale herausschälen würden. Bei Proust können Namen also nicht nur „duften“
(vgl. Punkt 3.1), sondern sind auch „essbar“. Andererseits lässt sich hier aber auch eine
sakrale Konnotation feststellen, wie Schneider anmerkt. Denn dieser Akt des „In-denMund-Nehmens“ des Namens (vgl. CS 544) ist ein nach dem Modell der Eucharistie
gestalteter Moment 83 , ein „Transsubstantiationsereignis, wohin das ganze sakrale
Vokabular strebt, das bereits die beiden […] Szenen durchlief, wo der Name Gilbertes
in Marcels Ohr eindrang.“84 Er lässt den Leser auch an den Gutenachtkuss von Marcels
Mutter denken, denn in der entsprechenden Textstelle bietet diese ihre Lippen wie eine
Hostie dar, „comme une hostie pour une communion de paix“ (CS 62). Diese zwei
Ebenen, die profane/sinnliche und die sakrale, werden jedoch nicht explizit getrennt; die
Ambiguität ist stets vorhanden. Es wird, wie Warning zusammenfasst, beides
angestrebt, „sakrale Sinnlichkeit […] [und] sinnliche Sakralität“85.
Indem Gilberte Marcels Name ausspricht, hat sie die Macht, Marcel zu entblößen, sein
Wesen aus ihm herauszuschälen (vgl. CS 544). Gilberte kann Marcel also durchdringen,
seinen Sinn durchschauen; das erlebende Ich jedoch scheitert ein zweites Mal:
Mais au moment même, je ne pouvais apprécier la valeur de ces plaisirs nouveaux. Ils
n’étaient pas donnés par la fillette que j’aimais […], mais par l’autre, par celle avec qui je jouais,
à cet autre moi qui ne possédait ni le souvenir de la vraie Gilberte, ni le cœur indisponible, […]
la nécessité qui me faisait espérer que le lendemain j’aurais la contemplation exacte, calme,
heureuse de Gilberte, qu’elle m’avouerait enfin son amour, en m’expliquant pour quelles
raisons elle avait dû me le cacher jusqu’ici (CS 545).
Der junge Marcel kann sich diesem neuen Vergnügen, das durch die Artikulation seines
Vornamens entstanden ist, nicht hingeben, es nicht wertschätzen. Er vermag es nicht,
zur wahren (vraie) Gilberte vordringen 86 , bzw. ihren Sinn entschlüsseln (vgl. dazu
Punkt 3.1), sondern kann sie lediglich sinnlich wahrnehmen. Des Weiteren bleibt der
von ihm so lang ersehnte Liebesbeweis auch weiterhin aus (vgl. dazu auch CS 539f.);
Marcel schafft es nicht, den Grund, das Geheimnis, herauszufinden, warum Gilberte
ihm das Eingeständnis ihrer Liebe immer noch vor ihm verbirgt (cacher). Trotz der neu
Vgl. Schneider: „Gilberte, Gilberte, Gilberte. Erotik und Noetik des Namens“, S. 56.
Ebd.
85
Warning: Proust-Studien, S. 208.
86
Vgl. dazu Fraisse: Lire du côté de chez Swann de Proust, S. 85.
83
84
18
Theresa Plank: Sinn und Sinne. Zur Ambiguität der Figur Gilberte bei Proust
entstandenen Intimität, bleibt Gilberte undurchdringbar und unverfügbar; sie ist ein être
de fuite87, das sich Marcel immer wieder entzieht:
Zwar trifft Marcel Gilberte regelmäßig auf den Champs-Elysées zum Spiel, aber sie diktiert die
Zusammenkünfte willkürlich, entzieht sich immer wieder plötzlich in jenes geheimnisvolle
Reich der Swann, zu dem er keinen Zutritt hat, und hält auf diese Weise sein Begehren wach. 88
Diese unerfüllte Liebe Marcels hemmt außerdem seinen Willen, sich zu erinnern, denn
„cette même nécessité me forçait à tenir le passé pour rien, à ne jamais regarder que
devant moi“ (CS 545). Der Name ‘Marcel’, wie er von Gilberte ausgesprochen wird,
und die neu entstandene Intimität, können ihre Wirkung nicht entfalten. Der Name
transportiert hier keine Erinnerung; Assoziationen an Marcels Kindheit können nicht
auferstehen. Durch das Ausbleiben von Gilbertes Liebesgeständnis scheitert Marcel
nicht zuletzt auch daran, sich zu erinnern. Man könnte also sagen, dass die Figur
Gilberte letztendlich dafür sorgt, dass der Erzähler lange Zeit keinen Text produzieren
kann; als „grausame Sphinx“ (vgl. Punk 2) hemmt sie die Textproduktion des Dichters.
Vgl. dazu auch Roloff: „Korrespondenz der Sinne und Synästhesie. Anmerkungen zur Recherche“, S.
15.
88
Sprenger: Proust ABC, S. 89.
87
19
Theresa Plank: Sinn und Sinne. Zur Ambiguität der Figur Gilberte bei Proust
III.
Fazit
Die Ambiguität der Figur Gilberte wurde in der vorliegenden Arbeit in drei Schritten
untersucht. Den Analysekategorien ‚Weißdorn‘, ‚Erste Begegnung mit Gilberte‘ und
‚Namen‘ ist gemeinsam, dass in ihnen allen eine Doppeldeutigkeit vorhanden ist,
welche sich jedoch nicht nur auf die Opposition sakral vs. profan beschränken lässt.89
Vielmehr betrifft diese auch das Spannungsverhältnis zwischen Geist und Körper,
zwischen sinnlicher Wahrnehmung und der Suche nach dem Sinn:
In der Weißdornepisode in Swanns Park wird Marcels erste Begegnung mit Gilberte
vorweggenommen; das erlebende Ich kann den weißen Weißdorn zwar sinnlich
wahrnehmen (vgl. z.B. Synästhesie ‚summender Duft‘), sein Sinn (essence) bleibt
jedoch obskur und rätselhaft. Erst der rosa Weißdorn löst eine subjektive Erkenntnis
(Erinnerung) in Form von Assoziationen an eine jeune fille en fleurs und köstliche
Nahrung aus. Zugleich tritt eine weitere Ambiguität auf: Die aubépines werden
einerseits sakralisiert (Metaphorik des Kirchengebäudes und des religiösen Festes)
andererseits jedoch profaniert (Metaphorik der jeune fille en fleurs und des Essbaren).
Auch die jeune fille Gilberte, welche ebenso plötzlich auftaucht wie der Weißdorn, wird
zuerst sakral überhöht (Metaphorik der Sphinx/Göttin), dann aber „kippt“ die
Darstellung ins Profane, die Beziehung zu Marcel wird sexualisiert (Gilberte als Tochter
einer cocotte, obszöne Geste).
Der Name Gilbertes löst ebenfalls einen „Orkan“ an Sinneswahrnehmungen aus; er
durchduftet und färbt die Luft und kann als „Passant“ Marcels Erinnerung an Gilberte
und ihr gesamtes Umfeld transportieren. Durch diese „magische Beschwörung“ und die
Verwendung spiritueller Lexeme (z.B. encenser, charme, talisman) wird deutlich, dass
der Name ebenso eine sakrale Bedeutung hat. Auch die Episode auf den ChampsElysées, in der Gilberte Marcels Namen ausspricht, ist zweideutig: Der Name des
Erzählers löst einerseits einen neuen Grad an Intimität aus (körperbezogene, profane
Ebene), intensiviert aber andererseits durch die Nähe zur Eucharistie die Sakralisierung
von Gilberte, wie sie bereits in der Episode in Swanns Park eingeführt wurde.
Die Figur Gilberte steht für Unverfügbarkeit; der Kontakt zu ihr ist Marcel nicht nur
verboten, sondern auch Gilberte selbst entzieht sich ihm, erscheint als gleichgültiges
89
Vgl. Warnings Argumentation, Warning: Proust-Studien, S. 189-91, 208.
20
Theresa Plank: Sinn und Sinne. Zur Ambiguität der Figur Gilberte bei Proust
être de fuite, das Marcel vergeblich auf einen Liebesbeweis warten lässt. Gilberte selbst
kann Marcel durchdringen, indem sie nur seinen Namen ausspricht, der Protagonist
jedoch, kann Gilbertes Sinn, ihre essence, nicht entschlüsseln. Gilberte ist nicht nur
unerreichbar, sondern hemmt auch Marcels Willen, sich zu erinnern und verhindert
damit kurzzeitig die Textproduktion des Dichters.
21
Theresa Plank: Sinn und Sinne. Zur Ambiguität der Figur Gilberte bei Proust
IV.
Literaturverzeichnis
Primärliteratur:
CS = Proust, Marcel: Du côté de chez Swann, hg. v. Antoine Compagnon, Paris: Gallimard 1988 (= folio
classique 1924).
Forschungsliteratur:
Barthes, Roland: „Proust et les noms“, in: Ders.: Le degré zéro de l‘écriture. Suivi de Nouveaux Essais
critiques, Paris: Éd. du Seuil 1953/1972, S. 121-134.
Brun, Bernard: „Aubépines“, in: Bouillaguet, Annick (Hg.): Dictionnaire Marcel Proust, Paris:
Champion 2004 (= Dictionnaires & références 10), S. 92-94.
Brun, Bernard: „Moments privilégiés“, in: Bouillaguet, Annick (Hg.): Dictionnaire Marcel Proust, Paris:
Champion 2004 (= Dictionnaires & références 10), S. 636-637.
Corbineau-Hoffmann, Angelika: Marcel Proust. A la recherche du temps perdu. Einführung und
Kommentar, Hamburg: Francke 2009 (= Uni-Taschenbücher Literaturwissenschaft 1755).
Fraisse, Luc: Lire du côté de chez Swann de Proust, Paris: Dunod 1993.
Michel-Thiriet, Philippe: Das Marcel Proust Lexikon, übers. v. Rolf Wintermeyer, Frankfurt/Main:
Suhrkamp 1992.
Milly, Jean: „Style“, in: Bouillaguet, Annick (Hg.): Dictionnaire Marcel Proust, Paris: Champion 2004
(= Dictionnaires & références 10), S. 969-973.
Picon, Jérôme: „Gilberte“, in: Bouillaguet, Annick (Hg.): Dictionnaire Marcel Proust, Paris: Champion
2004 (= Dictionnaires & références 10), S. 416-419.
Roloff, Volker: „Korrespondenz der Sinne und Synästhesie. Anmerkungen zur Recherche“, in: Felten,
Uta/Roloff, Volker (Hg.): Die Korrespondenz der Sinne. Wahrnehmungsästhetische und intermediale
Aspekte im Werk von Proust, München: Fink 2008, S. 11-18.
Schneider, Manfred: „Gilberte, Gilberte, Gilberte. Erotik und Noetik des Namens“, in: Balke, Friedrich/
Roloff, Volker (Hg.): Erotische Recherchen zur Dekodierung von Intimität bei Marcel Proust, München:
Fink 2003, S. 50-62.
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Aspekte im Werk von Proust, München: Fink 2008, S. 269-283.
Warning, Rainer: Proust-Studien, München: Fink 2000.
22
Theresa Plank: Sinn und Sinne. Zur Ambiguität der Figur Gilberte bei Proust
V.
Erklärung
Ich versichere, dass ich das vorliegende schriftliche Thesenpapier eigenständig verfasst
und keine anderen als die von mir angegebenen Hilfsmittel benutzt habe.
Die Stellen der Arbeit, die anderen Werken dem Wortlaut oder dem Sinne nach
entnommen sind, wurden in jedem Fall unter Angabe der Quellen (einschließlich des
World Wide Web und anderer elektronischer Text- und Datensammlungen) kenntlich
gemacht. Dies gilt auch für beigegebene Zeichnungen, bildliche Darstellungen, Skizzen
und dergleichen.
Weilheim, den 01.09.2015
Ort, Datum
Unterschrift
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